366 Tage - 366 Geschichten von Gedankenchaotin (366 Tage Challenge 2024) ================================================================================ Kapitel 35: 04.02.2024 - Schal ------------------------------ “Oma? Kannst du mir beibringen, wie man einen Schal strickt?” Die Worte ihrer Enkelin Nia sorgten dafür, dass Minerva von ihrer eigenen Strickarbeit aufsah. Nia war inzwischen dreizehn Jahre alt und nach dem Tod ihres Vaters vor ein paar Monaten lebte das Mädchen auch bei ihr. Die Mutter Nias hatte die Familie schon vor einigen Jahren verlassen und wollte seitdem nichts mehr von ihrer Tochter wissen. So sehr Minerva selbst ihre Schwiegertochter auch ins Herz geschlossen hatte, nachvollziehen konnte sie die Entscheidung, ihre Tochter alleine zu lassen, bis heute nicht. Gemeinsam mit ihrem Sohn hatte sie Nia großgezogen und sein plötzlicher Tod hatte ihn genauso sehr aus der Bahn geworfen. Trotzdem hatte sie keine Sekunde gezögert, Nia bei sich aufzunehmen. Bislang hatte sich das Mädchen sehr zurückgezogen und kaum mit ihr darüber geredet, was geschehen war. Durch eine Psychologin, die sie zu Rate gezogen hatte, wusste sie, dass es besser war, wenn sie Nia nicht zu sehr bedrängte und ihr die Zeit ließ, die sie benötigte. “Natürlich, aber wie kommst du denn jetzt darauf?”, hakte sie nach und lächelte sachte. Kurz bildete sie sich ein, Nia würde ertappt zusammen zucken, wenn auch unbewusst. “In der Schule müssen wir demnächst mit dem Stricken anfangen und ich will nicht vollkommen unerfahren da stehen”, erklang kurz darauf die Stimme Nias, woraufhin Minerva auf den Platz auf dem Sofa neben sich deutete. Nia zögerte kurz, bevor sie sich auf dem Platz neben ihr Großmutter niederließ. Geduldig erklärte Minerva ihr, was sie tat und gab auch das Strickzeug an ihre Enkelin weiter. Allein schon deshalb, damit Nia selbst lernte, wie es ging und welche Maschen sie knüpfen musste. Erst nach über zwei Stunden hob Nia ihren Kopf wieder, nachdem sie sich vorher auf ihre Arbeit konzentriert hatte. Sie hatte kaum ein Wort gesagt, aber als sie jetzt ihre Stimme erhob, war Minerva tatsächlich ein wenig überrascht. “Können wir das jetzt jeden Tag machen, bis der Schal fertig ist?” “Natürlich, mein Schatz”, erwiderte sie und streckte vorsichtig eine Hand aus, um Nia kurz über die Haare zu streichen. Das Mädchen lächelte und Minerva sah ihr an, dass sie kurz zögerte, bevor sie sich in die Berührung lehnte. Für einen Moment schloss sie sogar die Augen und löste sich erst wieder, als es an der Tür klingelte. Während Minerva sich erhob, um zu öffnen, floh Nia in ihr Zimmer. Flüchtig sah Minerva ihr nach und nahm anschließend das Paket entgegen, dass der Postbote brachte. Sie unterhielt sich einen Moment lang mit ihm, bevor sie das Paket achtlos an die Seite stellte und sich um das Abendessen kümmerte. In den nächsten Tagen saßen sie tatsächlich jeden Tag auf dem Sofa und strikten gemeinsam einen Schal. Obwohl Minerva das Gefühl nicht los wurde, dass Nia ihr nicht die Wahrheit gesagt hatte und es den Schulunterricht in der Schule nicht gab, sprach sie ihre Enkelin nicht darauf an. Stattdessen genoss sie die Zeit, die Nia ihr schenkte und die Tatsache, dass sich das Mädchen ihr immer mehr öffnete. Sie redeten über die Schule, darüber, ob Nia schon Freunde gefunden hatte oder wie sie sich ihre Zukunft vorstellte. Nur das Gespräch über ihren Vater ließ Nia nicht zu. Bis zu dem Tag, an dem der Schal endlich fertiggestellt war. Sobald die letzte Masche verschlossen war, erhob sich Nia und stopfte den Schal in eine Tasche, die sie vorhin schon auf dem Sofa abgestellt hatte. Sie schlüpfte in ihre Jacke, die über einem der Stühle hing, während Minerva sie verwirft beobachtete. “Wo willst du denn jetzt hin?” Es war bereits später Nachmittag und Minerva konnte sich einfach nicht erklären, wohin das Mädchen jetzt noch wollte. Und dann auch noch mit dem Schal. “Zu Papa”, murmelte Nia leise und sah flüchtig zu ihrer Großmutter. Verwirrt blinzelte Minerva und hakte direkt nach, was genau das Mädchen damit meinte. “Ich .. möchte ihn Papa bringen. Es wird doch jetzt bald kalt und ich möchte nicht, dass er friert. Wenn ich ihm den Schal um den Grabstein wickele, spürt er es vielleicht und ihm ist dort nicht mehr ganz so kalt, wo er jetzt ist”, sprach Nia leise aus, was sie dachte und Minervas Herz brach. Diese Idee war so wunderbar und traurig zugleich, dass sie gar nicht richtig wusste, wie sie überhaupt reagieren sollte. Erst nach ein paar Augenblicken erhob sie sich und zog sich ebenso ihre Jacke an. “Dann komm, lass uns zu ihm gehen und ihm den Schal bringen. Und ihm davon erzählen, dass du ihn fast komplett alleine gestrickt hast”, forderte sie ihre Enkelin auf und zum ersten Mal in den letzten Wochen schlich sich ein ehrliches Lächeln auf die Lippen Nias. Und das war alles, was Minerva sich jemals hätte wünschen können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)