Chuparrosa von Ixtli ================================================================================ Kapitel 4: Ohne Schmerzen geht es nicht --------------------------------------- Diego erschrak fast zu Tode, als er wenig später die Küche betrat und eine unerwartete Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm. Dieses verdammte Haus und seine Einrichtung waren irgendwann noch mal sein Tod! "Wie nett von dir, dass du uns das Frühstück machen wolltest", begrüßte er Alvaro, der am Küchentisch saß und den Kopf auf seinen vor sich auf der Tischplatte verschränkten Armen liegen hatte. "Bist du vorher wieder eingeschlafen oder was ist passiert?" Alvaro gab lediglich ein dumpfes Murmeln von sich, ohne dabei den Kopf zu heben. "Sag nicht du hast von 1 ½ Dosen Bier schon 'nen Kater!" Diego bekam noch immer keine richtige Antwort und wandte sich schulterzuckend dem Kühlschrank zu. Dann übernahm er eben den Küchendienst, wie an jedem anderen Tag auch. Er stellte den Eierkarton auf dem Küchentisch ab und betrachtete sich besorgt seinen Gast, der es weiterhin vorzog, mit dem Kopf auf der Tischplatte zu liegen. Immerhin atmete er, was schon mal ein gutes Zeichen war. Diego reckte sich über die Tischplatte hinweg. Er stieß Alvaro gegen den Arm und zuckte im gleichen Moment zurück, als seine Finger sein Gegenüber berührten. Selbst durch das T-Shirt hindurch fühlte er die Hitze, die Alvaro ausstrahlte. "Was ist los?" Diego musste sich zusammenreißen, um nicht zu erschrocken zu klingen, aber etwas stimmte nicht mit Alvaro. Er umrundete den Küchentisch und strich Alvaro die feucht glänzenden Haarsträhnen aus der völlig verschwitzten Stirn. Er glühte förmlich, aber das Zittern, das seinen Körper durchlief, wirkte eher, als hätte er gleichzeitig kalt. Ein Kater war das hier jedenfalls nicht! Alvaro, den Diegos angenehm kühle Hand aus seinem Delirium riss, hob kurz den Kopf an. "Das Bier", stieß er heiser aus. "Das Bier aus dem Schrein war doch verflucht!" Diego wollte widersprechen, weil er sich selbst kerngesund fühlte, aber er ließ es sein - Alvaro würde ihm sowieso nicht zuhören. "Ich denke eher, du bist erkältet", wandte er ruhig ein, was Alvaro mit Kopfschütteln verneinte. "Tut dir irgendwas weh, oder hast du dich vor Kurzem verletzt?" Erneut schüttelte Alvaro den Kopf, ließ es aber gleich wieder sein, weil es sich anfühlte, als schwimme sein Hirn wie eine Boje auf sturmgepeitschter See. "Warte, doch", berichtigte er sich müde und setzte sich aufrecht hin. Er hob den Saum seines T-Shirts an und noch ehe Diego verstand, was er wollte, hatte er es ausgezogen. "Gute Güte", kommentierte Diego den glühend roten Fleck auf Alvaros Brust. "Das hast du aber nicht erst seit gestern, oder?" "Nein", krächzte Alvaro und schüttelte ganz leicht den Kopf, damit der Seegang darin nicht noch schlimmer wurde. Er wirkte so miserabel, dass Diego augenblicklich Mitleid mit ihm bekam. "Komm, leg dich wieder hin." Diego stützte seinen Gast beim Aufstehen und lenkte ihn ins Wohnzimmer zum Sofa hin. "Wie lange wolltest du warten, bis du mir das zeigst? Bis ich deinen kalten Körper hier irgendwo finde?" Behutsam half er Alvaro dabei, sich auf dem Sofa niederzulassen und ließ erst los, als der ruhig auf dem Polstermöbel lag. Diego zog den Wohnzimmertisch zum Sofa hin und nahm darauf Platz. Er beugte sich so weit vor, wie er konnte und betrachtete sich die Wunde auf Alvaros Brust. Seine Hand strich vorsichtig darüber. Die Stelle war unglaublich heiß und angeschwollen, aber noch war nichts davon zu sehen, dass die Entzündung weiterwanderte. "Kann ich dich mal für eine Stunde alleine lassen?" Am liebsten hätte er Alvaro