Aoi von QueenLuna (Und die Kunst des Glücklichseins.) ================================================================================ Kapitel 1: 1 ------------ Aoi Und die Kunst des Glücklichseins. Kapitel 1 Schon wieder. Unruhig biss ich mir auf die Unterlippe, um nicht nervös auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. Konnte Ruki nicht langsam mit seiner Rede fertig werden? Ich wollte hier raus. Luft schnappen, eine rauchen, meine Ruhe haben und Wunden lecken - irgendetwas davon oder am besten alles auf einmal. Aber vor allem Ruhe haben und Abstand gewinnen. Ja, besonders das. Diese intensiven Blicke durchbohrten mich regelrecht. Mein verräterisches Herz schlug viel zu schnell. Ich wurde hier noch irre. Heute war definitiv nicht mein Tag, dabei hätte es so einfach sein können. Ein ganz normales Meeting nach zwei Wochen Pause, das Finale der letzten Tour lag einen halben Monat zurück. Zeit für neue Pläne, Ablenkung. Also alles wie immer. Theoretisch. Nun rutschte ich doch auf meinem Stuhl herum, versuchte eine bequemere Position zu finden und gleichzeitig für meine Verhältnisse wenig elegant die Beine übereinander zu schlagen. Wirklich nicht mein Tag, aber das war schon beim Aufwachen klar gewesen. Um etwas zur Ruhe zu kommen, griff ich nach meinem Wasserglas und trank einen großen Schluck daraus, während ich mich zwang, endlich Rukis Ausführungen zu folgen. Kai hatte sich vorhin wenigstens kurz gehalten und die restliche Planung auf die nächsten Treffen verschoben. Nur Ruki hatte anscheinend während unseres kurzen Urlaubs wieder eine besonders kreative Phase gehabt und wollte jetzt alles auf einmal und so schnell wie möglich erledigen. Er gönnte sich nie eine Pause. Das Ende vom Lied war: Er hatte Unmengen an Ideen für neue Bandshirtdesigns und konnte sich für keins von ihnen entscheiden. Wenigstens hatten wir in der vergangenen halben Stunde die hundert Entwürfe auf drei reduziert. Den Rest würde er ja wohl alleine schaffen, wie sonst auch. Mir war es gleich, ob die Schrift auf den Shirts auf die linke oder rechte Seite gedruckt wurde. Sah beides nett aus und die Fanclub-Mitglieder freuten sich immer über neues Merch. „Was spricht denn gegen mehrere Designs?“, warf ich schließlich ein. „Gekauft wird es so oder so.“ Einen Moment lang herrschte Stille, alle Augenpaare lagen verwundert auf mir. Anscheinend hatte keiner von ihnen damit gerechnet, dass ich überhaupt zuhörte, da ich heute noch nichts Konstruktives von mir gegeben hatte. Ich unterdrückte, den Drang die Schultern hochzuziehen und den Blick unangenehm berührt abzuwenden. Stattdessen sah ich möglichst gelassen und abwartend zu unserem Sänger, hinter dessen Stirn es sichtbar angefangen hatte zu arbeiten. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. „Stimmt, du hast recht. Dann haben wir eben dieses Mal drei verschiedene Designs statt zwei.“ Er griff schnell nach Block und Stift und machte sich einige Notizen. „Und am besten, wir bringen gleich eine Frauen- und Männerversion der Shirts raus. Hatten wir in der Art schon lange nicht mehr. Super Idee, Uruha. Dass ich nicht selbst drauf gekommen bin.“ Begeistert lächelte er mich an, ehe er sich wieder seinen Notizen widmete. „Fehlen nur noch die Farben.