Homecomer von CaroZ (Bound in Darkness 2) ================================================================================ Kapitel 1: Barriere ------------------- „Captain.“ Yama betrachtete seine linke Hand auf dem Steuerrad. Der Lederhandschuh begann sich an den Säumen aufzulösen; vielleicht war dies das Schicksal von Arbeitskleidung, die den Strapazen ausgesetzt war, Tag für Tag auf einem unsterblichen Schlachtschiff Dienst zu tun. Das Holz des Steuerrads hatte ein Jahrhundert überdauert, blank und glattgestrichen von so vielen Berührungen durch Hände in gestärktem Leder; doch selbiges Leder war wie viel, anderthalb Jahre alt? Sicher hatten die Handschuhe nicht lange ungetragen im Kleidungsfundus der Arcadia zugebracht, nachdem sie wessen Leiche auch immer abgenommen worden waren. Yama wandte sich um. „Was gibt es?“ Alonso räusperte sich. „Sieht aus, als würden die Schwierigkeiten jetzt schon anfangen. Die Sensoren zeigen drei große Patrouillenschiffe an den Außenstationen des Mars-Jupiter-Sektors. Tiado-Klasse, mit Jägern und allem.“ „Die schmollen wirklich schlimm“, bemerkte Yattaran auf Yamas linker Seite. „Normalerweise ist der Wachposten doch immer ein lahmer alter Kasten mit fünfzig Hosenscheißern an Bord, die einen Satelliten nicht von einer Raumboje unterscheiden können.“ Kei rechts von Yama kicherte freudlos. „Hast du wirklich geglaubt, wir könnten sie überraschen? Die konnten sich doch denken, dass wir früher oder später hier auftauchen würden. Ich wette, im ganzen Orbit des Mars warten noch viel mehr auf uns.“ „Und wenn schon“, murmelte Yama. Die Heimatbasis der Gaia Sanction interessierte ihn nicht. Er hatte weder vor, sie direkt zu beschießen, noch irgendeinem Wachposten im Vorbeiflug den Antrieb lahmzulegen. Nur konnten sie das nicht wissen; sicher glaubten sie, er käme zurück, um Rache zu üben und ihnen endgültig den Garaus zu machen. „Yama“, sagte eine ruhige, dunkle Stimme hinter ihm, und jetzt wandte Yama sich um und blickte zu Harlock, der im Schatten saß, ganz und gar verschmolzen mit dem hohen Umriss seines Throns. „Möchtest du meinen Rat hören?“ „Immer.“ Es war zu einem Ritual zwischen ihnen geworden. Harlock würde niemals Yamas Vorgehensweise kommentieren, ohne ihn vorher formal um Erlaubnis zu bitten, und Yama würde seine Hilfe niemals ablehnen. Zu vieles konnte Yama noch nicht wissen mit seinem begrenzten Erfahrungsschatz, doch diese Unzulänglichkeiten durften seine Autorität keinesfalls in Mitleidenschaft ziehen. „Als du zum zweiten Mal zur Erde geflogen bist, hat dich niemand aufgehalten. Aber als du zuletzt mit Yattaran dort warst …“ „Dämliche Pseudo-Heimkehrer“, blaffte Yattaran seine Konsole an. Yama verstand, worauf Harlock hinaus wollte. Es brauchte nie viele Worte, bis er den Gedanken des früheren Captains der Arcadia folgen konnte. „Der Bürgerkrieg hat sich ausgeweitet, wir haben selbst gesehen, wie viele Rebellen sich in der Milchstraße zusammengezogen haben. Die Gaia-Flotte macht jeden Tag Verluste. Das heißt, ihre Schiffe können nicht mehr voll bemannt sein.“ Das ergab Sinn. Er konnte die drei massiven Tiado-Schiffe selbst vom Ruder aus auf Yattarans Bildschirm sehen, große eckige Schemen; was dort fehlte, war der niederschlagsartige Schwarm aus Jägern, den diese Schiffe üblicherweise ausspuckten, sobald ihre Sensoren die Arcadia erfassten. Falls sie sie erfassten. Immer wieder umkreisten die technisch unterlegenen, doch in ihrer Zahl lästigen Schiffe der Rebellen den Mars, um der Gaia Sanction zuleibe zu rücken – mutige Männer und Frauen, die Betrug und Lügen satt hatten. Noch waren sie nicht organisiert genug, um ernsthaften Schaden anzurichten, ein taktisch unkoordinierter Haufen, doch ihre Zahl stieg stetig, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie wirksame Angriffsstrategien entwickeln würden. Es war das Gesetz der Natur. Die Gaia Sanction würde eines natürlichen Todes sterben, übermannt von stärkeren Konkurrenten um die Macht, nachdem sie ihre Autorität verloren hatten. „Willst du’s versuchen?“, fragte Kei, ohne den Kopf zu heben, und Yama wusste, dass er gemeint war. „Welcher von den dreien ist am stärken beschädigt?“ „Der in der Mitte.“ „Und welcher am wenigsten?“ „Der an Steuerbord.“ Yama schloss beide Fäuste fest um den Rand des Rads. Obwohl das Leder des Handschuhs spürbar weiter nachgab, lächelte er flüchtig. *** 19 Tage zuvor Yama fragte sich, ob irgendjemand an Bord wusste, was sie getan hatten. Irgendjemand außer Miime. Niemand sprach ihn darauf an; nicht Kei, nicht Yattaran, nicht sonst irgendjemand der wechselnden Brückenbesatzung, deren Namen er beharrlich zu lernen versuchte, um sie korrekt ansprechen zu können. Mehr als einen kurzen Exkurs zum Thema Menschenführung hatte ihm die Ausbildung der Gaia Sanction nicht angedeihen lassen; nie war vorgesehen gewesen, dass Yama irgendetwas führte. Zweifellos spürten die Männer, dass jetzt etwas anders war. War der erste Überfall unter Yamas Kommando noch in einem Desaster geendet, verlief der zweite so reibungslos nach Plan, dass sie es ahnen mussten. Wie habt ihr es gemacht?, erwartete Yama Keis neugierige Frage beim Schichtwechsel am Ende des Tageszyklus. Was ist passiert zwischen dir und dem Captain? Sie nannte Harlock immer noch ‚den Captain‘. Gemeint war damit keine Funktion, sondern eine Identität. Yama könnte es ihr einfach sagen. Kei war der vielleicht professionellste Offizier an Bord, sie würde nicht schockiert sein. Doch sie fragte nicht, niemand fragte, und Yama hielt den Mund. Ebenso Harlock. Strenggenommen machte er den Mund kaum noch auf. Das Schlimmste waren die Schwindelattacken. So heilsam die Nacht der Machtübergabe auch gewesen war, so zehrend waren die beiden, die folgten. Zu viele Sinneseindrücke drohten Yamas Verstand zu überwältigen. Zu viel giftige Dunkle Materie durchseuchte seinen Körper. Wenn ihm nicht gerade übel war, bewegte sein Bewusstsein sich schlingernd am scharfen Rand des Abgrunds, der Ohnmacht hieß. Zu oft war es das Steuerrad, das Yama aufrecht hielt, während er sein Gewicht darauf lehnte wie ein Betrunkener, den niemals jemand ans Ruder eines Schlachtschiffs gelassen hätte. In solchen Momenten nannte niemand ihn „Captain“, und es dauerte, bevor es überhaupt jemand tat. Bis zum zweiten Tag nach dem Ritual fiel diese Anrede überhaupt nicht auf der Brücke. Harlock anzusprechen war fruchtlos; es schien, als habe er sich vorgenommen, auf den Titel, den er über hundert Jahre geführt hatte und der praktisch Teil seines Namens war, nicht mehr zu reagieren. Er saß nur noch schweigend auf seinem Thron, eine hartnäckige, aber stumme Präsenz, die Yama im Rücken fühlte, während bei jedem Richtungswechsel die schwarzen Dämpfe durch seine Knochen rauschten und seine Knie zu Gelee werden ließen. Harlock war im Moment keine Hilfe, und er konnte auch keine sein. Es war Miime, die eine Hilfe war. Sie ging zu Yama, wenn er den Stand zu verlieren drohte, und ihre kühle Berührung war wie Balsam gegen das Kreischen des Antriebs, das Yamas Schädel zu sprengen drohte. Ich habe keine Wahl, war alles, was Yama über Stunden denken konnte, ein einzelner, kreiselnder Gedanke im schwarzen Becken seiner Sinne. Ich habe schon Schlimmeres überstanden. Das … davor. Davor gab es etwas, das schlimmer war … *** Der erste Schuss saß. Der zweite auch. Zwei der vier Triebwerke des fliegenden Bollwerks wurden dunkel, als ihre Energieerzeugung zum Stillstand kam. „Immer noch keine Jäger“, meldete Alonso. „Haben wohl wirklich kaum Männer da drauf. Wollen nur stark aussehen.“ Dämlich, dachte Yama. Sie sind verzweifelt. Tiado-Klasse-Patrouillen sind zu langsam, um vor einem Angriff zu fliehen. Die Männer auf diesen drei Schiffen sind dort, um zu sterben. Das backbord von ihnen liegende der drei Schiffe eröffnete das Feuer auf die Arcadia; das mittlere war offenbar nicht mehr in der Lage dazu. Selbst aus so großer Entfernung waren die fadenförmig entweichenden Gase an den Mündungen seiner Geschütze zu sehen. „Feuer erwidern?“, fragte einer der Artilleristen via Intercom. „Auf die Geschütze zielen“, antwortete Yama. „Macht sie nur kampfunfähig.“ Vielleicht sollten wir sie auch einfach zerstören. Das wäre ein schnellerer Tod für die Crew. Die Rebellen werden Schlimmeres mit ihnen anstellen. Andererseits würde für die Erzeugung von genügend Hüllenbrüchen auf so großen Schiffen eine große Menge Cygnus-Plasma draufgehen. Yama musste zuerst an seine eigenen Ressourcen denken. Kurz kniff er die Augen zusammen, als die Wunden der Arcadia Dunkle Materie zu bluten begannen. Es war, als würde der Lebenssaft des Schiffes aus seinem eigenen Körper strömen, bis die Kompensation einsetzte. Sein Klammergriff um das Steuerrad löste sich wieder etwas, und er atmete auf. „… Feuer.“ Sektion 2 und 11 des Schützenstands nahmen das hartnäckig um sich schießende Schiff auf der linken Seite ins Visier und beendeten dessen sinnlosen Angriff mit einigen Treffern. „Der Weg sollte jetzt frei sein“, meldete Kei. „Mann, was für ein Witz.“ „Gut. Wieder Kurs auf den Mars nehmen“, seufzte Yama. „Aber langsam annähern“, ergänzte Yattaran feixed. „Manche dieser Rebellen fliegen wie Anfänger. Nicht dass wir noch einen mitnehmen, am Rumpf klebend.“ Die Arcadia kroch vorwärts. Yamas Eingeweide begannen wieder zu krampfen. Jeder Meter brachte ihn näher an sein früheres Zuhause, sein altes Leben – einen Ort, der jetzt das letzte Refugium des Feindes war. Er wollte nicht dorthin. Aber er musste. *** 11 Tage zuvor Harlocks Führerschaft fußte auf Schuld. Die Erkenntnis kam Yama, als er an einem der Tische in der Halle saß und ein Stück weiches Toast in seine Suppenschale tunkte. Die Übelkeit und der Schwindel nahmen nun jeden Tag ab, und dafür kehrte sein Appetit allmählich zurück. Jung und kräftig, wie sein Körper war, hatte er sich den Einwirkungen der Dunklen Materie rasch angepasst. Yama fühlte sich fast normal. Fast. Heute war Shoda an ihn herangetreten und hatte ihm etwas mitgeteilt, das völlig logisch, aber von Yama zu keinem Zeitpunkt bedacht worden war: Harlocks Verrat an der Crew war nicht für jeden an Bord so einfach zu verkraften. „Ein paar von uns haben beschlossen, dass sie nicht auf der Arcadia bleiben wollen. Ist das, ich meine … ein Problem?“ Yama entsann sich, dass jeder von Harlocks Leuten an Bord war, weil Harlock ihn irgendwo vor irgendwas gerettet hatte. Nicht wenige von ihnen hatten einst zur Gaia Sanction gehört und waren dort in Ungnade gefallen; andere hatten in Gefängnissen gesessen oder sich an kleinen Rebellionen beteiligt. Sie waren Harlock gefolgt, weil er ihnen eine Perspektive geboten hatte im Austausch für laxe Regeln und flache Hierarchien, denen sie sich bereitwillig unterwarfen. Der Kampf für die Freiheit war eine romantische und noble Mission. Nun jedoch, da Harlock ihre Schuldgefühle ihm gegenüber missbraucht hatte, fühlten sie sich ihm nicht länger verpflichtet. Yama hatte die Frage beantwortet, ohne nachzudenken. Nein, es sei kein Problem; er werde jeden, der nicht bleiben wollte, gehen lassen. Nur stellte sich die Frage: Wann? Und wo? Er brauchte sie; jeder von ihnen würde ersetzt werden müssen. Eine klare Aussage, bei welcher Gelegenheit die Abbrecher von Bord gehen durften, war Yama der Crew schuldig geblieben, und nun würden sie hoffentlich ein paar weitere Tage des Vertrauens für ihn erübrigen und auf ihren Posten bleiben. Die Suppe schmeckte frisch genug, doch das Toast hatte sicher schon seit dem Frühstück herumgelegen. Keine Seltenheit, wenn Lebensmittel nur in unvorhersehbarem Rhythmus eintrafen. Yama konnte fühlen, wie die Energie, die er sich selbst zuführte, sich in den zähen schwarzen Nebel verwandelte, der die Triebwerke des Schiffes befeuerte. Seines Schiffes. Er hielt es am Leben, indem er selbst am Leben blieb. Beinahe glaubte er, die Erschöpfung der vergangenen Woche spielte ihm einen Streich, als er Harlocks hohe, geschmeidige Gestalt auf sich zuhalten sah. Gehült in den Umhang, der ihm um die Schultern strich, war der frühere Captain auf den ersten Blick unverkennbar. Yama spürte eine seltsame Anspannung von sich Besitz ergreifen. Sie hatten kaum ein Wort gewechselt seit dem Ritual; nur Notwendiges, Unpersönliches. Änderte sich das nun endlich? Hatte Harlock ein freundliches Wort für ihn übrig, oder … Suppe tropfte zurück in die Schüssel, als Yama den Löffel auf halbem Wege zu seinem Mund festhielt. „Yama.“ Harlocks Stimme war ohne Wärme und passte nicht zu seinen Worten. „Ich hoffe, du fühlst dich besser.“ „Es geht.“ „Wann fangen wir mit dem Training an?“ Yama sah ihn verständnislos an. „Du wolltest, dass ich dich darin schule, deine blinde Seite zu kompensieren.“ Das stimmte. Yama erinnerte sich daran, Harlock darum gebeten zu haben, nachdem sie … das Ritual abgeschlossen hatten. Als sie aus dem Bett geklettert waren, nachdem sie … „Informiere mich einfach, wenn du bereit bist.“ In Harlocks Ton schwang eine leise Ungeduld mit. Als Yama nicht antwortete, schickte er sich an, kehrt zu machen, zweifellos bereit, mit einer Handbewegung seinen Umhang dramatisch aufzubauschen – „Halt“, sagte Yama und stieß seinen Löffel so hart in die Schüssel, dass ein paar Tropfen Suppe über den Rand flogen. „Warte.“ Harlock sah ihn von der Seite an, die Braue aufmerksam erhoben. „Ist das dein Ernst? Es ist zehn Tage her, dass wir – verdammt, du weißt, was wir gemacht haben. Und nach zehn Tagen ist das Erste, das du zu mir sagst, dass ich Training brauche?“ Harlock betrachtete ihn mit unbewegter Miene, dann wandte er den Blick ab. „Die Situation ist auch für mich nicht einfach“, sagte er. „Aber du weißt so gut wie ich, dass unser Krieg mit der Gaia Sanction noch nicht vorbei ist. Und Nahkampf ist ohnehin nicht deine starke Seite, Yama.“ „Oh, danke, das wusste ich noch gar nicht.“ „Du weißt, dass ich dir helfen will.“ „Natürlich. Um meinetwegen oder deinetwegen?“ Es war eine unnötige Frage, aber Yama wusste selbst, dass Denken und Handeln bei ihm oft in der falschen Reihenfolge stattfanden. Mit einem angespannten Atemzug hob er den Suppenlöffel wieder auf. Harlocks Vernunft war ätzend, aber angebracht; Yama hatte hundert Jahre davon aufzuholen. „Na schön. Wann und wo?“ „Iss erst auf. Wenn es auf der Brücke ruhig ist, gehen wir in den Salon.“ „Von mir aus.“ Harlock ging, ohne Umhangflattern. Erstmals kam Yama der Gedanke, dass auch Harlock … litt. Nach über hundert Jahren war er befreit von dem Fluch, den er selbst durch den Missbrauch alter und großer Mächte über sich gebracht hatte – doch wie befreiend war dieser Zustand wirklich nach so langer Zeit? Sie schoben den altehrwürdigen Tisch, an dem Harlock und Miime zu trinken pflegten und der sehr viel massiver aussah, als er war, näher an die ausladende Fensterfront. Der Salon im Heck des Schiffes war kein Übungsraum, doch offenbar wollte Harlock dieses Training privat halten. Yama konnte es nur recht sein. „Keine Waffen?“, fragte Yama, als sie beide mit leeren Händen dastanden. „So weit sind wir noch lange nicht“, erklärte Harlock, während er den Kragen seines Umhangs löste und ihn ablegte. Wie ermutigend. Yama blieb in der Mitte des Raumes stehen, während Harlock sich aus verschiedenen Richtungen an ihn heranpirschte. Sehr erfolgreich, zu Yamas Missfallen. Er hatte nicht geahnt, welch enormen Unterschied es machen würde, wie viele Augen man zur Verfügung hatte. Anders als Isora hatte Yama stets scharfe Augen gehabt und sich immer auf sie verlassen; er war ein guter Schütze und stellte sich in vielen Dingen geschickt an, weil er gut sehen und räumliche Verhältnisse hervorragend abschätzen konnte. Das war nun anders. Die rechte Seite seines Gesichtsfeldes hatte sich in einen gigantischen toten Winkel verwandelt, und ohne räumliches Sehen waren Entfernungen ein Ratespiel. Selbst wenn er Harlock auf sich zuspringen sah, griff er fast immer ins Leere, wenn er ihn abwehren wollte. „Du bist tot.“ Harlocks behandschuhter Daumen stieß in die weiche Seite seines Halses, nicht fest, aber nachdrücklich. „Tot, Yama.“ Und wieder. „Tot.“ Und wieder. Yama fuhr auf dem Fuß herum, aber Harlock huschte außer Sicht wie ein Schatten. „Tot.“ Auf seiner sehenden Seite! Harlocks unbewegte Stimme ließ Yama in hilflosem Zorn die Zähne zusammenbeißen. Längst waren die Kopfschmerzen zurückgekehrt, strahlten aus seinen Schläfen in den Rest seines Körpers aus, während seine Erschöpfung die Dunkle Materie aus dem Geichgewicht brachte. Es war nicht fair. Yama war nicht halbblind wegen der Schussverletzung, sondern wegen des verdammten Fluchs. Vor dem Ritual hätte sein Auge sich vollständig erholen können! Wenn nun alle von Harlocks Schwächen auf ihn übergegangen waren, warum dann nicht auch seine Stärken – die überlegenen Sinne, die katzengleiche Geschmeidigkeit, die jahrzehntelange Kampferfahrung? Es war nicht fair. „Das reicht jetzt!“, schnappte er. „Wie oft willst du mich noch umbringen, bis du glaubst, dass ich’s kapiert hab?“ Harlock ließ die Arme sinken. Kurz spiegelte sich Betroffenheit in seinem Auge. „Ich hatte zwar nur ein kurzes Training bei Gaia, aber es war verdammt hart. Ich war nicht schlecht, sonst hätten sie mich nicht gehen lassen. Aber du, du hattest ein ganzes Jahrhundert, um zu trainieren, du kennst alles und ich kann nicht mithalten!“ Aus einem Impuls heraus gab Yama dem Tisch einen Tritt. Nur sein hoher Stiefel verhinderte das zu erwartende Hämatom an seinem Schienbein. „Was also soll das hier, Harlock? Was erhoffst du dir davon, mich fertig zu machen?“ Endlich wurde Harlocks ganze Haltung deeskalierend, und er schüttelte den Kopf. „Wenn du es so empfindest, dann hören wir auf. Dich fertig zu machen ist ganz sicher nicht mein Ziel.“ Er trat an die hohe Wanduhr heran, die mit reglosen Zeigern auf einem ornamentierten Ziffernblatt an der Wand ruhte. In ihrem Inneren, hinter der schmalen Tür auf Brusthöhe, lagerten diverse erbeutete Schätze mit variablem Alkoholgehalt. „Wein, Yama?“ Anscheinend konnte Harlock zu jeder Zeit trinken. Yama fragte sich, ob es seiner Lage helfen würde, ebenfalls zum Alkoholiker zu werden. „Sicher.“ Dennoch blieb er stehen, wo er war, und versuchte, sein von der Anstrengung hämmerndes Herz zu beruhigen. Harlock stellte Yamas Glas dort ab, wo dessen Jacke über einer hohen Stuhllehne hing, und fragte: „Wie lange willst du noch um die Sperrzone kreisen? Du kannst nicht jeden Neugierigen von der Erde fernhalten, und wozu auch, es gibt noch nichts dort zu finden. Wolltest du nicht zum Mars und das Saatgut aus deinem Gewächshaus holen?“ „Das ist sinnlos.“ Yama nahm einen großen Schluck von dem schweren dunklen Wein. Schreckliches Zeug. „Ich war einmal unten, kurz nachdem wir …“ Ich sollte es endlich aussprechen. Vielleicht erinnert er sich dann wieder. „Ich weiß.“ „Wir haben Samen aus der Küche hingebracht, Proben von allen Speisepflanzen, die von der Erde stammen – Tomatenkerne, Sonnenblumenkerne, irgendwelches Getreide. Kresse. Alles in der Nähe der Wasservorkommen, wo auch die Blumen stehen.“ Harlock sah ihn an und wartete auf die Pointe. Widerstrebend nahm Yama einen weiteren großen Schluck. „Gestern war war ich noch mal dort, mit Yattaran. Nichts. Kein einziger Keimling. Ich hab alle Stellen markiert. Aber auch sonst wächst dort nichts, Harlock. Keine Kräuter, keine Gräser, nicht mal Algen oder Flechten. Nichts.“ Harlocks Blick wanderte zu dem halbleeren Glas in seiner eigenen Hand. „Warum wachsen dann die Blumen dort?“ „Ich weiß es nicht.“ Die Wahrheit brannte in Yamas Kehle, zusammen mit dem starken Wein. „Vielleicht dauert es einfach länger. Die Samen hatten nur eine gute Woche Zeit zu keimen.“ „Kresse, Harlock. Streu das Zeug in irgendein Substrat und nach spätestens zwei Tagen keimt es.“ „Ich verstehe nicht viel von Pflanzen.“ Vielleicht solltest du dann aufhören zu klugscheißen, denn ICH verstehe was davon. „Ich will nicht zum Mars“, hörte Yama sich sagen. „Ich will nicht.“ „Du musst“, entgegnete Harlock ruhig. „Es ist dein früheres Zuhause. Alle deine Angehörigen sind tot, also gehört alles dort von Rechts wegen dir.“ Yama unterdrückte ein sarkastisches Auflachen. Stattdessen zwang er sich zu einem weiteren Schluck und spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen stieg. „Denkst du wirklich, das interessiert irgendjemanden?“, murmelte er. „Nein. Aber du brauchst einen Abschluss.“ Was Harlocks Blick wirklich sagte, war: Du musst Abschied nehmen. Du musst trauern. Sonst wird dein Schmerz dich zerstören. Wahrscheinlich stimmte das sogar. Yama stellte das leere Glas wieder auf den Tisch, und Harlock füllte es postwendend wieder bis zum Rand. „Bevor du wieder zu dir selbst kommst“, sagte er, „hat es keinen Sinn, dass wir weiter an dir arbeiten.“ „Sehe ich auch so“, schnaubte Yama, packte das aufgefüllte Glas sofort und kippte die Hälfte des Inhalts hinunter. Plötzlich sagte Harlock in schneidendem Ton: „Glaubst du, ich wüsste nicht, wie es dir geht?“ „Tust du das?“ „Ich war an deiner Stelle, vor langer Zeit. Ich will dich nicht dieselben Fehler machen sehen. Ich will nicht sehen, wie du so wirst wie – …“ Doch Harlock brach ab und presste die Lippen zusammen. „Wie wer?“, ätzte Yama. „Wie du? Ich dachte, genau deshalb sind wir hier.“ Harlocks Haltung verlor die Spannung. Stoisch nippte er an seinem Wein, die Miene wieder verschlossen, und sagte nichts. Das machte Yama nur noch wütender. „Glaubst du, mein blindes Auge ist das einzige Problem hier? Ich kann nicht führen, Harlock. Du hast es gelernt, ich nicht. Ich war nur ein Soldat! Ich kann keine Strategien entwickeln, keine Feinde ausschalten, keine ganze verdammte Armee in Schach halten!“ „Das musst du auch nicht“, sagte Harlock nun unerwartet sanft. „Ich bin immer noch hier, bei dir. Wir werden viel Zeit haben, dich auf alles vorzubereiten.“ „Und wann sind wir damit fertig? Ich kann niemals du sein.“ Harlock seufzte. „Yama, das sind alles Dinge, die wir schon besprochen haben. Ich dachte, wir hätten deine Zweifel ausgeräumt.“ „Das dachte ich auch, danach. Weißt du noch? Wir haben uns großartig gefühlt. Danach. Aber das war dumm, nicht wahr?“ Ich muss aufhören zu trinken. Jetzt. Scheiße, ich vertrage nichts. „Wenn du das alles hier nicht willst“, sagte Harlock scharf, „warum hast du es dann getan? Warum hast du die Augenklappe genommen und dich ans Ruder gestellt? Warum?“ „Weil wir sonst alle gestorben wären!“ Yama schrie nun fast, und seine Hand, die das Glas hielt, zitterte. „Du hast die Dunkle Materie aufgebraucht, du hast die Arcadia geopfert. Mit dir als Captain hätte sie nicht mehr abheben können! Du musstest den Fluch weitergeben, und leider war da nur noch ich!“ Er leerte den Wein, zwängte ihn gewaltsam durch die Enge seiner Kehle. Und ich kann nirgendwo anders mehr hin. Jetzt lächelte dieser Mistkerl auch noch, ein mildes, nachsichtiges Lächeln. „Du hast keine Ahnung, wozu du fähig bist“, sagte er beinahe feierlich. „Du wirst stärker sein als ich, Yama, viel stärker.“ „Dass ich nicht lache“, fauchte Yama und knallte das Glas auf den Tisch. Dann machte er schwungvoll kehrt – schon zwei Gläser Wein störten seine Motorik so sehr, dass er sich kurz am Tisch festhalten musste – und ging. Irgendwie schaffte er es nach draußen, während Harlocks Blick ihm folgte. *** Die endlose rote Wüste, die der Mars war, tat sich vor ihnen auf. Überall in den tiefen Gräben und Kratern zwischen den Felsen saßen die Bauwerke der Gaia Sanction, ihre fürstlichen Sitze, ihre Hangars, ihre Wasseraufbereitungsanlagen, ihre unzähligen nutzlosen Zierbauten, die glitzernd in die künstliche Atmosphäre aufragten. „Was genau steuern wir an?“ fragte Yattaran. „Fünfzehn Grad steuerbord“, sagte Yama müde. „Richtung Tharsis-Region.“ „Also zu ihrer Heimatbasis?“, hakte der Erste Maat nach. „Ganz in der Nähe.