Hunger von rokugatsu-go ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Das Krachen, Rumpeln und Beben der Erde gehörte beinahe zum Alltag. Es passierte mehrmals die Woche und nicht minder selten betrat kurz danach der Leiter der Schule mit ernstem Gesicht einen der Klassenräume, nannte den Namen eines Schülers und bat ihn oder sie, ihm zu folgen. Ein kurzes Raunen ging dabei jedes Mal durch die Klasse, doch das war alles, was es an Reaktion gab. Kein Lehrer sagte etwas dazu, niemand sprach dem betroffenen Schüler sein Beileid aus. „So etwas passiert halt“, war die Parole, die in diesem kleinen Dorf, fernab der Großreiche, zu einer Art Leitsatz geworden war. Die meisten der Bewohner hier waren bettelarm, das Land war weitestgehend unfruchtbar und das Wenige, was man anbauen konnte, schmeckte nach der trockenen Erde, aus der es gekommen war. Der größte Arbeitgeber des Ortes war die Mine, in der Eisenerz zur Stahlherstellung abgebaut wurde. Der Stahl wurde in einem anderen Dorf zu Schwertern verarbeitet, die dann wiederum in die Großreiche verkauft wurden. Dort gab es Ninja und Ninja hatten einen großen Bedarf an Waffen, weswegen das Dorf, in dem die Schwerter hergestellt wurden, wohlhabender war als der Moloch, aus dem das Erz kam. Selbst kurz nach dem vierten großen Ninjakrieg gab es reichlich Bedarf für diese Waffen, weil der Krieg die Lager der Großreiche geleert hatte. Ein paar Tage Fußmarsch von hier gab es sogar einen Ort, der über eine Diamantenmine verfügte. Auch dieser Ort, so hieß es, stand nicht schlecht da. Das war alles, was der Junge, dessen Sitznachbar eben herausgerufen worden war, über die Außenwelt wusste. Es gab eine Welt da draußen, eine Welt, die nicht nur aus der furchtbaren Mine und dem hässlichen Dorf drumherum bestand. Es gab eine Welt, in der Menschen nicht ständig Hunger hatten und sich, selbst wenn sie nicht in der grässlichen Mine arbeiteten und ihr Leben dabei riskierten, am Ende des Tages genügend zu essen leisten konnten. Der Junge hatte keinen Traum. Er wusste noch nicht, was er einmal tun wollte oder wo genau er hin wollte. Er wusste nur, dass er aus diesem Höllenloch heraus wollte. Irgendwo außerhalb dieser Einöde würde er einen Traum, den er verfolgen konnte, finden. Er setzte seine Hoffnungen auf einen Schulabschluss, doch dies war leichter gesagt als getan. Immer wieder fehlte das Schulgeld, sodass er in einem fort ganze Semester ausfallen lassen musste. Bis er das Schulgeld wieder zusammenhatte, war oft so viel Zeit vergangen, dass er mit manchen Unterrichtseinheiten praktisch von vorn anfangen musste. Seine Eltern schickten ihn in den Zeiten, in denen das Geld besonders knapp war, als Aushilfskraft überall dorthin, wo man ihn nahm. Einen ganzen Sommer lang hatte er einmal Ungeziefer von den kargen Feldern abhalten müssen („abhalten“ war das falsche Wort, wie er zügig erfahren hatte. Der Bauer hatte ihm eindringlich eingebläut, dass er alles zerquetschen sollte, was den Pflanzen zu nahe kam). Rückblickend war dieser Job eintausendmal besser gewesen als irgendein Job, der mit der verfluchten Mine zu tun hatte. Die Betreiber der Mine hielten sich zwar mehr oder weniger an ein Gesetz, das ihnen verbot, Kinder tief hinunter in die Mine zu schicken, aber er war trotzdem so dicht am Geschehen gewesen, dass ein Einsturz ihm einmal beide Arme gebrochen hatte. Auch als seine Arme wieder verheilt waren, hatte er die Schule nicht direkt wieder besuchen können. Die Arztkosten hatten sämtliche Rücklagen gefressen.   „So etwas passiert halt“, hörte er später am Tag auf der Straße seine Mutter zu der weinenden Witwe sagen, deren Mann am Morgen verschüttet worden war. Seine Mutter machte für die Betreiber der Mine den Haushalt. Ihre lächerlich großen Häuser am Dorfrand stachen unter den winzigen Baracken der Einheimischen hervor wie Stacheln aus einer Wunde. Sie rackerte sich dort für einen Hungerlohn ab, während er allein für den Vorschlag, ob sie von dort nicht einmal etwas zu essen mitgehen lassen könnte, eine Tracht Prügel kassiert hatte. Er wusste nicht, ob es sich woanders anders verhielt, aber hier waren die Leute schnell damit, zuzuschlagen. Seine Klassenkameraden kamen da auch gleich ganz nach ihren Eltern. Sie schlugen auf alles und jeden ein, wenn ihnen danach war. Ob sie auch „So etwas passiert halt“ sagen würden, wenn sie irgendwann jemanden zu Tode prügelten? Wahrscheinlich. Der Junge musste bei diesem Gedanken ein Lachen unterdrücken. Er hoffte zutiefst, dass seine Eltern niemals auf ihn abfärben würden. Seine Mutter war duckmäuserisch, außer wenn es darum ging, ihn zu züchtigen und sein Vater, unangemessen stolz darauf, schon mehrere schwere Einstürze in der Mine überlebt zu haben, war ein ekelhafter Säufer, der nur aus Spaß an der Freude hin und wieder mal zuschlug (seine Erklärung war, dass der Junge „zu weich“ war und dies ihn abhärten würde. Manchmal, wenn der Schulleiter mit seiner strengen Miene den Raum betrat, wünschte er sich, er würde aufgerufen. Aber dann wiederum würde er in diesem Fall das Schulgeld endgültig nicht mehr zusammen kriegen). Während ein weiterer Passant bei der trauernden Witwe anhielt und „So etwas passiert halt“ sagte, zuckte der Junge plötzlich zusammen. Was war das? Was war das für ein Geruch? So etwas hatte er noch nie gerochen. Es roch süßlich, aber nicht zuckrig; fruchtig, aber nicht aufdringlich. Es roch himmlisch. Er reckte seine Nase in die Höhe und versuchte dem Duft zu folgen. Das Aroma waberte durch die Straße. Das konnte nichts zu essen sein. Solches Essen gab es hier nicht. Leute, die von außerhalb gekommen waren, hatten schon von verschiedensten Gerichten und Zutaten erzählt, die er sich nicht einmal vorstellen konnte. Aber durch ihre Erzählungen wusste er, dass es mehr gab; mehr als es hier je geben würde. Fast im Laufschritt eilte er dem Duft hinterher, bog in eine Seitengasse ab und kam dort vor einer Frau zum Stehen. Sie trug einen aufwändig bemalten Kimono, nichts, was die Bewohner hier normalerweise trugen. Ihre langen, sandblonden Haare waren hochgesteckt. Und sie trug sichtbar Make-up im Gesicht. Nichts, was die Bewohner hier normalerweise trugen. Man konnte sagen, dass sie das schönste Wesen war, das er je gesehen hatte. Argwöhnisch musterte sie ihn. „Verfolgst du mich?“ Ertappt lächelte er nervös, bis er sich einer Sache sicher war: Der Geruch kam von ihr. Er kam eindeutig von ihr. War das Parfüm? Nein, es musste etwas anderes sein, aber was? „Riechen Sie so gut?“ Die Frau zuckte verdattert zusammen und lachte schließlich. „Ich weiß nicht. Vielleicht?“ Ungefragt trat er näher an sie heran. „Doch. Doch eindeutig. Sie riechen so gut.“ „Dann … danke für das Kompliment?“ „Sie sind wunderschön.“ „Oje, was für ein Charmeur!“ Sie lachte erneut und hielt erst inne, als ein sehr lautes Knurren ertönte. Verschämt hielt der Junge sich den Bauch. „Hast du vielleicht Hunger?“, fragte sie besorgt. „Ein wenig … ja.“ Sie überlegte kurz. „Komm mal mit.