“ War das sein Ernst? Er entschied doch sonst alles auf eigene Faust, was in diese Richtung ging, selbst wenn es mal ein paar Tage länger dauerte, und stellte uns dann vor vollendete Tatsachen. Das hatte immer gut funktioniert. Warum musste er sich ausgerechnet heute an die semi-demokratischen Anwandlungen der Band erinnern? Hilfesuchend blickte ich zu den anderen. Ich wollte doch nur, dass das Meeting endlich zu Ende war, ich hier raus- und zu meiner Zigarette kam – oder wahlweise nach Hause auf mein Sofa, wo ich den dumpfen Druck in meinem Kopf bekämpfen und endlich wieder klarkommen konnte. Doch meine übrigen Kollegen wirkten nicht so, als würden sie mein Leid teilen. Kai schien sich über die Situation köstlich zu amüsieren. Er versteckte sein Lachen erfolgreich hinter der Hand, während er hinter Ruki stand und über dessen Schulter hinweg, auf die Notizen linste. Ich fing Reitas Blick auf, der breit grinste und mir mit einem kleinen Nicken zu verstehen gab, dass wenigstens er meinen Gedanken teilte, den ersten Tag nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Verdammt, warum sah er so frisch aus, während ich das Gefühl hatte, dass mir die Liste der alkoholischen Getränke von gestern immer noch auf der Stirn stand? Unfair war das. Ich war einfach nur noch bereit für mein Sofa. Resigniert seufzend lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück. Blieb nur zu hoffen, dass Ruki zeitnah Erbarmen mit uns hatte. Ich war im Moment einfach wehleidig und nicht aufnahmefähig. Unbewusst wanderte mein Blick weiter, zu demjenigen, der teilweise schuld an meiner Verfassung war. Insgeheim hatte ich gehofft, dass seine Aufmerksamkeit mittlerweile auf den anderen lag, doch nein. Entspannt saß er neben Ruki auf dem Sofa, aber statt dessen Ausführungen zu folgen, musterten mich seine dunklen Augen intensiv. Ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel, rief Erinnerungen in mir hoch, die ich nicht haben wollte. Und nicht gebrauchen konnte. Besonders nicht jetzt. Mir wurde warm. Wieso musste alles plötzlich wieder so kompliziert sein? * Stunden zuvor Wie ein warmer Lufthauch strichen raue Fingerkuppen meinen nackten Rücken entlang und brachten mir eine wohlige Gänsehaut. Leise seufzend drückte ich mein Gesicht tiefer in das weiche Kissen und genoss das Gefühl auf meiner Haut, das sanfte Streicheln, dem ein leichtes Kribbeln folgte und das mich nur ganz allmählich aus dem Reich der Träume holte. Fast wäre ich wieder eingedöst. Wann war ich das letzte Mal so sanft geweckt worden? Ich spürte, wie sich ein zufriedenes Lächeln auf meinen Lippen ausbreitete, während ich den leichten Berührungen, die über meinen Körper zu tanzen schienen, nachspürte. So könnte es immer sein. Meist war ich allerdings der Frühaufsteher, während Ayako lieber bis mittags im Bett blieb. So teilten wir selten solche Momente. Und sie – Mit einem Mal war ich hellwach und riss erschrocken die Augen auf. Nein! Ayako konnte nicht hier sein. Wer –? Zischend kniff ich die Lider zusammen, als in meinem Kopf der Schmerz explodierte. Shit! Was war hier los? Hinter meinen Schläfen hämmerte es, das widerliche Gefühl von Galle stieg in meinem Hals auf. Fuck! Es dauerte eine ganze Weile, bis ich nicht mehr das Gefühl hatte, mich in der nächsten Sekunde übergeben zu müssen und ich wieder einigermaßen ruhig atmen konnte. Das Hämmern in meinem Kopf wich einem dumpfen Druck, meine Zunge fühlte sich pelzig an. Shit. Erst jetzt spürte ich, dass das Streicheln gestoppt hatte und dafür eine warme Hand beruhigend zwischen meinen Schulterblättern lag. Augenblicklich schlug mein Herz schneller. Wer –? Was war geschehen? Nur ganz vorsichtig wagte ich es, die Augen ein weiteres Mal zu öffnen. Weniger aus der Angst heraus, die Kopfschmerzen würden erneut explodieren, sondern vielmehr davor, was mich erwartete. Sanftes Sonnenlicht schien durch das überdimensionale