“ Yama kannte die Anflugschneise sehr genau. Isoras Behinderung und die Limitierung der Energieversorgung hatten es nötig gemacht, dass sie in ein Herrenhaus in kleinstmöglicher Distanz zu den Tagungssälen des Hohen Ministerrats umzogen, damit Isora als Kommandeur der Flotte so oft wie möglich persönlich dort erscheinen konnte. Dort hatte Nami das neue Gewächshaus bauen lassen. Yama hatte es nie von innen gesehen. Neben ihnen stieß ein kleines Raumschiff ohne Kennzeichnung tollkühn Richtung Oberfläche herab. Rebellen, was sonst. Sie sahen zu, wie das Treibstoffdämpfe ausstoßende kleine Blechding – zweifellos war es im Windschatten der Arcadia an den drei zahnlosen Wachhunden am Rand des Sektors vorübergeglitten – seine Nase senkte, vielleicht, um selbstgebaute Sprengsätze über den Wohngebieten der Marsbewohner abzuwerfen. Yama überlegte bereits, ob er es abfangen sollte, als etwas gänzlich Unerwartetes geschah. Der kleine Kreuzer prallte wie von einer unsichtbaren Wand ab. Plasmagitter grellten auf beim Kontakt mit der Hülle, Lichtblitze sprangen über, als Pulsare sich in das Schiff entluden. Der Bug explodierte lautlos, dann der Rumpf, dann das Heck. Alles ereignete sich binnen weniger Sekunden. Der Schiffskörper brannte aus, seine Einzelteile landeten ebenfalls auf dem Plasmagitter, um dort zu verglühen und atomisiert zu werden. Einen Augenblick später war nichts mehr von dem Eindringling zu sehen. „Hä?“, machte Yattaran. Auch Kei drehte sich zum Steuer um, ihr Gesicht ein Fragezeichen. „Yama, was zum Teufel war das?“ „Ich kann nichts registrieren“, meldete Alonso unnötigerweise. „Aber das war nicht nichts, was den Rebellen gebraten hat!“ Yamas Mund war trocken. Er hatte davon gehört, oder nicht? Ein letztes Ass im Ärmel der Gaia Sanction. Eine Verzweiflungswaffe. Ebenso wie das Kaleido-Star-System, ebenso wie der Jovian Blaster. Diese beiden hatten sich als wirkungslos erwiesen. Dies hier war das letzte ihrer geheimen Projekte, vielleicht ebenso ein Jahrhundert lang für genau diesen Zweck gehütet … Automatisch hatte Yama die salbungsvolle Stimme des Großen Ministers in der Ohren, wie er feierlich verkündete: „Ich genehmige den Einsatz von … was auch immer wir noch nicht ausprobiert haben.“ Es war – „Ein Schild“, stellte Harlock hinter ihnen mit unbewegter Stimme fest. „Wir hätten wissen müssen, dass sie Mittel und Wege haben, ihre Heimatbasis für den Fall einer übermächtigen Bedrohung zu schützen.“ Yama drückte den Knopf für die Comverbindung. „Artilleristen, gebt einen Testschuss ab mit jeder Munition, die wir haben.“ Die Anweisung wurde mehr oder weniger geordnet ausgeführt. Piraten waren nun einmal keine Militärs. Etwas chaotisch krachten verschiedene Salven auf den unsichtbaren Schild, der bei jedem Treffer aufloderte und alles, was auf ihn traf, einfach auffraß: Er ließ die Geschosse explodieren und absorbierte die freigesetzten Energien. Nicht einmal das mächtige Cygnus-Plasma richtete auch nur den geringsten Schaden an. Kei fluchte über ihren Monitoren. „Diese Bastarde!“, knurrte Yattaran. „Denken die, sie könnten sich ewig hinter so einer Wand verschanzen?“ Yama schloss sein Auge. „Sie können. Der Mars ist autark, und dieser Schild scheint seinen eigenen Energiekreislauf zu haben. Sie können.“ Einen Moment lang starrten sie alle durch die große Frontscheibe hinunter auf den Mars, der zum Greifen nahe vor ihnen lag und nun doch unerreichbar war. Dann begann die Diskussion. „Gibt es irgendeine Waffe, die so was kaputt kriegt?“, fragte Kei hitzig. „Ich lass grad Simulationen laufen“, brummte Yattaran, die kräftigen Arme über dem ausladenden Bauch verschränkt. „Sieht aber nicht gut aus. Muss eine der vielen experimentellen Technologien sein, zu denen nur Gaia Zugang hatte.“ „Einige unserer Ingenieure waren doch früher bei Gaia“, wandte Yama behutsam ein. „Ich weiß, ah! Die Sensoren haben Daten gesammelt, als die Nussschale auf den Schild gekracht ist. Ich stell sie allen zur Verfügung.“ Kei zischte: „Das muss doch schneller gehen!“ Alonso kratzte sich den blonden Schopf. „Wir alle kennen doch Gaia, oder? Ich wette, über deren Geheimwaffen konnte nichts nach draußen dringen. Wer davon wusste und nicht hundertprozenzig loyal war, dürfte tot gewesen sein, bevor er ‚Erde‘ sagen konnte.“ Frustriertes Schweigen schloss sich an, doch es dauerte nur einen Augenblick; dann erhob sich Harlock von seinem Thron und trat auf die Gruppe zu. „Yattaran“, sagte er. „Was sagen dir die Daten über den Schild?“ „Ah, was sollen die denn sagen? Wir haben drauf geschossen, nichts ist passiert. Tja, man müsste ihn überladen können, theoretisch. Aber wenn man sich die Daten so anschaut …“ Der Erste Maat beugte sich wieder über seine Konsole, und hinter den dicken Brillengläsern huschten seine Augen von einer Zahlenreihe zur nächsten. „… dann bräuchte man wohl eine ganze Menge Saft … um genau zu sein, wir bräuchten eine punktuell konzentrierte Energieentladung von über zweihunderttausend Terasparks. Ja, genau.“ Yama spürte, wie seine Kinnlade vor Erstaunen heruntersank. Harlocks Gesicht nahm einen zufriedenen Ausdruck an. „Welche Waffe könnte das schaffen?“, fragte er fast beiläufig. Auf Yattarans Zügen begann es zu arbeiten. „Ah, naja, unsere nicht. Höchstens Gaias Jovian Blaster, der vielleicht.“ „Fällt aus“, sagte Kei. „Was noch?“ „Nichts. Am Arsch.“ Yattaran zuckte die Schultern. Doch Yama hatte verstanden, wie Harlock das Genie in seinem übergewichtigen Ersten Maat wachzukitzeln wusste. „Sagst du das nicht immer, Yattaran? Ich höre ständig von dir, dass irgendwas nicht gehen wird, und dann …“ „Eine Stunde später präsentierst du eine Theorie“, beendete Harlock den Satz. „Wir vertrauen darauf, dass das auch jetzt passieren wird.“ Yattaran verdrehte die Augen. „Aaaach, zum Teufel! Von mir aus, ich geh nachdenken.“ Mit einem weiteren Achselzucken verließ er einfach seinen Posten. „Kommt mich nicht suchen. Ich geh mir in der Zero-Gravity-Dusche den Arsch schrubben, vielleicht fällt mir da was ein.“ Harlock, Yama, Kei und Alonso sahen zu, wie Yattaran von der Brücke stapfte, leise vor sich hin murmelnd. Yama blickte zu Harlock. „Glaubst du wirklich, er findet einen Weg?“ „Wenn nicht Yattaran, dann niemand.“ Harlocks Mundwinkel zuckten aufwärts. „Er war derjenige, der ausgerechnet hat, wie viel Energie einen Zeitknoten löst – bevor ich mit ihm jemals über meine Mission gesprochen hatte. Bedenke, dass deine Crew aus den Besten besteht, Yama.“ Yamas Blick glitt wieder zum Mars, zu den schimmernden Bauwerken, die wie Tautropfen zwischen den Felsen saßen. Ein kleiner Teil von ihm wollte sie alle dem Erdboden gleich machen. Ein weit größerer Teil hoffte, dass Yattaran das Problem nicht lösen konnte. Kapitel 2: Einfall ------------------ 9 Tage zuvor Harlock war betrunken. Es war nicht das erste Mal seit dem Ritual, aber schon das dritte Mal seit seiner Übungsstunde mit Yama. Der Alkohol half ihm, die unerträgliche Stille in seinem Kopf zu betäuben. Vielleicht, sagte er sich, war das einfach seine Art, mit Problemen umzugehen. Andere Leute, die den wichtigsten ihrer Sinne verloren hatten, griffen zu drastischeren Maßnahmen als sich hin und wieder die Kante zu geben. Und dieser Wein war gut. Sie hatten ihn im Venus-Sektor erbeutet, der erste erfolgreiche Überfall unter Yamas Kommando. So schlecht es Yama die ersten Tage gegangen sein mochte, die mentale Verbindung zur Arcadia führte ihn fehlerlos. Es war schneller gegangen als bei Harlock damals – oder? Hatte er nicht tagelang kotzend in einer Ecke gelegen, während sein verwandeltes Schiff, nun ein Piratenschiff, im Orbit des einzigen Planeten herumdümpelte, der ihm je wichtig gewesen war? Und den er in eine Wüste aus unfruchtbarem, von Dunkler Materie durchseuchtem Geröll verwandelt hatte. Harlock streckte sich auf der Chaise longue aus, die früher stets Miime okkupiert hatte. Der einzige gespannte Muskel in seinem Körper war der in seinem Arm, der das Weinglas halbwegs gerade hielt. Wahrscheinlich bot er einen bemitleidenswerten Anblick. Aber wen interessierte das? Jeder andere auf diesem Schiff hatte gerade genug eigene Probleme. Als Harlock Yama zu seinem Nachfolger ernannt hatte, hatte er nicht vorgehabt, Probleme zu haben, geschweigedenn zu verursachen. Er wollte wie ein Schatten in Yamas Nähe sein, wenn dieser sich ans Steuerrad klammerte und die ersten Befehle erteilte, wie ein Kleinkind am Treppengeländer das Gehen übt. Seine Präsenz sollte der Crew klarmachen, dass Harlock hinter Yama stand und nicht bereit war, das Feld schon jetzt zu räumen. Nichts, das sollten sie wissen, passierte ohne Harlocks Zustimmung. Er wollte eine stumme Erinnerung daran sein, dass er es war, der Yama auf diesen Platz gesetzt hatte, dass es noch immer seine Verantwortung war, was geschah, und dass niemand es wagen sollte, Yamas Kommando in Frage zu stellen, jene Autorität, die Harlock selbst ihm verliehen hatte. Ha. Guter Plan, sehr militärisch. So hätte es laufen sollen. Doch dann, als er wieder auf seinem Thron saß, wollten die Männer plötzlich nicht mehr unter ihm dienen. Wollten gehen. Nimm das, du alter Narr. Mmmh, noch ein Glas. Was machte das schon für einen Unterschied? Die Tage wurden nicht besser. Mit ungelenken Bewegungen schenkte er sich nach und dachte, dass seine Ablösung durch Yama gerade zur richtigen Zeit passiert war. Wie lange, fragte er sich, hätte die Crew einen Captain Harlock nach seinem Verrat noch toleriert? Wie lange hätten ihre Schuldgefühle es ihm noch erlaubt, sie zu kontrollieren? Sein Einfluss auf seine Männer schwand stetig, die Illusion vom rechtschaffenen, verkannten Helden verblasste ebenso wie das Hologramm auf der Erde und entblößte einen verbitterten, fehlgeleiteten alten Mann ohne Skrupel. Noch viel mehr Leute als die kleine Anzahl, die Shoda genannt hatte, hätten das Schiff verlassen wollen, stünde Harlock noch immer selbst am Ruder der Arcadia. Viele der Männer blieben wegen Yama. Das war ein erhebender und zugleich erschreckender Gedanke. Trotz seiner elitären Herkunft war Yama einer von ihnen; sie kannten seine Fehlbarkeit, hatten seinen inneren Zwist ebenso wie seine Menschlichkeit aus nächster Nähe gesehen. Nun hatte Yama den Abtrünnigen versprochen, dass sie gehen durften. Natürlich ließ er sie einfach gehen – wie Gäste, die wieder abreisten, und nicht als die Deserteure, die sie waren. Ja, es stach. Früher waren die Männer wegen Harlock gekommen. Jetzt gingen sie wegen Harlock. Das nächste Glas widmete er den verdammten Blumen. Yama hatte gesagt, dass nichts anderes auf der Erde wuchs, und Yama musste es wissen, denn Yama war nun schon dreimal dort gewesen. Warum waren sie so dumm gewesen, sich Hoffnung zu machen? Warum klammerten sich die Menschen an jede Hoffnung, die sie finden konnten? Weil sie gratis war? Wie Münzen, die auf der Straße lagen? Er sollte Yama fragen, was für Blumen das überhaupt waren. Wahrscheinlich waren sie genmanipuliert, stammten aus einem der reichen Labore auf dem Mars, die zum Spaß schöne Pflanzen züchteten, die zu nichts nütze waren. Noch ein Glas. Zu guter letzt widmete er sich dem größten aller Probleme. Einem, das mit den anderen überhaupt nichts zu tun hatte, aber der Hauptgrund dafür war, dass Harlock nun seltener nüchtern war als in seinen Jahren als Student an der Militärakademie. Er konnte nicht aufhören, an das Ritual zurückzudenken. Yamas erboste Stimme, zwei Tage zuvor: Verdammt, du weißt, was wir gemacht haben. Ja. Natürlich wusste Harlock, was sie gemacht hatten. Er wachte nachts auf und wusste, was sie gemacht hatten. Er stand unter der Dusche seiner eigenen Nasszelle, wusch sich die Seife ab und wusste, was sie gemacht hatten. Er wusste es, wenn er Yama am Ruder stehen sah, und er hatte es erst recht gewusst, als Yama ihn vor zwei Tagen angeschrien hatte mit seiner aufgeregten, verzweifelten Stimme, in der der beschleunigte Herzschlag zu hören war. Mit unsicherer Hand goss Harlock den kleinen Rest Wein ins Glas und hielt die leere Flasche wie zum stummen Gruß in die Luft. Du hättest ihn gelobt, mein Freund, dachte er. Am liebsten hätte ich ihn mit dir getrunken. Yama trinkt wie ein Fünfzehnjähriger. Harlock kniff die Augen zusammen und hielt ein leises Stöhnen zurück. Er begehrte Yama, wie er seit Jahrzehnten nichts und niemanden begehrt hatte. Er hatte geglaubt, er könnte nichts mehr dieser Art empfinden nach all der langen Zeit, doch Yama hatte von Anfang an etwas in ihm gerührt, vom ersten Moment an, als er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf der Kante der Ladeluke gestanden hatte, die Augen groß und verunsichert wie die eines scheuen Tiers. Und nun … nun wurde es unerträglich. Die Tür öffnete sich mit einem leisen mechanischen Geräusch. Niemand konnte hier hereinkommen, da ein Sperrcode den Zugang verschloss. Niemand außer … „Harlock“, sagte Miime sanft. Sie glitt auf ihn zu, lautlose Schritte auf dem künstlichen Parkett. Er hob nicht einmal den Kopf. Er fühlte nichts. Miime war keine Hilfe mehr; er konnte nicht mehr nach ihr spüren, nicht mehr ihre Gedanken mit seinen berühren, um Wellen des Trosts und der Ruhe von ihr zu empfangen. Keine geistige Verbindung bestand mehr zwischen ihnen. Miime gehörte jetzt zu Yama. Genau wie das Schiff, und die Crew, und alles, was Harlock sich in über hundert Jahren aufgebaut hatte. Würdelos lag er vor ihr auf dem Polstermöbel, das zerzauste Haar in der Stirn, eine Hand schlaff auf der Tischplatte neben dem leeren Glas. Miime setzte sich auf die Kante und bettete seinen Kopf in ihrem Schoß. „Ich bin nutzlos“, murmelte er und glaubte, dass er ihr selbst über seine Gedanken niemals so ehrlich gesagt hatte, was er fühlte. Doch Miime lächelte nur und küsste ihn auf die Nase. Ihr Haar umfloss ihn, als sie beide Arme über seiner Brust kreuzte und sich niederließ, die kühle Wange auf der Hitze seiner Stirn. *** Ungefähr eine Stunde später kam Yattaran zurück, duftend wie ein ganzes Fässchen Zitronenöl. „Könnte sein, dass ich ’ne Idee habe“, verkündete er und genoss es vermutlich, alle Blicke der Brückencrew auf sich ruhen zu wissen. Harlock führte seinen Ersten Maat seit vielen Jahren und wusste, wie gut der Mann seine eigenen Stärken kannte. „Ich hab nachgedacht, ein paar Zahlen durch den Rechner gejagt … Möchte meinen, wir können mit zwei kleineren Energiequellen, wenn wir sie an Positionen mit besonderer Relation zueinander anbringen, den Schild knacken. Der ist gekrümmt, also … Wir müssten nur ein Trionisches Netz zwischenschalten, und wenn wir es richtig verkabeln, lässt sich der Energie-Output wie mit einem Verstärker verfünffachen, ja.“ Harlock sah das ehrliche Erstaunen auf Yamas Gesicht. Yama war immer so herrlich offen, was seine Gefühle betraf, wie ein aufgeschlagenes Buch. „Ein Trionisches Netz“, wiederholte er. „Sind die nicht ziemlich selten?“ „Das war nicht immer so“, übernahm Harlock die Antwort. „Früher wurden Schiffe serienmäßig mit Trionischen Netzen zur Energieverteilung ausgestattet, es war der neuste Stand der Technik.“ „Dann sind sie einfach veraltet?“ „Eher antiquiert.“ „Voltaire-Klasse vier und acht“, ergänzte Yattaran. „Die zum Beispiel haben eins.“ Yama dachte nach und schüttelte den Kopf. „Die Gaia Sanction fliegt keine Voltaire-Klasse-Schiffe mehr. Sie wurden ausgemustert, noch bevor ich geboren war.“ Yattaran lachte auf. „Das heißt aber nicht, dass die nicht mehr fliegen. Vor allem Schmuggler stehen auf restaurierte Voltaire-Schiffe, weil deren Steuerung bis heute bestens kompatibel mit moderner Tarnkappen-Technologie ist.“ „Wenn das so ist, gut. Wo finden wir so ein Schiff?“ Jetzt huschte Yamas forschender Blick zurück zu Harlock. „Es gibt zwei Orte, die wir zuerst ansteuern sollten. Tizmah –“ Harlock hoffte, dass Yama über diesen Planeten bereits etwas gelernt hatte; dort Halt zu machen stand regelmäßig auf dem Programm, denn auf dem zentral gelegenen Tizmah gab es praktisch nichts, mit dem kein Handel getrieben wurde. „– und Themeisias.“ Letztgenannter Planet war gefährlich, eine Hochburg der Kriminalität. Die Patrouillen der Allianz der Planeten trauten sich dort schon lange nicht mehr hin. Yama nickte wieder. Er hatte ohnehin keine andere Wahl, als den Erfahrungswerten seiner Offiziere zu vertrauen. „Einverstanden, wir beschaffen also ein Trionisches Netz. Wie geht es dann weiter – was ist mit den beiden Energiequellen?“ Yattaran kratzte sich hinter dem Ohr, wo sein Bandana noch nass war, als würde er selbst zum Haarewaschen nicht abnehmen. „Gut, dass du fragst. Die müssten es nämlich jede auf immerhin einundzwanzigtausend Terasparks bringen, und keine unserer Waffen kann das – jedenfalls keine, die wir an Bord haben.“ „Was soll das heißen?“, bohrte Kei, die Arme vor der Brust verschränkt. Harlock kam ein unguter Verdacht. Yattaran bestätigte ihn, indem er die Nase feucht hochzog und erklärte: „Wir bräuchten nichts Geringeres als zwei Dimensionenschwingungssprengköpfe.“ *** 5 Tage zuvor Dieses Mal wurde er gestört. Er hatte aufgehört, die Stunden, die er auf der Brücke in Yamas Schatten verbrachte, und die, die er betrunken im Salon herumlag, gegeneinander aufzurechnen; es konnte jedoch gut sein, dass in den letzten Tagen ein gewisses Missverhältnis entstanden war. Schon mehrfach hatte er den Weinvorrat in der Wanduhr aus den Frachträumen nachversorgen müssen, und dass er dies nachts persönlich getan hatte, konnte nur bedeuten, dass ihn das Ausmaß seiner einsamen Gelage selbst beschämte. Hatte er sich während des letzten Zyklus überhaupt einmal auf der Brücke sehen lassen? Wie erging es Yama, während er stundenlang um die Erde kreiste und Neugierige vertrieb – aus Sorge, sie könnten seine Blumen pflücken, oder einfach weil er zu viel Angst hatte, sich stattdessen seiner Vergangenheit zu stellen und mit ihr abzuschließen? Es brauchte Harlock im Grunde nicht zu interessieren. Yama machte den Job am Ruder mittlerweile sehr gut und schätzte die Kräfte des Schiffes richtig ein. Um im Orbit der Erde zu kreisen, dafür brauchte er Harlock schon lange nicht mehr. Währenddessen zog sich das Gefühl von Isolation und Verlassenheit immer stärker um Harlock zusammen wie ein Tourniquet um eine blutende Gliedmaße. Er fühlte sich nicht mehr willkommen in seinem eigenen Zuhause. So hatte er noch nie zuvor empfunden. Doch nun war an der versperrten mechanischen Tür ein hartnäckiges Klopfen zu hören, das einfach nicht aufhören wollte. Miime konnte es nicht sein. Erstens konnte sie sich selbst hereinlassen, zweitens war sie schon den ganzen Tag bei Yama. „Machen Sie auf. Sie wissen genau, dass ich hier reinkomme, wenn ich will!“ Kei. Der Klang ihrer Stimme bewirkte nur ein träges Zucken der Hand, die das halbleere Glas mit den silbernen Ornamenten festhielt. „Was willst du?“ „Reden.“ „Rede mit Yama.“ „Yama soll das Thema sein. Also machen Sie auf oder ich schließe die Türsperre kurz. Irreparabel.“ Gegen seinen Willen schmunzelte er. Nichts auf diesem Schiff war irreparabel, wenn er – … wenn Yama es wollte. „Ich zähle bis drei.“ Was wollte sie so dringend von ihm, dass es nicht warten konnte? „Eins.“ Was konnte auf eine solche Art wichtig sein, dass sie es nicht mit dem Captain selbst besprechen wollte, sondern nur mit seinem ausgemusterten Vorgänger? „Zwei.“ Vielleicht sollte er sich selbst einmotten und aufs Hangardeck stellen, um auf Tizmah an einen Antiquitätensammler verkauft zu werden. „Zweieinhalb.“ Oder ganz einfach von Bord gehen, irgendwo, wo die Bürgerkriege weit weg waren, und sich unerkannt zur Ruhe setzen. „Drei.“ Etwas zischte, und ein paar kleine Funken stoben an den Seiten der hydraulischen Türscharniere vorbei. Dann entstand zwischen den Türflügeln ein schmaler Spalt, in den sich zwei Paar schlanke Finger hineinschoben und die Salontür aufdrückten. In nicht mehr als zehn Sekunden stand Kei im Raum, die blauen Augen vor Missmut sturmumwölkt. „Was zum Teufel machen Sie da, Captain?“ „Ich bin nicht der Captain“, korrigierte er sie automatisch. „Nein, Sie sind nur ein Stück Altinventar, nicht wahr? Vergessen Sie’s. Von mir aus ist Yama der Junior-Captain und Sie der Senior-Captain, mir doch egal, wie ihr das aufteilt. Aber das hier hört jetzt auf.“ Es amüsierte ihn gar nicht, dass sie mit ihm sprach wie mit einem sich daneben benehmenden Teenager. Das hatte sie noch nie getan. Beim Versuch, das Glas elegant abzustellen und Haltung anzunehmen, rollte er fast über den Rand der Chaise longue und konnte sich gerade noch rechtzeitig mit der linken Hand am Boden abstützen. „Kei“, ächzte er, „ich verbitte mir diesen Ton. Wie du weißt, bin ich außer Dienst.“ „Am Arsch“, fauchte sie. „Soll Yama sich jetzt Ihren Umhang anziehen, mit Ihrem Säbel rasseln und sagen, ‚Seht her, ich bin’s, Captain Harlock‘?“ „Ich wüsste nicht, was dagegen spricht. Er ist jetzt der Mittelpunkt dieses Schiffs, die Quelle der Dunklen Materie. Er ist nicht mehr Yama.“ Noch während er sprach, hatte Kei tief Luft geholt, wie um ihn noch einmal tüchtig anzuschreien; doch jetzt ließ sie den Atem mit einem theatralischen Stöhnen entweichen und reckte die Arme in die Luft. „Wie viele von euch gehen?“, fragte Harlock plötzlich. Kei ließ die Schultern fallen und blinzelte verwirrt. „Was?“ „Von der Crew. Wie viele?“ „Ah.“ Kei kreuzte die Arme und betrachtete ihn lauernd. „Was denken Sie denn?“ Er dachte an die Hälfte. Zwanzig. Mehr wären schlimm. Dreißig wäre katastrophal. Vor allem die Crewmitglieder mit Sonderfunktionen waren schwer zu ersetzen. Harte Zeiten kamen auf sie zu … Kei zählte an den Fingern ab. „Sieben.“ „Sieben?“ Harlocks Augenbrauen wanderten aufwärts. „Ja. Die meisten davon sind unsere Freunde von Berda – Sie wissen schon, die Ex-Söldner, die bei den Evakuierungen vergessen wurden. Aber fast alle anderen …“ „Und du bleibst ebenfalls?“, unterbrach er sie, unfähig, der ihn plötzlich durchströmenden Erleichterung über den Weg zu trauen. Sie sah ihn an, als hätte er einen vierzig Jahre alten Witz erzählt. „Hatte ich das nicht klargemacht? Die Arcadia ist mein Zuhause. Was soll ich denn woanders? So sieht es übrigens auch Yattaran, auch wenn es manchmal so aussieht, als wäre er nie zufrieden. Unsere Brückencrew bleibt auch – Alonso, Norrel, Cervus, Caruso … und unsere Schützen … Sato, Roukan, Maji, Tiberius …“ Sie zählte weitere Namen auf, die durch Harlocks misstrauisches Gehör hindurchrauschten. „… und natürlich die Köchin und der Doktor, aber er wünscht sich neuen Strapaleci, wenn wir wieder auf Tizmah sind. Wie kann man diese Katzenpisse nur trinken. Habe ich jemanden vergessen? Oh, im Übrigen war meine Zeit auf der Arcadia die befriedigendste meines Lebens, und auch damit stehe ich nicht alleine da. Mag ja sein, dass ein Musikstück durch ein schlechtes Ende ruiniert wird, doch bei Lebensabschnitten bin ich großzügiger. Bis auf die Sache mit der Zerstörung des Universums waren Sie ein großartiger Captain. Es hat sich gut angefühlt, Teil einer solchen Mannschaft zu sein, eine Mission zu haben, für etwas zu kämpfen. Ich werde so lange damit weitermachen wie möglich.“ Einen Moment lang sah sie ihn so an, wie sie es früher getan hatte, bewundernd, beinahe liebevoll. Dann schien sie wieder zu bemerken, welch zerstörten Anblick er bot, und der Äger kehrte auf ihre Züge zurück. „Wenn wir uns einig sind, dass ich genug Süßholz geraspelt habe, dann bewegen Sie sich jetzt augenblicklich auf die Brücke.“ Harlock wich zurück, als sie mit forschen Schritten auf ihn zuhielt, doch sich ins Polster der Chaise zu drücken half ihm nicht; sofort war Kei bei ihm, ergriff seine schlaffe Hand und zog daran. Ächzend richtete Harlock sich auf. Er fühlte sich wie ein alter Mann – wund und benommen. „Los jetzt, Yama braucht Sie!“, drängte Kei. Harlock stolperte auf die Füße, ließ sich weiter durch den Raum zerren. „Was ist mit Yama?“ „Wir hängen im Asteroidengürtel fest.“ „Weshalb?“, fragte er lahm. „Yama hat kurz die Kontrolle über die Dunkle Materie verloren, weil er einfach verdammt müde ist. Jetzt ist er desorientiert und kriegt das Schiff nicht durch die vielen Gravitationsfelder durchgesteuert. Wir versuchen es schon seit ein paar Stunden.“ Harlock schüttelte ungläubig den Kopf, während er Kei durch die nun nutzlos offen stehende Tür folgte. „Das hättest du mir sofort sagen müssen.“ „Ach ja? Hätte Sie das aus Ihrer bequemen Suhle aus erbärmlichem Selbstmitleid rausgeholt?