Mein ist die Rache von Tach ================================================================================ Kapitel 33: ------------ "Renée d'Herblay!" Rocheforts Stimme dröhnte über den Hof der Garnison. Im Schlepptau hatte er fast ein Dutzend Rotröcke, deren Hände kampfbereit auf ihren Waffen ruhten. Einige von ihnen wirkten angespannt angesichts der Gesellschaft, in die sie sich begeben hatten. Bei den anwesenden Musketieren hingegen sorgte ihr Auftreten zunächst vor allem für Staunen. Neugierig umringten sie die seltenen Besucher. Porthos, der bis zu diesem Zeitpunkt auf einer Bank gesessen und sich den Mund mit Brot vollgestopft hatte, richtete sich gemächlich zu seiner vollen Größe auf und kam ihnen mit ausladenden Schritten entgegen. "Rochefort, alter Freund! Warum der Lärm? Und was soll das große Gefolge? Wollt ihr die Seiten wechseln? " "Verzieh dich, Porthos! Zu dir kommen wir noch früh genug." Rochefort wollte ihn gerade links liegen lassen, als er es sich doch noch einmal anders überlegte. Vielleicht könnte er ihm doch helfen. "Wo steckt eure kleine Hure?" Porthos blickte ihn irritiert an - war die rechte Hand des Kardinals betrunken? So früh am Morgen? Er sah doch eigentlich recht nüchtern aus. Dann meinte er zu verstehen, was sein Gegenüber wollte. "Ist dir etwa dein Liebchen entlaufen, Rochefort? Aber das hier ist nicht eure Garnison. Unser Hauptmann erlaubt hier keine Weiber!" Leises Lachen ging durch beide Gruppen, wenngleich aus verschiedenen Gründen. "Also gut, du begriffsstutziger Vielfraß. Ich formuliere es so, dass auch du mich verstehst." Auf der Stirn des Einäugigen trat eine dicke Ader hervor. Betont langsam fuhr er fort: "Wo ist Aramis?" Porthos' gutmütiger Gesichtsausdruck war schlagartig verschwunden. Was sollte all das Theater? Hatte er seine persönliche Abneigung gegen Aramis nicht endlich begraben? "Er ist in der Bibliothek, denke ich." Rochefort schnaubte. "Er... Lächerlich. Männer, mir nach!" Die Stille der Bibliothek wurde nur durch das gelegentliche Rascheln von Papier durchbrochen. Über den Rand seines Buches warf Athos immer wieder einen Blick auf die junge Frau, die ihm gegenüber saß und vollkommen in die Übersetzung eines antiken griechischen Textes versunken war. Durch ein geöffnetes Fenster hinter Aramis' Rücken fielen die blassen Strahlen der Morgensonne und verliehen ihr ein überirdisches Leuchten. Fasziniert von diesem Anblick gelang es Athos kaum, sich auf sein eigenes Buch zu konzentrieren. Seit er sich vor einer halben Stunde zu ihr gesellt hatte, hatte er kaum mehr als eine Seite gelesen und das meiste davon bereits wieder vergessen. Doch plötzlich riss eine ihm vertraute Stimme ihn aus seinen Schwärmereien. Rochefort! Hier, um diese Uhrzeit? Was rief er? Athos konnte ihn nicht verstehen, aber seine Stimme ließ nichts Gutes vermuten. Innerhalb von Sekunden hatten seine militärischen Instinkte die Kontrolle übernommen. Jetzt erkannte er auch Porthos' polterndes Organ. Gelächter. Was zum Teufel ging da unten vor sich? Aramis hatte die Stimme offenbar ebenso erkannt. Langsam ließ sie das Buch sinken. Ihre Augen waren schreckgeweitet, alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen. Im Gegensatz zu Athos hatte sie Rochefort offenbar sehr gut verstanden. Ihr Blick wanderte hastig zwischen ihm und der Tür hin und her - und Athos kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut. Sie wägte ab zwischen Kampf und Flucht. Was auch immer Rochefort gerufen hatte, es galt offenbar ihr und machte in ihren Augen auch ihn zu einer Bedrohung. Athos erhob sich und ging langsam auf sie zu, die Hände gut sichtbar