Fenster ins Zimmer herein und brachte die weiße Bettwäsche zum Leuchten. Das war eindeutig nicht meine Wohnung. Ich besaß keine weiße Bettwäsche, auch waren meine Wände nicht in diesem seltsamen, verblassten Gelb gestrichen. Ich hob den Kopf leicht an, um noch mehr vom Raum sehen zu können. Er glich keiner Wohnung, die ich kannte. Vielmehr sah es hier aus wie in einem Hotel. Lautlos seufzend ließ ich mich tiefer ins Kissen sinken. Wie war ich hier gelandet? Ich konnte mich nur schemenhaft erinnern. Soweit ich noch wusste, war gestern einer meiner schlechteren Tage gewesen. Ich hatte mich im Alkohol ertränken wollen, was anscheinend ganz gut geklappt hatte, wenn ich die Kopfschmerzen und das flaue Gefühl im Magen richtig deutete. Ach scheiße. Mühsam versuchte ich in meinen Erinnerungen nach Anhaltspunkten zu kramen, ignorierte dabei die warme Hand in meinem Rücken, die erneut damit begonnen hatte, Muster auf meine Haut zu zeichnen. Wollte ich wirklich wissen, wer mit mir im Bett lag? Eigentlich nicht, aber ich würde nicht drum herumkommen, so viel war klar. Denn die Hoffnung, dieser Jemand würde abhauen, wenn ich nicht reagierte, konnte ich getrost aufgeben, sonst wäre er bereits verschwunden. Ganz langsam kamen die Erinnerungen zurück, während ich gezwungen ruhig ein und ausatmete, um mein aufgeregtes Herz zu beruhigen. Die Bar. Stimmt. Ich hatte Reita angerufen, ob er mit mir trinken ging. Viel Überzeugungsarbeit hatte es dafür nicht gebraucht. Ablenkung, mehr hatte ich gestern nicht gewollt. Meine Wohnung war mir zu groß und leer vorgekommen, dass es mich beinahe erdrückte. So war ich geflüchtet. Erneut. Und Reita musste als mein ältester Freund einmal mehr Kummerkasten spielen, was ihn aber selten störte, solange der Alkohol schmeckte. Doch da war noch jemand gewesen. Wer -? Fuck. Ich drückte mein Gesicht schnaubend in das Kissen, versuchte die ungewollte Flut an Erinnerungen, die über mich hereinzubrechen drohte, zurückzudrängen. Eine harte Holztür in meinem Rücken. Ein warmer Körper, der sich gegen meinen drängte und mir schier den Atem raubte. Dieser vertraute Duft. Raue Hände, die überall gleichzeitig zu sein schienen und mich zum Glühen brachten. Und – Oh Gott. Mit einem Ruck drehte ich mich auf den Rücken und starrte in das mild lächelnde Gesicht aus meinen Erinnerungen. Die schwarzen Haare waren verstrubbelt und fielen ihm vorwitzig in die Stirn, die dunklen Augen sahen mich aufmerksam an. Mein Herz geriet ins Stolpern. „Aoi.“ * Eine warme Abendbrise wehte um meine Nase. Die Schwüle des Tages hatte nur wenig nachgelassen, doch auf meinem kleinen Balkon ließ es sich einigermaßen aushalten. Erschöpft schloss ich für einen Moment die Augen und lehnte mich tiefer in meinem Stuhl zurück. Blind tastete ich nach den Zigaretten, die irgendwo auf dem kleinen Beistelltisch neben mir lagen. Was für ein Tag. Ich war fertig. Nachdem ich die Nacht kaum geschlafen hatte, war das Meeting für mich heute nicht sonderlich anders verlaufen als gestern. Ich war immer noch neben der Spur und ich hasste nichts mehr als das. Von den neuen Zielen und Ideen, die Kai uns heute detailliert unterbreitet hatte, hatte ich nur am Rande etwas mitbekommen und eigentlich war es mir auch egal gewesen. In meinem Kopf herrschte zu viel Chaos, als dass ich mich auf so etwas in dem Maße konzentrieren konnte, wie ich es sollte. Wobei es nicht ausschließlich an der Nacht mit Aoi lag, nur hatte diese nicht viel zur allgemeinen Besserung beigetragen. Seufzend strich ich mir die Haare aus dem Gesicht, ehe ich den ersten Zug von der Zigarette nahm und dabei beiläufig einen kurzen Blick durch die geöffnete Balkontür in die halb leere Wohnung warf. Ayako hatte alle ihre Sachen mitgenommen. Nicht einmal die Bilder hatte sie an der Wand gelassen. »Du bist ein netter Kerl, aber das mit uns funktioniert nicht. Es passt nicht. Ich erwarte anderes vom Leben, als immer auf dich warten zu müssen.