“ Natürlich!, dachte er und hielt den Mund. Ihr Spott schmerzte, und zu Recht. Doch das spielte überhaupt keine Rolle. Yama hatte Schwierigkeiten, nur das spielte eine Rolle. Alle Köpfe drehten sich, als Harlock hinter Kei die Brücke betrat. Sofort schlug ihm Yamas Erschöpfung entgegen; er glaubte sie am eigenen Körper zu spüren. So sollte es nicht sein. Das war nicht richtig. Auch Miimes Kopf flog zu ihm herum, ihre Augen groß und sorgenvoll. Nur, wer sie nicht kannte, hielt ihre Augen für leer. „Harlock“, murmelte Yama, als Harlock hinter ihn trat und seine Hände auf Yamas legte, um mit ihm das Ruder zu halten. Vor den Fenstern schwebten von Sternstaub glattgeschliffene Asteroidenbrocken, kleine und sehr große. Keiner von ihnen war eine Bedrohung – es sei denn, man hatte eine neu gewonnene Sensibilität gegen die im All wirkenden Kräfte zu überwinden. „Atme tief durch, Yama. Hör auf, gegen die Arcadia zu kämpfen. Sie wird dir sagen, was du tun musst.“ Yama stöhnte leise. „Es geht nicht … Irgendwie schaffen wir es nicht, die Schwerkraft zu überwinden. Erst die eine, dann eine nächste, und die Asteroiden, sie sind überall, ich kann nicht … kann nicht …“ Nicht all die Anweisungen zeitgleich ausführen, dachte Harlock. Es sind einfach zu viele auf einmal. So viele Eindrücke, so viele Richtungen … Er wusste noch sehr genau, wie sich das anfühlte. Dem Gefühl der eigenen Unfähigkeit folgten Stress, Macht- und Hilflosigkeit, dann nackte Angst. Yamas blasses, ermattetes Gesicht sagte: Wir kommen hier nie mehr raus, wir sterben hier, weil ich versagt habe. Fester umfasste er Yamas kalte Finger, die vor Anstrengung zitterten. „Konzentrier dich, Yama. Einmal noch. Und hab keine Angst. Lass mich führen.“ „Aber du kannst nicht …“ „Ich habe schon Schiffe geflogen, als du noch lange nicht geboren warst“, schnitt Harlock ihm sanft, aber bestimmt das Wort ab. „Ich werde auf Sicht steuern. Kümmere du dich nur um den Schub. Lass dir eingeben, wie du den Gravitationsring überwinden musst. Erfühle ihn.“ Yama atmete tief durch und nickte. Harlock hielt Yamas Hände mit seinen eigenen und spürte, wie sie sich langsam unter den Handschuhen wieder erwärmten. Vorsichtig drehte er das Rad, ohne das riesige Frontfenster aus dem Auge zu lassen. Früher, als die Arcadia nichts weiter als eines von vier Deathshadow-Klasse-IV-Schiffen gewesen war, hatte er auf unzählige Monitore gestarrt, die ihm beim Navigieren und Rangieren halfen; nun hatte er nur noch das Fenster, das, was er mit dem bloßen Auge sehen konnte. Und Yama hatte die Dunkle Materie, um seine Hand zu führen. Um beides miteinander zu vereinen war Yama noch nicht erfahren genug im Umgang mit seinen neuen telepathischen Fähigkeiten, doch er würde es lernen. Es war nur zum Teil eine Kunst, zum anderen ein Handwerk. Bald würde Yama ohne Harlocks Hilfe Asteroidenfelder durchkreuzen können, um Verfolger abzuschütteln; er würde durch sie schweben wie ein Schlafwandler, eine Hand am Steuerrad, das die Dunkle Materie in seinem Kopf bewegte. Bald. Aber nicht jetzt. Nicht, wenn er überfordert und dem geistigen Zusammenbruch so nahe war. Ich hätte ihn nicht allein lassen dürfen. Fünfunddreißig quälend lange Minuten kroch die Arcadia aus dem Asteroidengürtel heraus. Yama, halb ohnmächtig, dosierte den Schub, um die wirkenden Kräfte zu überwinden, während Harlock hochkonzentriert durch die Gesteinsbrocken hindurch manövrierte. Endlich, als die Anspannung kaum mehr auszuhalten war, drifteten sie ins freie All hinaus. Harlock fing Yama auf, als dessen Knie unter ihm nachgaben und er gegen ihn sackte. „Tut mir leid, ich wollte nich’ …“, kamen beschämte Worte als halb verständlicher Brei aus ihm heraus. Harlock hielt ihn umfasst, drehte ihn um und schob ihn vom Steuerrad weg, bis sie seinen Thron erreichten. „Setz dich“, sagte er schlicht, bevor er Yama behutsam herunterdrückte. Unelegant plumpste Yamas Hintern auf den hohen Stuhl; er hatte dort noch nie gesessen, es wäre ihm im Traum nicht eingefallen, diesen Platz von Harlock einzunehmen. „Ruh dich aus. Ich übernehme das Ruder, bis wir wieder auf dem richtigen Kurs sind.“ Yama konnte nicht mehr tun als nicken. Er saß auf dem Thron wie jemand, der dort nicht hingehörte. Harlock ging zurück zum Steuerrad und tauschte einen kurzen Blick mit Yattaran, dann mit Kei. Letztere formte mit den Lippen einen Satz, der wahrscheinlich lautete: Wagen Sie es nie mehr, ihn so lange allein zu lassen. Hatte sich Yamas Nase nicht eben gekräuselt, als er den Alkohol an Harlock gerochen hatte? War sein Blick nicht halb erleichtert, halb enttäuscht gewesen? Harlock drehte das Rad mit ruhiger Hand, um die Arcadia zu wenden. Bis zur Sperrzone musste Yama noch durchhalten, dann konnte er sich von einem Crewmitglied ablösen lassen und eine Mütze voll Schlaf nehmen. Das war das letzte Mal, dachte Harlock und schob im Geiste die sabotierte Tür zum Salon zu. Er hatte beschlossen, seine Würde zu behalten. Kapitel 3: Fracht ----------------- „Dimensionenschwingungssprengköpfe“, murmelte Yama. Er hatte geglaubt, mit diesen schrecklichen, hochzerstörerischen Waffen nie wieder etwas zu tun haben zu müssen. In ihrer besonderen Bedeutung symbolisierten sie für ihn vergangene Momente des Leids, des Vertrauensverlustes, des Endes seines früheren Lebens. Er wollte sie nicht sehen; sein Magen drehte sich schon um, wenn er nur an sie dachte. Und noch immer lag der Zünder in seinem Quartier unter dem Nachttisch, eingewickelt in ein Handtuch. Unnötig und beinahe abergläubisch hielt Yama Erschütterungen von dem Gerät fern, obwohl es blanker Unsinn war. „Naja, einen haben wir ja fast vor der Tür“, sagte Yattaran munter. „Den von der Erde können wir ohne Probleme einsacken. Klemmen ihn wieder in das Tragraster, koppeln es wieder ans Schiff …“ „Und der zweite?“, erinnerte ihn Kei. „Wenn wir jetzt das Sonnensystem verlassen, um auf Tizmah ein Trionisches Netz zu besorgen – du weißt doch genau, wo dann der nächste Sprengkopf ist, den wir installiert haben.“ Sie streifte Yamas Blick mit ihrem, ohne ihn richtig anzusehen. Das verriet ihm den Ort sofort. „Tokarga“, murmelte er. Yattaran nickte gewichtig. „Dein Lieblingsplanet, genau.“ Es gab kaum einen Planeten, den Yama mehr hasste als Tokarga. Und dann wieder war es ein besonderer Ort gewesen. Er hätte dort sterben sollen, aber Harlock hatte ihn zurück ins Leben getreten. „Wie wir den Sprengkopf bergen, steht auf einem anderen Blatt“, sinnierte Yattaran weiter, „aber es sollte möglich sein. Tokargas Oberfläche ist ständig aktiv, wir müssen einfach vor Ort schauen, wo er gerade steckt.“ Yama traf eine Entscheidung. „Also gut. Tizmah als erstes, und wenn wir dort kein Glück haben, dann Themeisias. Und danach … Tokarga.“ Erneut nickte Yattaran bedeutungsvoll und tänzelte zu seinem Posten. „An alle!“, trompetete er ins Intercom. „Die Brücke wieder bemannen! Wir setzen Kurs aufs Euphrates-System!“ Yama wandte sich an Harlock. „Können wir den In-Skip-Modus nutzen?“ „Für Teile des Weges, ja. Wenn das Schiff einen Kurs einmal beflogen und die Route im Computer gespeichert hat, lassen sich Skip-In- mit Skip-out-Koordinaten verknüpfen. Bei Tizmah werden wir sehr schnell sein.“ Harlock musterte Yama ruhig, sein Auge dunkel und forschend. Es war gut zu sehen, dass der frühere Captain aufgehört hatte, allein im Salon seine finsteren Gedanken in Hochprozentiges einzulegen. Yama brauchte Harlock, wie er niemanden sonst auf diesem Schiff brauchte, mit Ausnahme vielleicht von Miime. So wenig Fortschritte ihr Kampftraining auch brachte, Harlocks Nähe war … wohltuend. Vielleicht auch nicht nur das, wenn er es sich recht überlegte. Doch dieser Gedanke hatte gerade nirgends Platz. „Lass mich und Yattaran das Trionische Netz suchen“, bat Kei, als sie nach einigen Stunden in den Orbit von Tizmah einschwenkten. „Wir sind nicht zum ersten Mal da, und wenn uns jemand blöd kommt, wissen wir das zu händeln. Außerdem kann Yattaran die Schrotthändler bis auf die Unterhosen runterhandeln.“ „In Ordnung.“ Yama entließ sie mit einem Nicken. „Erstattet halbstündlich Bericht.“ „Verstanden.“ Der Handelsplanet sah bereits aus dem Weltall kunterbunt aus; eine der wenigen Welten, auf denen die Lebensbedingungen für Menschen noch akzeptabel waren. Was vielleicht daran lag, dass hier niemand wirklich sesshaft wurde: Man traf sich, um zu kaufen, zu verkaufen, zu tauschen und zu feilschen; kaum ein Händler lebte auf Tizmah. Er sah zu, wie Kei und Yattaran von der Brücke trotteten, während Alonso und Cervus ihre Posten für den Notfall besetzten. Für Yama eine gute Gelegenheit, etwas Ablenkung zu suchen. Er hatte befürchtet, sich selbst auf Tizmah durch die viele Meilen langen Basare pflügen und Händler aushorchen zu müssen. Sicher nicht seine Lieblingsbeschäftigung. Harlock saß auf seinem Thron, auf dessen Lehne Tori hockte, den langen Schnabel zum Schlafen unter den Flügel geschoben. Keine Weltraumschlacht konnte diesen Vogel wecken, wenn er schlief. Yama fing Harlocks Blick auf. „Noch eine Übungsstunde, bis wir Meldung bekommen?“ „Wann immer du möchtest.“ Wie üblich war Harlocks Ton leidenschaftslos, als er sich mit einem Rascheln seines Umhangs erhob. „Ich erwarte, dass Kei und Yattaran mindestens zwei Stunden beschäftigt sein werden. Reichlich Zeit für ein paar Lektionen.“ Wie üblich bereute Yama es schnell, Harlock um Nachhilfe dieser Art gebeten zu haben. Er brauchte das Training, das war ihm schmerzlich bewusst, doch zugleich gab es nichts, das mehr an seinem Selbstvertrauen nagte als die mühelosen Niederlagen gegen Harlocks Anpirschmanöver. Diesmal hielt Harlock eine ungeladene Plasmapistole am Lauf und tippte Yama mit dem Griffstück an, um ihn wissen zu lassen, wann er tot war. Jetzt zum Beispiel. „Tot“, seufzte Harlock, und Yama riss aus seiner Reichweite aus, eine Ewigkeit zu spät. Das konnte doch nicht sein! Harlock brauchte ihm jetzt viel weniger nahe zu kommen, um ihn zu berühren, doch es machte überhaupt keinen verdammten Unterschied! Harlock sah Yamas verletzten, flammenden Blick und schüttelte nur den Kopf. „Du tust es immer noch.“ „Was tue ich?“, fragte Yama hitzig. „Du wartest ab. Du hoffst, dass dein Gehör dich warnt, aber das wird es nicht.“ Mühsam versuchte Yama, seine keuchende Atmung zu beruhigen. Mit dem Ärmel wischte er sich über die schweißfeuchten Schläfen. „Aber mein Gehör ist doch das Einzige, was mein Leben retten kann, wo ich nichts sehe!“ „Genau das ist ein Trugschluss. Dein Ohr wird sich nicht in ein Auge verwandeln, egal wie sehr du versuchst, damit zu sehen.“ „Aber du machst es doch auch so! Ich habe gesehen, wie du kämpfst.“ „So kämpfe ich jetzt“, sagte Harlock ruhig. „Aber es hat Jahre gedauert, bis ich es konnte. Damit andere Sinne einen fehlenden Sinn kompensieren können, muss sich dein Gehirn umstrukturieren.“ „Und was hast du bis dahin gemacht? Was mache ich bis dahin?“ „Ganz einfach, du drehst den Kopf.“ Yama sah ihn ungläubig an. „Das soll alles sein?“ „Genügt dir das nicht? Um ein eingeschränktes Sichtfeld auszugleichen, musst du ständig in Bewegung bleiben, deine Agilität und deine Reflexe verfeinern. Du darfst deinen Gegner nie aus dem Auge verlieren, oder er wird deine blinde Seite gnadenlos ausnutzen.“ Yama seufzte. Das klang nicht gerade nach einem realistischen Ziel. „Irgendwann“, fuhr Harlock fort, „wirst du feststellen, dass dein Gehör dir hilft. Dass es vielleicht schneller ist als dein gutes Auge. Aber das wird sehr lange dauern.“ „Und was ist mit der Dunklen Materie?“, fragte Yama hoffnungsvoll. Über Harlocks Züge glitt der Anflug eines Lächelns. „Das ist noch etwas anderes. Wenn sie dir Impulse gibt, setz sie um, nutze sie. Aber verlass dich auf keinen Fall auf sie. Niemals.“ „Aber was ist mit … du weißt schon. Der Unsterblichkeit. Was bedeutet sie?“ Daraufhin verfiel Harlock einen Moment in Schweigen. Schließlich sagte er: „Das habe ich nie ganz ergründet. Eins weiß ich, nämlich dass du keinesfalls unverwundbar bist. Dass der Körper nicht mehr altert, ist die eine Sache, sehr offensichtlich … aber ob die Dunkle Materie einen gewaltsamen Tod verhindern würde, kann ich dir schlicht nicht sagen. Ich bin nie tödlich verwundet worden. Irgendwann habe ich spekuliert, dass das vielleicht ein Teil dieser Unsterblichkeit ist … eine Art schicksalhaftes Tabu. Dass keine Kugel mich ins Herz treffen, keine Klinge mir die Kehle durchschneiden soll. Ich habe vieles geglaubt und vieles vermutet in diesen über hundert Jahren, und Gott weiß, ich habe es herausgefordert – den Tod. Eingetreten ist diese Situation nie. Tatsache ist, ich möchte nicht darauf vertrauen, dass der Tod dir ausweichen wird, Yama. Ich will, dass du ihm begegnen kannst, wenn du musst.“ Sie betrachteten einander, und Yamas Herz wurde eng in der Stille. Einen Augenblick lang glaubte er zu spüren, was die Ewigkeit, die Harlock mit sich trug, bedeutete. Natürlich hatte Harlock den Tod gesucht, wie könnte er nicht … Doch der irrwitzige Glaube an etwas Unmögliches hatte ihn, die Arcadia und den Fluch am Leben erhalten. Yama ließ das Kinn auf die Brust sinken. Mit einem Mal fühlte er sich müde und unzulänglich. Harlock versuchte ihn zu schützen, ihn auf wirklich bedrohliche Situationen vorzubereiten, und Yama schaffte es nicht einmal, einem verdammten Pistolengriff auszuweichen. „Es tut mir leid, dass ich dich enttäusche, Harlock“, sagte er aufrichtig. „Es tut mir leid, dass ich nicht der bin, den du –“ Er stockte, denn im selben Moment sah er Harlocks Handbewegung, direkt auf seine blinde Seite zu. Blitzschnell drehte er den Kopf – – und dann lag seine Wange an Harlocks Handfläche. Yama schloss den Mund und rührte keinen Muskel. Wärme drang durch den Handschuh an seine Haut. Er sah in Harlocks Auge, dunkel und verschlossen, und spürte, wie der Daumen federleicht über das dünne, vernarbte Gewebe unmittelbar unter seiner Augenklappe strich. Dass Harlock ihn berührte, auf eine sanfte Weise, war nicht mehr vorgekommen seit – … seit dem Ritual, natürlich. Sie hatten so viele zärtliche Berührungen ausgetauscht in dieser kurzen Zeitspanne, die nur ihnen gehört hatte, doch bis jetzt war nichts mehr davon übrig gewesen. Dabei fehlte es. Verdammt, so vieles fehlte. Yama schloss das Auge und lehnte sich vorsichtig gegen Harlocks Hand. Wie im Traum hörte er sich sagen: „Du weißt, außer dir … habe ich einfach nichts mehr. Wenn du dich entscheidest, mich aufzugeben, weil ich nicht gut genug bin, dann … bin ich allein.“ Er kniff das Auge zusammen, und die Lippen gleich mit. Bloß keine Tränen. Er wollte nicht mehr vor Harlock schwach wirken. Damit musste endlich Schluss sein. Doch wie er mit den aufsteigenden Gefühlen rang, fühlte er auf einmal Harlocks Atem auf seinen Lippen. Und dann … … oh. Harlock küsste ihn weich und etwas keusch, eher fragend als fordernd. Yama hielt still, und Wärme stieg aus seiner Brust herauf. Das war … unerwartet. Das seltsame Gefühl kehrte zurück, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, wie damals, als es die Dunkle Materie selbst gewesen war, die einen Zustand der Vereinigung zwischen ihnen erzwingen wollte; einen Moment des perfekten Einklangs, um ihre Machtübergabe zu Ende zu bringen. Es war wie jetzt. Es war auf dieselbe Weise wohltuend, und Yama war nicht erstaunt, als seine Ängste sich unter der Berührung von Harlocks Lippen zu zerstreuen begannen. An ihren Platz trat eine Art Erwartung, ein leises Flattern in der Brust, das ihn den Kopf neigen und zaghaft die Lippen öffnen ließ. Doch in diesem Moment löste Harlock den Kuss und trat zurück. „Das ist meine Antwort“, sagte er, Yama fest ins Auge sehend. „Allein zu sein ist eine Entscheidung, kein Schicksal.“ Yama schluckte hart. Er zuckte zusammen, als Keis Stimme über den offenen Com-Kanal die Stille zerriss. „Captain Eins und Captain Zwei, wir kommen zurück an Bord. Es hat keinen Sinn. Auf dem ganzen verdammten Planeten gibt es keinen einzigen verdammten Händler, der ein einziges verdammtes Trionisches Netz im Bestand hat.“ Yama schluckte wieder. Wenn er jetzt den Mund aufmachte, würde nur ein Krächzen herauskommen. „Verstanden“, übernahm Harlock. „Sobald ihr an Bord seid, werden wir Themeisisas anfliegen.“ Sein Blick wanderte wieder zu Yama. Yama hustete krampfhaft, um den angehaltenen Atem herauszubringen. Halbwegs kontrolliert stellte er die Distanz zwischen ihnen wieder her und nahm Haltung an. „Gut, dann … setzen wir wohl Kurs auf das Gamero-System.“ „Themeisias ist ein unangenehmer Ort“, merkte Harlock an. „Kann er denn schlimmer sein als Tokarga?“ „Das wird sich zeigen.“ Yama drängte ein nervöses Lachen zurück. Harlock sah abgrundtief unglücklich aus. Sie wussten beide, was auf Tokarga auf sie wartete. „Harlock, ich … ich weiß, was ich damit anrichte. Du weißt schon.“ Den Sprengkopf zu bergen bedeutete, dass ein Neustart des Univerums endgültig keine Option mehr war. Und nie wieder sein würde. Na und – ist das nicht etwas Gutes? „Ich weiß, dass ich damit deinen Lebenstraum zerstöre“, endete er leise. Harlock schnaubte. „Nenn es ist nicht Lebenstraum. Es war der irrsinnige Plan eines verzweifelten Narren.“ „Ich weiß.“ Unnötig, es zu leugnen. „Aber ich hatte vor, deine Sorge um die Erde zu respektieren und die Sprengköpfe zu lassen, wo sie sind. Doch jetzt …“ Entschieden schüttelte Harlock den Kopf. „Nichts mehr davon. Wir haben jetzt einen neuen, gemeinsamen Lebenstraum, Yama. Hol die Sprengköpfe …“ Wieder streckte er die Hand aus, doch nun war Yama außer Reichweite, sodass er sie wieder sinken ließ. „… und dann geh nach Hause.“ *** Alle Monitore zeigten das Landeshuttle mit Kei und Yattaran an Bord, das auf die Arcadia zusteuerte, als Harlock hinter Yama die Brücke betrat. Er fühlte sich seltsam – eine Mischung aus Verwirrung und Erleichterung darüber, wie undramatisch es ihm gelungen war, Yama einen Teil seiner Gefühle zu offenbaren. Er hatte nicht vorgehabt, ihn zu küssen; vor allem deshalb, weil er damit gerechnet hatte, dass Yama sich bestürzt vor ihm zurückziehen würde. Dass das nicht passiert war, ließ ihn etwas planlos zurück. Üblicherweise war Yamas Verhalten eher vorhersehbar. Er würde später darüber nachdenken. „Captain“, sagte Cervus, zwischen ihnen beiden hin und her sehend. „Vielleicht müssen wir doch nicht nach Themeisias. Die Sensoren detektieren ein Schiff im direkten Kurs auf Tizmah, Voltaire-Klasse vier. Ein alter Kasten, aber er dürfte ein Trionisches Netz haben.“ „Ein Schmuggler“, vermutete Yama und trat ans Ruder. Währenddessen meldete eine der internen Anzeigen das Öffnen der Luftschleuse im Hangardeck, um das Shuttle an Bord zu lassen. „Hat es eine Kennung?“ „Nein. Wird kein Händler der Allianz sein, die fliegen registrierte Schiffe. Modernere, vor allem.“ Harlock beobachtete Yama. Die Lösung des Problems lag nahe. Voltaire-Schiffe waren keine Frachter im eigentlichen Sinne, aber auch keine Schlachtschiffe; ihr Einsatzgebiet war beschränkt gewesen auf Forschungs- und Bergungsmissionen. Mit ihren großen Frachträumen und ihrer vergleichsweise effektiven Bewaffnung waren sie heute beliebt bei Händlern abseits des legalen Markts. Dass das jeder wusste, war nicht unbedingt ein Nachteil für die Kapitäne. „Yama!“, meldete sich jäh Yattarans aufgeregte Stimme übers Com-System. „Wenn du das Voltaire-Schiff haben willst, dann hops los! Sobald die uns entdecken, sind sie weg!“ „Das Schiff ist In-Skip-fähig?“, folgerte Yama, bereits beide Hände am Steuerrad. „Klar, hat garantiert einen Vanishing-Antrieb! Sagte ich ja, bestens kompatibel mit moderner Technik! Mach schnell. Kei und ich sind gleich oben!“ Eine weitere Ermunterung brauchte Yama nicht. Harlock lächelte grimmig, als er sah, wie Yama sein Auge zukniff, um in den Rapport mit der Dunklen Materie zu gehen. Bald würde diese angestrengte Mimik verschwinden, weil Yama in der Herstellung der Verbindung mehr Übung bekam. Aber noch war es … entzückend. „Miime, aktiviere das Dunkle-Materie-System. Bereitmachen zum Sprung.“ Hinter ihnen ließ Miime den pulsierenden Ball aus Licht unter ihren Händen wachsen; die schwarzen Räder rotierten, und dunkle Gaswolken strömten aus dem Schiffskörper, hüllten die Arcadia in ihre undurchdringlichen Schatten. Ein kurzes Schaudern durchlief das Schiff, kaum mehr als das Zucken elektrischer Entladungen in durchnervten Muskeln; dann wechselte die Arcadia blitzschnell ihren Standort, und unmittelbar vor ihnen schwebte das Heck eines Voltaire-Klasse-IV-Schiffes. Verblasste Markierungen waren auf der grauen Hülle zu erahnen, eine unleserliche Seriennummer nebst zahllosen geflickten Hüllenschäden. Falls Harlock je bezweifelt hatte, dass dieses Schiff einem Schmuggler gehörte, so waren diese Zweifel nun ausgeräumt. Die Reaktion auf ihr erfolgreiches Anpirschmanöver kam prompt: Binnen einer Sekunde verschwand das Schiff aus dem Sichtfeld und von allen Sensoren. „Tarnkappen-Funktion“, stellte Alonso fest. „Yattaran hat eben immer Recht bei so was!“ „Bereitmachen zum Auswerfen der Gravitationsanker.“ Yamas Auge war noch immer geschlossen, doch nun war seine Miene ruhig und hochkonzentriert. „Äh, Captain, wir werden also nicht – ?“ Die Arcadia kippte zur Seite, als Yama hart am Steuer riss. Er fühlte das andere Schiff, weil die Dunkle Materie den Raum um es herum durchdrungen hatte. Es blind zu beschießen war nicht nötig; das Schiff würde eine unbemerkte Flucht versuchen, und die geringe Distanz schloss ein Feuergefecht bereits aus. Harlock genoss es zu beobachten, wie glatt und zielgerichtet Yama sich unter der Führung der Dunklen Materie bewegte. Ein weiterer Sprung durch die Schatten, dann waren sie direkt vor dem Schmugglerschiff, das nur Yama sehen konnte. Mit allem Schwung, den er aufbringen konnte, drehte er das Rad und ließ es los. Volle drei Sekunden lang rotierte es wie wild. Dann – eine Erschütterung, der lautlose Aufprall. Sofort flirrte der Raum vor den Fenstern, und flackernd erlosch die Tarnung des Voltaire-Schiffes und gab es dem Auge preis. Die Sensoren schlugen Alarm. Hüllenstücke blätterten vom Schiffsrumpf und trieben wie Ascheteilchen im Wind durch den Raum; der Rammkopf am Bug der Arcadia zog sich langsam aus der gerissenen Wunde zurück. „Gravitationsanker auswerfen“, befahl Yama. Dann legte er den Kopf zurück und nahm einen tiefen, erleichterten Atemzug. *** Er hatte erwartet, dass Harlock versuchen würde, ihn aufzuhalten, als er zusammen mit der Entercrew zu den Rüstungsstationen eilte. Der Platz eines Captains war auf der Brücke, doch Yama empfand es als seine Pflicht, in dieser Sache selbst vor Ort zu sein. Ein Schmuggler war kein Feind erster Güte. Kei und Yattaran schlossen sich ebenfalls mit Freuden an und glitten in ihre Panzeranzüge. Die Suche auf Tizmah musste sie zu Tode gelangweilt haben. Es war seltsam, wieder eine Pistole und eine Schlagwaffe zu tragen; die Rüstung immerhin war leichter als erwartet und folgte all seinen Bewegungen mit Leichtigkeit. Yama fragte sich, wer sie entworfen hatte. Woher stammte überhaupt das bemerkenswerte Design der transformierten Arcadia? Als sie die Brücke des Voltaire-Schiffes stürmten, ergab sich deren Besatzung postwendend und widerstandslos. Kein Blutvergießen war nötig. Kei hielt den Kapitän der Schmugglerbande in Schach, einen großen, übergewichtigen Mann mit kahlem Schädel in einer langen, goldbestickten Robe, die für den Nahkampf denkbar ungeeignet war. „Lasst uns gehen“, bat er in flehendem Ton, die puderweichen Hände fortwährend vor seinem ausladenden Bauch ringend. „Wir haben nichts verbrochen, wir sind nur Händler. Nehmt, was ihr wollt, aber tut meiner Crew nichts an.“ „Deine Fracht interessiert mich nicht“, erklärte ihm Yama. „Ich brauche ein Stück deiner Schiffstechnik.“ „Meiner Schiffstechnik?“ Der Captain blinzelte eingeschüchtert. Yama nickte Yattaran zu. „Du weißt, wo sich das Trionische Netz befindet und wie man es ausbaut.“ „Worauf du wetten kannst“, bestätigte der Erste Maat, gedämpft durch das Visier seines Panzerhelms. „Dann geh es holen. Wie lange wird das dauern?“ „Zehn Minuten, ah?“ „Schaffst du es in fünf?