“ Die hübsche Unbekannte führte ihn in ihr kleines Haus in der Seitengasse. Wie bei den anderen Häusern sah die Fassade arg in Mitleidenschaft gezogen aus, doch im Inneren lagen edle Brokatkissen auf dem Boden, weitere teuer aussehende Kimono hingen über einem Kleiderständer und ein ganzer Schminktisch, inklusive eines großen Spiegels und unzähligen Tiegeln und Töpfchen davor, stand augenfällig im Raum. Sie setzte sich auf ein Kissen an dem Schminktisch und gab ihm zu verstehen, sich auf eines der Kissen, die neben einem erstaunlich weich wirkendem Futon lagen, zu setzen. Sie griff in ein Körbchen neben sich und warf ihm daraus etwas zu. Komplett baff starrte er das an, was er gefangen hatte. Ein Apfel. Ein dicker, roter Apfel. Die Dinger waren in dieser Gegend so teuer, dass er sie nur vom Sehen kannte. Unschlüssig, was er tun sollte, blickte er mit großen Augen zu ihr. „Iss.“ „Aber ...“ „Sieh es als Dank dafür an, dass ein so hübscher junger Mann mir so viele Komplimente macht.“ Sie stockte, als sein Gesichtsausdruck daraufhin von leichtem Zorn überkommen wurde. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“ Er schaute von dem Apfel zu ihr. „Wollen Sie sich über mich lustig machen?“ „Nein“, entgegnete sie bestürzt. „Warum sollte ich?“ „Meine Eltern und meine Schulkameraden sagen mir immer, dass ich kein schöner Anblick bin. Mit den schmalen Augen, dem langen Gesicht und den widerspenstigen Haaren.“ Er fuhr sich mit einer Hand über seine kurzen, lilafarbenen Haare. Seine Eltern schnitten sie ihm stets raspelkurz, doch seine Naturwellen probten jedes Mal den Aufstand und brachen im Handumdrehen wieder durch. „Deine Eltern sagen dir so etwas?“ Die Frau schüttelte perplex den Kopf. „Das ist grausam, denn es stimmt nicht. Du bist sehr wohl sehr hübsch.“ Zu ihrem Unverständnis lachte er plötzlich. Es war ein gellendes, fast hysterisches Lachen. „Mein Lachen finden sie auch furchtbar!“, presste er hervor und versuchte krampfhaft, es abzustellen. „Iss den Apfel.“ „Wirklich?“ Sie zeigte auf das Körbchen, aus dem sie ihn genommen hatte. Es lagen noch drei weitere darin. „Iss ihn, bitte.“ Er biss ein großes Stück von der Frucht ab. Ein Rinnsal des Safts lief sein Kinn hinunter und er wischte es schnell mit dem Handrücken ab und leckte es von seiner Hand. Ungläubig starrte er dann den Rest des Apfels an, ehe er gierig noch einmal reinbiss. Und noch einmal und noch einmal, bis die Frau ihn stoppte. „Das Kerngehäuse isst man nicht mit.“ „Oh …?“ Verwundert blickte er auf das kleine Stückchen, das er noch zwischen seinen Fingern hielt. „Was für eine Schande. Ich wette, das schmeckt genauso gut.“ Die Frau lächelte. Sie war inzwischen dazu übergegangen, einen der kleinen Behälter auf ihrem Tisch zu öffnen. „DA!“, entfuhr es dem Jungen. „Das ist der wundervolle Geruch!“ „Mein Puder?“ Sie lachte. „Ich habe es immer an mir. Ich nehme es gar nicht mehr wahr.“ „Noch eine Schande.“ „Du bist witzig. Wie heißt du überhaupt?“ „Deepa.“ „Ein hübscher Name für einen hübschen Jungen.“ Er kämpfte deutlich damit, nicht wieder loszulachen. „Und Ihr Name?“ „Amazura.“ „Ja, das passt auch.“ „Gut, dass wir uns da einig sind.“   „Ich finde es sehr verstörend.“ Amazura saß an ihrem Schminktisch und puderte sich das Gesicht, den Hals und den Nacken mit ihrem wohlriechenden Make-up, während Deepa ihr dabei zusah und nebenbei etwas aß, das sich Schokolade nannte. Von allem Essbaren, was er bisher von seiner neuen Freundin geschenkt bekommen hatte, war das das mit Abstand Beste. Es schmeckte süß und gleichzeitig herb, es schmolz auf der Zunge und der Geschmack verweilte noch lange, nachdem er es hinuntergeschluckt hatte. Es war einfach überwältigend. Er besuchte sie mittlerweile regelmäßig, immer in der Zeit nach der Schule und bevor sie mit der Arbeit begann. Jedes Mal hatte sie irgendeine neue Leckerei da und er durfte von allem probieren. Es kam ihm vor wie ein Traum. Anfangs waren seine Geschmacksnerven