« Das und vieles mehr fiel ihr nach einem Jahr ein – und nachdem sie wenige Tage zuvor einen „guten“ Freund von früher wieder getroffen hatte... Alles klar. Frustriert wandte ich mich von dem traurigen Anblick meines Wohnzimmers ab und starrte blicklos auf das gegenüberliegende Haus. Ach, es war doch scheiße. Mein Kiefer schmerzte, so sehr hatte ich ihn zusammengepresst, ohne es zu merken. Immer noch krampfte mein Herz leicht zusammen, obwohl sie bereits seit mehr als zwei Wochen weg war. Es wurde zwar von Tag zu Tag besser, aber es dauerte dennoch für meinen Geschmack zu lange. Ich wollte mich nicht so fühlen, so verletzt und einsam. Ständig stiegen die Selbstzweifel in mir auf und ich stellte jeden und alles infrage. Warum wollte es mit den Beziehungen bei mir nicht klappen? Es war nicht so, dass ich Ayako über alles geliebt hatte – vielleicht in den ersten Wochen, aber der rosafarbene Zauber war schnell verflogen. Ich hatte sie gemocht und sie hatte mir das Gefühl gegeben, etwas Besonderes für sie zu sein. Jemand war für mich da gewesen, hatte nach Feierabend auf mich gewartet und so vieles mit mir geteilt. Egal, wie oft wir in unserer Beziehung anderer Meinung gewesen waren und gestritten hatten, in meinem Herzen hatte ich immer gehofft, dass wir es schaffen könnten, langfristig. Dass es zwischen uns mehr als ein kurzes Intermezzo war. Ich wollte nicht allein sein. Umso größer war der Schock gewesen, als ich nach der erfolgreichen Tour plötzlich in der verwaisten Wohnung gestanden hatte, mit dem Brief in der Hand, in dem sie es beendete. Es hatte weh getan und der Schmerz und die Enttäuschung ließen sich leider immer noch Zeit, zu verschwinden. Wie ich es drehte und wendete: Keine meiner Beziehungen in den letzten anderthalb Jahren hatte lange gehalten. Mit Ayako war es die längste gewesen. Lag es an mir? An meinem Job? Warum schaffte ich nicht, sie bei mir zu behalten? War ich nicht gut genug, um mit mir zusammen zu bleiben und auf mich zu warten, wenn wir auf Tour waren? War ich es nicht wert? Meine Augen brannten leicht, als ich frustriert den Zigarettenstummel mit mehr Kraft als nötig im Aschenbecher ausdrückte und mir sofort eine neue ansteckte. Genau diese Gedanken waren es, die mich ständig heimsuchten und die mich vorgestern dazu verleitet hatten, mich gemeinsam mit Reita in der Bar einmal quer durch die Getränkekarte zu trinken. Ich musste ein ziemlich jämmerliches Bild abgegeben haben. Etwas, für das ich mich jetzt im Nachhinein schämte, doch Reita hatte als einer meiner langjährigsten Freunde definitiv schon Schlimmeres miterlebt. Und ich mit ihm, denn er war ebenso kein unbeschriebenes Blatt, was alkoholreiche Nächte anging. Automatisch musste ich leicht schmunzeln. Reita in seiner betrunkenen Version hatte immer etwas Drolliges an sich und ich war unheimlich froh, ihn als Freund zu haben. Manchmal brauchte ich einfach seine direkte, ehrliche Art und seine Bauernweisheiten, mit denen er so gern um sich warf. So war es auch vorgestern gewesen und für kurze Zeit hatte ich mich nicht mehr wie ein kompletter Versager gefühlt. Danach war erstmal alles hinter einem grauen Alkoholschleier verschwunden, der sich jetzt erst langsam klärte. Ich