“ „Fünf mein Arsch. Maji? Abmarsch.“ Yattaran und sein Chefingenieur stapften von der Brücke, während sich Yamas übrige Männer nicht ablenken ließen. Es drängten sich mehr Crewmitglieder von der Arcadia als von dem Schmugglerschiff selbst um den engen Kommandostand. „Gestattest du mir die Frage, was ihr damit vorhabt?“ Der Captain blickte nervös um sich, in Schach gehalten von mindestens drei Plasmakanonen aus verschiedenen Richtungen. „Leider nicht“, antwortete Yama. „Noch nie war jemand hinter einem veralteten Stück Technologie her, das ist sehr verwunderlich … Üblicherweise sind es die Frachträume, die die Piraten interessieren.“ „Und woraus besteht deine Fracht?“ Im Gesicht des Schmugglers war zu lesen, wie er sich plötzlich selbst dafür schalt, Yamas Aufmerksamkeit darauf gelenkt zu haben. „Nichts Besonderes. Das Übliche. Dieses und jenes …“ „Ich will einen Blick darauf werfen“, beschloss Kei und sah Yama an, um Erlaubnis bittend. „Was meinst du? Wir sind genug Leute hier oben.“ Yama nickte. „Sieh nach, ob du was findest, das wir nötig brauchen. Alles andere lassen wir hier.“ Kei ging, und der Captain verzog unglücklich das Gesicht. „Ich versichere, da findet sich nichts Spannendes. Nur der übliche Plunder, der sich auf Tizmah gut an die Besserverdienenden verkaufen lässt. Keine hochwertigen Dinge …“ Yama hörte mit halbem Ohr zu, wie er aufzuzählen begann, was sich in seinen Frachträumen alles befand; welche Art von Antiquitäten und Metallen, ein paar Nutztiere von besiedelten Planeten, eine Handvoll Passagiere, die illegal von ihren sterbenden Welten auf andere umsiedeln wollten und für den Transport horrende Summen zahlten, außerdem ein gut erhaltenes Teleskop aus einem gesprengten Labor aus der Venus-Basis, und oh, auch ein paar Waffen und Munition aus ausgeschlachteten Wracks, vielleicht war etwas Cygnus-Plasma dabei, man hatte noch nicht so genau nachgeschaut … Ohne dass er es wollte, drifteten Yamas Gedanken zurück zu Harlock. Zu dem Moment im Salon. Sie hatten sich geküsst … Warum eigentlich? Was hatte dazu geführt? Und war es nicht … irgendwie unangebracht? Yamas Aufmerksamkeit schaltete erst dann wieder in den Vollbetrieb, als Keis Stimme durch den Funkeingang in seinen Helm drang. „Yama! Komm in Frachtraum drei, aber schnell. Das musst du einfach sehen!“ Yama schaute wieder zu dem Captain, der blass wie ein Laken geworden war. „Ich bin unterwegs. Cervus, du übernimmst hier.“ „Aye.“ Cervus bestätigte mit einem Nicken und hob ostentativ den Lauf seiner Waffe ein wenig höher, zum Gesicht des Captains hin. „Keine Spielchen versuchen, Kumpel.“ Als Yama den von Kei genannten Frachtraum erreicht hatte, war er auf vieles vorbereitet gewesen. Auf alles, eigentlich. Nur auf das nicht. Kei stand bei einer Reihe großer Metallkisten, und von derjenigen neben ihr, auf die sie mit triumphierender Geste deutete, hatte sie den Deckel abgesprengt. Yama sah Objekte darin, als er herantrat; Früchte waren es, rund, leicht herzförmig, mit glatter Schale in Schattierungen aus Rot, Gelb und Grün. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Das konnte nicht sein. Das waren – „Äpfel!“, sagte Kei mit fast entrückter Stimme. „Ist das zu fassen? Zwanzig Kisten voller Äpfel!“ Yama konnte nicht sofort antworten; zu groß war die Überraschung. Einen Apfel hatte er zuletzt als Kind gesehen. Sie traten nicht in derart großen Mengen auf. Sie waren heilig. „Ich dachte erst, es sind vielleicht ähnliche Früchte von anderen Welten“, fuhr Kei aufgeregt fort, „aber dann hab ich sie gerochen.“ Sie beugte sich über die offene Kiste und atmete tief ein. „Sie duften wie das Paradies. Echte Erdenäpfel!“ „Das kann nicht sein“, schaltete sich Yamas Verstand ein. „Kei, die Gaia Sanction verdient mit Früchten von der Erde ein Vermögen – es gibt nichts, das sie reicher macht als Obst, das auf anderen Planeten nicht angebaut werden kann.“ Nicht mal seltene Erden waren so teuer wie Äpfel. Nur ein winziger Teil der Oberschicht konnte sich einen solchen Luxus leisten. Es war einfach nicht möglich, dass ein Schmuggler kistenweise davon an Bord hatte. „Ich weiß, aber sieh doch selbst.“ Kei nahm einen Apfel in die Hand und schnupperte daran. „Ich möchte reinbeißen … Ich möchte wissen, wie es ist, etwas zu schmecken, das drei Generationen meiner Familie nicht bezahlen könnten.“ Allmählich hörte Yamas Ratio auf, die Unmöglichkeit eines solchen Fundes zu behaupten. Fast ehrfürchtig trat er neben Kei, und aus der offenen Kiste schlug ihm der süße, rosenartige Duft entgegen. Erinnerungen an seine frühe Kindheit flammten auf, Bilder aus unbeschwerten Tagen – an Feiertagen oder zu besonderen Anlässen hatte seine Mutter manchmal ihm und Isora einen Apfel mitgebracht, oder eine Birne, oder eine Aprikose, oder eine Handvoll Kirschen oder Pflaumen … Jedes Mal hatte sie ihnen ausgemalt, wie selten und wunderbar diese Geschenke ihrer Heimatwelt waren, wie nichts diese Früchte ersetzen konnte und wie die Gaia Sanction das alleinige Anrecht auf ihren Anbau beanspruchte. Heilige Lebensmittel. Eine Erinnerung an die verlorene Welt, die die Menschheit geboren hatte. Vielleicht geht es der Gaia Sanction jetzt schlecht genug, sinnierte Yama. Er musste unbedingt mehr darüber wissen. Der Kapitän reagierte wie erwartet, als Yama und Kei auf die Brücke zurückkehrten. Er sah den Apfel in Keis lässiger Hand und brach in Zittern aus. „Das ist nichts“, erklärte er. „Gypta-Früchte, mehr nicht. Lächerlich billig …“ „Und ihr habt zwanzig Kisten voll“, merkte Kei an. „Im Übrigen sind Gypta-Früchte hart und trocken, aber das hier … Ich wette, wenn ich meine Zähne da reinschlage, läuft mir süßer Saft in den Mund … Verdammt, Yama, darf ich endlich?“ „Bitte, nur zu“, willigte er ein, den dicken Schmuggler nicht aus dem Auge lassend. Kei biss herzhaft in den Apfel. Ein klebrig-klarer Tropfen rann von ihrer Unterlippe über ihr Kinn, und ein fast obszönes Stöhnen begleitete die ersten Kaubewegungen. „Gaia“, seufzte sie mit vollem Mund. „So schmeckt also das wahre Leben.“ Sie hielt den Apfel hoch, zeigte die angebissene Stelle der Crew. Dezent breitete sich der unverkennbare Duft aus. Endlich begriffen Yamas Männer, dass sie nicht hereingelegt wurden. Bestürzte Blicke wurden ausgetauscht. „Sag mir, woher die Äpfel stammen“, verlangte Yama. Vor ihm warf sich der Captain vor Angst fast in den Staub. „Ich weiß es nicht, Sir. Ich bin nur ein Zwischenhändler.“ „Wer hat sie dir gegeben und was hattest du damit vor?“ „Was sollte ich schon damit vorhaben?“, klagte der Mann. „Verkaufen natürlich! Fifty-fifty! Sie wissen doch selbst, wie Gaia sich über all die Jahrzehnte eine goldene Nase an Erdenfrüchten verdient hat. Jetzt, da ihr Betrug enthüllt ist, sollen alle ein Stück vom Kuchen bekommen! Sehen Sie das nicht auch so?“ Yama bezweifelte, dass der Schmuggler die Äpfel zu einem Spottpreis an die ärmeren Planeten abgeben wollte wie eine mobile Armenspeisung. Doch zum Teufel damit. „Natürlich sehe ich das so. Nur glaube ich nicht, dass die Gaia Sanction ihr lukrativstes Gut plötzlich über illegale Zwischenhändler in Umlauf bringt.“ „Nun ja, nun ja. Die Bürgerkriege tun Gaia nicht besonders gut, wenn Sie verstehen …“ Yama verstand durchaus. Doch es war nicht wirklich wichtig. Wo die Äpfel ursprünglich herkamen, war ihm vollkommen klar, und das war es, was ihn beschäftigte. Er aktivierte die Funkverbindung. „Yattaran, wie weit seid ihr mit dem Trionischen Netz?“ „Das haben wir inzwischen in Geschenkpapier und Schleifchen gewickelt, so viel Zeit hatten wir. Was ist denn los bei euch?“ „Alles erledigt. Gute Arbeit. Wir treffen uns auf der Arcadia.“ Er sah zu Kei und fing ihren Blick auf. Sie war damit beschäfigt, sich die Finger sauberzulecken, um ja nichts von dem Apfel zu verschwenden; offenbar hatte sie sogar das Kerngehäuse mit verputzt. „Kei, wir gehen.“ „Willst du die Äpfel etwa hierlassen?“, protestierte sie. „Nimm einen für jedes unserer Crewmitglieder mit. Lass ihnen den Rest.“ Er machte eine Kopfbewegung zum Kapitän hin, der aussah, als wollte er vor Dankbarkeit auf die Knie fallen. Keis Miene trübte sich ein wenig. „Du bist zu nett, Captain. Ich kriege keinen neuen Apfel, oder?“ „Ausnahmsweise. Weil du sie gefunden hast … und ich zu nett bin.“ Daraufhin lächelte Kei versöhnt, zwinkerte ihm zu und bedeutete einigen der Männer, ihr zu folgen. Yama kehrte dem Schmugglerboss den Rücken und hörte diesen leise sagen: „Nun, ihr … habt unser Schiff beschädigt, und ohne das Trionische Netz wird es nie wieder vernünftig fliegen können. Man kann sagen, es ist ein Totalschaden …“ Ich bin wirklich zu nett, dachte Yama und drehte sich noch einmal. „In deinem Frachtraum liegt ein Vermögen. Kauf dir ein neues Schiff.“ „Oh … Ja, natürlich.“ Das letzte heischende Blitzen in den Augen des Schmugglers verschwand, und er hob die Hände, was seine Crewmitglieder ihm zögerlich gleich taten. Gegenwehr war nicht zu erwarten. Einmal noch musterte der Captain Yama und legte den Kopf schief, ehe er fragte: „Sie sind es … nicht wahr? Sie sind Captain Harlock.“ Kurz dachte Yama darüber nach, die Frage zu beantworten; dann ließ er es bleiben und ging, seine Männer im Gefolge, zurück auf die Arcadia. Kapitel 4: Träume ----------------- Harlock wusste augenblicklich, was er vor sich hatte, doch sein Verstand weigerte sich, es zu glauben. Stumm starrte er hinunter in die Metallkiste, die Yattaran und Cervus auf die Brücke getragen hatten. Echte Äpfel. Früchte von der Erde. Der Ursprung vom ungeheuren Reichtum der Gaia Sanction. Als sich herausgestellt hatte, dass einige Obstsorten auf fremden Planeten nicht kultiviert werden konnten, hatten sie dieses Obst für heilig erklärt und den Zugriff darauf genauso verboten wie das Betreten der Erde selbst. Nur Gaia produzierte und vertrieb Früchte wie Äpfel, Kirschen und Pfirsiche, aber niemand wusste, wo. Auf der Erde wohl kaum. Yama, der ihn aufgeregt beobachtet hatte und auf eine Reaktion wartete, beeilte sich zu erklären: „Wenn sich die Gaia Sanction von ihren Reichtümern trennt, kann das nur ein gutes Zeichen für uns sein. Entweder geben sie das Obst freiwillig her, oder es ist inzwischen möglich geworden, es ihnen wegzunehmen. So oder so scheinen die Rebellionen Wirkung zu zeigen.“ Harlock sagte nichts; fast beklommen betrachtete er die Äpfel. Er hatte lange keine gesehen, selbst mit der Arcadia hatten sie nur äußerst selten heilige Früchte erbeutet. „Meinst du, wir können noch mehr finden?“, fragte Kei. „Yama, wir müssen rausfinden, wo sie herkommen.“ „Wird nicht einfach“, stellte Yattaran fest, die Nase krausziehend. „Gaia hat das Geheimnis, wo sie Obst von der Erde anbauen, immer gut behütet. Natürlich munkelte man immer, dieser Ort wäre auf der Erde, aber da das nicht möglich ist … Tja, niemand weiß, wo es herkommt. Nicht mal der Captain, ah, Harlock hat das je rausgefunden, und er hatte verdammt viel Zeit, richtig?“ Er schenkte Harlock ein breites, aber trauriges Lächeln. Harlock schüttelte den Kopf. „Leider hast du damit Recht.“ Fast beiläufig sagte Yama: „Das Obst stammt von Garfudias, im Kikya-System.“ Sofort erstarrten alle Gesichter. Sämtliche Blicke waren voller Verblüffung auf Yama gerichtet. „Augenblick“, sagte Kei scharf, „du weißt, wo das verdammte Obst herkommt? Gaia hält doch sogar die eigenen Leute im Dunkeln, um das Geheimnis zu hüten!“ „Naja, sie können nicht alle Leute von diesem Wissen ausschließen“, erklärte Yama fast entschuldigend. „Meine Mutter hat an den Plantagen auf Garfudias gearbeitet, bis sie zu krank dafür wurde. Es gibt nicht viele Botaniker, die sich auf Pflanzen von der Erde spezialisiert haben. Manchmal war sie monatelang dort.“ Die Erkenntnis traf Harlock unvermittelt. Botaniker, die auf Erdenpflanzen spezialisiert waren … Natürlich. Dafür brauchten sie sie. Die allermeisten Nutzpflanzen hatten sich nach ausreichend Terraforming-Maßnahmen auf jedem neu besiedelten Planeten heranziehen lassen – zumindes eine Zeitlang. Gemüse, Getreide, Reis oder Pflanzen zur Textilherstellung, sogar einige wenige Beeren waren mit strengen Selektionsmaßnahmen umgezüchtet worden, um den veränderten Anforderungen gerecht zu werden, und schließlich hatte auch jede neu besiedelte Welt ihre eigene heimische Flora beigesteuert, bis eine nie dagewesene Fülle und Vielfalt an Nutzpflanzen zwischen den menschlichen Kolonien im ganzen All ausgetauscht wurde. Einige Pflanzen von der Erde jedoch hatten sich als nahezu unmöglich zu kultivieren erwiesen … Wenn Harlock sich recht entsann, gehörte dazu auch eine seit jeher sehr geschätzte Zierpflanze namens Rose, die er selbst nur von sehr alten Gemälden und Fotografien kannte. „Rosaceae“, sagte Yama, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Das ist die Pflanzenfamilie, die nicht auf anderen Planeten gedeihen kann. Dazu gehören auch die Gattungen Malus, Pyrus und Prunus … also Äpfel, Kirschen, Mandeln, Pfir–“ Kei unterbrach ihn: „Yama, wenn diese Früchte nur auf der Erde wachsen können, warum bitte wachsen sie dann auf Garfudias? Das liegt fast am äußersten Saum des kartographierten Alls, weiter von der Erde entfernt kann ein Planet kaum sein!“ „Es ist trotzdem der Planet, der der Erde am ähnlichsten ist“, antwortete Yama. „Der Boden und die Luft stellen fast die gleichen Bedingungen an Lebewesen.“ „Bullshit“, sagte Yattaran. Yama blinzelte. „Nein, es ist wahr. Das hat meine Mutter gesagt. Das haben sie ihr gesagt.“ „Es ist trotzdem Bullshit“, behauptete Yattaran und rückte seine Brille zurecht. „Ich weiß, Yama, du bist der Captain und alles, aber ich muss dir widersprechen. Garfudias ist nicht besser für irgendwas als, keine Ahnung, Mesillas, oder wo wir dich aufgeklaubt haben.“ „Das kann nicht sein. Warum sollten dann dort Äpfel wachsen? Dass Rosengewächse auf anderen Planeten kaum gedeihen, war schon lange vor der Gründung der Gaia Sanction bekannt. Sie waren nur diejenigen, die es schließlich verboten haben.“ „Und die offenbar wussten, wie es doch funktioniert“, merkte Kei an. „Warum hat Gaia dann ihren Sitz auf dem Mars und nicht auf Garfudias, wenn es da so ist wie auf der Erde?“ „Weil der Mars der nächste bewohnbare Planet in der Nähe der Erde ist. Warum sonst? Sie wollten die Erde im Auge behalten und jeden davon abhalten, sie zu betreten, das ist das erklärte höchste Ziel der Gaia Sanction. Es macht keinen Sinn, die Erde von Garfudias aus zu bewachen.“ Yama war sichtlich überzeugt von seinen Antworten, und sie klangen auch plausibel. Trotzdem hatte Harlock das Gefühl, dass hier Informationen fehlten. Nach allem, was er über Garfudias wusste, waren die Umweltbedingungen dort, abgesehen von einer atembaren Atmosphäre, nicht allzu erdähnlich. „Yama“, sagte er sanft. „Lass uns nachsehen, was wir darüber herausfinden können.“ Nur kurz schien Yama ablehnen zu wollen, dann begriff er, was Harlock im Sinn hatte. „Cervus, übernimm das Ruder, in Ordnung? Yattaran, du übernimmst die Verantwortung für das Trionische Netz. Bei dir ist diese Aufgabe am besten aufgehoben.“ „Stimmt genau“, nickte Yattaran. „Setzen wir Kurs auf Tokarga?“, fragte Cervus, sichtlich erfreut darüber, wieder einmal das Ruder führen zu dürfen. „Jetzt noch nicht.“ Yama zögerte, den Blick nachdenklich auf die Kiste mit den Äpfeln gerichtet. Schließlich griff er hinein und nahm einen heraus, dann trat er neben Harlock. „Gehen wir.“ Harlock schenkte ihm ein knappes Lächeln. Sie verstanden einander. *** Yama folgte Harlock durch den schwach beleuchteten Korridor, den Apfel schwer in der Hand. Das Aufmischen des Schmugglerschiffs hatte ihn erfolgreich davon abgelenkt, was passiert war, als er zuletzt mit Harlock allein gewesen war. Jetzt kehrten die Gefühle wie eine Flutwelle zurück, und seine Kehle wurde eng. Er empfand doch nicht wirklich etwas für Harlock, oder? Das waren nur Nachwirkungen des Rituals, ein Relikt der starken Verbundenheit während dieses Moments. Es konnte nichts anderes sein. Aber er konnte das unangenehm heftige Klopfen seines Herzens nicht beruhigen, als er Harlock tief ins Innere des Schiffes folgte. Bis zum Herzen der Arcadia – dem Raum des Zentralcomputers. Hier war es wärmer als sonst irgendwo auf dem Schiff, denn die zahllosen simultanen Rechenoperationen erzeugten eine Menge Abwärme; umso mehr fühlte es sich an, als wäre die baumähnliche Struktur auf dem Plateau in der Mitte des hohen Raumes ein atmender, lebender Organismus. Ehrfürchtig nahm Yama das Aufflackern der verschiedenen Lichtsignale auf, die für ihn keiner sichtbaren Struktur folgten. Harlock jedoch beobachtete sie mit höchster Aufmerksamkeit. „Mein Freund“, sagte er schließlich in der bekannten sanften, fast liebevollen Stimme. „Wir brauchen deine Hilfe. Sag uns alles, was du über Garfudias weißt.“ Lichter glommen auf und erloschen wieder; einige langsam und weich, andere in schneller Folge, begleitet von blechernen Geräuschen, die für Yama nicht wie Worte klangen. Harlock jedoch schien sie deuten zu können. „Salzhaltig … Ich verstehe. Gibt es nennenswerte Gemeinsamkeiten mit der Erde?“ Der Wechsel von einer bunten in eine einheitlich rote Beleuchtung war selbst für Yama nicht misszuverstehen. Nein. „Hältst du es für möglich, dass dort Rosengewächse wachsen?“ Nein. Yama hielt den Apfel hoch. „Wir haben Äpfel auf einem Schmugglerschiff gefunden, und ich weiß, dass sie von Garfudias stammen. Dort stehen die Obstplantagen der Gaia Sanction.“ Nun begannen die Lichter hektisch durcheinander zu leuchten. Ein wahres Blitzgewitter erhellte den Raum, ließ die armdicken Kabel, die über die Wände liefen, kunterbunt reflektieren. „Wie kann es sein, dass das Obst dort wächst?“, fragte Harlock. „Du musst doch eine Idee haben.“ Yama beobachtete das Lichtflackern angestrengt. Es wirkte konfus auf ihn; aufgeregt, aber ratlos. Harlocks Freund freute sich, hatte aber keine Ahnung. „Harlock … Welcher Wissenschaft genau ist dein Freund nachgegangen? Tut mir leid, ich bin noch nicht so weit, dass ich alles verstehe.“ „Er war Bioingenieur“, antwortete Harlock. „Natürlich verstand er dadurch auch viel von Pflanzen. An vielen Projekten zur genetischen Verbesserung von Nutzpflanzen war er beteiligt. Wie du weißt, ist er auch derjenige, der versucht hat, Miimes Volk zu retten.“ Harlock lächelte traurig. „Die Wissenschaft war Tochiros einzige große Leidenschaft. Mit vielen anderen Fachbereichen hat er sich aus reiner Freude beschäftigt. Es gibt wenig, das er nicht weiß. Und alles Wissen, das wir mit der Arcadia sammeln, speichert er im Zentralcomputer ab. Seine Kapazitäten sind fast unerschöpflich.“ Ein sanftes weißes Leuchten schwoll ab und erlosch dann wieder. Es wirkte auf dieselbe Weise liebevoll wie Harlocks Worte, und Yama kam sich beinahe wie ein Eindringling vor. Kaum jemals verirrte sich ein Mitglied der Crew hierher, in Tochiros Reich. Er war sehr viel allein. „Er hat alle Daten, die er über Garfudias gesammelt hat, für dich zusammengestellt, Yama. Außerdem einen direkten Vergleich mit den Umweltbedingungen, die auf der Erde herrschen. Wenn du dich damit beschäftigst, kannst du vielleicht herausfinden, warum wirklich auf Garfudias heilige Früchte wachsen.“ „Das werde ich tun“, versprach Yama. „Gleich, vor dem Schlafengehen. Sonst wird es mir keine Ruhe lassen.“ Er wandte sich um, blieb dann aber doch noch einmal stehen, als er sich des Gewichts in seiner Hand bewusst wurde. „Ähm … hier, Harlock.“ Etwas linkisch hielt er seinem Gegenüber den Apfel hin. „Der ist für dich.“ Harlock nahm den Apfel vorsichtig entgegen, als hätte er Angst, diesen wertvollen Schatz fallen zu lassen. Dann betrachtete er Yama mit einem schimmernden Auge, als wäre Yama und nicht der Apfel die verbotene Frucht, die er nicht haben durfte. „Ähm. Wir sehen uns dann morgen früh“, sagte Yama etwas unbehaglich. „Aber ja. Ruh dich aus.“ Als Yama den Computerraum verließ und in die kühle, gefilterte Luft des Hauptkorridors hinaustrat, hörte er hinter sich das unverkennbare Geräusch eines herzhaften Bisses ins Fleisch des Apfels, gefolgt von einem leisen, genussvollen Seufzen. In dieser Nacht hatte Yama einen ziemlich unangemessenen Traum. Er war zurück in Harlocks Quartier. Jedes Detail des Raums war ihm noch in Erinnerung, obwohl er nach dem Ritual nie wieder dort gewesen war; nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, diesen privaten Bereich des Captains für sich zu beanspruchen, auch wenn er Harlock auf diesem Posten abgelöst hatte. Es war ohnehin kein großer Unterschied zu seiner eigenen Offizierskabine, nur … das kleine Sofa, auf dem Miime diesmal nicht lag … was …? War dies nun der Moment, in dem sie für das Ritual zusammenkamen und …? Yama blickte zum Schreibtisch, und dort stand das geklebte Becherglas mit der Erde darin. Nur jetzt ragte ein kleiner grüner Keimling daraus hervor. Plötzlich lag er auf Harlocks Bett, ausgestreckt auf der Überdecke aus grober Wolle. Er roch Harlock, fühlte seine Wärme, als wäre der andere gerade erst aus dem Bett aufgestanden … „Yama.“ Harlock ließ sich auf der Bettkante nieder und schaute verschmitzt auf ihn herab. Er war voll bekleidet. Noch. „Hattest du nicht für jeden von der Crew einen mitgebracht? Dieser hier ist für dich.“ Und er hielt Yama einen Apfel hin, reif und rosig. „Oh. Danke.“ Richtig. Er hatte für jeden einen mitgenommen, also auch für sich selbst … richtig? Yama nahm den Apfel entgegen und betrachtete ihn, seine makellose, glänzende Schale, den hölzernen Stiel und auf der Unterseite die kleine Rosette, die einst die Apfelblüte gewesen war. Sollte er ihn jetzt essen? Es war lange her, dass er einen genossen hatte … Harlock schaute ruhig auf ihn herab. „Du musst dich entscheiden, Yama. Du weißt, wofür ich mich entschieden habe.“ Ja, richtig. Harlock hatte sich entschieden, den Apfel zu essen. Also konnte Yama seinen auch essen, oder nicht? Er führte die Frucht an die Lippen, atmete den Geruch ein. Unverkennbar. Keine Frucht von irgendeinem Planeten roch wie ein Apfel von der Erde. In Yamas Nase mischte sich der Duft mit dem von Harlock, der ihn umgab. „Ich werde dich nicht drängen“, sagte Harlock sanft. „Ich werde dich nie zu etwas drängen.“ Yama berührte die Schale mit den Lippen, die kühl war, aber nicht kalt; dann drückte er die oberen Schneidezähne hinein. Sie durchbrachen die Haut und drangen in das süße Fleisch. Herrlich süßer Saft quoll ihm auf die Zunge, und dann … … dann war es nicht mehr der Apfel, den er schmeckte, sondern Harlock. Sie lagen einander zugewandt auf dem Bett und küssten sich langsam und … sanft und … voller Ehrfurcht voreinander … Yama wollte mehr davon, viel mehr. Der Geschmack allein reichte nicht. Er schlang beide Arme um Harlock, drängte sich an ihn, bis sie eng Haut an Haut lagen, erhitzt und etwas feucht, und zuletzt drückte er auch seine Hüfte gegen die von Harlock, rieb sich an seinem – Das Stöhnen war zu laut, zu real. Yama schlug die Augen auf und fand sich in seinem Quartier wieder, nassgeschwitzt unter der Decke, mit hämmerndem Puls. Hatte ihn etwa sein eigenes Stöhnen geweckt? „Wirklich?“, murmelte er. „Was soll das?