Euch die Uhren, uns die Zeit von Azzi_Dietz ================================================================================ Kapitel 1: Himmelblau --------------------- Erbarmungslos brannte die Sonne auf den sengenden Asphalt nieder. Vor der Eisdiele neben dem Stadttheater tummelten sich Menschentrauben, um sich eine süße Abkühlung zu gönnen. Auf dem Platz der alten Synagoge tanzten und planschten die Kinder der entnervten und überhitzten Eltern im Wasser des Brunnens. Der Platz der alten Synagoge und das gegenüber liegende Stadttheater sind an einer Straßenbahnkreuzung gelegen, das Kollegiengebäude II der Albert-Ludwig-Universität grenzt direkt neben dem Platz. Fahrräder und Straßenbahnen sowie diverse Menschenmassen tummelten sich in regelmäßigen Wellen vorbei. Zwischen dem Getümmel, dem Gegröle der Kinder und dem gurren der Tauben, saß eine Gruppe von Punks. Die Ausgestoßenen, die Abtrünnigen der Gesellschaft, diejenigen, die am Ende dastehen und einen großen Mittelfinger parat haben. Einst von der Familie verstoßen, von der Gesellschaft verbannt, rotteten diese sich zusammen wie die Ratten in den letzten Winkeln der Stadt, um mit ihren Klimper Beuteln den „Reichen“ das Geld abzuknöpfen. Die Studenten überquerten mit dem Rad oder zu Fuß das Gelände. Hier und da wurde es sich im Schatten bequem gemacht und ein Tabakbeutel heraus gekramt. Christine, Meg und Raoul hatten sich wie jeden sonnigen Tag, nach der Uni, den perfekten Platz unter einem der Schattenspenden Bäume ergattert. „Eins sag’ ich dir, wenn der Herr Döhler mich noch einmal Fräulein nennt, dann erzähl’ ich dem alten Sack woher dieser Begriff kommt und was der mit uns Frauen in der heutigen Zeit eigentlich macht!“ schnatterte Meg drauflos und drehte sich nebenher eine Zigarette. „Ich denke, er weiß ganz genau was er tut“ frotzelte Raoul und kramte nach seiner Trinkflasche. „Ich mein’, wie alt ist er, hundert?“ „Mindestens!“; warf Meg ein „Also muss er den 2. Weltkrieg ja miterlebt haben, da nannte Mann das weibliche Geschlecht nun mal so. Aber ich muss dir beipflichten, wir leben nicht mehr im Jahr 1900, komm klar alter.“ lenkte Raoul ein, als er Meg’s Augenbrauen unter dem Pony verschwinden sah. Christine saß lächelnd neben den beiden. Die Beine in den Schneidersitz verknotet, die Arme auf dem Boden gestützt, ließ sie ihren Blick über den weiten Platz der alten Synagoge schweifen. Sie genoss es sehr, die Mittagspause mit ihren 2 besten Freunden zu verbringen. Unter diesem alten Baum, auf diesem geschichtsträchtigen Platz, umgeben von Menschen, Tauben und Bäumen, was kann es schöneres geben? Wie jeden sonnigen Tag war auch der Musiker da, der mit seinem Hund etwas abseits von den anderen Punks saß. Christine warf einen Blick zu dem Punk. Noch hatte er nicht angefangen zu spielen. Seine Gitarre lag neben ihm. Auf seinem Schoß lag ein Spaniel-Mix, zusammengerollt. Der Punk drückte sein Gesicht fest in den Körper des Hundes hinein, ganz so als wolle er verschwinden. Ein trauriges Lächeln umschmeichelte Christines Lippen. Sie hatten den Punker schon öfters hier gesehen und gehört. Er zupfte die Gitarre, wie sie es noch nie erlebt hatte, denn sie wusste wie gute Musiker spielten. Wie gute Musiker die Musik lebten und fühlten. Ihr Vater war selbst ein großartiger Geigenspieler und begleitete regelmäßig die skandinavische Philharmonie Orchester. Zuletzt sah sie Ihren Vater vor mehr als 6 Monaten. Sie vermisste ihn sehr. Quasi ohne Vater aufzuwachsen, der nur für die Musik lebte, ließ ihr mit den Jahren einen dumpfen Schmerz in ihrer Brust heranwachsen. Dieser Schmerz trieb sie nach und nach in die Kunst. Auch wenn sie wusste, dass das Kunststudium ihr am Ende nicht wirklich das brachte, wonach sie sich eigentlich sehnte. Immerhin konnte sie eine Professur ansteuern. Ein milder Trost für jemanden, der sich nach so viel mehr sehnte. Die ersten Akkorde erklangen über den Platz. Der Punk stand nun in seiner vollen Größe. Christine war immer wieder beeindruckt, wie groß und vor allem wie dünn er war. Ein Strich in der Landschaft mit einer Präsent, die den ganzen Platz einnahm. Und dann, kam die Stimme. Erst zart, dann immer lauter und anschwellend durchdrang er die Ohren der Menschen. Christine schloss die Augen und summte mit. Meg drehte sich um, nahm einen festen Zug an ihrer Zigarette und atmete aus „Hey, das ist doch der Typ vom letzten Mal, oder?“ sie stieß mit ihrem Ellenbogen in Raoul’s Seite, sodass auch er sich jetzt umdrehte. „Ah... der wieder.“ er wandte sich wieder seinem Buch um. BWL. Wer studierte bitte BWL? Jemand, der nicht weiß, was er sonst nehmen sollte, dachte Christine. Armer Raoul. „Boah Chrissy, ist das nicht Florence and the Machine?