völlig überfordert gewesen, einmal hatte er sogar geweint, weil etwas so gut geschmeckt hatte. Dabei war ihm längst klar, wieso seine umwerfend schöne Freundin diese teuren und leckeren Geschenke von weither bekam und wieso sämtliche ihrer Besucher männlich waren. Ihre Bedenken, dass er niemandem von ihren Treffen erzählen sollte, hatte er mit einem Lachanfall beantwortet. Wem sollte er hiervon erzählen? Den Idioten zu Hause? Den Idioten in der Schule? Nach einer Weile begann Amazura sogar, sich in seiner Anwesenheit umzuziehen, da sie gemerkt hatte, dass, obwohl er ein Jugendlicher war, seine Aufmerksamkeit mehr den mit Azukibohnen gefüllten Manju-Klößen als ihrer nackten Haut galt. „Die Menschen hier sind den Tod so gewohnt, dass er sie nicht mehr interessiert“, erwiderte Deepa trocken auf ihre Bemerkung. „'So etwas passiert halt' ist alles, was man hier den lieben langen Tag hört. Das ist verstörend, weil es so gefühllos ist.“ Sie schmunzelte, als er sich die Finger ableckte. „Du bist wenigstens noch zu Emotionen fähig.“ „Ich würde sie jeder Zeit für eine zweite Tafel davon eintauschen.“ „Sag so etwas nicht. Versprich mir, dass du nie so wirst wie die Leute hier.“ Er winkte ab. „Wenn ich je so werde, wie die Leute hier, darfst du mich mit einem deiner seidenen Gürtel erdrosseln.“ „Das ist mein Ernst. Versprich es mir.“ Deepa stutzte – und zuckte schließlich belustigt mit den Achseln. „Dann versprich du mir, mich hier niemals alleine zu lassen. Ohne dich würde ich in dieser geschmacklosen Einöde den Verstand verlieren.“ „Gut. Du solltest aber wissen, dass mir Versprechen heilig sind.“ „Dann sind sie es mir jetzt auch.“ Auffallend erleichtert schloss Amazura mit einem 'Klapp' das Puderdöschen. „Vielleicht kann ich dir ein paar Pralinen besorgen. Das ist auch Schokolade, nur noch viel edler. Interesse?“ Sein Gesicht hellte sich auf, als er dies nur hörte, trotzdem machte er einen merkwürdig zurückhaltenden Eindruck, während er aufstand. „Ist es wirklich in Ordnung, wenn ich immer all die Sachen verspeise, die du geschenkt bekommst? Ich meine … du hättest sie ja eigentlich verdient.“ Beinahe gerührt schüttelte die Frau den Kopf. „Das ist in Ordnung. Ich kenne all diese Dinge schon, ich weiß, wie sie schmecken. Daher macht es mir viel mehr Spaß, dir dabei zuzusehen.“ „Du willst doch nicht sagen, dir sind diese ganzen Köstlichkeiten langweilig geworden?“ Er war ernsthaft schockiert über ihre Aussage. „Wenn etwas atemberaubendes Neues dabei wäre, würde mich das eventuell reizen. Aber ...“ Ihre plötzlich betrübte Miene schweifte zu dem Pudergefäß in ihrer Hand. „Aber irgendwann hat man das Gefühl, es gibt nichts Neues mehr in der Welt. Oder vielleicht denkt man das auch nur, weil man im immer gleichen Trott gefangen ist.“ Sie bemerkte seinen erschütterten Blick und drängte schnell ihre Tränen zurück. „Ist es nicht schwer, das auszuhalten?“, fragte er und sie schluckte. „Der Trick besteht darin, sich einen Schutzpanzer zuzulegen. Etwas, das die Außenwelt davon abhält, einem zu nahe zu kommen.“ „Hah“, Deepa lachte flüchtig, sodass sein aufgedrehtes Lachen nicht durchbrechen konnte. „Ich wünschte, ich hätte auch so etwas. Einen Schutzpanzer.“ Sie griff mit einer Hand nach einer seiner Hände. „Dann nimm meinen, bis du einen eigenen hast.“ Sie drückte ihm das Pudergefäß in die Hand.   „Deswegen haben wir beschlossen, dass du ab dem nächstem Semester die Schule nicht mehr besuchst. Wir können das Geld, das wir dann an Schulgebühren einsparen, gut brauchen.