“ Zwischen seinen Beinen hatte sich jede Körperzelle zur Startposition für ein Feuerwerk begeben. Alles stand stramm und wartete nur noch auf den Zündbefehl. Yama murrte und drückte sein Gesicht ins Kissen. Musste das sein? Hau ab, dachte er. Das ist nicht richtig. Er hat dich geküsst. Warum soll das nicht richtig sein?, fragte ein unschuldiger Gedanke aus seinem Unterbewusstsein. Aber es ist nicht – … Ich bin doch nicht – … Du hast von ihm geträumt. Yama kniff die Augen zusammen. Aber das war wegen des Rituals. Weil ich – … Wir MUSSTEN doch, verdammt, es ging nicht anders! Und jetzt ist das in meinem Kopf, es kommt nicht aus mir selbst! So? Selbst wenn das so wäre … Würde es eine Rolle spielen? Ist es nicht völlig egal, woher es kommt? Darauf hatte er keine Antwort. Einige Minuten lang lag er mit klopfendem Herzen in der Dunkelheit und lauschte auf das Pochen in seiner Leistengegend, das einfach nicht nachlassen wollte. Der Apfel, Harlock, das Bett, die Gerüche … Hyperrealistisch, eine erotisch aufgeladene Kombination wie das Werk eines Künstlers. Seit wann hatte er so etwas in sich? Schließlich entschied er, dass er, wenn er heute noch vernünftig Schlaf finden wollte, es zu Ende bringen musste. Sonst erledigte vielleicht der nächste Traum die Angelegenheit, und er hatte keine Lust, als erstes das Bett frisch zu beziehen. Obwohl, so geschwitzt, wie er war, wäre das sowieso fällig. Waren im Nachttisch noch Taschentücher? Ja. Es war nicht so, als würde er häufig eins brauchen. Jedes Quartier auf jedem Langstreckenschiff hatte Taschentücher im Nachttisch, das war auch bei der Gaia-Flotte so, und jeder wusste ganz genau, warum. Na los, tu dir was Gutes. Vielleicht ist das auch nur ein Denkzettel deines Körpers, weil du dich seit mehr als drei Wochen überhaupt nicht mehr um ihn gekümmert hast. Ja, das war es wahrscheinlich. Harlock war einfach nur das leichteste Ziel, auf das sich sein aufgestautes Verlangen ausrichten konnte. Yama ergab sich, legte sich bequem hin und schob die Hand unter den Saum seiner Boxershorts. Hier würde nicht viel Arbeit nötig sein. Etwas schüchtern kehrten seine Gedanken zurück zu dem Traum. Mit Harlock auf dem Bett und … das Gefühl seiner warmen Haut … Nein. Nein, das ging wirklich nicht, das war einfach zu unangebracht. Harlock sollte ihn nicht auf diese Weise erregen. Yama hatte bis zu dem Unfall, der sein Leben zerstört hatte, nur mit Mädchen geschlafen. Manchmal hatte er seine Partnerinnen nicht einmal besonders gut gekannt. Danach waren seine wilden Jahre schlagartig vorbei gewesen … aber das hieß ja nicht, dass Mädchen sein Blut nicht mehr in Wallung bringen konnten. An Mädchen zu denken war sehr viel sicherer und sehr viel mehr in Ordnung. Nur mit einem Mädchen hatte er nie geschlafen, demjenigen Mädchen, das er am besten kannte und das seine älteste Freundin war. Vielleicht war genau das der Grund; ihr gegenüber war er zu schüchtern gewesen, jemals einen kühnen Vorstoß zu wagen. Insgeheim wussten sie beide, dass sie Gefühle füreinander hegten, doch es kam nie zu mehr als Händchenhalten oder einem scheuen Kuss auf die Wange. Nami … Plötzlich kehrten die Gefühle der Schuld und des Verlustes zurück. Nami war tot. Isora hatte sie getötet, aber Yama hatte sie bereits davor getötet. Sie war zweimal gestorben, beide Male für seine Dummheit. Seine Hand erstarb in der Bewegung. Die Hitze verebbte, die Feuchtigkeit begann zu trocknen. Er hatte Nami nie mit ins Bett genommen, aber er hätte es tun sollen. Er liebte sie noch immer. Sie hätte so viel Liebe verdient gehabt, alle Liebe, die er geben konnte. Isora und Nami waren verheiratet gewesen, hatten aber nie miteinander schlafen können. Dafür hatte Yama gesorgt. War er nicht ein treu sorgender Bruder und Freund? Gönnte er den Menschen, die er am meisten liebte, nicht alles? Er hatte es verdient, Nami nicht zu bekommen. Aber Isora und Nami hatten es nicht verdient, zusammen einsam zu sein. Plötzlich kamen Tränen, heiß und nass. Viele von ihnen. Scheiße. So schlimm war es seit Monaten nicht gewesen. Nächtliche Weinkrämpfe waren nicht ungewöhnlich für ihn, wenn er allein wachlag; seit dem Unfall hatten sie sehr regelmäßig stattgefunden, einmal im Monat oder öfter. Doch seit er Captain der Arcadia war und ein neues Leben begonnen hatte, hatte er gehofft, dass diese Zeit vorüber war. Sie war es nicht, so viel stand fest. Vielleicht würde sie es nie sein. Harlock war keine Lösung. Seine Nähe hatte nicht wirklich etwas Beruhigendes oder Tröstendes an sich. Er sagte nie süße Worte oder umarmte jemanden; kein Mann, der gern offen Gefühle zeigte. Yamas Geist klammerte sich aus reiner Verzweiflung an ihn. Trotzdem willst du es nicht allein tun, nicht wahr? Harlock hat dir gesagt, dass er es auch kaum tut, weil er sich dadurch einsam fühlt. Scheint, als hättest du das von ihm geerbt, zusammen mit der Narbe und der Blindheit. So wie Nami und Isora zu zweit allein waren, so werdet ihr das auch sein. Für immer. Yama zog die Hand aus seiner Unterhose und rollte sich eng zusammen. Plötzlich fror er. Es würde noch dauern, bis seine Tränen trockneten und er schlafen konnte. Am Ende des Nachtzyklus, als sein Tageslichtwecker ihn aus einem unruhigen Halbschlaf holte, fühlte Yama sich müde und verspannt. So viele dumme Gedanken. Und so unnötig. Er beschloss, sich heute nur auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig war, und alles andere zu verdrängen. Im Verdrängen war er Weltmeister. „Und?“, begrüßte ihn Kei in der Halle zum Frühstück. Auf ihrem Teller lagen Gemüsestreifen, ein Schälchen Joghurt und eine Scheibe süßes Brot. „Irgendwie siehst du furchtbar aus.“ „Ich habe alles, was wir haben, über Garfudias gelesen“, murmelte er und nahm sich einen Teller vom Stapel. „Yattaran hat Recht. Die Beschaffenheit des Bodens ähnelt der der Erde überhaupt nicht. Die Gaia Sanction hat gelogen. Sie hat ihre eigenen Leute belogen.“ „Überrascht dich das etwa noch?“ Kei begleitete ihn zum Buffet, obwohl sie dort schon gewesen war. Offenbar hatte sie vor, ihm beim Essen Gesellschaft zu leisten. „Nein, aber … ja. Sogar die wichtigen Leute.“ „Pah.“ Yama nahm sich Reis und ein Stück kaltes Fischfilet. Kaffee brauchte er auch. Er mochte ihn zwar nicht besonders, aber seine Hirnaktivität musste irgendwie in Gang kommen. Als sie sich an dem kleinen Tisch inmitten eines Geräuschpegels aus lauten Gesprächen und Geschirrklappern gegenübersaßen, eröffnete er Kei, was er beschlossen hatte. „Ich kann nicht erraten, was auf Garfudias die Rosaceae wachsen lässt“, sagte er. „Aber ich will es wissen. Auf der Erde wächst gar nichts außer Mutters Blumen, irgendwas fehlt. Vielleicht finden wir es dort.“ Kei hustete in ihre Teetasse. „Dort? Verstehe ich das richtig? Du willst hinfliegen – nach Garfudias?“ „Ja. Warum nicht?“ „Wenn du glaubst, dass dich das vor Tokarga bewahrt, liegst du falsch. Die anderen Sprengköpfe sind noch viel weiter entfernt. Nicht ohne Grund hat Harlock so lange gebraucht, um alle anzubringen.“ „Ich hab keine Angst vor Tokarga“, sagte Yama nachdrücklich und nippte an dem bitteren Gebräu, das die meisten Männer so sehr schätzten. „Wir fliegen dahin. Aber zuerst will ich nach Garfudias. Ich muss es einfach wissen.“ „Tja. Wird dann wohl eine längere Reise. Ich weiß nicht, ob Harlock Garfudias jemals angeflogen hat, und selbst wenn wir die Flugroute im Speicher hätten, würde der In-Skip-Modus für eine so lange Strecke mehr Energie verbrauchen, als du zur Verfügung hast.“ Er bemühte sich zu lächeln. „Seit wann bist du Expertin für Dunkle Materie?“ „Ich bin nicht erst seit gestern auf diesem Schiff, Frischling.“ Kei langte über den Tisch und knuffte ihn sanft in die Seite. Yama kam der Gedanke, dass Frauen wirklich ein Gespür dafür zu haben schienen, wenn es anderen nicht gut ging. Sicher würde auch Miime bald an seiner Seite auftauchen; sie musste fühlen, wie aufgewühlt er war. „Wo auch immer du hin willst, da fliegen wir hin“, versicherte Kei. „Deine Crew wird dir folgen. Du hast bisher keinem einen Grund gegeben, dir nicht treu zu sein.“ Anders als der frühere Captain, ergänzte ihr Ausdruck, aber sie sprach es nicht aus. Yama spürte einen Stich. Er wusste, was Kei für Harlock empfand, wie sehr sie ihn stets bewundert und ihm vertraut hatte. Und entgegen dem, was sie soeben gesagt hatte, hatte Yama der Crew allerdings eine Reihe guter Gründe geliefert, ihm zu misstrauen. Doch Harlocks handverlesene Mannschaft bestand nicht aus Idioten. Sie wussten, warum Yama Captain war und es sein musste. Es half nichts. Sie hockten alle zusammen auf diesem Schiff, und wenn sie eine Zukunft wollten, dann mussten sie gemeinsam dafür kämpfen. „Garfudias-Koordinaten als Ziel eingegeben“, bestätigte Alonso. „Normaler Flugmodus, bis wir das Sonnensystem verlassen“, wies Yama an. „Relative Lichtgeschwindigkeit dreißig Prozent.“ Allmählich lernte er, auch den Energieverbrauch der Solarsysteme richtig einzuschätzen. „Wird ein langweiliger Flug“, murmelte Yattaran. „Brauchst du mich hier, Cap?“ „Im Moment nicht. Was hast du vor?“ „Muss noch ein paar Berechnungen mit dem Trionischen Netz machen. Welche Verknüpfungen, genaue Abstände zu den Sprengköpfen, und so weiter. Damit will ich nicht erst anfangen, wenn wir die Scheißdinger im Schlepptau haben.“ „Gut, aber bitte bleib in Bereitschaft.“ „Aye.“ Yama führte eine Weile das Ruder, doch es fiel ihm schwer, nicht ständig zu gähnen. Als sie zuletzt den Sektor Pluto verließen, endeten schlagartig auch die Begegnungen mit anderen Schiffen. Lange hatte in der Milchstraße nicht so ein Getümmel geherrscht; außerhalb wirkte das All plötzlich geisterhaft verlassen. Schließlich trat Miime von hinten an Yama heran und legte ihre schlanke Hand auf seine Schulter. „Yama. Vielleicht solltest du versuchen, noch etwas auszuruhen.“ „Oh … Nein, es geht mir gut. Ich sollte meinen Posten nicht verlassen, nur weil ich nicht gut geschlafen habe.“ „Das hast du wahrlich nicht“, stimmte Miime zu, und Yama schluckte und fragte sich, wie klar sie seine Gedanken und Empfindungen tatsächlich empfing. War er wie eine Funkstation für sie, bei der sie auf der richtigen Frequenz alles mithören konnte? „Etwas sagt mir, dass du deine Kräfte brauchen wirst, wenn wir Garfudias erreichen.“ „Wirklich? Ich habe nicht die geringste Vorstellung, was uns da erwartet. Vielleicht sind die Plantagen halb geplündert, vielleicht ist die Verteidigung der Gaia Sanction dort noch bestens intakt … Wir werden sehen.“ Er spürte Unruhe in ihr. Miime war beunruhigt. Plötzlich erklangen erneut Schritte, die sich ihm näherten. Über die Schulter sah Yama Harlock auf sich zugehen. „Miime hat Recht, Yama. Ich kann das Ruder für eine Weile übernehmen, wenn du möchtest. Setz dich wenigstens hin.“ Jetzt versuchte auch Harlock, ihn zu überreden. Sah er denn so müde aus? Das war wirklich albern. Eigentlich musste überhaupt niemand am Steuer stehen, es drehte sich auch allein, ohne dass es jemand festhielt. „Na schön, wenn ihr darauf besteht“, lenkte Yama ein und trat zurück. Im Grunde war er für Harlocks Beistand immer dankbar; sein Vorgänger könnte sich ebenso völlig von der Brücke zurückziehen, doch Harlock wusste, wie wichtig sein Erfahrungsschatz für Yama war, dafür, dass er mit verschiedenen Situationen umzugehen lernte. Anfangs hatte Yama darüber nachgedacht, Harlock stets die Brücke zu überlassen, wenn er selbst nicht dort war, wie einem Stellvertreter; später hatte er es überdacht und für unangemessen befunden. Im Militär, wo sie beide herkamen, wäre Harlock, nachdem er als Captain abgelöst worden war, zum Admiral aufgestiegen anstatt zu einem zweiten kommandierenden Offizier degradiert zu werden. Insofern war es lächerlich und erniedrigend, ihm irgendwelche Pflichten aufzuerlegen. Wenn Harlock dies nun anbot, war es eine andere Sache – würde Yama sich bloß nicht so unbehaglich in seiner Gegenwart fühlen, nach seinem beinahe feuchten Traum der letzten Nacht. Gehorsam ließ er Harlock vorbeigehen und tauschte den Platz mit ihm. Sich auf dem Thron niederzulassen hatte sich ebenso verboten angefühlt und war für Yama nicht in Frage gekommen, bis Harlock ihn schließlich selbst dorthin gesetzt hatte. Zugegeben, er war bequem. Hier konnte man stundenlang sitzen, ohne dass einem irgendwann der Hintern schmerzte. Man konnte aber auch gut darauf eindösen. Yama war nicht überrascht, als das passierte. Erst, als er schlagartig wieder wach wurde, stellte er fest, dass er überhaupt weg gewesen war. Auf seinem Schoß lag ein Apfel. Er erschrak so heftig, dass er zusammenzuckte und die Frucht zu Boden rollte. „Mann, Yama, jetzt bekommt er eine Stelle!“, beklagte sich Kei. „Ich hab alle an die Crew verteilt, wie du wolltest. Das da ist deiner.“ Yama schüttelte den Sekundenschlaf ab und beruhigte sich. Miime, die neben dem Thron stand, hob den Apfel auf und reichte ihn ihm mit einem milden Lächeln. Geistesabwesend nahm er ihn und sah nach vorn; Harlock stand am Steuerrad, ein Bild wie aus alten Zeiten. Alles war sicher. Es gab keinen Zusammenhang zu seinem Traum. Das hier war nur ein Apfel. Um sich selbst das zu beweisen, biss er hinein, unter den neidischen Blicken derjenigen, die ihren eigenen schon verspeist hatten. Mmmmh … Das war einer von der säuerlichen Sorte. Köstlich. Yama aß den Apfel in aller Ruhe auf, knabberte auch das Kerngehäuse ab und schluckte die Kerne im Ganzen, weil sie bitter waren. Tatsächlich ging es ihm jetzt besser. Obst von der Erde hatte wahrhaft etwas Belebendes, das Nahrung von anderen Planeten irgendwie nicht bieten konnte; womöglich geb es wirklich eine höhere Verbindung zwischen der Mutterwelt und ihren Kindern. Harlock sah über die Schulter, und sein Blick ruhte unleserlich auf Yama. Allerdings zuckten seine Mundwinkel im Anflug eines stillen Lächelns. Kapitel 5: Überraschung ----------------------- „Wir treten in die Umlaufbahn von Garfudias ein.“ Cervus stand am Posten des Navigators. Harlock sah über die Schulter. „Yama, wie lauten die Koordinaten der Obstplantagen?“ Yama sah immer noch müde aus, als er sich jetzt vom Thron erhob. „Ich glaube, zweiunddreißig Grad nördliche Breite und hundertachtzehn Grad westliche Länge“, grübelte er und verzog dabei das ganze Gesicht. „Vielleicht auch ein, zwei Grad daneben.“ „Korrigiere Kurs“, bestätigte Cervus. „Eintritt in die Atmosphäre in t minus neunzig Sekunden.“ Harlock sah hinunter. Der Planet war ausnehmend schön: Eine blaue Ozonschicht wie die der Erde hüllte ihn ein, und die Gaswolken, durch die die Arcadia nun hinunterglitt, hatten eine rosafarbene Tönung. Tochiro hatte gesagt, dass der Boden fast durchgehend mit vielen Salz- und Quarzgesteinen angereichert war, die farbige Kristallformationen in die Landschaft zeichneten. Harlock erblickte lange, violett angehauchte Landzungen, die in trübe grünliche Gewässer ragten. Keine größeren Pflanzen wuchsen auf dem Felsplateau, das unter ihnen lag, dafür vieles, das Moosen und Flechten ähnelte. „Bist du sicher, Captain?“, fragte Cervus zweifelnd nach. „Die Plantagen müsste man doch sehen. Da unten ist nichts.“ Harlock hatte einen Verdacht. „Wartet, bis wir tiefer absinken.“ „Oh!“, rief Kei aus. „Da, sieh einer an!“ Er hatte Recht behalten: Das unveränderliche Bildnis aus Landschaft begann unmittelbar unter ihnen zu flirren, dann löste das Hologramm sich bröckelnd auf. Nun befand sich unter ihnen ein großflächiges, gleichförmiges Areal, das von oben wie ein Schachbrett aussah: riesige quadratische Felder, auf denen sich in strengen Reihen grüne, unscharf umrissene Formen erhoben. Vermutlich zahllose Bäume und Sträucher. Hohe Baumketten mit fast waagerecht abstehenden Ästen und sattgrüner Rinde umgaben die Plantagen wie ein Schutzwall. „Das müssen sie sein!“, rief Kei. „Die Plantagen! Sie sind riesig. Wie viele Äpfel und Kirschen und Himbeeren da unten wohl wachsen? Das ist gigantisch …“ Yama trat neben Harlock, und er machte ihm Platz. Endlich glänzte Yamas Auge wieder. Bei diesem Anblick wurde ihm wärmer ums Herz. „Wieso begrüßt uns denn niemand?“, fragte Kei. „Oder sind die Abwehrgeschütze hier leise und unsichtbar?“ Tatsächlich feuerte niemand auf sie. Es waren auch weit und breite keine Verteidigungsanlagen zu entdecken. „Wir werden gerufen“, meldete Caruso. Yama sah nach vorn. „Antworten.“ Die Monitore erwachten zum Leben und zeigten einen uniformierten Wachposten. „Hier spricht Lieutenant Salvador. Ich nehme an, wir haben die Ehre mit der Arcadia.“ „Ganz recht“, bestätigte Yama. „Wer von Ihnen beiden ist Captain Harlock?“ Harlock verspürte ein gewisses Amüsement. Das war keine ganz einfache Frage. Seit ‚Captain‘ und ‚Harlock‘ zwei verschiedene Personen waren, gab es keine klare Antwort mehr darauf. Lt. Salvador betrachtete unschlüssig seinen Bildschirm, entschied sich dann für den Harlock-Harlock und nahm ihn ins Visier seines prüfenden Blicks. „Sie haben also jetzt einen Welpen am Ruder, Harlock. Darf ich wissen, was Sie hier wollen?“ Yama ließ sich nicht das Wort nehmen. „Wir planen keine feindlichen Handlungen“, antwortete er souverän, „auch keine Plünderungen. Ich möchte nur die Plantagen sehen.“ Ein kurzes Schweigen schloss sich an. „Woher wissen Sie von den Plantagen?“ „Sie sind von hier aus gut zu sehen.“ „Das war nicht meine Frage, und das wissen Sie.“ „Lieutenant Salvador, es gibt keine andere Lösung für dieses Problem, als dass Sie uns landen lassen. Sie wissen, wer wir sind und was wir tun können. Ihr Widerstand ist zwecklos.“ Salvadors Miene war glatt, doch immerhin erkannte er Yamas überlegene Position an. „Allerdings. Dieser Stützpunkt kann und wird die Arcadia nicht aufhalten. Die Landeflächen befinden sich nördlich.“ „Danke.“ Die Übertragung endete. „Die kooperieren also wirklich“, wunderte sich Kei. „Was sollen sie denn sonst auch tun? Der Einfluss der Gaia Sanction schwindet immer mehr. Jetzt wissen sie, dass wir sogar ihr größtes Geheimnis gelüftet haben. Es bleibt ihnen nichts übrig. Ich bringe uns runter.“ „Mein Welpe“, wiederholte Harlock amüsiert, und Yama sah etwas verlegen beiseite. „Ich fürchte, Situationen dieser Art werden sich wiederholen.“ Als die Detektoren beim Abtasten der näheren Umgebung immer noch keine aktiven Waffenanlagen aufspüren konnten, ließ Yama die Arcadia auf dem riesigen Stellfeld nördlich der Plantagen niedergehen. Im angrenzenden offenen Hangar waren zwei große Transportschiffe der Gaia-Flotte abgestellt, beides nicht die neusten Modelle. „Warum gibt es keine Luftabwehranlagen?“, wunderte Kei sich noch immer. Anscheinend kam sie über das Ausbleiben feindlicher Angriffe gar nicht hinweg. „Weil dieser Ort geheim ist“, vermutete Yama wie zuvor. Harlock konnte ihm nur teilweise zustimmen. Natürlich lag Garfudias am äußeren Rand des vielbereisten Weltraums, und rein zufällig geriet wohl kaum ein Schiff jemals hierher; dennoch war der Planet an sich kein Geheimnis, er galt nur nicht als besonders lohnendes Ziel. In jeder Raumkarte und jeder weltraumtopographischen Sammlung war Garfudias als großer, habitabler Planet erwähnt, jeder kannte den Namen, nur die große Entfernung zum aktiven Zentrum hatte ihn nie zu einer besonders reizvollen Wohnstätte gemacht. „Wie viele Menschen leben hier?“, fragte er an Yama gewandt. „Wenn ich mich recht erinnere, ist Garfudias noch nicht vom Weltensterben betroffen.“ Bereitwillig teilte Yama sein frisch erworbenes Wissen mit ihm. „Die Kolonien befinden sich vor allem auf dem Kontinent Euros, das dürfte auf der anderen Seite liegen. Fünfundzwanzig Millionen Menschen, also sehr wenige. Der Planet bietet nicht viele Ressourcen, man exportiert vor allem Steinsalz und andere Mineralien. Die Vegetation genügt nicht für intensive Landwirtschaft, und die Böden … Yattaran hatte Recht, die Böden geben nicht viel her. Zu salzig. Nicht wie auf der Erde.“ „Das heißt, man ist auf den Import von Lebensmitteln angewiesen.“ „Nun ja …“ Oder es hängt davon ab, was wir auf den Plantagen finden, dachte Harlock. Plötzlich gab es einen Ruck, und der Sinkflug der Arcadia endete abrupt. Verwirrte Blicke wurden getauscht, dann geschah etwas, das Harlock innerlich zusammenzucken ließ: Yama und Miime schrien gleichzeitig auf und pressten sich die Hände an die Schläfen. Mit einem Satz war er bei Yama, der ihm ächzend in die Arme taumelte. „Hey! Was ist da los?“, rief Kei. „Wir sind in ein Kraftfeld geraten!“, analysierte Caruso. „Der Dunkle-Materie-Antrieb wird blockiert!“ Harlock rang darum, Yama aufrecht zu halten; er wand sich und hielt sich immer noch den Kopf, als wäre dieser kurz vor dem Explodieren. „Die Bodenstation anrufen!“, befahl er scharf. Kei öffnete den Kanal. Wieder erschien das Bild von Lt. Salvadore auf den Bildschirmen. „Was ist das für ein Hinterhalt!“, schrie Kei ihn an. „Welcher Hinterhalt? Meinen Sie das Kraftfeld?“ „Was soll ich denn sonst meinen, Spatzenhirn!“ „Es gibt keinen Grund, ausfällig zu werden. Das Kraftfeld ist nur eine Landehilfe, es wird Ihr Schiff sicher zu Boden bringen. Diese Maßnahme ist nötig wegen der extrem starken Winde hier im Landesinneren. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass hier weder Felsen noch Pflanzen stehen, aus genau diesem Grund.“ Wie auf ein Zeichen hörten Miime und Yama in Harlocks Armen auf, in Agonie um sich zu schlagen, und sanken erschöpft zusammen. Ganz sanft begann die Arcadia Richtung Planetenoberfläche herabzuschweben. Das Hangargebäude, dies war nun zu sehen, war von allen Seiten an armdicken Drahtseilen im Gestein verankert, an denen unsichtbare Stürme rissen; um die Wände flirrte ebenfalls ein stabilisierendes Kraftfeld. „Es geht mir gut“, murmelte Yama und unternahm einen schwachen Versuch, sich aus Harlocks Griff zu lösen. Harlock ließ ihn nur sehr widerwillig los. „Interferenzen mit der Dunklen Materie?“, fragte Kei. „Durch ein Kraftfeld?“ „Ich kann keine Schäden feststellen“, meldete Caruso, dessen Blick über seine Monitore huschte. „Alles scheint normal zu funktionieren.“ Harlock drehte sich um und sah Miime, die sich an ihrer Steuervorrichtung langsam wieder aufrichtete. Die Lichtkugel glomm wieder in einem ruhigen Pulsieren. Alles wirkte in Ordnung. „Wir müssen misstrauisch bleiben, Yama. Einen derartigen Energieabfall habe ich noch nie erlebt.“ „Gut, wir … werden auf Nummer sicher gehen.“ Yama schüttelte den Kopf und fuhr sich durch das zerzauste Haar. Dann aktivierte er die Com-Verbindung. „Yattaran, ich brauche dich auf der Brücke.“ „Verstanden“, meldete sich Yattarans Stimme zurück. „Eine Sekunde.“ Sie warteten, während die ferngesteuerte Landung sich dem Ende neigte. Sie waren noch dreißig oder vierzig Meter von der Oberfläche entfernt. Trotz des mobilen Kraftfelds drückten und schoben starke Winde abwechselnd aus verschiedenen Richtungen gegen den Schiffskörper. Kei drückte erneut den Funkknopf. „Yattaran, wo bleibst du? Wenn dein Captain sagt, er braucht dich auf der Brücke, dann schiebst du deinen Arsch auf die Brücke. Sofort.“ „Ist ja gut, ist ja gut!“ Noch vor dem Abbruch der Verbindung war zu hören, wie Yattaran losrannte. In weniger als dreißig Sekunden war er da. „’Tschuldigung, Yama. Captain. Das Trionische Netz ist programmiert und einsatzbereit. Wo brennt’s denn hier?“ Mit noch immer leicht schwankender Stimme erzählte Yama von dem Zwischenfall. „Es war, als würde jemand meinen Kopf mit einer Kreissäge durchschneiden“, schloss er ratlos. Währenddessen setzte die Arcadia weich auf der riesigen zementierten Fläche auf. „Ich bin hier, weil du einen Migräneanfall hattest?“, fragte Yattaran, und Harlock warf ihm einen Blick zu, der sein Grinsen ersterben ließ. „Miime ging es ebenfalls schlecht. Solche Interferenzen dürfen nicht auftreten.“ „Ah, na gut. Ich bin aber auch kein Zauberer, wisst ihr. Kann mir mit Miime den Antrieb ja mal ansehen …“ Das immerhin war ein deutliches Zugeständnis. Harlock wusste, dass Yattaran Miime unheimlich fand und ihr, wenn möglich, aus dem Weg ging. „Gehen wir dann jetzt von Bord?“, fragte Kei. Ungeduldig zu sein wie ein kleines Mädchen war eine ganz neue Seite an ihr. „Ich will die Plantagen sehen! Äpfel, so weit das Auge reicht!“ Yama rang sich ein Lächeln ab. „Natürlich begleitest du mich. Harlock, du doch auch?“ Fragend sah Yama zu ihm auf, und Harlock tat es fast weh, den Kopf zu schütteln. Yama wollte ihn gern bei sich haben. Wenn dies ein Teil seiner Welt war, dann wollte er sie mit Harlock teilen … Dennoch wies Harlock ihn ab. „Ich werde auf der Arcadia bleiben.“ In Yamas Gesicht erlosch das Licht. „Aber warum?“ „Ich habe noch etwas anderes zu tun.“ Fiel ihm denn wirklich keine bessere Lüge ein? Warum ließ seine übliche Wortgewandtheit ihn dermaßen im Stich, wenn es darum ging, Yama traurig zu machen? „Oh … Gut. Dann sehen wir uns später. Kei?“ „Allzeit bereit.“ Sie tätschelte die Waffe im Holster an ihrer Hüfte. „Wir prüfen erst mal, ob alles sicher ist, dann können die anderen ja nachkommen.“ Als sie gingen, verbarg Harlock vor den Zurückgebliebenen, wie unglücklich er mit seiner Entscheidung war. Doch er konnte es sich nicht ansehen. Es war einfach zu früh. Er war noch nicht so weit. „Bald“, murmelte er. Dann half er Miime, Yattaran und Maji bei der Überprüfung des Dunkle-Materie-Antriebs. *** „Was hältst du von Landurlaub für die Crew?