mitgenommen, aber der war schon wieder halb eingeschlafen. "Wo ist dein Telefon? Ich gebe dir meine Nummer und wenn was ist, rufst du an, okay?" Alvaro nickte matt, ohne die Augen zu öffnen. "Du bleibst hier liegen, bis ich wieder da bin." Diego drückte Alvaro eine Wasserflasche in die Hand. "Keine Ausflüge, ja! Ich will dich nicht irgendwo draußen suchen müssen, verstanden?" Alvaro packte Diegos Hand und hielt sie fest, als wäre das hier ihr Abschied für immer. "Was hast du denn vor?" "Heilkräuter sammeln." Aber nicht die Art, die Alvaro erwartete... Zufrieden lächelnd sank Alvaros Hand an seiner Seite hinab zu Boden und er dämmerte weg. Diego hob Alvaros Arm an und legte ihn sorgsam auf dessen Bauch. Er dachte kurz darüber nach, ob es wirklich eine gute Idee war, Alvaro alleine zu lassen, um zur nächsten Apotheke zu rasen, aber je länger er zögerte, um so mehr Zeit verlor er.   Ein Luftzug und das Rascheln von Papier ließen Alvaro die Augen wieder öffnen. Neben ihm saß Diego und packte den Inhalt einer Papiertüte aus. Ob er immer noch oder schon wieder da saß, konnte er nicht sicher sagen, weil er sich an nichts davor erinnern konnte, außer dass Diego irgendwas besorgen wollte. Alvaro bemühte sich, den Sumpf, zu dem sein Hirn geworden war, nach brauchbaren Informationen zu durchsuchen. Oh, richtig! "Hast du die Heilkräuter schon gesammelt?" Alvaros Stimme klang kratzig, weil die ungeöffnete Wasserflasche noch immer in seinem Arm lag, anstatt dass er etwas daraus getrunken hatte, aber er fühlte sich schon minimal weniger gerädert. "Ja, war ganz einfach." Diego knickte eine Kapsel aus der Blisterfolie, die er in der Hand hielt. "Setz dich auf, sonst verschluckst du dich." Alvaro starrte auf die Kapsel in seiner Hand hinab, die Diego ihm gegeben hatte und dann zu Diego, der vor ihm auf dem niedrigen Wohnzimmertisch saß und ihm statt der angekündigten Heilkräuter eine Tablette gegeben hatte. "Aber ich dachte-" "Ich weiß was du dachtest", seufzte Diego. Er öffnete Alvaros Wasserflasche und drückte sie ihm in seine freie Hand. Er sah ihm in die glänzenden Augen, die vom Fieber gehetzt keine Ruhe fanden und rastlos über Diegos Gesicht schwirrten. "Es reicht halt nicht immer, Kerzen anzuzünden und zu beten." Geduldig wartete er, bis Alvaro, der ihn nachdenklich angesehen hatte, endlich die Kapsel schluckte, nur um ihm dann noch eine Tablette in die Hand zu drücken. Fünf Minuten hatte Diego neben ihm gesessen und hatte mit sich gerungen, ob er ihn wirklich alleine lassen sollte. Er hatte Alvaro zugesehen, wie er im Fieber irgendwas vor sich hingemurmelt hatte, und dann hatte Diego einen Arzt gerufen. Alvaro hatte nichts mitbekommen. Weder, dass er untersucht wurde, noch als Diego danach dann doch zur Apotheke gerast war, um die verschriebenen Medikamente abzuholen, was hieß, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Einzig bei der Spritze, die er bekommen hatte, hatte er kurz gezuckt. Müde sah Alvaro zu, wie Diego noch eine Flasche und mehrere dicke Kompressen aus der Tüte nahm. Aus der Flasche, die er gerade öffnete, strömte ein so beißender Geruch, dass Alvaro den Kopf wegdrehen musste, als sich die Kompresse, die Diego damit getränkt hatte, seiner Brust näherte. Tapfer versuchte er, nicht zusammenzuzucken, als Diego die entzündete Hautstelle berührte. "Tut mir leid, ohne Schmerzen geht es nicht", entschuldigte sich Diego, während er so sachte wie möglich die gerötete Stelle reinigte. Die Wunde sah seltsam auf. Sie war nicht tief. Eher wie oberflächliche Kratzer, aber in einer so ungewöhnlichen Anordnung, die er sich nicht erklären konnte. Die Stellen, an denen die Wundflüssigkeit getrocknet