“ Die Worte seines Vaters hallten in seinem Kopf wieder und wieder – und doch fand er nichts, was er darauf antworten sollte; nichts, was ihn dieses Unglück ablenken lassen konnte. Auf Knien hatte er seine Eltern angefleht ihm das nicht anzutun, aber sie hatten diesen Entschluss längst gefasst und waren nicht mehr davon abzubringen. Als ihm die Tränen gekommen waren, hatte das seinen Vater nur rasend gemacht. „Die Heulerei zeigt nur, dass der Junge viel zu verweichlicht ist!“ Wimmernd hatte er seine Mutter angeblickt, doch kriecherisch wie sie war, gab sie ihrem Mann Recht. „Nach diesem Semester bist du endlich alt genug, um eine richtige Anstellung unter Tage zu bekommen, dann wird aus dir endlich mal was!“ Die endlosen Wiederholungen von „Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht“ waren an ihren mitleidslosen Ohren abgeprallt. Als sein Vater die Nase gerümpft hatte und sich laut gewundert hatte, wonach es hier roch, war er getürmt – zum einzigen Ort, zu dem er fliehen konnte. Amazura hatte ihm eine Wassermelone aufgeschnitten und die Stückchen vor ihn auf einen Teller gelegt. Fahrig wischte der Junge sich die immer noch fallenden Tränen aus dem Gesicht, damit sie nicht auf das Obst fielen. Seinem Schluchzen zum Trotz steckte er sich die Stückchen in den Mund. Sie waren unglaublich süß und schmeckten derart erfrischend, dass er sich vorstellte, das so diese Eiskreme schmecken musste, von der Amazura erzählt hatte. „Wie hoch ist die Schulgebühr?“, fragte sie nach einer Weile des Schweigens. „Warum willst du das-“ Er stockte, als er sah, wie sie ihr Portmonee öffnete. „Nein.“ „Wir können ja einen Deal vereinbaren: Ich strecke dir das Geld nur vor, bis du-“ „Nein.“ Sichtlich verärgert zerbiss er gut hörbar einige der Kerne. „Dein Geld nehme ich nicht. Das hast du dir verdient. Du musst dafür widerliche Dinge tun, also behalte es für dich.“ Spürbar irritiert von seinen Worten starrte sie ihn an. „Denkst du so darüber? Dass ich widerliche Dinge-“ „Ich weiß, dass mein Vater zu dir geht“, fiel er ihr erneut ins Wort und dieses Mal riss sie entgeistert die Augen auf. „Ich habe ihn mehrmals in dein Haus gehen und wieder herauskommen sehen. Mir graut es davor, das zu fragen, aber ich sehe ihm wohl ähnlich genug, dass du bei unserer ersten Begegnung mich als seinen Sohn erkannt hast, oder?“ Das hysterische Lachen mischte sich unter seine Tränen. „Wenn ich mit diesem Geld zur Schule gehen würde, würde ich mich am Dachbalken aufknüpfen. Das Semester geht noch ein paar Wochen, bis dahin muss ich mir eine Lösung überlegen.“   Es standen seltsam viele Menschen am Eingang zu der Gasse, die zu Amazuras Haus führte. Normalerweise war hier kaum etwas los, sodass ein jeder relativ unbemerkt das „anrüchige“ Gebäude ansteuern konnte. Aber heute drängten sich die Menschen vor der Gasse und auch in der Gasse. Sie schnatterten lautstark miteinander. Ein unheilvolles Gefühl machte sich in Deepa breit, als er sich durch die Menschenmenge schob. „So etwas passiert halt“, hörte er mehrere Male. Was für ein Geruch war das, der in der Luft lag? Roch das nach … Blut? Er erstarrte an Ort und Stelle, als er an ihrem Haus angekommen war. Zwei Männer trugen Amazura – nein, ihren leblosen, blutüberströmten Körper – auf einer Bahre hinaus und deckten sie mit einem Laken zu. Kurz dahinter trugen weitere Männer eine männliche Leiche mit nur einer einzigen Stichwunde heraus. „Was …? Was … ist hier …?“, stammelte der Junge und erregte damit die Aufmerksamkeit einer der Männer. „Die übliche Geschichte“, antwortete der Mann ungerührt, „ein Freier will sie nur für sich haben und wenn er nicht bekommt, was er will, soll auch niemand sonst sie haben. Und dann bringen solche Kerle sich immer selbst um und machen uns noch mehr Arbeit. Aber was will man machen. So etwas passiert halt.