von sich gestreckt. "Was will Rochefort von dir?", fragte er ruhig. "Sie kommen mich holen", flüsterte sie mehr zu sich selbst. "Das ist das Ende." Athos verstand sofort. "Bleib ruhig. Sieh mich an. Ich passe auf dich auf, verstehst du? Was auch immer passiert, ich bin an deiner Seite!" Er betonte jedes einzelne Wort in der Hoffnung, dass es in ihren Verstand vordrang. Mit Erfolg. Und doch war ihre Reaktion anders, als er es erwartet hatte. In ihrer Angst fuhr sie ihn an: "Behaupte nichts, was du in ein paar Minuten bereuen wirst. " "Keine Sorge. Ich stehe zu meinem Wort." Athos lehnte sich an ihr vorbei aus dem Fenster. Er sah gerade noch, wie Porthos hinter Rochefort her zum Eingang lief. "Sie kommen. Bleib hinter mir. Und Hände weg von den Waffen!" Erneut ertönte Rocheforts Stimme, dieses Mal vom Fuß der Treppe in der Halle: "Renée d'Herblay, du bist verhaftet. Komm freiwillig zu uns, sonst holen wir dich." Athos entging nicht, wie sie kurz zu dem offenen Fenster blickte. "Denk nicht einmal daran. Du könntest dir beide Beine brechen." Er packte sie an den Schultern. "Du wirst ihnen erhobenen Hauptes entgegen treten. Du bist ein besserer Soldat als jede dieser roten Gestalten und ein besserer Musketier als die meisten hier. Du weißt es. Sie wissen es. Lass sie das nicht vergessen!" Damit drehte er sich um und trat auf den Gang. Schweigend folgte Aramis ihm, während Angst und Übelkeit ihr den Hals emporkrochen. Sie war sich sicher, dass sein Rückhalt schon sehr bald verpuffen würde. Am Fuß der Treppe wurden sie nicht nur von den Männern des Kardinals, sondern auch von einer großen Traube tuschelnder Musketiere erwartet. Sie alle wollten sehen, wer die Person hinter dem Namen war. Bei Athos' Erscheinen verfielen sie augenblicklich in Schweigen. "Rochefort, was soll die Unruhe?" Zwei Stufen vor der Versammlung blieb er stehen. Aramis tat, wie ihr befohlen worden war, und hielt eine Stufe darüber. Zumindest jetzt sollten sie noch zu ihr aufsehen. "Wir haben einen Haftbefehl für eine gewisse Mademoiselle Renée d'Herblay, euch allen besser bekannt als der Musketier Aramis. Wegen Hochverrats!" Mit jedem Wort wurde Rocheforts Stimme lauter und überheblicher, bis sie sich schließlich überschlug. Für alle gut sichtbar wedelte er mit einem gesiegelten Brief. Den Tumult, der seinen Worten folgte, genoss er sichtlich. Aus dem Augenwinkel erkannte er sowohl den lauthals schimpfenden Porthos als auch D'Artagnan, der sich soeben durch die Menge schob, um in der ersten Reihe stehen zu können. "Und ich nehme an, ihr habt Beweise für eure Anschuldigungen", fuhr Athos ungerührt fort. "Darauf kannst du Gift nehmen! Wir haben drei Zeugen, die Mademoiselle d'Herblay zweifelsfrei erkannt haben. Gerade vorgestern erst. Geht das Schicksal nicht manchmal merkwürdige Wege? Im Chatelet wartet man sicher bereits auf sie." Das Grinsen in seinem Gesicht war so breit, dass die Augenklappe sich bereits sichtbar ins Fleisch drückte. Er schien es nicht zu bemerken. Stattdessen suhlte er sich in seinem vermeintlichen Triumph und vergass dabei mehr und mehr, dass er sich auf feindlichem Gebiet befand. "Also los! Sag eurem Kapitän-Lieutnant, dass wir seine kleine Hure mitnehmen!" Athos neigte sich zu ihm vor, zog ihm den vermeintlichen Haftbefehl aus der Hand und flüsterte düster: "Jemand, der den Kopf so tief im Arsch seines Dienstherrn hat wie du, sollte seine Worte besser wählen." Gelassen, jedoch für alle Umstehenden hörbar fügte er hinzu: "Ich denke es steht dir nicht zu, einem von uns Befehle zu erteilen. Erlaube mir, dass ich das übernehme. D'Artagnan, informiere Kapitän de Treville