drückte den Zigarettenstummel aus, ehe ich aufstand und in die Wohnung zurückging. Kurz blieb ich vor meiner ehemals vollen Fotowand stehen. Nun klafften große Lücken dazwischen. Unbewusst suchten meine Augen auf den übrigen Bildern nach einem bestimmten Gesicht. Sie fanden ihn zielsicher. Immer. Es war zum Verrücktwerden, auch nach all der Zeit und besonders da in meinem Bauch ein kleiner Vogel erwachte, der flatternd seine Flügel ausstreckte. Dieses milde Lächeln, das ihm immer einen gewissen geheimnisvollen Hauch verlieh. Die dunklen Augen, die mich stets zu durchleuchten schienen. Ach Mann. Warum hatte Aoi ausgerechnet an einem meiner schlechtesten Tage auftauchen müssen, gerade wenn ich vergessen und mich einfach nur im Alkohol ertränken wollte? Er hätte mich nie so sehen dürfen. Und warum konnte der kleine Vogel in mir nicht einfach weiterschlafen? * „Guten Morgen.“ Die Worte klangen so warm und sanft in meinen Ohren, dass es mein Herz kaum schaffte, nach seinem kurzen Aussetzer wieder in Schwung zu kommen, ohne sofort erneut ins Stolpern zu geraten. Stumm blinzelte ich ihn an, versuchte die Situation zu begreifen und es nicht als Traum abzutun. Aoi. Was machte er hier? Warum – Das konnte nicht sein. „Uruha?“ Es dauerte noch einige weitere Sekunden, bis ich es endlich schaffte, mich aus meiner Starre zu lösen. Reflexartig wollte ich mich aufsetzen, allerdings war mein Kopf anderer Meinung. Zischend schloss ich die Augen und ließ mich zurück auf den Rücken fallen. Verdammter Mist. Das durfte alles nicht wahr sein. „Mach langsam.“ Wie durch Watte hörte ich die vertraute Stimme dicht an meinem Ohr. Die Gänsehaut kam augenblicklich und die warmen Fingerspitzen, die behutsam über meine Schläfen strichen, trugen nicht unbedingt dazu bei, dass sie weniger wurde. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Aoi. Allmählich ließ der Schmerz nach und für einige Atemzüge erlaubte ich es mir sogar, die sanften Berührungen zu genießen, ehe ich die Augen ein weiteres Mal öffnete. Ein feines, fast schon verschmitzt wirkendes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, während er mich aufmerksam musterte und keine Anstalten machte, auch nur einen Zentimeter mehr Abstand zwischen uns zu bringen. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. „Geht's wieder?“ Ich brachte ein kleines Nicken zustande, woraufhin sich das Lächeln noch eine Spur vertiefte. „Ich würde dich ja fragen, ob du gut geschlafen hast, aber ich glaube, die Frage spar ich mir.“ Ich gab nur ein undeutliches Schnauben von mir und drehte mich trotz meines vorherigen Fluchtversuchs nun vollends zu Aoi herum. Falls es ihn in irgendeiner Weise überraschte, ließ er es sich nicht anmerken. Ruhig blieb er liegen, seine Finger spielten mit einer meiner längeren Strähnen. Wieso –? Mein Hirn wollte es noch nicht begreifen, mein Herz holperte unruhig in der Brust vor sich hin. Während ich mit mir kämpfte, gingen meine Augen ungewollt auf Wanderschaft. Langsam glitten sie von Aois vertrauten Zügen, über den bloßen Oberkörper bis hin zu dem dünnen Laken, das nur locker über seiner Hüfte lag und wenig Raum für Mutmaßungen ließ. Das Seufzen kam über meine Lippen, bevor ich es verhindern konnte. „Aoi… Was haben wir getan?“ Eine der fein geschwungenen Augenbrauen zuckte nach oben und ließ mich abermals seufzen. „Ja, okay, ich ahne, was wir getan haben, aber… warum?“ „Zum einen finde ich, ‚getan‘ ist ein hartes Wort und zum anderen könnte ich dich das ebenso fragen. Außerdem: Warum nicht?