“ Amazuras Leichnam wurde an ihm vorbeigetragen und Deepa konnte nicht anders als zu denken, dass selbst ihr Blut gut roch. Die umstehenden Passanten bedachten ihn mit verstörten Blicken, als er anfing zu lachen.   Abwechselnd lachend und weinend hatte er sich, so früh wie schon lange nicht mehr, auf den Heimweg gemacht. Amazura war weg. Einfach weg, als hätte es sie nie gegeben. Es war ein seltsames Konzept. So schwer greifbar. Was war ihm geblieben? Ihr wohlriechendes Puder und ein leerer Magen. Er war überrascht, dass sein Vater bereits zu Hause war. „Wie erklärst du mir das?!“, begrüßte der alter Herr ihn wutentbrannt. Entgeistert blickte Deepa auf das Puderdöschen in der Hand seines Vaters. Er hatte es mehr als gut versteckt. Er hatte es außerhalb des Hauses in einem ausgehöhlten Baumstamm versteckt. Niemand hätte es da finden können – außer jemand hätte es gezielt gesucht. Er hatte zudem penibel darauf geachtet, nie auffällig viel von dem Puder zu verwenden. Grundsätzlich nur ein klitzeklein bisschen und nur auf Stellen, die man nicht direkt sehen konnte. „Antworte mir gefälligst, du Nichtsnutz!“, schrie der Alte ihn an. „Ich habe mich die letzten Wochen gewundert, wieso es hier immer nach der Hure stinkt! Wie kommst du an ihre Schminke?“ Deepa schaute zwischen dem Pudergefäß und der zornigen Grimasse seines Vaters hin und her. „Woher weißt du, wie die Hure riecht? Und wieso wundert es mich nicht, dass du den Unterschied zwischen Gestank und Duft nicht kennst?“ Ein kräftiger Schlag mit der flachen Hand traf ihn voll auf die Wange, aber der Junge blieb einfach stoisch stehen. „Du verdorbenes Etwas!“, schimpfte der Vater weiter. „Kriegst nichts zustande, schminkst dich und gibst freche Antworten!“ Er zerbrach das Puderdöschen, schmiss die Teile auf den Boden und trampelte darauf, sodass von dem Puder nichts mehr übrig blieb. Wortlos starrte Deepa auf die Reste des wertvollen Geschenks. Nun blieb ihm gar nichts mehr von Amazura. Sie war endgültig weg. Man hatte ihm alles von ihr genommen. „Du verdienst eine ordentliche Tracht Prügel!“, zeterte sein Vater und hielt inne, als er das Grinsen auf dem Gesicht seines Sohns sah. „Ja! DAS ist eine großartige Idee!“ Das hysterische Lachen schallte ungehindert aus ihm heraus, als er sich auf seinen Vater stürzte, den Überraschungsmoment nutzte, um ihn umzuwerfen und mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, auf ihn eindrosch. Sein Blut klebte irgendwann an seinen Fingerknöcheln, aber er hörte erst auf, als seine Mutter heimkam. Sie schrie panisch und er sprang auf, schubste sie beiseite und rannte, bis er das verfluchte Brachland weit hinter sich gelassen hatte.   „Der sieht nicht so aus, als würde er es noch lange machen.“ „Klappe, mir gefällt er.“ Mit Müh und Not hielt Deepa seine Augen auf und blickte vom Wegesrand, an dem er vor Hunger zusammengebrochen war, zu den drei Männern auf, die ihn betrachteten. Er konnte nicht sagen, wie viel Zeit seit seiner Flucht aus seinem Heimatdorf vergangen war. Er wusste nur, dass er seitdem auch nicht eine vernünftige Mahlzeit gehabt hatte. Mit Diebstahl haderte er und er war kein sonderlich guter Jäger. Mit bloßen Händen erst recht nicht. Alle paar Tage ein mickriger (dem Geschmack nach altersschwacher) Fisch und Wildkräuter, von denen er nicht wusste, ob sie tatsächlich essbar waren, waren alles, was er zwischen die Zähne bekommen hatte. „Ein halbtoter Halbwüchsiger?“, kritisierte der dritte der Männer. „Du hast einen seltsamen Geschmack.“ „Klappe, hab ich gesagt.