war, sahen viel zu geplant aus. So nah es ging beugte sich Diego über die Wunde und jetzt fielen ihm die dunklen Linien auf, die etwas erhobenen Dämmen glichen. "Ist das-" "Ja, ein Tattoo", beendete Alvaro erschöpft Diegos erschrockenen Aufschrei. "Schön, schön", entgegnete Diego nach mehrmaligem Ein- und Ausatmen und unterdrückte die kurze Panik in seiner Stimme. Gut, dass er auf sein Bauchgefühl gehört und einen Arzt gerufen hatte. Mit fahrigen Fingern drückte er die Creme aus der Tube, die er mitsamt den anderen Sachen aus der Apotheke hatte, und verteilte sie auf einem Tuch, das er vorsichtig auf die Wunde legte und an den Seiten festklebte. "Du riechst gut", bemerkte Alvaro aus heiterem Himmel. Seine Hand griff nach einer glänzenden Haarsträhne, die vor Diegos Augen hing und er ließ sie sachte durch seine Finger gleiten. "Danke." Diegos Kopf hob sich minimal. "Das nennt sich Seife." Er könnte sich jetzt selbst in den Hintern treten. Nachdem er sein leeres Zimmer gesehen hatte, war er erst mal in aller Seelenruhe duschen gewesen, ohne zu ahnen, dass Alvaro ein paar Meter weiter krank in der Küche saß. "Nein, nicht", protestierte Alvaro matt, als Diego aufstehen wollte. Er griff nach Diegos Hand und legte sie auf die Stelle seiner Brust, wo unter dem Salbenpflaster die Wunde hektisch pochte. "Kannst du deine Hand noch etwas liegen lassen? Sie ist schön kühl." Diego ließ ihn gewähren. Er fühlte das Zittern, das wie ein Erdbeben aus der Tiefe von Alvaros Körper an die Oberfläche brach. "Das wird bis Sonntag nicht weg sein", sagte er und wich Alvaros erschrockenen Blicken aus. "So kann ich nicht nach Hause zurück. Mein Vater-" Sein Vater würde ihn nie wieder einen einzigen Schritt alleine machen lassen, ohne genauestens wissen zu wollen, wohin er ging. Das war's dann endgültig mit der Selbstständigkeit... "Ich kann ihm das nicht zeigen." "Du bist ja weit gekommen mit deinem kleinen Geheimnis..." Diego konnte sich den tadelnden Tonfall nicht verkneifen. Das hier war nicht nur ein Tattoo, das man schnell mal verstecken konnte, das hier hätte verdammt schief gehen können und dieser Holzkopf vor ihm machte sich Gedanken darum, dass er für seinen selbst eingebrockten Bullshit die Konsequenzen tragen musste. "Ja, bis zu dir bin ich gekommen." Alvaros Handgriff um Diegos Finger verstärkte sich. "Bitte, schick mich noch nicht weg. Nur ein paar Tage, ja?" Eigentlich hatte Alvaro recht. Zuhause hätte er wahrscheinlich bis zum Schluss gewartet, ehe er seinem Vater die Wunde gezeigt und gestanden hätte, wie es dazu kam, wenn überhaupt. Und selbst wenn er morgen nach Hause fuhr und nichts sagte, wie gut standen die Chancen, dass er die Wunde zuhause versorgen konnte, ohne dass es jemand aus seiner Familie irgendwann mitbekam? "Na schön", willigte Diego nach einigem Nachdenken schließlich ein. Er erhob sich von seinem Sitzplatz und sah lächelnd auf Alvaro hinab, der ihn dankbar aus fieberglänzenden Augen anstrahlte. Dieses Riesenbaby... "Ich muss mal eben telefonieren." Diegos Hand glitt aus Alvaros Griff, aber er war zu geschafft, um noch einmal nachzugreifen. Glücklich schloss er die Augen und dämmerte wieder weg. Doch die Finger, die ihm noch ein letztes Mal sachte über die Stirn strichen, nahm er sehr wohl noch wahr. Die Berührung hatte etwas gütiges an sich, etwas, was Alvaro ohne Worte bewusst machte, was für ein Idiot er war, weil er die Augen geschlossen ließ, anstatt sie zu öffnen und Diego zu fragen, was ihm schon auf der Zunge brannte, seit er über jedes Wort nachdenken musste, das er sagen wollte. Aber die Blöße, dass Diego dachte, er plappere nur im Fieberwahn irgendwas daher, was hinterher keine Bedeutung mehr haben würde, sobald es Alvaro wieder besser ging, wollte er sich auch nicht geben.   