darüber, was die Herrschaften wollen. Wir warten derweil." D'Artagnan nickte knapp und eilte die Treppe hinauf, wobei er jede zweite Stufe übersprang. Es kostete ihn einige Überwindung, wortlos an Aramis vorbei zu laufen. Rochefort machte ebenfalls einen Schritt auf die Treppe zu, um nach Aramis' Handgelenk zu greifen, zuckte jedoch augenblicklich zurück, als Athos eine Hand an den Knauf seines Degens legte. Mit einer knappen Geste verwies er ihn auf seinen ursprünglichen Platz. Aramis selbst stand wie versteinert. Nichts ließ erkennen, dass ihr Verstand die Situation genauso behandelte wie einen Einsatz im Schlachtfeld. Die Geräusche um sie herum drangen nur dumpf an ihre Ohren, dafür nahm sie jede noch so subtile Regung um sich herum wahr. Im Falle eines Angriffs hätte sie sofort parieren können. Bis jetzt jedoch hatte Athos wider Erwarten sein Wort gehalten. Dieser erbrach im Moment das Siegel und überflog die gewohnt sauber vom Kardinal verfassten Zeilen, die Aramis' Schicksal besiegeln sollten. Den lautstarken Protest Rocheforts, sein Verhalten sei anmaßend, ignorierte er geflissentlich. Da stand er, der Name, den er all die Jahre hatte wissen wollen. Er kannte den Namen d'Herblay aus den Erzählungen Trevilles, wenn dieser in einem seiner seltenen Anflüge von Nostalgie über vergangene Abenteuer berichtet hatte. Der Mann, mit dem sich Treville in seiner Jugend um eine Frau geschlagen hatte, war der Vater der jungen Frau hinter ihm. Nun, schoss es ihm durch den Kopf, wenn sie ihrer Mutter ähnelte, war das Verhalten des Kapitäns nur zu verständlich. "Ihr habt drei Zeugen, sagst du?" sprach er mit Rochefort, ohne von dem Dokument aufzusehen. "Zweifelst du etwa einen Haftbefehl durch Kardinal Richelieu an?" "Das würde ich nicht wagen. Habt ihr die Namen der Männer?" "Warum? Willst du sie zum Schweigen bringen, Musketier?" zischte Rochefort hämisch. Sein Gegenüber schüttelte langsam den Kopf. "Nur ein wenig Zeit schinden, bis Treville hier ist." Als hätte er auf ein Stichwort gewartet, erschien Kapitän de Treville auf der Treppe. "Was hat dieses Schauspiel zu bedeuten, Rochefort? Was wollt ihr von Aramis?", polterte er. Wortlos reichte Athos das Dokument des Kardinals an ihn weiter. Aufmerksam beobachtete er das Gesicht seines Vorgesetzten und war überrascht angesichts des ehrlichen Entsetzens, dass sich beim Lesen der wenigen Zeilen darauf abzeichnete. "Was für absurde Anschuldigungen! Ist euch denn gar nichts peinlich?" Rochefort wollte etwas erwidern, doch auf diese Reaktion war er nicht vorbereitet gewesen. "Einem Mann mit seinen Fähigkeiten zu unterstellen, er wäre eine Frau! Unfassbar." Mit wutrotem Kopf wandte er sich an Athos. "Nichtsdestotrotz handelt es sich hierbei um einen offiziellen Befehl. Athos, ich vertraue darauf, dass du dich um diese Angelegenheit kümmerst. Ich kann mich mit solchen Albernheiten nicht befassen. Ich gehe davon aus, dass diese Sache in Kürze geklärt ist. Meine Herren!" Er machte auf der Stufe kehrt, nickte erst Athos, dann Aramis zu und begab sich ohne ein weiteres Wort zurück in sein Büro. Sofort straffte sich Rochefort wieder. "Also dann, Mademoiselle. Du hast eine Verabredung mit einer moderigen Zelle im Chatelet. Vorwärts!" Erneut wurde der selbstbewusste Vorstoß Rocheforts durch eine einzige Handbewegung gedämpft. "Angesichts der schwierigen Vergangenheit zwischen uns Musketieren und der Kardinalsgarde, besonders im Hinblick auf Aramis, verstehst du sicherlich, dass ich ihn dir nicht einfach überlassen kann. D'Artagnan wird euch bis in diese Zelle und wieder hinaus begleiten und mir anschließend alles berichten. Nur zur