“ Das Schmunzeln war zurück. Gedankenverloren betrachtete ich es, während ich in den Tiefen meines Hirns nach Erinnerungen an die letzte Nacht suchte. Doch da waren nicht mehr als vereinzelte Bruchstücke. Nichts, was mir erklärte, warum ich zugelassen hatte, dass wir hier landeten. „Du weißt es nicht mehr, hm?“ Mein Blick klärte sich wieder und traf Aois. „Nein… nicht so richtig.“ Etwas in seinem Blick veränderte sich, das Lächeln verschwand. Diesmal seufzte er und zog sich nun doch ein Stück weit zurück, ehe er nachdenklich an mir vorbei aus dem Fenster sah. Ob ich es wollte oder nicht, mein verräterischer Körper vermisste Aois Nähe augenblicklich, mir wurde kalt. „Du warst vorgestern sehr neben der Spur. So hab dich schon lange nicht mehr erlebt.“ Was sollte ich darauf sagen? Ja, in den letzten Tagen war es mir nicht gut gegangen, die Trennung hatte ein tiefes Loch in mir hinterlassen, doch das wusste bisher nur Reita. Ich hatte nicht alles vor den anderen ausbreiten wollen, um mich nicht noch mehr wie ein Versager zu fühlen. Und auch jetzt wollte ich mich nicht erklären, deshalb überging ich seine Worte. „Ich war doch mit Reita unterwegs. Wo kamst du plötzlich her?“ Sein Schnauben klang amüsiert, die dunklen Augen fanden mich erneut. „Reita hatte mich angerufen. Er hatte wohl gehofft, dass wir dich gemeinsam etwas ablenken könnten. Was ja irgendwie auch geklappt hat.“ Ich spürte, wie sich Hitze in meinen Wangen sammelte. Schnell sah ich weg, starrte auf den kleinen Leberfleck auf seiner Schulter. Höchst interessant. Ach Shit. „Aber was ich nicht verstanden habe, Uruha…“ Seine Stimme klang mit einem Mal eine Spur sanfter, beinahe besorgt, die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Automatisch fand mein Blick seinen. „... was dich so aus der Bahn geworfen hat, dass du dich hoffnungslos betrinkst und mich dann regelrecht in der Toilette überfällst.“ „Oh…“ Hatte ich das? „Ja, oh. Ich war etwas überrumpelt, muss ich gestehen.“ „Tut mir leid.“ Mein Herz wummerte hart in meiner Brust, sodass ich überzeugt war, er müsste es hören. Obwohl ich nicht wusste, wo mir der Kopf stand, bedauerte ich es, dass sich die Erinnerungen an gestern Abend hinter dem letzten Alkoholschleier versteckten. Wieso hatte ich –? „Es muss dir nicht leid tun. Wenn ich es gar nicht gewollt hätte, hätte ich dir sicher etwas entgegenzusetzen gehabt.“ Und da war wieder dieses Lächeln, das mein Herz schneller schlagen ließ. „Und ich bereue es nicht, Uruha.“ * „Du siehst scheiße aus.“ Missmutig kniff ich die Lippen zusammen und warf Reita den finstersten Blick zu, den ich gerade zustande brachte. Er lachte nur und drängte sich an mir vorbei Richtung Wohnzimmer, nicht ohne mir vorher zwei Flaschen Bier in die Hand zu drücken. Schnaufend schloss ich die Tür hinter ihm und folgte wesentlich langsamer. Er hatte bereits einen der zwei Stühle auf dem Balkon für sich vereinnahmt und blickte mir abwartend entgegen. „Sag mal, ist deine Klimaanlage immer noch kaputt? Ist ja drinnen kaum auszuhalten.“ Er hatte Recht. Obwohl es Abend war, stand die schwüle Sommerluft in meiner Wohnung. „Hm, bin noch nicht dazugekommen, sie reparieren zu lassen.“ Beziehungsweise hatte mir bisher der Elan dazu gefehlt. Mit einem lauten Klonk stellte ich die beiden Flaschen auf dem Tischlein ab, ehe ich noch einmal in die Küche ging, um mir eine Cola aus dem Kühlschrank zu holen, was mit hochgezogenen Augenbrauen kommentiert wurde. „Ich bekomme schon Kopfschmerzen, wenn ich nur an Alkohol denke.“ Ich ließ mich auf den anderen Stuhl fallen und streckte seufzend die Beine aus. „Hast du immer noch nen Kater, oder was?