“, fragte Kei. Yama hatte sie lange nicht so aufgekratzt gesehen. „Ich weiß nicht. Vielleicht.“ Unter dem Schutz des Kraftfeldes gingen sie auf das Hangargebäude zu, hinter dem ein noch viel größeres Bauwerk aufragte. Dies musste der hiesige Außensitz der Gaia Sanction sein, und sicher lebten hier auch die Arbeiter. Die Luft war kühl und schmeckte sauber und etwas salzig, das Licht einer fernen Sonne fiel wie durch einen milchigen Filter. Aus dem Hangar trat ihnen Lt. Salvador persönlich entgegen, gefolgt von zwei seiner Soldaten. Alle drei trugen die Uniformen der Gaia-Flotte, mit ihrem Symbol auf der Brust und den Rangabzeichen auf den Schultern. Dennoch wirkten sie weniger adrett als etwa Isoras Leute; Salvadors Uniform hatte Knitterfalten, seine Hose sah verwaschen aus und sein Haar etwas ungekämmt, vielleicht eine Begleiterscheinung der ständigen Stürme auf dieser Ebene. „Nun“, sagte er. „Ich hoffe, die Landung gestaltete sich dann doch noch einigermaßen angenehm.“ Er hob eine Braue in Richtung Kei. „Ich würde wirklich allzu gern wissen, wie Captain Harlock das Wissen, das Sie hierher geführt hat, erlangen konnte. Warum ist er eigentlich nicht selbst hier?“ Yama hatte keine Lust, sich auf diese Unterhaltung einzulassen. Kei neben ihm war hibbelig wie ein Kind vor der Bescherung an Weihnachten. Ihr Blick glitt ständig umher, in der Hoffnung, einen Blick auf die Plantagen zu erhaschen, doch von hier aus waren sie nicht zu sehen. „Ich wiederhole gern, dass wir keine feindlichen Absichten haben. Mein Wissenschaftsoffizier möchte die Plantagen besichtigen. Und ich möchte mit dem Chefbotaniker sprechen.“ Der Lieutenant und er musterten einander einen Moment lang, auch die Plasmapistolen am Gürtel des jeweils anderen. Salvadors Männer trugen ebenfalls die Standardbewaffnung der Flotte, das machte drei gegen zwei, und kurz kam Yama der Gedanke, dass es unklug gewesen sein mochte, mit Kei allein zu gehen – ein, zwei Männer mehr hätten auch nicht geschadet. Doch augenscheinlich hatte auch Salvador keine Lust darauf, sich mit dem Rest einer berühmten ruchlosen Piratenbande anzulegen. Er nickte knapp. „Folgen Sie mir.“ Sie gingen durch den offenen Hangar hindurch an den beiden geparkten Schiffen vorbei und traten am anderen Ende wieder ins Freie, wo ein Steinpfad zum Hauptgebäude führte. Ein interaktiver Lageplan im Eingangsbereich wies die Ankommenden auf die Einrichtungen hin, die hier untergebracht waren, bereit, zu jeder davon den Weg zu weisen. Yama las Baracken, Labore, Küchen, Kommandozentrale, Tagungshalle, Versorgungsräume und anderes, das er nur noch mit dem Blick streifte. „Zu den Plantagen geht es – …“, setzte der Lieutenant an, doch Kei hatte sich bereits vor dem Lageplan postiert und tippte darauf herum. „Ich finde selbst hin, danke.“ Salvador musterte sie despektierlich. „Wenn Sie alles sehen wollen, werden Sie sich ein paar Tage Zeit nehmen müssen.“ Yama hielt sie sanft auf. „Kei, warte noch. Lass uns zusammenbleiben, bis ich mit den Botanikern sprechen kann.“ Beim Gedanken daran klopfte sein Herz schneller. Dies hier war … ein Stück der heilen Welt seiner Kindheit. Auch wenn er nie selbst hier gewesen war, hatte seine Mutter früher viel von der Arbeit in den Laboren und Treibhäusern berichtet. Vieles von dem, was sie erzählt und in ihren eigenen Gewächshäusern empirisch überprüft hatte, hatte in Yama den Wunsch geweckt, ihr in der Berufswahl nachzueifern. „Unser Chefbotaniker, wie Sie ihn nennen, trägt leider keinen Peilsender, also kann ich Ihnen nicht sagen, wo auf diesem riesigen Gelände Sie ihn gerade finden“, informierte ihn Lt. Salvador mit bemühter Geduld. „Mein Vorschlag ist, dass Sie beide sich beim Übergang zu den Plantagen einfinden und ich unseren Mann anfunke und zu Ihnen schicke.“ Das klang akzeptabel. Yama rechnete nicht mit einem Hinterhalt; die Plantagen waren heilig, und ein Feuergefecht würde dort niemals riskiert werden. Mit einer ungeduldigen Kei im Schlepptau machte er sich auf den Weg, den der Lageplan mit blinkenden Pfeilen vorgab, außen um das Hauptgebäude herum, während der Lieutenant mit hinter dem Rücken verschränkten Händen in selbigem verschwand. Er trug nicht mal ein Funkgerät bei sich. „Kommt es mir nur so vor, oder sind die hier wirklich mies ausgerüstet?“, raunte Kei ihm zu, während sie gingen. Yama drängte sich dieser Gedanke ebenfalls auf. Vielleicht gab es Gründe dafür, warum dieser Außenposten der Gaia-Flotte ihnen nur so halbherzig Widerstand leistete. *** „Es gibt keine messbaren Interferenzen zwischen dem Kraftfeld und der Dunklen Materie.“ Harlock ließ den Blick fragend über das Innere des Zentralcomputerraums schweifen. „Was hat Yama und Miime dann solche Schmerzen zugefügt?“ Zusammen mit Miime und Yattaran hatte er alle Tests durchlaufen lassen, die zur Verfügung standen, und Yattaran hatte das Lande-Kraftfeld des Planeten sogar simulieren können – ohne Ergebnis. Die Dunkle Materie folgte ihren eigenen physikalischen Gesetzen und entzog sich oft einer Analyse. Tochiro drückte seine Ratlosigkeit aus. Ich Versuch gemacht. Ursache finden. Sensor nicht Entdeckung … Unwissen. Auch wenn er nicht wirklich zu ihm sprach, wusste Harlock das Zusammenspiel aus Lichtern, Tönen und Geräuschen zu deuten; es war ein Code, den sie über Jahrzehnte verfeinert hatten. Harlock konnte Tochiros Kommunikationssignale ebenso verstehen, wie er bei Menschen die Kombination aus Worten, Gestik und Mimik verstand. „So lange ich keine harmlose Ursache finde, gehe ich von einem Sabotageversuch aus.“ Achtgeben. Ich. So gut wie möglich. „Hoffentlich genügt das.“ Warum nicht gehen Ansehen Plantage. Du. Wegen Sorge? Hinterhalt? Tochiro kannte ihn zu gut. „Falls etwas passiert, muss jemand hier sein, der einen kühlen Kopf bewahrt“, behauptete er dennoch. Nicht ertragen. Du. Recht? „Ich werde später nachkommen. Wenn Yama und Kei berichten, dass es sicher ist, kann die Crew sich ein wenig ausruhen. Sie haben viel hinter sich.“ Gut. Ablenkung. Wirklich. Harlock fuhr sich mit der Hand durch das Haar. „Warum habe ich Yama überhaupt gehen lassen? Ein Captain gehört auf die Brücke.“ Entscheiden allein. Was tun. Und dann: Deine Schuld. Frage? Du. Nicht hier. Wegen Reden darüber. Sondern anderes. Ich spüre. Er seufzte resigniert. „Na schön. Ich muss …“ Jetzt kam der schwere Teil. Doch Tochiro hatte Recht, deswegen war er hier. „… beichten.“ Achso. Tochiro kicherte, ein Flackern, das zu deuten Harlock damals absurd viel Zeit gekostet hatte. Ich glaube nicht. Du. Beichten nötig. „Doch, alter Freund. Du siehst vieles, aber nicht alles.“ Er schloss das Auge, um sich die Überwindung zu erleichtern. „Yama …“ Passend. Gut zusammen. Ihr. Harlock erstarrte innerlich. Ich sehe nicht alles. Aber. Du. Ihn ansehen. Deutung nicht schwer. „Du meinst …“ Sollte er wirklich dermaßen leicht zu durchschauen sein? Selbst für Tochiro, der ihn mehr als ein Leben lang kannte, war er doch nicht so ein offenes Buch … Harlock. Die Lichter wurden etwas dunkler, das grelle Leuchten des roten Rings weicher. Ich sage oft. Du. Schonung mich. Lange genug. Pause. Was damals. Wir. Nicht Wiederholung möglich. Nicht jetzt. Zeit umkehren. Nicht möglich. Aber. Vorangehen. Möglich. Pause. Ewigkeit. Ich sehe. Du. Leid. Nun wurde das Licht warm, beinahe zärtlich; Tochiros Art einer Umarmung. Ich überglücklich. Du. Liebe. Endlich. Jemand. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf Harlocks Zunge aus. Er schluckte dagegen an. „Lieben … Ich weiß nicht, ob es das ist. Es ist so lange her … Ich weiß nicht mehr, wie sich Lieben anfühlt.“ Blödsinn. Ein spöttisches Aufgrellen des roten Auges. Behauptung. Du. Nur körperlich. Frage? Wahrscheinlich denken. Du. Nur Dunkle Materie. Schuld. „Nein.“ Die Antwort tat sich ganz klar auf. „Nein. Das Körperliche könnte ich ignorieren, das konnte ich immer. Es gab so viele Gelegenheiten, Frauen, Männer … Nein. Bei Yama ist es mehr. Seine Entschlossenheit, wenn er glaubt, das Richtige zu tun … seine Unsicherheit, wenn er ahnt, dass er es nicht tut … seine Hoffnung, dass am Ende alles gut sein wird.“ Harlock schüttelte den Kopf. Er verstand es selbst nicht. „Und vor allem, dass er immer alles richtig machen will, selbst wenn er gerade alles falsch gemacht hat.“ Tochiro kicherte wieder. Dasselbe Flackern, begleitet von einem metallischen Geräusch. „Er ist so naiv, so vertrauensselig, so impulsiv … aber dennoch ist er klug … neugierig, und lernfähig …“ Ich froh. Klärung das. Jetzt. Zu ihm gehen. Du. Rätsel lösen. Früchte Erde. Pause. Dann schnappen. Den Kleinen. Nicht mehr loslassen. Harlock lehnte seine Wange an den kühlen Stamm aus Metall und Glasfaser. „Mein Freund. Das ist alles nicht leicht für mich.“ Ich bin hier. Harlock. Ich bin bei dir. Immer. „Ich weiß.“ *** Sie warteten bei einer Obstplantage unter dem Energiefeld, das die Stürme fernhielt. Kirschbäume standen hier nahe den pavillonähnlichen Bauten, die die Labore und Treibhäuser beherbergten. Reihe an Reihe standen die Bäume, gerade weit genug auseinander, dass ihre Zweige sich nicht berührten. Die hinteren Reihen schienen Früchte zu tragen, die vorderen standen in Blüte. Yama bestaunte sie voller Faszination. Er hatte noch nie echte Kirschblüten gesehen, nur Bilder, Hologramme oder Repliken zur Dekoration. Kei hatte sich längst getrollt; sie war nicht mehr aufzuhalten gewesen, als die Plantagen tatsächlich in Sicht kamen. Yama sah sie zwischen den Bäumen umherspazieren, an Blüten riechen und Blätter befühlen. Zu Yamas Überraschung standen die Bäume nicht in künstlichem Substrat, was er erwartet hatte; eine Deckschicht aus Kolonkit hätte ihre Pflege vereinfacht und die Wasserversorgung sichergestellt. Aber nein, diese Pflanzen steckten in reiner Erde, bis über die Wurzeln. Erde, deren Geheimnis Yama kennen wollte. Schließlich erklang hinter ihm das Geräusch der sich automatisch öffnenden Tür zum Forschungstrakt. Yama drehte sich um, bereit, einen zweifellos sehr widerwilligen Wissenschaftler aus den Reihen der Gaia Sanction davon zu überzeugen, dass er nur die besten Absichten hatte. Er hatte sich zurechtgelegt, was er sagen wollte: dass es um die Wiederbelebung der Erde ging, dass es Anzeichen dafür gab, dass dies möglich war, und sie unbedingt zusammenarbeiten mussten, wenn die Menschheit eine Zukunft haben wollte. Es musste einfach funktionieren; die Wissenschaft war eine eigene Welt, die sich ungern von politischen Belangen beeinflussen ließ, und vernünftige Menschen konnten auf Augenhöhe miteinander sprechen. Als der Mann aus der Tür ins milchige Licht trat, erstarrte Yama mitten in der Bewegung. Er hatte zuerst grüßen und das Gespräch freundlich eröffnen wollen, doch nun versagte ihm die Stimme. Gaias Chefbotaniker war ein älterer untersetzter Mann mit kreisrunder Brille und fast kahlem Schädel, der ein adrettes Jackett aus grauer Schurwolle mit dunklen Manschettenknöpfen trug. Seine Gesichtszüge entgleisten in demselben Maße, wie Yama es an sich selbst fühlen konnte, und er blieb abrupt stehen; dann sagte er ungläubig: „… Yama?“ Und Yama konnte nichts Schlagfertigeres erwidern als: „… Professor?“ Kapitel 6: Erkenntnisse ----------------------- Sie gingen am Rand der Plantagen entlang, bis Kirschen in Aprikosen übergingen. Am anderen Ende, auf das sie zuhielten, markierte eine hohe Reihe einheimischer Bäume den Übergang der sturmumtosten Ebene in eine ruhigere Landzone. „… Und das ist alles“, schloss Yama. „Es sind viele Dinge passiert, die außerhalb meiner Kontrolle waren, aber ich denke, so ist es jetzt … irgendwie richtig.“ Professor Calli nickte gedankenversunken. „Es klingt beinahe schicksalhaft“, sagte er mit seiner warmen, freundlichen Stimme. „Ich habe immer noch das Bild vor Augen, wie du dem gesamten Universum diese Blume zeigst und behauptest, dass es Hoffnung gibt. Ich habe nicht erwartet, dich je wiederzusehen, nicht nach diesem Affront gegen die Gaia Sanction.“ Er lächelte milde. „Und jetzt bist du hier, auf Garfudias, wie damals deine Mutter. Ich hätte mir denken können, dass du dich erinnerst, wo du suchen musst.“ Er war sichtlich älter geworden, fand Yama. Seit er in seinen Vorlesungen gesessen und eifrig Notizen zur Biodiversität der Erdenpflanzen gemacht hatte, war eine lange Zeit vergangen, die Spuren hinterlassen hatte. Calli sah das offenbar auch so. Fast schüchtern deutete er auf Yamas Augenklappe. „Die trägst du doch aber nur zur Zier, oder? Weil du jetzt ein Pirat bist?“ „Nein.“ Yama hob die Augenklappe an, um Calli zu zeigen, was sich darunter befand. Allzu schlimm war der Anblick nicht: Der Ausläufer der Narbe, die quer über seinen Nasenrücken verlief, endete am Rand des Auges in leicht narbiger Haut, doch das Auge selbst sah intakt aus, bis auf die versengten Wimpern und die trüb gewordene Linse. „Du bist tatsächlich halb blind“, erkannte Calli betroffen. „Ja.“ „Diesen Feind hast du hoffentlich dafür niedergestreckt.“ Yama seufzte. „Man könnte es so sagen.“ Sie erreichten das Ende der Plantagenreihen und bogen nach rechts ab, an der Reihe der hohen, blau berindeten Bäume entlang. „Sind das Seidenholzbäume?“, fragte Yama. Auch diese kannte er nur von Projektionen. „Allerdings. Ist noch nicht lange her, dass du selbst eine Uniform aus Seidenholzfaser getragen hast, nicht wahr?“ Die schimmernden Äste der Bäume standen fast waagerecht vom Stamm ab. Auf ihnen räkelten sich Buschkatzen, eine einheimische Spezies. Sie waren kaum größer als eine Männerfaust und in Braun, Schwarz und Weiß gemustert. Ihre wuscheligen Schwänze hingen senkrecht herab, ihre blauen Augen mit den runden Pupillen blinzelten träge, als die Männer vorübergingen. „Die Buschkatzen sind äußerst liebenswert“, sagte Calli. „Möchtest du nicht eine, Yama? Sie sind gute Begleiter auf Schiffen, halten das Ungeziefer in Schach. Außerdem braucht jeder gute Kapitän ein Tier auf seinem Schiff, das bringt Glück.“ „Ich weiß. Ich habe einen Vogel auf der Arcadia.“ Yama wollte nicht unnötig Zeit verlieren, so sehr er auch das Wiedersehen mit seinem Professor genoss. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. „Professor, es gibt etwas, das ich wissen muss“, begann er. „Vielleicht ist es eine dumme Frage.“ „Du hast nie dumme Fragen gestellt, Yama. Unbedarfte vielleicht, aber keine dummen.“ „Und zwar … Dass alle Rosaceae nur auf der Erde wachsen können, das stimmt doch … oder?“ „Ja“, antwortete Calli aufmerksam. „Das ist nichts, was die Gaia Sanction sich ausgedacht hat, um sich das Monopol zu sichern. Auch wenn sie das natürlich trotzdem getan haben.“ „Aber wir sind hier nicht auf der Erde, wir sind auf Garfudias. Trotzdem wachsen hier die Erdenfrüchte, und Gaia macht ein Vermögen damit. Wie ist das möglich?“ Der Professor sah ihn an und zog fragend die Brauen hoch. „Du weißt es wirklich nicht?“ „Nein.“ „Ich dachte, deine Mutter hätte es dir gesagt.“ Er wies in Richtung der endlosen Reihen von Sträuchern, die sie gerade passierten. Reife Himbeeren hingen schwer daran. „Diese Erde, in der all diese Pflanzen stehen, stammt von unserer Heimatwelt.“ Yama zog die Stirn kraus. „Was? Das Substrat ist … Mutterboden von der Erde?“ „Aber ja. Wie sonst sollte hier etwas wachsen, das auf anderen Planeten nicht kultivierbar ist?“ Ein Lächeln zupfte an den Lippen des Mannes. „Aber wie kann das sein? Die Erde, sie ist doch …“ „Erst seit etwas über hundert Jahren. Bevor Captain Harlock die Erde steril machte, war sie lediglich tabu, aber intakt. Du weißt inzwischen, dass die Gaia Sanction ihr eigenes Gebot, nämlich die Erde nicht zu betreten, häufig selbst gebrochen hat. Unter anderem, um Mutterboden für jene Pflanzenfamilie abzutransportieren, die auf anderen Welten einfach nicht gedeihen wollte. Weißt du, das Geheimnis unserer Erde ist ihre Zusammensetzung. Sehr variabel auf dem ganzen Planeten, aber voller Leben, so klein, dass man es mit bloßem Auge nicht sieht. Es war nicht nötig, den Planeten selbst als ständige Quelle für Mutterboden anzuzapfen, da das Leben im Boden sich selbst erhält. Ich bin sicher, es könnte sich auch auf anderes, unfruchtbares Substrat ausbreiten. Ich weiß, was du jetzt denkst, Yama … Wenn man dieses Substrat von Garfudias auf die heutige Erde brächte, könnte sich dort vielleicht wieder Leben ansiedeln? Es wäre denkbar.“ „Natürlich!“ Yamas Herz wollte ihm fast aus der Brust springen. „Warum hat das nie jemand versucht?“ „Fragst du mich das wirklich, nachdem du weißt, was Gaia insgeheim als ihre wahren Ziele hochhält? Die Erde wieder fruchtbar werden zu lassen, auch wenn es nur eine Theorie ist und länger dauern würde, als ein Mensch überschauen kann, würde ihnen einen Teil ihrer Macht nehmen. Außerdem könnten sie nicht länger Captain Harlock als Sündenbock hinstellen.“ „Aber die Menschen wussten doch gar nicht, dass die Erde …“ „Aber Gaias eigene Leute wussten es.“ Yama schloss den Mund. Politik war für ihn noch nie leicht zu verstehen gewesen. „Was hast du jetzt vor, Yama?“ „Ich weiß es nicht. Ich muss darüber nachdenken.“ Tatsächlich musste er über gar nichts nachdenken. Erde von der alten Erde, das war des Rätsels Lösung. Das, was von der alten Erde übrig war, konnte die neue Erde wieder in die alte verwandeln. Mit sehr viel Zeit und Mühe … Doch er würde den Anfang machen. „Professor“, fragte er. „Was machen Sie hier? Warum sind Sie nicht mehr an der Universität von Tharsis?“ Callis Lächeln wurde wehmütig. „Du erinnerst dich sicher, dass ich aufgrund meiner Spezialisierung auf irdische Pflanzen an der Fakultät immer ein wenig belächelt wurde. Ich dachte, das wäre vorbei, als die Gaia-Flotte mich bat, hier den Posten als Kopf des Forschungsteams zu übernehmen. Das war vor zwei Jahren.“ Zu der Zeit, als ich die Explosion in Mutters Gewächshaus verursacht habe, dachte Yama. Als Isoras Karriere meinetwegen plötzlich zu Ende war … „Das alles muss nicht so weitergehen, Professor. Ich bin jetzt in der Lage, Dingen nicht mehr nur zuzusehen, sondern sie zu ändern.“ Yama schaute auf die Himbeersträucher, die Zweige schwer unter ihrer Last, und traf eine Entscheidung. „Ich möchte Sie fragen, ob Sie mich begleiten werden. Ich will, dass aus der Erde wieder ein Garten wird, und Sie haben viel mehr Wissen darüber als ich. Bitte werden Sie Teil meiner Crew.“ *** Harlock wartete auf Yama im Salon, um den Bericht zu hören. Er entsprach damit dem von Yama via Com übermittelten Wunsch, mit ihm über die Neuigkeiten zu sprechen. Harlock war dies nur recht, denn auch er hatte vor, den Weg der offenen Kommunikation zu gehen und Yama zu sagen, dass er mehr für ihn empfand, als gut für sie beide war. Es mochte nicht der ideale Zeitpunkt dafür sein, doch ein idealer Zeitpunkt für irgendwas war sowieso eine Illusion. Aus der Küche war ihm zusammen mit dem Tee, um den er gebeten hatte (und den Yama sich ebenfalls gewünscht hatte), auch etwas süßes und salziges Gebäck gebracht worden, das er mehr oder weniger liebevoll auf dem viel zu großen Tisch verteilt hatte. Nun gestaltete sich das Warten schwierig. Wieder einmal erschlug ihn die Einsamkeit, die Stille in seinem Bewusstsein, wo der Rapport mit der Arcadia und Miime einem großen Nichts Platz gemacht hatte. Es half nicht. Er musste sich daran gewöhnen, wieder ein normaler Mensch zu sein. Als Yama endlich atemlos eintraf, hatte er Kei dabei. „Ich schlage vor, der Crew Landurlaub zu gewähren, solange wir hier sind“, sagte sie ohne Umschweife, blickte über den Tisch und nahm sich einen Keks. „Die haben hier massig Ressourcen für nur eine Handvoll Leute. Die Plantagen werden mit High-Tech überwacht und mit Robotern beerntet und gepflegt, es ist der Wahnsinn.“ „Ich bin dafür, aber wir wollten deine Meinung dazu hören, Harlock.“ Yama setzte sich. „Und wozu?“, fragte Harlock, der sich wie ein Unbeteiligter fühlte. „Du scheinst bereits entschieden zu haben.“ Kei entschied sich derweil für einen weiteren Keks. „Die sind da unten ziemlich erleichtert darüber, was für eine wohlerzogene Piratencrew wir sind. Dieser Salvador hat eine gigantische Plünderung erwartet. Dachte, wir würden alles Obst von den Bäumen reißen und keinen Stein auf dem anderen lassen. Stattdessen kommen nur zwei Diplomaten runter und führen vernünftige Gespräche mit ihnen – das stimmt sie kooperativ.“ Und verwirrt, dachte Harlock. „Hast du denn Obst an den Bäumen gelassen?“, fragte Yama, sachte neckend. „Ich habe eine Kirsche genascht. Eine! Ich komme aus gutem Hause, Yama.“ Sie angelte einen dritten Keks von einer entfernt stehenden Platte. Harlock sah den beiden missmutig zu. „Wir sollten nicht zu sorglos sein. Wir mögen weit vom Zentrum der Aktivitäten Gaias entfernt sein, aber wenn wir den Eindruck erwecken, länger bleiben zu wollen, dann suchen sie ganz sicher nach neuen Möglichkeiten, uns hier zu attackieren. Sie werden kommen, Yama, das ist dir doch klar.“ „Ja, natürlich.“ Yama schenkte sich Tee in eine Tasse ein und verschüttete dabei einige Tropfen auf die Tischplatte. Harlocks Blick schärfte sich. „Der Ältestenrat verschanzt sich auf dem Mars, aber die Flotte wird kommen. Sie sind verzweifelt genug, Risiken einzugehen.“ Er wirkte nervös, und erst jetzt sah er Harlock direkt ins Gesicht. „Ich muss mit dir reden.“ „Gut. Ich auch mit dir.“ „Ich verstehe.“ Kei drehte ab Richtung Tür. „Was darf ich verkünden?“ Yama hielt Harlocks Blick, während er antwortete: „Nimm jeden der Männer mit nach Garfudias, der möchte. Schärfe allen ein, dass sie sich benehmen sollen. Dies ist keine feindliche Übernahme. Niemand stiehlt Früchte oder andere Vorräte, niemand vandalisiert die Plantagen, niemand fängt Streit mit der Bodencrew an. Wir wollen respektiert werden. Du führst die Aufsicht.“ „Verstanden.“ Kei ging. Hinter ihr wäre die automatische Tür zugerauscht, hätte sie jemand repariert. „Das klingt, als wären wir auf einer Friedensmission“, murmelte Harlock. „Ich beantworte Gewalt mit Gewalt, wenn nötig, aber ich fange nicht damit an.“ Yama sprach mit fester Stimme, doch die Zeichen der Unruhe waren noch da. „Harlock, ich weiß, warum auf Garfudias Rosengewächse wachsen. Es ist sehr einfach, es hätte auf jedem anderen Planeten funktioniert, und es wird auch auf der Erde, wie sie jetzt ist, funktionieren.“ Damit hatte er Harlocks volle Aufmerksamkeit. „Ich höre.“ „Sie haben einfach Erde von der Erde mitgenommen, bevor du sie zerstört hast. Das ist alles.“ Harlock sagte nichts. „Die Erde ist was Besonderes. Sie überdauert. Sie erholt sich immer wieder. Manchmal braucht sie ein wenig Hilfe. Verstehst du? Wir bringen das Substrat von Garfudias auf die Erde.“ „Das heißt, du wirst die Plantagen stilllegen“, folgerte Harlock. „Oh … Ja, ich schätze schon. Je mehr Mutterboden wir mitnehmen, desto besser.“ „Du weißt selbst, wie viel unsere Frachträume fassen können.“ Yama sah ihn argwöhnisch an. „Ich hatte erwartet, dass du dich freuen würdest.“ „Ich freue mich“, versicherte Harlock, doch sein Versuch zu lächeln missglückte. Yama wirkte nicht überzeugt. „Noch etwas. Der Chefbotaniker auf Garfudias ist mein früherer Mentor von der Universität, Professor Tiro Calli. Ich habe Irdische Botanik bei ihm studiert, er hat mir alles beigebracht, was ich heute weiß, nachdem meine Mutter gestorben war. Wir haben mehrere Forschungsprojekte gemeinsam betreut, bis … du weißt schon. Ich will ihn an Bord nehmen.“ Eine Mitteilung dieser Art hatte Harlock befürchtet. Unwillkürlich legte er die Stirn in Falten. „Du willst einen Forscher im Dienste der Gaia Sanction entführen?“ „Nicht entführen. Ich denke, er wird freiwillig mitkommen.“ „Yama, wie gut kennst du diesen Mann wirklich? Wie weit traust du ihm?“ „Ich kenne ihn schon eine Ewigkeit“, erwiderte Yama trotzig. „Er ist kein Soldat, Harlock, er ist Wissenschaftler, und natürlich will er genauso wie wir, dass die Erde wieder bewohnbar wird. Er ist nur bei Gaia, weil er keine andere Wahl hat.