Irgendwann erwachte Alvaro ohne das kleinste bisschen Zeitgefühl. Er wusste weder wie lange er geschlafen hatte, noch ob es überhaupt der gleiche Tag war. Er hob den Kopf und ließ ihn direkt wieder auf die Armlehne des Sofas sinken, als das Pochen hinter seiner Stirn an Fahrt aufnahm. "Diego?" Erst als er den Namen ausgesprochen hatte, sah er den Schemen, der nicht weit von ihm in einem Sessel saß und bei seinem Namen den Kopf hob. "Mir ist so heiß." Diego kam zu ihm hinüber und legte ihm wieder die kühle Hand auf die Stirn. Alvaro konnte noch nicht einmal sagen, ob sie überhaupt kühl war, aber sie beruhigte ihn. Wenn er sie doch bloß da liegen lassen würde, doch Diego verschwand einfach kommentarlos aus seinem Sichtfeld und Alvaro war zu schwach, um zu protestieren. "Hier." Schwerfällig öffneten sich Alvaros Augenlider einen wenige Millimeter breiten Spalt. "Ich habe keinen Hunger", krächzte er, als er die Packung tiefgefrorener schwarzer Bohnen sah, die ihm Diego hinhielt. Diegos Lachen ertönte. "Die sind für deine Stirn, Dummerchen." Er wickelte die Tüte in das Geschirrtuch, das er mitgebracht hatte und platzierte das kühle Päckchen auf Alvaros Stirn. "Wechsel zwischen deinem Kopf und der Wunde ab, damit die Bohnen bis zum Abendessen aufgetaut sind." "Blödmann", erwiderte Alvaro und grinste verschämt. Die schwarzen Bohnen taten gut. Nicht so gut, wie Diegos Hand, dafür lagen sie viel zu still da und bewirkten nicht dieses aufregende Kribbeln, das direkt aus dessen Fingerspitzen in Alvaros Magen zog. Es waren eben einfach nur tiefgekühlte Bohnen. Angenehm genug für seine überhitzte Stirn, aber nicht für den Rest von ihm. Alvaro öffnete ein Auge und schaute vorsichtig zu Diego. Ob der ahnte, was er gerade dachte? Diego stellte gerade ein großes Glas Eistee vor ihn auf den Wohnzimmertisch, an dem das kondensierende Wasser herabperlte, und legte eine Schmerztablette direkt daneben. Sein Blick streifte nur kurz Alvaros, der ausnahmsweise mal nicht so schnell wegsah, als hätte man ihn bei irgendwas verbotenem erwischt. "Mit deinem Vater ist alles geklärt", überbrachte Diego seinem mehr oder weniger freiwilligen Übernachtungsgast die frohe Kunde, die diesen sofort erleichtert aufseufzen ließ. "Er dachte zuerst, dass der Fluch doch schlimmer sei, aber ich habe ihn abgewimmelt. Und dein kleines Kunstwerk habe ich auch nicht erwähnt. Du schuldest mir also was!" Genaugenommen war Arsenio mehr darüber erleichtert gewesen, dass auch keine weiteren Kosten anfielen, aber davon musste Alvaro ja nichts erfahren. Er wusste selbst was es hieß, wenn man so verzweifelt war, dass man lieber auf eine Mahlzeit verzichten würde, als darauf, jemandem zu helfen, der einem viel bedeutete. "Danke - für alles." "Ja, ja, abwarten. Tau erst mal die Bohnen auf, dann reden wir weiter." Diego lächelte leicht. Noch war Alvaro nicht von seinem sogenannten Fluch erlöst. Er hatte eine Ahnung, aber bis er sich sicher war, würde er damit warten. Er rückte das kühlende Päckchen auf Alvaros Stirn zurecht, als sich die Augen darunter erneut öffneten und ihn eine Weile verfolgten, ehe sich auch der Mund öffnete. "Diego?" Dieses Mal hielt er dem Blick aus dem Augenpaar über sich stand. Diesen schönen dunklen Perlen, die in zwei leicht bläulich schimmernden Seen trieben. Kein Blinzeln oder Ausweichen! "Ich bin so froh, dass du kein Serienkiller bist." Diego lachte auf. Er streckte die Hand aus und tätschelte Alvaros langsam abkühlende Wange. "Nicht nur du, nicht nur du..." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)