“, rief Meg schließlich, „Ich... ich glaube schon“ Christine lauschte dem Text ~And I never wanted anything from you~ „Ja!“ rief sie und stand schließlich auf. Meg sah ihr nach „Was zum... CHRISSY!“ rief sie noch, Raoul sah wie ihr Rucksack langsam umfiel, da war sie schon bei dem jungen Mann mit Gitarre und sie stieg in den Song mit ein ~Happiness hit her like a bullet in the back~ für einen winzigen Augenblick stolperte der Akkord, aber der Punk fand sich wieder und sah zu ihr herunter. Seine gelben Augen starrten unerbittlich, aus einer weißen Maske ohne Gesichtszügen hervor und fingen ihre himmelblauen Augen ein. Kurz schnappte sie nach Luft und sang weiter. Seine Stimme verlor an Volumen, er begleitetet sie lediglich nur noch. Die Ohren der Hündin zuckten sachte, sie stand auf, um mit ihrer feuchten Nase, an Christines Fuß zu schnuppern. Christine lächelte, beugte sich runter und streichelte die Hündin, sang dabei aber stetig weiter. Sie war dankbar, nicht mehr weiter in das Gesicht des Punkers schauen zu müssen. Ein Gesicht gab es schlicht nicht. Sie wusste nie ganz recht, wo sie hinschauen sollte, wenn sie ihn ansah. Das Lied ebbte ab. Ein paar Menschen, die stehen geblieben sind, warfen etwas Kleinod in seinen Gitarrenkoffer. Manche tuschelten und manche zogen wortlos ab. Der junge Mann beugte sich, langsam und behutsam, zu Christine und seinem Hund herunter „Sie heißt Sasha“ murmelt er fast tonlos. „Ein Weibchen also? Ohhhh du bist so süß!“ Christines Stimme wurde eine Oktave höher, so wie es Menschen eben taten, wenn sie mit süßen Wesen sprachen. Sasha rollte sich auf den Rücken und präsentierte ihren wuscheligen Bauch, genüsslich brummelte sie dabei. „Sie hat keine Flöhe oder so, du kannst sie ruhig richtig streicheln“, raunte die Stimme sachte durch die Maske. Christine sah schließlich zu ihm hoch. Er wich ihrem Blick aus, schien in sich zusammenzufallen, er stimmte seine Gitarre nach. Ihr Blick wanderte auf seine Hände. Lang. Dünn. Knochig. Erst jetzt fiel ihr auf, wie schrecklich dünn er wirklich war. Sie spürte, wie sie ihn starrte. Ihm fehlten ein paar Fingernägel. Pflaster überall. Fehlt da eine Fingerkuppe? Christines Augen wurden größer. „Wenn du weiter starrst, muss ich Gebühren verlangen.“ sprach er ruhig und stand auf. „Oh Gott, Entschuldigung! Es ist nur“ sie strich sich die wilden Locken hinter beide Ohren „Ich habe schon lange keinen so guten Gitarristen mehr gesehen“ „Ah...“ „Du stimmst nach Gehör?“, sie versuchte verzweifelt das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken „Wenn man sich kein Stimmgerät leisten kann, dann versucht man es eben so.“ murmelte er. Sasha’s Brummen wurde immer lauter und ging in ein forderndes Jaulen über. „Tja...“ er sah zu Christine „Ihr Bauch. Du streichelst zu sanft.“ seine Stimme hellte sich auf. „Schau“ er ging erneut in die Hocke zu Christine und Sasha runter, griff in das dichte Fell der Hündin und streichelte los. „So geht das“, murmelte er ernst. Christine fing an zu lachen „Ich wusste nicht, dass das einer Raketen-Wissenschaft gleicht“ und da sah sie, die Augen hinter der Maske starrten sie erst einige Sekunden an und dann, lächeln. Er lächelte. Die in Schatten gehüllten Augenwinkel zogen sich zusammen und schlugen winzige Fältchen. „Ich bin Christine Daaé“, sagt sie schließlich und löste den Punker beim Streicheln ab „Erik“ antwortete er tonlos und stand wieder auf. „Christine Daaé, wie stehst du zu Nirvana?“, fragte er schließlich und schlug den ersten Akkord von Smells Like Teen Spirit an. Die Hitze stieg an. Der Asphalt flimmerte. Geld klimperte in dem Gitarrenkoffer. Christines Stimme wurde heißer. Erik brach ab und sah sie an. „Du singst nicht?“ „Wa-“ „Für gewöhnlich. Du singst nicht für gewöhnlich, aber du hörst dich an wie ein Profi“ er drehte sich ab und sammelte das Geld ein. „Erwischt. Ich singe für gewöhnlich ein oder zwei Lieder unter der Dusche“ „Verschwendetes Talent“ knurrte er in ihre Richtung. Sie wich zurück. „Sagt der Richtige, Straßenmusiker!“ Konterte sie. Erik schwieg und packte seine Sachen zusammen. „Ja. Klar. Sorry.“ murmelte er und schien gehetzt. „Ich muss jetzt los, komm Sasha“, die Hündin sprang von ihrer schlafenden Position auf und trottete zu ihrem Herrchen. Ihre Blicke trafen sich ein letztes Mal an diesem Tag. Dann trennten sich ihre Wege. Der Punker, der nicht mal bei den Punks saß, machte sich auf und davon. Christine setzte sich wieder in den schattigen Baum. „Woah Chrissy, der hat deinen Anteil gestohlen“ kicherte Meg, „Ihr hättet ruhig fifty fifty machen können“ „Red keinen Unsinn“ Christine lächelte unbeholfen und griff nach der Wasserflasche. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)