Sicherheit." Athos drehte sich zu Aramis um, die nach wie vor wort- und regungslos hinter ihm ausharrte. "Deinen Degen, bitte." Er konnte den Widerwillen in ihren Augen sehen. Der Gedanke, ihren Gegnern unbewaffnet ausgeliefert zu sein, versetzte sie zu Recht in Angst. "D'Artagnan ist bei dir!", war alles, was er in diesem Moment sagen konnte. Er nahm ihre Waffen an sich, dann gab er D'Artagnan ein Zeichen. Äußerlich ruhig blieb er auf der Treppe stehen, als sich die Gruppe langsam in Bewegung setzte. Als auch der letzte Rotrock das Gebäude verlassen hatte, wurde aus dem ungläubigen, verhaltenen Tuscheln der Musketiere wutentbrannter Lärm. "Was hat das alles zu bedeuten? Athos!" Porthos' Stimme übertönte gut verständlich die seiner Kameraden. Doch statt zu antworten, stürzte der Angesprochene die Treppe hinauf und stürmte das Büro de Trevilles. "Was seid ihr nur für ein gottverdammter Feigling?" Athos hatte Mühe, seine Stimme zu dämpfen. Nur selten hatte er so sehr das Verlangen verspürt, jemanden anzubrüllen. "Seit wann tritt man in mein Büro, ohne vorher anzuklopfen?" Treville saß, die Hände vor der Brust gefaltet, an seinem Schreibtisch und starrte ihn an. Er versuchte, überlegen zu wirken, doch Athos bemerkte sofort das Zittern in seiner Stimme. Sein Kapitän hatte Angst vor ihm. Seine Wut dämpfte diese Erkenntnis jedoch kaum. "Wie konntet ihr sie einfach ausliefern?" Statt eine ebenso wütenden Antwort zu geben, sank der Kapitän in sich zusammen. Er wußte, dass sein sonst so kontrolliertes Gegenüber zu Recht tobte. Zugeben wollte er es dennoch nicht. Stattdessen reichte er ihm einen Schlüssel. "Sorge dafür, dass wir nicht gestört werden." Athos riss ihm Schlüssel schnaubend aus der Hand und ließ das Schloss geräuschvoll einrasten. Vergeblich wartete Trevilles darauf, dass Athos sich setzte. "Aramis und ich hatten eine Abmachung, das weißt du." "Eine Abmachung, die ihr nur getroffen habt, weil ihr sicher wart, dass sie nach kurzer Zeit versagen würde. Weil ihr sie gnadenlos unterschätzt habt." Noch immer hatte Athos Schwierigkeiten, seine Stimme zu dämpfen. Wie ein wildes Tier lief er vor Trevilles Schreibtisch auf und ab. "Nach allem, was sie für euch und die Musketiere getan hat, hättet ihr wenigstens den Anstand besitzen können..." "Genug!" Treville war aufgesprungen, die Fäuste dabei so fest in die Tischplatte gepresst, dass sich die Knöchel weiß färbten. "Wenn herauskommt, dass ich über ihre ... Natur ... im Bilde war, steht für uns alle mehr auf dem Spiel als die Ehre irgendeines Mädchens in einer Verkleidung." "Es geht um das Leben eines eurer Musketiere! Und sie ist schon sehr lange nicht mehr das Mädchen, dass ihr scheinbar immer noch in ihr sehen wollt. Ihr habt ihre Loyalität nicht verdient, wenn ihr wirklich so über sie denkt." Sekunden später krachte das Schloß erneut und der Kapitän der Musketiere fand sich allein mit seinem schlechten Gewissen. Noch nie hatte er Athos so erlebt. Aber er fürchtete, dass er Recht hatte. Athos eilte zurück in die Bibliothek. Er schnappte sich das Buch, dass sie gerade noch gelesen hatte, griff im Regal ohne Zögern nach einem weiteren, riss im Vorbeilaufen den roten Hut von der Stuhllehne und hastete die Treppe hinunter. Niemand sollte auf den Gedanken kommen, er wäre zu einem Gespräch aufgelegt. Er war schon fast durch die Tür verschwunden, als doch noch jemand seine Aufmerksamkeit verlangte: Porthos. 