“ Der zweite Mann beugte sich zu ihm herunter und strich seine mittlerweile lang gewachsenen Haare aus seinem Gesicht. „Hey, wenn du mit mir kommst, besorg ich dir so viel zu essen, wie du verdrücken kannst. Na, wie klingt das?“ Bei diesem Angebot spürte Deepa ein unheilvolles Gefühl in seinem Innern, aber die Leere in seinem Magen war dominanter. Die drei Männer waren abtrünnige Ninja, vor Jahren während des Kriegs desertiert und seitdem raubend, stehlend und (wenn die Bezahlung stimmte) mordend durch die Lande ziehend. Ihr Anführer, Shiso, war ein stämmiger Kerl mittleren Alters, mit kurzen, dunklen Haaren und einem Gesicht, dem Deepa insgeheim das Prädikat „durchschnittlich“ verliehen hatte. Und Shiso hatte eine Vorliebe für junge Männer. „Junge, hübsche Männer“, wie er selbst sagte. Immerhin hielt er Wort. Im Austausch für körperliche Dienste bekam Deepa was auch immer er haben wollte. Er dachte kaum noch an Amazura, aber manchmal ging es ihm durch den Kopf, dass er es besser getroffen hatte als sie. Er musste sich nur mit Shiso herumschlagen und der war nicht einmal halb so ekelhaft wie sein Vater. Sicher, er konnte sich Schöneres vorstellen, als Shiso zu berühren (besonders mit dem Mund, seine armen Geschmacksnerven!), aber bereits nach kürzester Zeit stellte er fest, wie viel Macht er über ihn hatte. Wenn er nicht in der Stimmung war, bis er Maguro-Sushi gegessen hatte, dann bekam er das beste Maguro-Sushi der Stadt. Wenn er sich auf nichts konzentrieren konnte, bis er nicht diese Matcha-Eiskreme, von der alle Welt sprach, probiert hatte, dann bekam er Matcha-Eiskreme. Weitaus weniger spaßig wurde es immer dann, wenn sie zwischen zwei Orten unterwegs waren und auf geschmacksneutralen Proviant sowie alles, was in der Natur kreuchte und fleuchte, angewiesen waren. Jede Faser seines Körpers strebte sich zunehmend gegen den Gedanken, ewig so weiterzumachen. Es war vermutlich keine schlechte Idee, für die Zukunft vorzusorgen. „Du willst lernen, wie man jagt?“, hakte Togarashi, der kritischste der Gefolgsleute nach. „Im Ernst jetzt?“ Eingeschnappt stemmte Deepa eine Hand in die Hüfte. „Bringt mir was von diesem Ninjutsu-Kram bei. So schwer kann das ja nicht sein.“ „Was soll das denn-“, empörte sich der rothaarige Togarashi, wurde aber von dem weitaus stilleren Sato gestoppt. „Meinetwegen können wir es versuchen. Es kann ja nicht schaden. Vielleicht kann er uns irgendwann helfen.“ Ah, Sato! Genau deswegen mochte Deepa den Shinobi mit den sandblonden Haaren am liebsten. Und weil er recht hübsch aussah. Und vermutlich weitaus weniger widerlich schmeckte. Mit Shisos Einverständnis brachten sie ihm zuerst die Grundlagen der Chakrakontrolle und der Chakranaturen bei. Seine beiden Lehrer waren erstaunt, über wie viel Chakra er verfügte und dass seine am weitesten ausgeprägte Natur wohl die des Schattens war. Als er so tat, als würde er bereits schlafen, bekam Deepa mit, wie Togarashi Bedenken äußerte. „Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Nicht dass seine Chakranatur seiner Natur entspricht. Fragt ihr euch nicht auch manchmal, ob er alle Tassen im Schrank hat? Ich meine, allein diese Lache. Wie von einem Wahnsinnigen.“ Deepa musste sein Lachen umgehend unterdrücken, damit sie nicht mitbekamen, dass er sie belauscht hatte.   Jagen machte Spaß. Die Beute zu verfolgen, sie in die Enge zu treiben, zu wissen, dass sie durch ihn ihr Ende finden würde. Deepa hatte das Gefühl, dass das Essen dadurch um Welten besser schmeckte. Er musste aufpassen, dass die anderen nicht mitbekamen, wie viel Freude ihm das Erlegen der Beute bereitete. Sie waren misstrauischer ihm gegenüber geworden. Besonders nachdem er – mehr durch Zufall als durch alles andere – seine besondere Fähigkeit entdeckt hatte. Er konnte Teile seines Körpers verhärten, als wären sie aus Stahl. Als es zum ersten Mal passiert war, hatte ihn das so erschüttert, dass er minutenlang hysterisch hatte lachen müssen. Stahl. Eisenerz. Die dämliche Mine. Ernsthaft? Das sollte seine besondere Fähigkeit sein? „So viel zu 'verweichlicht'!