“ „Dennoch, sich einer Crew aus Verbrechern und Rebellen anzuschließen, ist das genaue Gegenteil. Solche Männer sind konfliktscheu, und das sollten sie auch sein, weil sie lebendig am wertvollsten für die Gesellschaft sind. Du kannst nicht erwarten, dass er einem Piratenkapitän loyal sein wird.“ „Harlock. Dieser Mann hat genau das Wissen, das wir brauchen“, insistierte Yama. „Blumen auf der Erde bringen uns nicht weiter, wir brauchen ein ganzes neues Ökosystem! Er kann das, ich nicht. Wir brauchen ihn.“ Es war das, was Harlock an Yama besonders liebte und zugleich besonders fürchtete. Seine Überzeugung. „Ich werde das Risiko eingehen.“ „Dann soll es so sein“, murmelte Harlock. Yamas Ton wurde schneidend. „Als du selbst Captain der Arcadia warst, hast du dir nie Sorgen wegen Gaia gemacht. Warum jetzt? Ich kann auf uns aufpassen.“ „Die Lage ist jetzt anders …“, begann Harlock eine lahme Rechtfertigung. „Ist sie nicht, Harlock. Wir sind anders. Du und ich.“ Yama sah ihn über den Tisch an, jetzt wieder warm und auch etwas besorgt. „Wir fühlen uns beide noch nicht richtig wohl damit, aber deshalb können wir nicht stehen bleiben und abwarten.“ Er schob die Teetasse von sich. „Du, hm, du wolltest mir doch auch was sagen … Was ist es?“ Nichts Wichtiges, dachte Harlock. „Ich habe überlegt, dass ich dich doch begleiten sollte“, log er. Eine sehr spontane Lüge, der er Taten folgen lassen musste. „Ich möchte deinen Professor treffen.“ Es sollte ein Zugeständnis sein, ein Signal der Bereitschaft, sich mit den Dingen, die Yama beschäftigten, vertraut machen zu wollen. Doch er hätte ahnen müssen, dass Yama es missverstand. Dessen Miene verfinsterte sich. „Er ist harmlos, Harlock. Du brauchst ihn nicht zu überprüfen. Ich plane kein Rekrutierungsinterview und schon gar nicht, ihn über Bord zu werfen, wenn er eine Frage falsch beantwortet.“ „Davon war keine Rede“, widersprach Harlock. „Ich möchte nur sehen, welche Art von Mann er ist.“ „Ja, weil du ihm nicht traust“, zischte Yama. „Und wenn du feststellst, dass er dir nicht gefällt?“ Das Gespräch hatte eine unangenehme Wendung genommen. Harlock hatte das genaue Gegenteil bezweckt. „Na schön, wie du willst. Ich sage ihm, dass Captain Harlock ihn erst persönlich unter die Lupe nehmen muss. Er wird sich nicht davor drücken.“ Harlock erwiderte nichts, weil es zwecklos war. Er sah zu, wie Yama die Schultern sinken ließ, noch einmal mit beherrschter Frustration über den gedeckten Tisch blickte und sich schließlich zum Gehen wandte. „Und ich dachte, die Rettung der Erde steht für dich genauso an erster Stelle wie für mich“, murmelte er, ehe er hinausging. Harlock sah ihm noch lange nach. Er fragte sich, wann er endlich lernen würde, dass Halbwahrheiten niemals Sympathien einbrachten. *** Als Yama das nächste Mal Garfudias betrat, war der Stützpunkt wie verwandelt. Überall tummelten sich Crewmitglieder, besichtigten die Einrichtungen, bewunderten die Plantagen, spielten mit den Buschkatzen. Natürlich gab es Reibereien mit den abgestellten Soldaten, aber anscheinend nichts, das Kei nicht regeln konnte. Auch jene ehemaligen Söldner, die die Arcadia verlassen wollten, schienen sich auf dem Planeten wohlzufühlen. Yama fasste den Entschluss, ihnen anzubieten, sie auf den gegenüberliegenden Kontinent Euros überzusetzen, wo die menschliche Kolonie angesiedelt war. Sicher war Garfudias schlecht ans interstellare Verkehrsnetz angebunden und das Leben dort alles andere als spektakulär – doch vielleicht war dies für Männer mit zweifelhafter Vergangenheit, die wegen mehrerer Vergehen auf der Fahndungsliste der Planetenallianz standen, eine reizvolle Option. Hier würde man zu allerletzt nach ihnen suchen. Yama fand Prof. Calli in einem der Gewächshäuser, das Erdenpflanzen zog. Es ähnelte sehr dem, das seine Mutter unterhalten hatte, nur dass der Fokus hier weniger auf Blüh- denn auf Nutzpflanzen lag. Begleitet wurde Yama von Tori, der sich ihm, als er von Bord gehen wollte, mit trägem Flügelschlag angeschlossen hatte. Nun thronte er auf Yamas Schulter und beäugte das Geschehen vom Ende seines überlangen Halses aus. Calli sah von einer Reihe Tomatensprösslingen auf und lächelte. „Ah, ein Prepenti!“, bemerkte er mit Blick auf Yamas Gesellschaft. „Sehr kluge Tiere, und äußerst langlebig. Sie stammen von Pasbucao, nicht wahr?“ „Ich weiß es nicht.“ Yama hatte für das Thema Tiere wenig übrig. „Eigentlich wollte ich Ihnen jemand anders vorstellen.“ „Oh.“ Der Gesichtsausdruck des Professors veränderte sich; er wirkte nun eingeschüchtert und geschmeichelt zugleich. „Ich nehme an –“ „Er hat Bedenken“, sagte Yama schnell. „Nun, da ist er völlig im Recht.“ Wahrscheinlich stimmte das. Yama bezweifelte, dass Harlock sich so einfach überzeugen lassen würde. Er wusste selbst nicht, warum es ihm so wichtig war, dass die beiden Männer sich mochten. „Haben Sie schon über … meinen Vorschlag nachgedacht?“, fragte er. Calli ließ den Blick über seine Pflanzen schweifen. „Nun, Yama, ich muss dir sagen, dass ich keine Kämpfernatur bin. Ehrlich gesagt bin ich sogar ein ziemlicher Feigling.“ Er lächelte traurig. „Meine Besatzung wird Sie beschützen.“ „Sicher. Gib mir noch etwas mehr Bedenkzeit, ja?“ Yama war nervös, als er Calli in die Lounge führte, wo Harlock angeboten hatte zu warten. Aus irgendeinem Grund wollte er die Plantagen nicht aus der Nähe sehen. Würde ein Gespräch der beiden Männer zu irgendetwas führen, oder würde das Misstrauen auf beiden Seiten nur zunehmen? Harlock wirkte an einem der Kaffeetische so deplatziert wie nur möglich. Seine Miene war sorgenvoll, seine Hände ruhten reglos auf der Tischplatte. Yama spürte das kleine Zusammenzucken von Calli, der neben ihm ging. Dennoch nahm der Mann Haltung an und ging direkt auf Harlock zu. Hatte er sich nicht gerade selbst als feige bezeichnet? „Der berühmte Captain Harlock höchstpersönlich“, sagte Calli sanft und neigte den Kopf. Harlock erwiderte den Gruß mit dem Anflug eines Lächelns. „Der berühmte Professor Calli. Yama ist voll des Lobes über Sie.“ Yama räusperte sich. „Ich hole uns was zu trinken. Wünsche?“ Die beiden Männer beachteten ihn nicht. Sie blickten einander über die kaffeefleckige Tischplatte hinweg an, hinter der Calli ebenfalls Platz genommen hatte, Harlock gegenüber. Der ehemalige Captain nahm das Wort. „Yama besteht darauf, dass wir Sie mit zur Erde nehmen. Hat er Ihnen von seinem Plan erzählt?“ Yama öffnete den Mund, um zu verneinen, aber Calli antwortete selbst: „Ich kann mir denken, was er vorhat. Das Substrat von den Plantagen mitzunehmen. Die Gaia Sanction wird das mit allen Mitteln zu verhindern suchen.“ „Wir haben auf einem Schmugglerschiff kistenweise Äpfel vorgefunden. Hat die Gaia Sanction wirklich noch die volle Kontrolle über diesen Ort?“ Darauf gab Calli erst mal keine Antwort. Er wandte den Blick ab, ehe er sagte: „Soweit ich weiß, haben Sie noch nie eins der Schiffe der Gaia-Flotte, die die Früchte von hier wegbringen, überfallen, Harlock.“ „Doch, das habe ich. Einmal. Wir haben die Fracht erbeutet, aber es war die Opfer nicht wert.“ Harlocks Auge flackerte. „Diese Transportschiffe sind wehrhafter als viele Schlachtschiffe der Flotte. Wie also gelangen so viele Äpfel auf ein Schmugglerschiff? Jemand auf diesem Stützpunkt, oder mehrere, nutzen es aus, dass die Gaia Sanction instabil wird … und die Sicherheit der Plantagen dafür vernachlässigt.“ Calli schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ich fürchte, über die genauen Umstände weiß ich nichts. Ich bin nur ein Akteur im Hintergrund. Harlock … Was Yama vorhat, ist äußerst gefährlich.“ „Richtig. Yama ist nicht gut darin, Gefahren einzuschätzen.“ Yama hustete. „Ich sitze neben euch.“ „Aber Yama ist auch äußerst kühn“, fuhr Harlock fort, „wie jeder an Bord der Arcadia. Die Frage ist, ob wir uns auf Sie verlassen können oder ob Sie sich gegen uns stellen werden, sobald die Gefahr zu groß wird.“ „Ich bin kein Freund der radikalen Wege der Gaia Sanction, schon gar nicht, seit ich auf allen Kanälen Yama mit dieser Blume gesehen habe“, behauptete der Professor. „Ich gestehe, dass ich Angst habe. Ich habe Familie, wissen Sie – eine Frau, einen Sohn und zwei Enkel. Ich möchte nicht als Verbrecher auf einem Piratenschiff sterben.“ Er verschränkte die Hände ineinander und betrachtete sie. „Aber ich möchte auch nicht zusehen, wie die offensichtliche Lüge der Gaia Sanction über eine intakte Erde unter den Teppich gekehrt wird. Ich wünschte, es gäbe eine diplomatische Lösung für all das.“ „Das ist unwahrscheinlich“, sagte Harlock ruhig. Yama blickte zwischen den beiden hin und her und kam sich vor wie jemand, der in ein geheimes Spiel nicht eingeweiht war. In diesem Moment beschloss Tori, sich von seiner Schulter abzustoßen und über den Tisch zu Harlock zu gleiten, um auf diesem Platz zu nehmen und stolz das Brustgefieder aufzuplustern. Calli gluckste. „Sagtest du nicht, der Prepenti sei dein Vogel, Yama?“ „Das tut doch gar nichts zur Sache“, beklagte sich Yama. „Ich will nur, dass ihr euch auf unser gemeinsames Ziel verständigt. Stattdessen sprecht ihr über mich, als würdet ihr über die Zukunft von einem Scheidungskind entscheiden.“ Harlocks Miene blieb reglos, aber Callis wurde weich – wie früher, als er als väterlicher Mentor seinen ungestümsten Studenten zu bändigen hatte. „Ich glaube, Yama, dieser Mann möchte dich unbedingt beschützen. Zu zweit wird euch nichts aufhalten, und das soll mir genügen. Wenn du glaubst, ich könnte eine Hilfe sein, dann komme ich mit dir auf dein Piratenschiff.“ Wie zu erwarten fiel Harlocks Urteil nüchterner aus: „Dein Professor scheint ein ehrlicher Mann zu sein – in dem Maße, wie es ihm möglich ist. Aber er hat nicht alle meine Fragen beantwortet. Wenn er dich aufrichtig schätzt, wird er dich nicht zu Schaden kommen lassen. Es ist deine Entscheidung.“ Yama hatte mit genauso einer abwertenden Antwort gerechnet. Harlock versuchte gar nicht erst, sich für Calli zu erwärmen oder ihn zu verstehen. Er würde niemandem, der für Gaia arbeitete, einen Vertrauensvorschuss geben. Aber das war sein Problem. „Wie du meinst“, sagte Yama steif. Er fühlte sich müde von der abgefallenen Anspannung, und das allein vom Zusehen. „Wir verlassen Garfudias in drei Tagen. Bis dahin organisieren wir die Räumung des Stützpunktes und fliegen die hier stationierten Männer nach Euros. Das Obst … Wir werden es aufteilen.“ So viele Gedanken, die er sich noch machen musste, so vieles, das es zu planen gab … Reichten drei Tage überhaupt dafür? „In den Frachträumen müssen wir Platz für die Erde schaffen. Und für die Crewmitglieder, die uns verlassen, vielleicht möchten –“ „Yama.“ Harlock schob seine Hand über den Tisch und berührte sacht die von Yama. Tori auf seiner Schulter krächzte: „Yamayamayama, ääähk.“ „Nein, ich habe nichts vergessen“, nahm Yama die Frage vorweg. Ich DARF nichts vergessen. „Du hast eine feindliche Übernahme ausgeschlossen“, erinnerte ihn Harlock. „Aber genau das wird es jetzt werden.“ Er warf einen kühlen Blick hinüber zu Professor Calli, und Yamas Mentor schaute nicht zurück. „Reichen dir hundertzwanzig Kubikmeter für die Erde?“, fragte Kei. „Sonst kann ich noch mehr frei machen.“ „Stell so viel zur Verfügung wie möglich. Du weißt, wie groß die Plantagen sind.“ Yama hatte Harlock heute noch nicht gesehen und befürchtete, dass dessen Frühstück aus Rotem Bourbon bestanden hatte. Harlocks Laune schien immer schlechter zu werden, seit sie auf Garfudias waren, vor allem seit dem Gespräch mit Prof. Calli. Aber gut, sollte er doch schmollen. „Ähem. Was ist mit den Früchten?“ „Wir nehmen die Hälfte“, antwortete Yama, „und die andere geben wir denen mit, die sie erwirtschaftet haben.“ Er hatte wieder nicht besonders gut geschlafen. Seinen gefassten Entschluss in die Tat umzusetzen erforderte eine Menge Organisation. Gute Organisation. Nach seiner selbst gesetzten Frist hatte er noch einen Tag Zeit – und ein Tag auf Garfudias hatte nur 21,72 Stunden. „Klingt fair.“ Kei schlenderte weiter voran Richtung Hangardeck. „Ich habe schon einen guten Platz für die heilige Fracht ausgesucht, weil ich nicht glauben wollte, dass du alles weggibst.“ „Wir sind Piraten“, murmelte Yama. „Na endlich kommt das bei dir an. Übrigens habe ich auch mit unseren Ausscheidern gesprochen. Auf Garfudias zu bleiben erscheint ihnen akzeptabel.“ „Gut, dann bringen wir sie nach Euros und …“ Yama legte die Stirn in Falten. „Bezahlen wir unsere Leute?“ Kei drehte sich um und sah ihn groß an. „Hast du so was nie mit dem Captain besprochen? Ja, wir bezahlen unsere Leute. Nicht üppig, aber dafür sind Kost und Logis ja inbegriffen. Was unsere Deserteure betrifft: Wir schließen keine Heuerverträge ab, wie du weißt, also wenn du ihnen was mitgibst, dann aus reiner Nächstenliebe.“ Sie bestiegen das kleine Landeshuttle, und Yama startete die Triebwerke. Heute würde er Salvador und seinen Leuten sagen müssen, was er vorhatte – und sich auf den massiven Widerstand vorbereiten. Er hatte es lange hinausgezögert, denn es bedeutete sehr wahrscheinlich, dass die letzten kampfbereiten Schiffe der Gaia-Flotte sich sofort auf den Weg nach Garfudias machen würden. Vielleicht sogar die ganze Planetenallianz; schließlich suchten alle nach der Arcadia und trachteten ihr nach dem Ende. Während Kei also die Besatzung zusammentrommelte, um die Übernahme zu beginnen und die Plantagenarbeiter zum schnellen Ernten und Verladen der Früchte anzutreiben, ging Yama auf direktem Weg zu Lt. Salvadors Büro. Zwei Wachposten waren vor diesem postiert und dachten nicht daran, ihn einzulassen; doch zu seinem Erstaunen kam der Lieutenant selbst heraus, nachdem er die Diskussion vermutlich bis in sein Zimmer gehört hatte. „Sagen Sie mir hier und jetzt, was Sie wollen“, forderte er Yama auf dem Flur auf. „Werden Sie jetzt das tun, was jeder andere Pirat schon längst getan hätte?“ „Nicht ganz“, korrigierte Yama. Er sah, wie die Hände beider Wachposten über ihren Waffenholstern schwebten. „Und mich zu töten wird es auch nicht ändern. Wir evakuieren diesen Stützpunkt.“ Salvador lachte freudlos. „Also wollen Sie am Ende doch nur die heiligen Früchte. Natürlich. Das, was die Gaia Sanction reich gemacht hat.“ „Ich will nicht die Früchte, ich will die Erde“, zischte Yama. Ebenso gut hätte er sagen können, dass er Pudding und ein Paar Sandalen wollte. Salvador interessierte es gar nicht. „Tja, dann nehmen Sie sie“, antwortete er achselzuckend. „Ich ergebe mich. Was soll ich auch tun? Ich habe immer gesagt, es ist nur eine Frage der Zeit, bis Verbrecher uns hier entdecken, aber es hat niemanden interessiert. Die Besetzung dieses Stützpunktes ist lächerlich dünn. Den Reichtum, den die Plantagen einbringen, nimmt die Gaia Sanction gerne, aber um unsere Sicherheit auf diesem Hinterwäldler-Planeten schert sie sich einen Dreck. Wen interessiert Garfudias? Ein Hologramm wird schon genügen. Schließlich hat es hundert Jahre lang genügt.“ Sein morbides Lachen bescherte Yama eine Gänsehaut. „Nun ist die Arcadia hier, und ich hatte Recht, nicht wahr? Ich kann nicht sagen, dass es mir besonders leid tut.“ Mit einer lässigen Handbewegung veranlasste er die Soldaten, ihre Hände von den Waffen zu nehmen. „Wir ergeben uns kampflos. Gegen eine Piratenbande können wir nicht bestehen, selbst wenn es nur vierzig Mann sind.“ Er streckte Yama die leeren Hände hin. „Wollen Sie mich fesseln?“ Yama wich zurück. „Es passiert niemandem etwas. Alle Anwesenden werden zu den Kolonien nach Euros gebracht. Hier zu bleiben ist sinnlos, weil es hier nichts mehr geben wird, wenn wir weg sind.“ „Da könnten Sie Recht haben“, stimmte Salvador kichernd zu. „Es wird nichts mehr geben.“ Yama führte ihn und die beiden Wachposten ab. Im Grunde wusste er, dass er die Plasmapistole nicht brauchte, doch das Verhalten des kommandierenden Offiziers war ihm unheimlich; also hielt er die Waffe auf den Rücken Salvadors gerichtet, während sie Richtung Hangar gingen. Kapitel 7: Gegenwind -------------------- „Hältst du es für ’ne gute Idee, erst nur die Leute an Bord zu nehmen?“, fragte Yattaran mit hinter der Brille gerunzelter Stirn. „Nach Keis Berechnungen brauchen wir einen Teil des Platzes, den die Menschen einnehmen, später für die Erde“, erklärte sich Yama. „Soso, und wie viel Zeit willst du ihnen geben, um die Erde zusammenzukratzen, bis du sie alle verschleppst?“ „Yattaran, bitte. Stell mich nicht in Frage, sondern hilf mir. Ich brauche deinen klugen Kopf hierfür.“ „Genau den kriegst du doch!“ Yattaran warf die Arme in die Luft. „Die armen Idioten graben ja schon wie die Irren. Wenn wir die Arbeiter weggebracht haben, schaufeln wir deinen kostbaren Modder selber in die Silos, ja?“ „Ja“, sagte Yama ungeduldig. Sie mussten sich beeilen. Seit er Salvador festgenommen hatte, waren schon fast dreizehn Stunden vergangen; es war schwer einzuschätzen, wie lange feindliche Schiffe verschiedener Klassen brauchen würden, um diesen Sektor zu erreichen. Hoffentlich hatte keins von Gaias Kriegsschiffen eine In-Skip-Route für Garfudias programmiert … Aber warum sollten sie? Er atmete tief durch. „Wie weit sind die Ernten?“ „Kann dich beruhigen. An Bord ist schon so viel Obst, wie mit den vielen Passagieren noch reinpasst. Der Rest muss hier bleiben, fürchte ich. Freut sich jemand anders drüber.“ „Oder wir holen es später.“ Yama versuchte sich zu konzentrieren. „Was fehlt noch bis zum Start?“ „Nur ein Captain.“ Yattaran zuckte die Achseln. „Aber ich seh nur einen, der rumläuft wie ein aufgescheuchtes Huhn.“ Zum Teufel mit den dummen Bemerkungen. „Ich gehe ans Ruder“, sagte Yama knapp. Dann ging er an Bord. Es war eng auf dem Hangardeck. Neben den uniformierten Soldaten des Stützpunkts drängten sich dort auch die Plantagenarbeiter, Callis kleines Forscherteam, die Köche, die Hausmeister, die Gärtner und alle anderen, die die Basis unterhalten hatten. Weitere Menschen waren in den Frachträumen versammelt. Yama überlegte fieberhaft, was er vergessen haben könnte, beschloss dann aber, dass sie dadurch nur Zeit verloren. Sie mussten nach Euros und dann schnell wieder zurück, um das Erdensubstrat einzuladen und zu verschwinden. Es war seltsam, die Plantagen desolat zurückzulassen. Vom Steuer aus sah Yama hinunter auf die endlosen Baum- und Strauchreihen, bis sie wieder unter dem Hologramm verschwanden und nur noch eine trostlose Ebene zu sehen war. Vorerst würde keine der wertvollen Nutzpflanzen eingehen; die aufwändige Pflege, die sie hier erfuhren, wurde großteils nicht von Menschen getätigt, sondern von Robotern und Computern. Menschen brauchte die Anlage lediglich zur Beaufsichtigung, für die Wartung der Systeme und für die komplexere Gärtnerarbeit. Ich habe nichts zerstört, sagte er sich. Ich kann wiederkommen. Ich WERDE wiederkommen. „Kurs setzen auf die Euros-Kolonie“, ordnete er an. Ein Flug innerhalb der Atmosphäre beanspruchte den Dunkle-Materie-Antrieb nicht. Somit bestand auch kein Grund, die vielen unfreiwilligen Passagiere mit schwarzen Wolken und Ionenstürmen zu verängstigen. Die Innenarchitektur der Arcadia war verstörend genug. Da Alonso und Cervus im Hangar und in den Frachträumen die Aufsicht führten, hatte Yama die Brücke mit Norrel und Caruso besetzt. Kei und Yattaran waren wie gewohnt auf ihren Posten. Wer fehlte, war Harlock. „Vielleicht haben wir ihn unten vergessen“, witzelte Kei. „Wenn der Captain nicht will, dass man ihn kommen oder gehen sieht, dann sieht man ihn auch nicht.“ Ihre gute Laune verriet, dass sie sich nicht wirklich Sorgen machte. Vermutlich löste der Gedanke, dass Frachtraum 3 voll mit Äpfeln, Kirschen und anderen guten Dingen war, ungewohnte Glücksgefühle in ihr aus. Yama dachte darüber nach, Harlock aufzusuchen – Miime würde ihm sagen können, wo er war –, entschied sich aber dagegen. Erst hatte er seine Mission auszuführen, schließlich leitete er sie. Warum auch immer Harlock sich wieder einmal isolierte, er konnte jetzt keine Rücksicht darauf nehmen. Der Flug verlief ereignislos. Die schön gefärbten Landschaften des Planeten wechselten ein wenig ab, aber großteils waren triste violette Wüsten zu sehen, so salzig, dass selbst die Seidenholzbäume es nicht mochten; der Grund dafür, warum dieser Kontinent nicht für die Kolonisierung geeignet gewesen war. Später glitten sie über ein trübes smaragdfarbenes Meer dahin. Lange gezackte Flossen tauchten hier und dort aus olivgrünen Schaumkronen auf. Die Kolonie auf Euros war nicht unter einem Hologramm verborgen. Sie glitzerte wie ein Perlenband umgeben von blaugrüner Vegetation. Yama zählte drei große Ballungszentren, von denen sie auf dasjenige zuhielten, das der Küste am nächsten war. „Die Stadt heißt Nunes“, informierte ihn Kei, „und sie hat eine Präsidentin. Ungewöhnlich. Ich kann sehr gerne das Reden für dich übernehmen, Captain, wenn du willst.“ „Danke, Kei.“ Yama hatte überhaupt keine Lust darauf, der Regierung beizubringen, dass sie nun ein paar neue Einwohner bekamen. Mit den Einwanderungsformalitäten von Garfudias hatte er sich nicht auch noch befassen können. Allerdings wusste er von anderen Fällen, dass angesichts des Weltensterbens die Migration in andere Kolonien nicht mehr so kompliziert war wie früher einmal. Ja, während Kei die Passagiere einbürgerte, würde er nach Harlock suchen. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht. „Lass dir nicht so viel Zeit“, bat er sie. „Ich hab nicht vor, eine große Show daraus zu machen, dass wir Leute hier lassen“, antwortete Kei, und Yattaran lachte. *** Harlock war nicht betrunken, und er konnte nur hoffen, dass das so blieb. Seltsam – so lange hatte er nun schon keine geistige Verbindung mehr zur Arcadia, und doch hatte er jetzt ein starkes, drängendes, schlechtes Gefühl. Wie eine Intuition. Dabei gab es nichts Bedrohliches zu sehen, wenn man aus den großen Fenstern des Salons schaute. Garfudias bot die üblichen bunten Farben und simplen Formen, wie ein impressionistisches Gemälde. Und wenn Gefahr im Verzug war, was machte er, Harlock, dann hier, anstatt bei Yama auf der Brücke zu sein? Schmollen vielleicht? Unsinn. Über solche infantilen Unmutsbekundungen war er erhaben. „Harlock!“ Yama rief nach ihm. Wie üblich wusste er genau, wo er suchen musste. Da trat er auch schon ein, sein junger Captain. Noch immer trug Yama die Lederjacke, die ihm an seinem ersten Tag auf der Arcadia aus dem Kleidungsfundus zugewiesen worden war, mit dem Totenschädel auf der rechten Brust und auf herrliche Weise seine athletische Figur betonend. Unwahrscheinlich, dass er jemals seinen Kleidungsstil wechseln würde, um ihn Harlocks eigenem anzupassen. Umhänge passten einfach nicht zu Yama. Harlock gestattete sich, den Anblick in vollen Zügen in sich aufzunehmen. „Harlock, was machst du hier?“ Yama legte den Kopf schief. „Starr mich nicht so an. Du benimmst dich immer seltsamer.“ Er konnte Yama unmöglich sagen, dass er Angst hatte. Angst war etwas, das nicht zu ihm gehörte. „Ich habe dir nicht gesagt, warum ich die Plantagen nicht sehen will. Das werde ich noch tun, eines Tages. Es hat nichts mit dir zu tun.“ „Wie beruhigend. Warum machst du es schon wieder – dich verbuddeln? Wolltest du nicht an meiner Seite sein?“ „Ich bin dir im Moment keine Hilfe“, erwiderte Harlock ruhig und sah wieder aus dem Fenster. Ich würde dich nur verrückt machen. Dir ins Steuer greifen. Dich bevormunden. Das, was du am meisten hasst. „Hast du die Männer abgesetzt?“ „Ja. Wir haben sieben Besatzungsmitglieder weniger. Ich habe jedem ein paar Credits mitgegeben.“ Harlock schüttelte den Kopf. „Ein Piratenkapitän, der die Männer bezahlt, die ihm den Rücken kehren.“ „Tut mir leid, Harlock, aber einige Dinge ändern sich nun mal. Ich bin anders als du.“ „Und das ist gut. Du bist gütiger als ich. Was Freundlichkeit betrifft, bin ich verbraucht. Hoffentlich wirst du das in hundert Jahren nicht auch sein.“ Er sah zu, wie die Arcadia wieder abhob und an Höhe gewann. Die Euros-Kolonie schrumpfte zu einem bunt schillernden Reif zusammen. „Yama, ich bin … nicht so zuversichtlich, wie ich gern wäre.“ „Ist mir aufgefallen“, gab Yama ungeduldig zurück. „Könntest du bitte damit aufhören und mir vertrauen? Oder besser noch, mich unterstützen?