'Ausgerechnet du!' dachte Athos bitter. "Wusstest du davon?" Es fiel ihm schwer, den Gesichtsausdruck des Hünen zu deuten. Trauer, Wut, Enttäuschung, vielleicht sogar Angst, es schien etwas von allem zu sein. "Wovon, Porthos? Wovon wusste ich etwas?" Seine Stimme klang gereizter, als er es ihm gegenüber beabsichtigt hatte. Aber er hatte keine Zeit für Vorwürfe und Rechtfertigungen. Er musste ins Chatelet. Doch zuvor musste er einige Dinge organisieren. "Heute Abend bei mir. Bring D'Artagnan mit. Wir haben wichtige Dinge zu besprechen. Falls der Kapitän nach mir fragt, kannst du ihm ausrichten, dass er heute nicht mehr mit mir rechnen muss." Als Athos endlich die Wachstube des Grand Chatelet betrat, war es bereits später Nachmittag. Zwei Wachmänner saßen zusammen und vertrieben sich die Zeit beim Würfelspiel. Sie hatten offenbar beschlossen, ihm keine Aufmerksamkeit zu schenken. Ein Dritter saß mit geschlossenen Augen an die Wand gelehnt. Der Anblick seines Gesichts ließ den Musketier Schlimmes ahnen. "Was ist denn mit eurem Freund passiert? Ist er die Treppe herunter gefallen?" Jetzt blickten die beiden von ihren Würfeln auf und musterten ihn abschätzig. "Euer blonder Freund ist ihm passiert", zischte der ältere. "Wollte nachsehen, obs wirklich ein verfluchtes Weib ist, zack, hat er das Gesicht zerbrochen." Athos konnte und wollte ein Grinsen nicht unterdrücken. "Wie ungeschickt von ihm." Er betrachtete das verquollene Gesicht und die blutverkrustete Kleidung und versuchte sich auszumalen, wie es der Kontrahentin dieses großen Haufen Elends wohl gerade ergehen mochte. "Sagt, Monsieur, was muss ich tun, um meinem Freund heute noch einen ungestörten Besuch abstatten zu dürfen?" Wie beiläufig griff Athos in das Geldsäckchen an seinem Gürtel. Die beiden Wachmänner sahen einander prüfend an, dann nickten sie in trauter Einigkeit. "Vier Livre sollten genügen, Monsieur Athos! Zwei für jeden von uns." Der schweigsamere der beiden führte ihn durch die Dunkelheit zu Aramis' Zelle. Rochefort hatte nicht zu viel versprochen - schon auf dem Gang stank es nach Moder und allen Arten von menschlichen Überbleibseln. Vor einer der zahllosen Türen blieben sie stehen. "Ich möchte in der nächsten Stunde nicht gestört werden! Verstanden?" Der Wachmann sah ihn mit einem vielsagenden Lächeln an. "Verstanden. Aber passt auf euer Gesicht auf. Wäre doch schade drum." Hinter ihm fiel die Tür geräuschvoll ins Schloss, auf dem Gang wurden die Schritte leiser. Aramis saß mit eng an den Körper gezogenen Beinen auf der Liege und starrte ihn an. Selbst im Halbdunkel der Zelle konnte Athos deutlich die blutige Spur an ihrer Unterlippe und die dunkel verfärbt rechte Hand erkennen. "Du bist verletzt!", platzte es aus ihm heraus. Mit wenigen Schritten war er bei ihr. Er griff nach der einzigen Kerze und nahm ihre Hand, um sie genauer betrachten zu können. Blut klebte an den Knöcheln und Fingern, aber vermutlich war es nicht ihr eigenes. Die Lippe war aufgeplatzt, die Wunde allerdings nicht so tief, wie Athos im ersten Moment befürchtet hatte. "Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe. Ich wollte schon vor Stunden hier sein." Noch immer starrte Aramis ihn mit großen, glasigen Augen an. Doch erst jetzt bemerkte Athos den verwirrten Ausdruck, der darin lag. "Warum bist du hier?" fragte sie schließlich leise. Als sie nur einen verständnislosen Blick als Antwort erhielt, wurde ihre Stimme fester, fast schon wütend. "Du weißt, warum ich hier sitze. Also warum machst du dir die Mühe und kommst zu mir in dieses Rattenloch?" "Um dir zu helfen." Athos atmete tief ein und aus. Warum nur zweifelte sie an seiner Aufrichtigkeit? "Ich weiß ziemlich genau, wer oder vielmehr was du bist. Seit Jahren schon. Und alles, was ich heute früh zu dir gesagt habe, gilt. Was glaubst du denn, warum ich dich immer ein bisschen