“, presste er in seinem Anfall hervor und hielt sich bereits den Bauch vor Lachen. Irgendwann war er sogar in der Lage, einen metallartigen Stein zu erschaffen, den er kontrollieren konnte. Allerdings reichte sein Chakra nicht für mehr. Wie schön wäre es doch, wenn er seinen ganzen Körper mit dieser stahlharten Schicht einhüllen könnte! Diese Gedanken durften die anderen nicht wissen. Sie bekamen langsam Angst vor ihm. Selbst Shiso ließ sich nicht mehr so leicht um den Finger wickeln. Aber das war nicht mehr wichtig. Mit seinem erwachten Talent konnte Deepa eigenständig Aufträge übernehmen, dafür Geld kassieren und sich etwas zu essen kaufen. Er erfüllte sich jeden Wunsch, den er je gehabt hatte. Teures Essen benötigte hochbezahlte Aufträge, die nicht selten Attentatsmissionen waren. Das war ihm allerdings recht, denn Diebstähle und Einbrüche fand er doch irgendwie unmoralisch. Und wenn er erst einmal von einem besonders teuren Rindfleisch gehört hatte, konnte er an nichts anderes mehr denken. Sein einzelner Stein brach mitleidslos die Knochen seiner Opfer, seine verhärteten Finger bohrten sich wie stahlharte Klingen durch ihre Körper, bis er hatte, was er wollte. Und er sah es gar nicht mehr ein, warum er sich die Belohnung mit den anderen teilen sollte. Ihnen etwas abzugeben bedeutete, dass er länger brauchte, um sein gewünschtes Mahl einnehmen zu können – und er aß zeitig. Sie sahen das wohl ganz ähnlich und griffen ihn eines Tages an. Sato zu töten erfüllte ihn schon ein bisschen mit Wehmut, aber gleichzeitig fand Deepa es äußerst interessant, wie sehr er ihnen überlegen war. Sie waren leichte Beute gewesen. Jagen machte ihm mehr und mehr Spaß. Es war fast so gut wie zu essen.   Es versetzte ihn in eine zunehmende Unruhe, dass er immer seltener aufregende Speisen fand. Vieles schmeckte gleich, Sachen, die er früher geliebt hatte, wurden ihm mit der Zeit langweilig. Und dann tauchten eines Tages auch noch diese zwei Witzfiguren vor ihm auf und wollten mit ihm reden. Ein halbwegs hübscher Kerl mit einem langen Pferdeschwanz und ein dröge wirkender Kerl mit schrecklichem Modegeschmack. Aber der ungewollten Konversation mit einem Angriff aus dem Weg zu gehen, funktionierte nicht. Der Pferdeschwanz-Kerl wich ihm spielend leicht aus und durchbrach sogar seine stahlharte Abwehr. „Willst du uns nicht erst einmal ausreden lassen?“, fragte der Pferdeschwanz-Kerl ruhig. „Ich weiß nicht. Will ich das?“ Deepa zog eine genervte Grimasse. „Eigentlich esse ich zeitig.“ Der Pferdeschwanz-Kerl schmunzelte leicht, was das dröge Modedesaster anscheinend schockierte. „Du bist witzig.“ „Ich weiß. Sag mir lieber etwas, das ich noch nicht weiß.“ „Hättest du nicht gerne einen Schutzpanzer für deinen ganzen Körper?“ Perplex riss Deepa die Augen auf. „Was?“ „Ich denke, das ist möglich. Oder, Amado?“ „Hängt davon ab.“ Der dröge Typ zuckte seufzend mit den Schultern. „Wenn du mit uns kommst, können wir deine Fähigkeit um ein Vielfaches verstärken.“ „Du sagtest, ein Schutzpanzer für meinen ganzen Körper, ja?“, erwiderte Deepa gleichermaßen entrückt wie verzückt. Er hatte keine Ahnung, dass das Letzte, was er je schmecken würde, sein eigenes Blut sein würde.   Hosted by Animexx e.V. 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