“ „Nein, nur der von gestern reicht mir bis auf Weiteres.“ Reita sah mich kurz stirnrunzelnd an, zuckte dann aber mit den Schultern und griff in seine Hosentasche, um eine Schachtel Zigaretten zutage zu fördern. „Und deshalb warst du heute so neben der Spur? Beziehungsweise gestern? Du warst ja nur körperlich anwesend.“ Ich schmunzelte müde. Wenn es nur der Kater gewesen wäre… Tief durchatmend nahm ich einen der angebotenen Glimmstängel an, schob ihn mir zwischen die Lippen, ehe ich ihn anzündete. „Ich hab mit Aoi geschlafen“, nuschelte ich in den ersten Zug. Zwar waren die Worte leise gewesen, doch reichte es aus, dass sich mein bester Freund am Rauch verschluckte und kläglich anfing zu husten. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, denn diese Reaktion hatte ich beinahe erwartet. Dennoch klopfte ich ihm mitfühlend auf den Rücken, bis er sich etwas beruhigt hatte. „Bitte?“ Seine Stimme klang rau. „Schon wieder?“ Ich konnte ein leichtes Zusammenzucken nicht verhindern. „Was heißt denn ‚schon wieder‘? Das letzte Mal ist…. naja… schon länger her.“ Beleidigt sah ich ihn an. Natürlich wusste ich, dass er recht hatte, obwohl ich anderthalb Jahre Pause nicht als ‚schon wieder‘ bezeichnen würde. Das mit Aoi und mir war… einfach etwas anderes gewesen. Etwas, über das ich eigentlich nie mehr hatte nachdenken wollen, aber das sich in den letzten Monaten leider immer wieder in mein Gedächtnis geschlichen hatte, besonders wenn es zwischen Ayako und mir gekriselt hatte. Das, was Aoi und mich verband oder vielmehr verbunden hatte, konnte man durchaus als lose Affäre bezeichnen – unkompliziert, leicht und ohne Versprechungen. Angefangen hatte es während der Tour zu Stacked Rubbish. Wir schwammen auf einer erneuten Erfolgswelle, der bis dahin größten, es schien keine Grenzen für uns zu geben. Alles fühlte sich so aufregend und neu an, obwohl es doch vertraut war. Und genau in diesem Gefühlskarussell war es passiert. Plötzlich waren Aoi und ich uns näher gewesen als je zuvor. Statt einfach nur auf den Erfolg anzustoßen wie üblich, hatten wir uns eines Abends nach dem Auftritt in den Armen gelegen, das verbliebene Adrenalin miteinander geteilt. Es hatte sich gut angefühlt und keiner von uns beiden hatte es in Frage gestellt. Es blieb nicht bei einem Mal. Unzählige Nächte verbrachten wir Seite an Seite. Es hatte nichts mit Liebe zu tun, sondern mit Lust und Leidenschaft. Nur der Moment zählte. Anfangs. Und dann, nach fast zwei Jahren, war es vorbei gewesen. Ich könnte behaupten, nicht zu wissen, warum, aber dem war nicht so. Aber ich wollte nicht darüber nachdenken. Seufzend fuhr ich mir mit den Fingern durch die Haare und ließ den Blick schweifen. Ich spürte genau, wie Reita mich beobachtete, aber ich konnte ihm gerade nicht standhalten. Im Endeffekt war ich es gewesen, der das, was zwischen Aoi und mir gewesen war, beendet hatte. Ich hatte zu dem Zeitpunkt nicht mehr weitermachen können. Jetzt im Nachhinein würde ich es sogar als panische Flucht bezeichnen. Unsere Beziehung – oder wie auch immer man es nannte – war immer etwas Befreiendes für mich gewesen, etwas, worin ich mich wenigstens für kurze Zeit flüchten konnte, ohne tiefer darüber nachdenken zu müssen oder mich zu etwas verpflichtet zu fühlen. Wir wussten, wie der jeweils andere tickte und was er brauchte. Doch plötzlich war diese Leichtigkeit in mir weg gewesen. Da waren Gedanken, die ich vorher nicht kannte – Gedanken, ob es richtig war, was wir taten. Mit jedem neuen Zweifel wurde die Luft zum Atmen für mich dünner und die Enge in