mehr gefordert habe? Warum ich immer ein bisschen mehr auf dich aufgepasst habe? Ich habe vor vielen Jahren geschworen, dich unter allen Umständen zu beschützen. Und ich denke, jetzt gerade könntest du etwas Schutz gut gebrauchen." In der fortschreitenden Dunkelheit erkannte er nicht, dass sich Aramis' Augen mit Tränen gefüllt hatten. Er hatte es all die Jahre gewusst. Er hatte an sie geglaubt. Sie hatte sein aufmunterndes Lächeln nicht sehen können, doch es schwang in jedem seiner Worte mit und erfüllte sie zumindest für den Moment mit einem Funken Zuversicht. Sie war nicht allein. Schluchzend fiel sie ihm um den Hals. Minuten vergingen, in denen Aramis wortlos ihren Tränen, gespeist aus Angst, Wut und Erleichterung, freien Lauf ließ, während Athos' Hände im immer gleichen Rhythmus beruhigend über ihren Rücken strichen. Sie hielt ihr Gesicht selbst dann noch in seiner Halsbeuge vergraben, als die Tränen bereits versiegt waren. Nach all den Jahren ohne zärtliche Berührung durch einen anderen Menschen war diese Umarmung durch ihn, ausgerechnet durch ihn, Balsam für ihr vernachlässigtes Herz. "Danke", murmelte sie, als sie sich schließlich wieder von ihm löste,und wischte sich verstohlen mit dem Ärmel über das feuchte Gesicht. Mit einer knappen Handbewegung tat Athos es als Selbstverständlichkeit ab. "Zunächst einmal müssen wir dich aus dieser Zelle bekommen. Sonst rafft es dich dahin, bevor deine Verhandlung beginnt." "Als ob das einen Unterschied machen würde. Das Ergebnis ist das gleiche." "Das lass ruhig meine Sorge sein." Athos dachte einen Moment schweigend nach. "Du bist Renée d'Herblay, Tochter von Claude Ailegrin, Graf d'Herblay?" "Ich... Was? Woher weißt du das?" "Ich musste einige Bücher wälzen, aber die Geschichte deiner Familie ist recht ordentlich dokumentiert. Zumindest bis zum Jahr 1609. Es tut mir sehr leid, was mit deinen Eltern passiert ist." Aramis entfuhr ein resigniertes Seufzen. Sie hatte schon vor sehr langer Zeit aufgehört, darüber nachzudenken. Der Verlust ihrer Eltern war der Ursprung all dessen, was sie letzten Endes in dieser Zelle hatte enden lassen. "Auf Grund deiner Herkunft steht dir eine deutlich komfortablere Zelle zu. Das würde aber bedeuten, dass du ein Geständnis ablegen musst." "Auf gar keinen Fall!" unterbrach ihn Aramis entrüstet. "Da könntest du mir genauso gut vorschlagen, mich selbst zu hängen." "Das dachte ich mir schon." Athos ergriff ihre Hand. "Du weißt, dass du die Wahrheit nicht ewig verbergen kannst. Früher oder später..." Sein Händedruck wurde fester. "Nein, darüber denken wir später nach. Ich bekomme dich auch anders in eine Zelle mit Fenster. Am besten noch heute." In Gedanken überschlug er den Inhalt seines Geldbeutel. "Und sobald das erledigt ist, kümmere ich mich um deine Freilassung." Aramis lachte ein freudloses Lachen. "Wie stellst du dir das vor? Ich habe über Jahre hinweg getäuscht und gelogen und mir einen Posten angemaßt, dass mir schon durch meine Geburt hätte verwehrt sein müssen. Ich habe den König vorgeführt wie einen Narren." Erneut rollten ihr Tränen über die Wangen, doch dieses Mal wollte sie keinen Trost. Sie war plötzlich wütend auf sich selbst und versuchte auf diese Art, sich selbst zu strafen. 'Du hast es nicht anders verdient! Du hättest dich damals fügen sollen.' flüsterte eine leise, bittere Stimme in ihrem Kopf. Sie klang wie ihre Tante. "Ohne alle Details zu kennen würde ich behaupten, dass Frankreich und vor allem die königliche Familie dir viel zu verdanken hat. Vielleicht wird es Zeit, ihre Gedächtnisse etwas aufzufrischen." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)