meiner Brust stärker. Es ging nicht mehr. Alles, was vorher so unwichtig gewesen war, was ich so genossen hatte, wurde zur Last. Dass es zu dieser Zeit in der Band gerade kriselte, begünstigte das Ende nur. Wir waren alle genervt voneinander, jedes Wort wurde überbewertet, jeder Plan, jeder Song zerredet. Wir waren müde. Die Jahre und Monate ununterbrochenen Zusammenarbeitens hatten Spuren hinterlassen. Inzwischen, fast zwei Jahre später, hatten wir uns als Band wieder gefangen, unsere Freundschaft war stärker als je zuvor. Was von der Affäre zwischen Aoi und mir geblieben war, war das Wissen, dass wir uns aufeinander verlassen konnten und viele aufregende Erinnerungen, die ich allerdings nur selten zuließ. Ich wollte nicht zurück – durfte es nicht. Es hätte keine Zukunft. Das Leben war weitergegangen, mit ihm andere Liebschaften und hoffentlich auch irgendwann eine mit Zukunft. „Und?“, riss mich Reitas Stimme unsanft aus meinen Erinnerungen. „Hm?“ „Bereust du es?“ Irritiert blinzelte ich ihn an. Bereuen? Gute Frage. In dem ganzen Chaos, das in meinem Kopf herrschte, war diese Frage niemals aufgetaucht. Ich hatte das mit uns nicht wiederholen wollen, so viel stand fest, aber deshalb zu bereuen…? Es war Aoi. Der Mann, dem ich über so lange Zeit so nahe gewesen war, ohne mehr zu wollen und der mich dennoch aus der Fassung brachte. Ich hätte nicht schwach werden dürfen. Auf der anderen Seite… wenn ich jetzt darüber nachdachte, hatte ich bisher nie etwas bereut, was mit Aoi zu tun hatte, oder? Und er? „… ich bereue es nicht, Uruha.“ In meinem Bauch erwachte erneut der kleine Vogel zum Leben, als ich an diese Worte zurückdachte. Ach Mann. Wenn Aoi es nicht bereute, durfte ich es auch nicht, oder? Auch wenn mich die Erinnerung an diese Nacht schon wieder in Unruhe versetzte. Was sollte ich tun? Fahrig fuhr ich mir durchs Gesicht, versuchte meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, um nicht wie ein komplett offenes Buch vor Reita zu sitzen. So sehr ich froh war, dass ich ihn alles anvertrauen konnte, wenn ich wollte – gerade wollte ich nicht. So setzte ich mich ein Stück gerader hin, ehe ich zu Reita sah. „Ich weiß nicht richtig. Um ehrlich zu sein, bisher habe ich noch nicht darüber nachgedacht. Außerdem war ich betrunken, das weißt du doch.“ Eine miese Ausrede, das wusste ich und Reita sah das anscheinend genauso, denn sein Blick sprach Bände. Vermutlich dachte er gerade etwas weniger Schönes über mich, aber netterweise schüttelte er nur schnaubend den Kopf. „Uruha. Alkohol ist nicht der Grund dafür, dass du Aoi plötzlich einfach so ins Bett zerrst.“ „Hab ihn nicht ins Bett gezerrt. Es war die Toilette.“ Reita verdrehte die Augen und murmelte mehr zu sich selbst: „Was hab ich erwartet?“ Ich konnte zusehen, wie ihm eine Erkenntnis kam, seine Augenbrauen zuckten nach oben. „Ah, deshalb konnte ich euch nicht finden, denn auf dem Klo habe ich nicht gesucht, als ihr nicht mehr aufgetaucht seid. Bin schließlich abgehauen, weil ich dachte, dass Aoi dich nach Hause bringt und ich es nicht mitbekommen habe.“ Er kratzte sich am Kinn, ehe er sich eine neue Zigarette ansteckte. „Ach, Uruha, du machst Sachen.“ Seine Mundwinkel zuckten. „Wenigstens konnte Aoi dich scheinbar ein bisschen auf andere Gedanken bringen, oder?“ „Hm.“ Er hatte recht. Seit gestern erschienen mir die Trennung und das erneute Alleinsein nach Ayakos Weggang nicht mehr ganz so schlimm wie die Tage zuvor. Auch wenn mir trotzdem der Kopf schwirrte. Die gesamte Situation verwirrte mich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)