“ Er kam zwei Schritte näher. Mit Bestürzung stellte Harlock fest, wie stark Yamas Präsenz auf ihn wirkte; obwohl noch mehrere Meter sie trennten, glaubte er, Yamas Wärme zu spüren, seinen Duft zu riechen. Er wusste genau, wie Yama roch. Während des Rituals hatte er die Nase in seinem Haar vergraben und ihn eingeatmet wie berauschende Dünste. Er kannte jeden Zentimeter von Yamas Haut, wusste, wie er schmeckte, welche Geräusche er machte, wenn er erregt war. Er wollte ihn wieder küssen. Er wollte nichts mehr als das. Yama begann, in dem langen Raum auf und ab zu gehen. „Ich glaube, die Art, wie ich die Dinge angehe, gefällt dir nicht, obwohl du das Gegenteil behauptest.“ Harlock wollte protestieren: „Das ist nicht wahr. Ich …“ „Auch Miime glaubt das. Sie kennt dich schon ewig. Harlock, ich kann es nicht rückgängig machen – nicht deine Entscheidung und nicht meine. Wir würden nicht mehr leben, wenn wir uns anders entschieden hätten.“ Und wir hätten keinen Sex gehabt, wenn wir uns anders entschieden hätten, dachte Harlock. Ich hätte dich nicht auf eine Weise kennenlernen müssen, die ich jetzt nicht mehr aus meinem Kopf bekomme. „Ich will mich nicht vor meiner Verantwortung drücken“, sagte Harlock schwerfällig. „Dann tu es auch nicht, und komm auf die Brücke. Wir müssen von Garfudias verschwinden, sobald wir die Erde haben.“ Aber das Ritual, dachte Harlock, ohne es zu wollen. Denkst du manchmal daran? Er konnte die Frage nicht stellen; er sprach nicht über solche Dinge. Es wäre nicht schwer gewesen, den Mund aufzumachen und es herauszulassen, mit Yamas ganzer Aufmerksamkeit auf sich. Doch stattdessen sah er Yama nur an, ohne auf dessen Worte einzugehen. Yama versteifte sich unter dem intensiven Blick, und ein Hauch von Röte kroch über seine Wangen. „Was soll das?“, fragte er mit unsteter Stimme. „Du siehst mich an, als ob du mich verschlingen willst.“ Nicht auf diese Weise, dachte Harlock und wandte den Blick ab. „Es sind nur Gefühle“, brachte er irgendwie hervor. „Vielleicht liegt es an der Dunklen Materie, daran, dass wir … verbunden waren.“ Das war eine ungelenke, aber ehrliche Antwort, ein Schritt in die richtige Richtung. Viel zu anstrengend. Über die Jahrzehnte hatte er sich daran gewöhnt, stoisch zu schweigen, da niemand wirklich hören wollte, was er fühlte. Außer Tochiro vielleicht. Yamas Blick war unverwandt auf ihn gerichtet. „Das könnte sein“, sagte er vorsichtig. „Vor ein paar Tagen haben wir uns geküsst, obwohl …“ Er räusperte sich. „Ich meine, das Ritual ist eine Weile her, aber vielleicht dauert es länger, bis sich die Bindung ganz auflöst.“ Warum muss sie sich überhaupt auflösen? Wer sagt, dass das so sein muss? „Das ist auch in Ordnung“, fuhr Yama fort. „Ich habe nichts dagegen, dich zu küssen. Es ist ja nicht … nicht unangenehm.“ Die zarte Röte stand ihm gut, ließ ihn lebendiger aussehen. Harlocks Kehle war trocken. „Aber erst mal will ich Erde auf die Erde schaffen. Und dann will ich nach Hause gehen.“ Endlich überbrückte Yama die letzten Meter zwischen ihnen und blieb unmittelbar vor Harlock stehen. „Lass uns das gemeinsam tun, bitte.“ Harlocks Hirn hatte Mühe, seine Gedanken zusammenzuhalten. Er wollte alles sagen, was Yama hören wollte. Nur wo sollte er anfangen? In die unangenehme Stille schnitt plötzlich Keis Stimme über die Com-Verbindung: „An alle, gleich tritt Phase zwei in Kraft. Alle bereitmachen zum Verladen der Erde nach dem besprochenen Schema. Captain, wir gehen in den Landeanflug über.“ Es war so weit. Gleichzeitig schauten Yama und Harlock aus dem Fenster, wo das Hologramm sich langsam auflöste und die weiten Felder mit Rosengewächsen freigab. „Kommst du jetzt mit oder nicht?“, fragte Yama eindringlich. Harlock mochte seine Kommandostimme. Wenn Yama etwas wollte, konnte er so überzeugend sein … „Die Gelegenheit wird sich so bald nicht wieder ergeben“, stellte er fest. „Gehen wir.“ *** Die riesigen Ladeluken öffneten sich geräuschlos. Yamas Männer stürmten hinaus, als würde ein All-you-can-eat-Buffet auf sie warten. Irgendwie musste er es geschafft haben, sie von seinem Vorhaben zu überzeugen. Vor der Evakuierung hatte Kei angeordnet, dass die Gärtner und Arbeiter all ihre Schaufeln und Gerätschaften zum Bewegen der Erde am Eingang sammelten. Alle leeren Silos in den Frachträumen warteten darauf, den kostbaren Mutterboden (oder den ‚heiligen Dreck‘, in Yattarans Worten) für die Reise aufzunehmen. Nun glich dieses gut geplante Unterfangen einem schwer zu koordinierenden Chaos. Yama schlängelte sich, Zurechtweisungen in alle Richtungen schreiend, durch das emsige Gewusel, das sich auf die Plantagen stürzte. Er musste Calli finden; sie hatten verabredet, dass er letzte Einstellungen an den Automatismen der Plantagen vornahm und zudem alles zusammenpackte, was er für ihr gemeinsames Projekt auf der Erde brauchen würde. Jetzt war die Zeit gekommen, ihn an Bord zu nehmen. Yama fand den Mann im Korridor zu den Laboratorien. Calli kam mit schweren Schritten auf ihn zu, hinter ihm ein muskulöser Mann mit unordentlichem Haar, das an den Schläfen ergraute, der den großen, gepflegten Lederkoffer des Professors auf einer Hoverplatte zog. „Yama“, seufzte Calli, „ich bin bereit.“ Sein Gesicht sah irgendwie grau aus, als hätte er wenig Schlaf gefunden. „Das hier ist mein Gehilfe, Bouko. Er darf doch mit an Bord?“ „Natürlich“, antwortete Yama. Er wollte keine Zeit verlieren. „Aber wir müssen uns beeilen.“ „Schon in Ordnung.“ Bouko nickte ihm zu. „Der Professor und ich haben alles beisammen, was benötigt wird.“ „Du bist was, Laborassistent?“, fragte Yama, während er die Führung übernahm und schnellen Schrittes voranging. „Yep, und auch alles Praktische wie Einsetzen, Beschneiden, Fällen, wo die Maschinen mal versagen. Stets zu Diensten, Captain.“ „Sehr gut.“ Bis zum Ziel ihrer Mission war eine zusätzliche Hand an Bord nicht schlecht, dachte Yama. Nur noch sechs Mann weniger, nicht sieben. Bouko sah kräftig aus, ließ sich sicher in die eine oder andere Fleißarbeit einbinden. Die Arcadia kam in Sicht. Callis Blick klebte voller Unbehagen am furchterregenden Rammbock an der Bugspitze, ehe sie das Schiff umrundeten und sich der offen stehenden Hangarluke näherten. Noch waren alle übrigen Helfer emsig damit beschäftigt, die Erde in stapelbare Gefäße umzufüllen. Mutterboden konnte nicht in allen Materialien transportiert werden, schließlich war er lebendig und atmete. „Ich packe mit an, sobald ich die Ausrüstung des Professors verstaut habe“, kündigte Bouko an. „Nur zu. Hier lang.“ Yama führte ihn an Bord, und Calli schlich sichtlich eingeschüchtert hinter ihnen her. Das Schiff schluckte sie wie ein riesiges dunkles Maul aus schwarzem Metall. Kei stand am Eingang zu den Frachträumen, bereit, ihre Leute anzuweisen. Sie nickte ihnen zu. An ihnen vorbei eilte Caruso, sein tätowierter Stiernacken glänzte von Schweiß. Yama sah über die Schulter in Callis blasses Gesicht. „Das sind meine Leute, und ich würde jedem von ihnen mein Leben anvertrauen“, betonte er. Sein früherer Mentor nickte nur. Bouko wirkte recht unbeeindruckt. In diesem Moment stürmte Yattaran von draußen herein. „Kei!“ Sie lief ihm entgegen; der Erste Maat stoppte und entdeckte Yama. „Captain, wir haben ein Problem!“ „Was für ein Problem?“, riefen Yama und Kei gleichzeitig. „Ein Schiff hat direkt über den Plantagen materialisiert! Ein verdammtes Schlachtschiff, Skyraider-Klasse!“ Yama gefror das Blut in den Adern. Die Okeanos war ein Skyraider-Schiff gewesen. Das konnte nur bedeuten … „Sie haben ein neues Flaggschiff“, brachte er tonlos hervor. Obwohl sein Herz galoppierte, waren seine Fingerspitzen plötzlich eiskalt. „Sie sind hier, und … Sie müssen verfolgt haben, wie wir nach Euros geflogen sind …“ Warum kommen sie so früh? „Yama, am Boden können wir uns nicht verteidigen!“, rief Kei. „Wir müssen sofort starten!“ „Ich habe Harlock bei den Plantagen gelassen. Er wollte sie nicht sehen, aber vorhin …“ Sein Mund schmeckte nach Galle. Kurzentschlossen schob er Calli und Bouko in Keis Richtung. „Bringt euch in Sicherheit. Bereitet alles für den Start vor. Schießt nicht, bevor sie es tun. Sobald wir an Bord sind, heben wir sofort ab.“ Alles andere war sowieso unmöglich – ohne sein Zutun konnte die Arcadia nicht starten. Yama stürzte wieder nach draußen, wo seine Männer alles fallen gelassen hatten und in die Deckung ihres Schiffes flüchteten. Die Geschütztürme der Arcadia rotierten mit bedrohlichem Rattern, richteten sich auf den Feind aus. Yama sah nach oben; dort hing es, das Schiff, tief in der Atmosphäre. Das Schwesternschiff der Okeanos, die Astraios. Wer war der Kommandeur? Er erinnerte sich nicht. Irgendjemand, den er nicht kannte. So schnell ihn seine Beine trugen, stürmte er geradewegs zu den Plantagen zurück. Sie waren riesig. Wie weit war Harlock in das Gelände hineingegangen? Zweifellos hatte er gesehen, was los war – entweder war er auf dem Rückweg oder er hatte irgendwo Deckung gesucht. Hinter ihm krachte eine Plasmasalve in die Arcadia. Fast trotzig warfen ihre Dunkle-Materie-Schilde einen Teil der energetischen Ladung zurück. Yamas Ohren waren schon jetzt taub. Er rannte in das Gebäude, um den Weg abzukürzen. Um eine Biegung herum kam ihm wild kreischend Tori entgegen und streifte ihn mit den Krallen. Yama riss die Arme über den Kopf und wehrte ihn ab, doch der Vogel flog einen Bogen und stieß wieder auf ihn zu. Falsche Richtung, erkannte Yama. Harlock hatte ihm gesagt, dass Tori ziemlich deutlich kommunizieren konnte, wenn er wollte, und tatsächlich fühlte es sich jetzt in Yamas Kopf an, als spräche der Prepenti mit drängender Stimme zu ihm. Hier lang, mir nach! Yama folgte ihm. Tori flog nicht zum Ausgang, der zu den geplünderten Plantagen führte, sondern Richtung Labor. In diesem Trakt, der kühler und steriler war als alle anderen, hielt er auf einen Raum zu, der die Aufschrift ARCHIV trug. Yama fragte sich, was Harlock dort suchte, und rannte auf die Tür zu, bereit, sie aufzustoßen. Harlock kam ihm um eine Sekunde zuvor und zog sie auf; Yama rammte die Hacken in die Fliesen und stolperte ihm ungelenk in die Arme. „Yama.“ „Harlock, was machst –“ „Ich wollte die Gelegenheit nutzen, aber es scheint, unsere Zeit ist abgelaufen.“ Harlock ergriff Yama am Handgelenk und zog ihn zurück in den Korridor. Tori flatterte wieder schrill krächzend voraus. Der Lärm eines Einschlags ganz in der Nähe zerriss ihnen beinahe das Trommelfell. Yama warf den Kopf herum; das war die Richtung, in der die Plantagen lagen … „Sie werden doch nicht …“, stieß er atemlos hervor. „Doch, ich denke, sie werden.“ Harlock hielt an, um sich umzusehen. Tori landete auf seiner Schulter und hielt endlich den Schnabel. „Ich bin nicht sicher, was ihr Ziel ist … wir oder –“ Die nächste Salve krachte in den angrenzenden Trakt, und die Druckwelle riss sie beide von den Füßen. Trümmer polterten in den kreuzenden Korridor und verwandelten ihn in eine Sackgasse. Harlock zerrte Yama hoch und schlug einen anderen Weg ein. „Hier lang. Dieser Weg ist sicher.“ Er wirkte nicht im Mindesten agitiert, jedenfalls nicht nach außen. Yama beneidete ihn um diese Fähigkeit. Wieder ein Krachen, und wieder in die Plantagen. Yamas Herz schmerzte bei jedem Einschlag. „Die Pflanzen … unsere Erde …!“ „Vermutlich ist genau das ihr Plan.“ Yama wurde klar, dass das stimmte. Die Astraios beschoss nicht nur die Arcadia, die sich vom Boden aus kaum wehren konnte; sie beschoss auch die Plantagen, weil sie wussten, was Yama vorhatte. Sie wollten nicht, dass er mit dem Mutterboden davonkam. Deshalb zerstörten sie ihre eigenen Einrichtungen. Sie hätten auch ihre hier stationierten Männer geopfert, hätte die Arcadia diese nicht bereits in Sicherheit gebracht. Und das Schlimmste daran war: Sie taten es aus reiner Bosheit. Als Yama und Harlock ins Freie eilten, schlugen ihnen die Hitze und die Dämpfe der Brände entgegen. Ein großer Teil des Gebäudes stand in Flammen, obwohl die Löschroboter, die den ständigen Angriffen noch nicht zum Opfer gefallen waren, ununterbrochen über ihm kreisten. In der Ferne brannten die Obstplantagen nieder. Yama sah Brombeer- und Himbeersträucher als glühende, funkensprühende Dickichte; die Bäume wurden Reihe für Reihe zu lebenden Fackeln. Zwischen ihnen schmolz die Erde. Und sie schmolz auch in den vielen aufgetürmten Kästen, aus denen die Flammen hoch in den milchigen Himmel schlugen und undurchdringliche, schwarze Rauchwolken spuckten. Yama rannte, sein Handgelenk in Harlocks eisernem Griff, auf die Arcadia zu, und seine Sicht wurde unscharf, seine Wangen nass. Nur der Rauch, dachte er, er brennt in den Augen … Aus zurückgelassenen, auseinander gesprengten Obstkisten waren verkohlte Äpfel gerollt, schwarz und schwelend. Der Rest der Ernte verbrannte an den Bäumen. Alle heiligen Erdenpflanzen, die es bis jetzt noch gegeben hatte, fanden auf Garfudias den Feuertod. Von diesem Ort würde nichts als Asche übrig bleiben. Erst als sie ins Innere der Arcadia stürzten, merkte Yama, dass er wirklich weinte. Kei wollte ihn offensichtlich ohrfeigen. Yama wich vor ihr zurück und wischte sich hastig das Auge und die Nase am Ärmel ab. Da sah er, dass sie ein Taschentuch in der Hand hielt. „Ich wollte dir nur die Wange abwischen. Du hast schwarze Spuren im Gesicht“, sagte sie und meinte damit vermutlich seine Tränen. Yama schüttelte den Kopf, mied sowohl ihren als auch Harlocks Blick und trat auf die Brücke. Dort war der Rest seiner Brückencrew versammelt. Plasmageschosse zischten in beide Richtungen, doch nur milde Erschütterungen durchliefen den Körper der Arcadia. „Verzieht euch! Jaaah!“, heulte Yattaran, als ein guter Treffer mit Cygnus-Plasma eine der Geschützanlagen der Astraios lahmlegte. Ja, sie würde sich verziehen, denn ein Kampf mit der pfeilschnellen Arcadia im Flug würde für ein einzelnes Schlachtschiff der Gaia-Flotte viel zu verlustreich enden. „Wir starten!“, befahl Yama und umklammerte das Steuerrad mit krampfenden Fingern. Hinter ihm nahm Harlock auf seinem Thron Platz. „Und die Erde?“, fragte Cervus lahm. „Hier gibt es keine Erde mehr, du Trottel!“, keifte Kei. „Der Plan ist gescheitert!“ Yama wusste nicht genau, woran dieser Plan gescheitert war, aber es hatte zweifellos mit seinen Entscheidungen zu tun. Er hätte den Stützpunkt auf Garfudias übernehmen und die Besatzung als Geiseln nehmen sollen, wie ein richtiger Pirat es getan hätte. Harlock hätte es so gemacht. Aber er hatte ihm nicht reingeredet. Er ließ zu, dass Yama Konflikte friedlich zu lösen versuchte und seine Lektionen auf die harte Tour lernte. „Schadensbericht“, sagte Yama, seine Stimme so fest wie nur möglich. „Sie hat ein paar Löcher, aber nichts Ernstes“, antwortete Yattaran. „Die Selbstreparaturen laufen schon.“ „Was ist mit dem Kraftfeld?“, fragte Kei. „Wir stecken noch drin. Etwas mehr Schub und wir kommen raus. Gleich wird’s etwas holprig!“ Das war eine akkurate Vorhersage. Sobald die Arcadia den Widerstand des Kraftfeldes überwand, griffen starke Böen nach ihr und rüttelten sie durch. Yama klammerte sich ans Steuerrad, um sich aufrecht zu halten, doch ein paar der Männer gingen laut fluchend zu Boden. Erst als der Spuk eine halbe Minute später vorbei war, konnten sich alle wieder aufrappeln. Es kostete sie wertvolle Sekunden. Rasch gewann die Arcadia an Höhe, ließ das Flammenmeer unter sich zurück, bis es unter dem lächerlichen Hologramm verschwand. Als sie kurz davor waren, zur Astraios aufzuschließen, drehte diese wendig auf der Stelle und dematerialisierte in den In-Skip-Modus. „Wohin springen sie?“, knurrte Yama. In seiner Kehle pulsierte der Hass wie ein schwarzer Klumpen. Er wollte sie zerstören, diese Feiglinge, die seine Hoffnung zunichte gemacht hatten. „Ich kann es nicht ermitteln, die Koordinaten sind verschlüsselt“, sagte Kei hilflos. „Diese Mistkerle!“, schäumte Yattaran. „Die haben gewartet, bis wir damit fertig waren, ihre Leute zu evakuieren!“ „Immerhin haben wir einen großen Teil der Früchte“, merkte Cervus beschwichtigend an, „und sie selber haben gar nichts mehr. Sie haben die Quelle ihres Reichtums selbst dem Erdboden gleichgemacht.“ Beipflichtendes Gemurmel bezeichnete die Gaia Sanction als Idioten, Loser und Schwanzlose. Angesichts der Bestätigung seiner eigenen Gefühle lockerte sich die Enge in Yamas Brust etwas. Er sah zu Kei. „Ich muss nachdenken.“ „Welchen Kurs sollen wir setzen?“ „Wir werden wie besprochen nach Tokarga fliegen.“ Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Sehr gut. Wenn wir den Mars-Schild erst vernichtet haben, können diese Feiglinge was erleben.“ Ihr Hass tat Yama gut. Er überließ ihr das Ruder und trottete von der Brücke. Zum ersten Mal seit Übernahme der Kapitänschaft hatte er Lust auf etwas Starkes zu trinken. *** „Verzeihen Sie, Harlock.“ Etwas schüchtern trat ihm Prof. Calli in den Weg. Harlock hatte nicht erwartet, dass der Mann von sich aus Kontakt zu ihm aufnehmen würde. „Was kann ich für Sie tun?“, erwiderte er leidenschaftslos. Calli schürzte die Lippen. „Sie gehen zu Yama, nicht wahr? Bitte sagen Sie ihm, dass es mir leid tut. Ich habe das Vorhaben voll unterstützt.“ Harlock hatte nur eine Vermutung, wohin Yama gegangen sein könnte. Außerdem missfiel es ihm, dass Calli und Bouko – für ihn Männer der Gaia Sanction, bis sie ihm das Gegenteil bewiesen – sich in den Fluren herumdrückten. „Falls Ihnen noch keine Quartiere zugewiesen wurden in all der Aufregung, dann folgen Sie mir. Sie sollten sich ausruhen.“ Tatsächlich sah der Botaniker immer noch so grau und betrübt aus, vielleicht noch mehr als zuvor. Sicher traf ihn der Verlust der Plantagen, die er in den letzten Monaten betreut hatte, ebenfalls hart, und der Jüngste war er auch nicht mehr. „Yama hält große Stücke auf Sie“, sagte Harlock versöhnlich. „Die Arcadia mag ein gewöhnungsbedürftiger Ort sein, aber Sie sind hier in Sicherheit. Die Crew besteht aus fähigen Personen. Es wird Ihnen auch nicht an Komfort mangeln.“ Calli entspannte sich ein wenig und folgte ihm. „Bouko ist bereits auf eigene Faust unterwegs. Er ist sehr neugierig, wissen Sie, versteht sich nicht nur auf Pflanzen, sondern auch Maschinen. Studierter Bioingenieur.“ Wie Tochiro, dachte Harlock. „Er kann nicht verloren gehen. Alle Decks sind bemannt.“ Und falls er doch einen leeren Raum findet, ist Miime überall. Er brachte Prof. Calli zu den Kabinentrakts und wies ihm und auch Bouko, in dessen Abwesenheit, ein Quartier zu. Dann entschuldigte er sich und nahm seine Suche wieder auf. Yama sollte nicht allein sein, nicht jetzt. Außerdem wusste Harlock, wie er ihn aufheitern konnte. Er fand Yama, seiner Vermutung entsprechend, im Salon mit einer Flasche Rotem Bourbon. Er saß mit gesenktem Kopf vor einem unberührten, bis zum Rand gefüllten Glas. „Trink das aus und du schaffst es nicht mehr bis ins Bett“, ließ Harlock ihn wissen. „Mmmh. Wer sagt, dass das nicht meine Absicht war.“ Yama hob nicht einmal den Kopf. „Lass mich behilflich sein.“ Harlock setzte sich neben ihn, zog Yamas Glas zu sich und nahm einen großzügigen Schluck. Yama warf ihm einen Blick zu und lächelte schwach. „Ich wusste, du würdest mir folgen.“ „Ich habe es immer bevorzugt, allein zu sein, wenn ich wütend war. Du bist anders.“ Harlock griff in sein Waffenholster, wo unter Cosmo-Dragoner etwas verborgen war. „Hier. Ich habe aus dem Archiv etwas retten können.“ Er schob den kleinen Gegenstand zu Yama, wie im Tausch für das Glas. Yama nahm die kleine staubige Holodisc an sich. „Was ist da drauf? Sie sieht uralt aus.“ „Der Beschriftung der Fächer nach stammt sie aus der Zeit der Errichtung der Plantagen, kurz nach dem Heimatkrieg. Streng geheime Aufzeichnungen zu dem Thema, wie die empfindlichen Erdenpflanzen auf Garfudias lebensfähig werden sollten.“ „Verstehe.“ Yama drehte die Disc in den Händen, dann setzte er sie auf dem Tisch ab und aktivierte sie. Es bedurfte einer mehrfachen nachdrücklichen Betätigung des Startknopfes, um das Relikt aus vergangenen Zeiten zum Leben zu erwecken; dann begann die Aufzeichnung mit Flackern und Störblitzen. Die Silhouette eines grauhaarigen Mannes war zu erahnen. „Es folgen die gesammelten Laborberichte von Professor Tanjou Gerkin, Kopf des wissenschaftlichen Teams der Garfudias-Einheit. Der Umfang beträgt etwa fünfunddreißig Stunden visueller und akustischer Einträge. Wir schreiben das Jahr …“ Yama deaktivierte die Disc wieder und nickte. „Ich werde das alles sichten, wenn ich wieder klarer denken kann. Vielleicht hilft es uns wirklich. Gut, dass du an so was gedacht hast … ich habe es natürlich nicht.“ „Du warst mit anderem beschäftigt“, sagte Harlock milde. „Zum Beispiel damit, eine Koryphäe wie deinen Professor für unser Vorhaben zu akquirieren. Mit seiner Hilfe besteht noch Hoffnung.“ Seine Stimme wurde weicher, als er fortfuhr: „Noch etwas, Yama. Erinnerst du dich an … meine Pflanze?“ Yama dachte nach. „Du meinst … die im Becherglas? Der Keimling, der erschienen ist, nachdem wir …“ „Ja.“ „Oh.“ Yama sah etwas verlegen beiseite. „Ja … sicher. Was ist damit?“ „Sie sitzt in Erde von der Erde“, erklärte Harlock. „Es war eine Probe, die Tochiro von Kundschaftern gebracht worden war. Mein Freund war nach der Umrüstung der Dunkle-Materie-Antrieben mit vielen anderen Projekten beauftragt, unter anderem damit, Pflanzen zu züchten, die die Versorgungsleistung der Erde verbessern sollten.“ Yamas Augenbraue hob sich. „Also hat Gaia insgeheim daran gearbeitet, die Erde doch wieder für alle bewohnbar zu machen?“ „So haben sie es uns damals verkauft“, schnaubte Harlock. „Natürlich war das nicht der Fall, die Erde sollte ein Paradies für die Privilegierten werden. Tochiro aber glaubte daran, dass er einen wertvollen Beitrag zur Verbesserung des Zustands der Erde leisten könnte – obwohl sie, wie ich heute weiß, schon immer perfekt war, so wie sie war“, fügte er traurig hinzu. „Jedenfalls fiel das Glas in unserer Schlacht gegen die anderen Deathshadow-Schiffe zu Boden und zerbrach. Als ich später begriff – oder glaubte zu begreifen –, dass diese Erde das Einzige war, das von unserer gesunden Heimatwelt übrig war, klebte ich das Glas wieder zusammen und klaubte die Erde auf, so gut ich konnte. Ich fand einen Samen darin, den Tochiro hineingesetzt hatte. Dass er jemals keimen würde, habe ich nicht erwartet. Es war für mich nur noch eine Art … Andenken.“ Yama sah bewegt zu ihm auf. „Du hast diesen Samen über hundert Jahre lang behütet, obwohl du ihn für tot hieltest.“ „Ja.“ „Wieso ist er … Wie konnte er keimen, als wir …?“ „Ich weiß es nicht. Aber es zeigt uns eines: nämlich dass die Erde in diesem Becherglas noch nicht leblos ist. Es ist nur eine kleine Menge, kaum mehr als eine Handvoll, aber es ist … ein Anfang.“ Wie die Blumen auf der Erde, fügte er im Geiste hinzu. Die Erde fängt neu an. Yama schniefte leise und kniff das Auge zusammen. Er war so verletzlich, so bezaubernd. So liebenswert. Harlock nippte an dem Roten Bourbon, schmeckte die scharfe, rote Flüssigkeit, die seine Speiseröhre warm hinabrann. Dann hielt er Yama das Glas an die Lippen. „Die andere Hälfte für dich.“ Kapitel 8: Abweisung -------------------- Harlock entschied, dass sie es hier tun konnten, im Salon. Die Chaise Longue war nicht so bequem wie sein Bett, aber er hatte schon schlechter gelegen. Dass Kei die Tür sabotiert hatte, war kein Hindernis – das Schiff hörte nicht mehr auf Harlock, aber es hörte auf Yama. Und Yama schmeckte bereits so sehr nach Rotem Bourbon, dass er kaum noch nach Yama schmeckte. Harlock hielt ihn halb an die Brust gedrückt, eine Hand in Yamas Haar vergraben und so die Neigung seines Kopfes vorgebend, um ihn so tief wie möglich küssen zu können. Yama gab sich hin wie ein Kätzchen, den Mund offen und alles erwidernd, was Harlock zu geben hatte. Ihre Lippen waren miteinander versiegelt, Atmen ging nur durch die Nase, ihre Zungen glitten genüsslich umeinander und badeten im Geschmack der exzellenten Spirituose. Yama seufzte leise und glitt auf seinem Stuhl noch näher an Harlock heran. Gut so. Harlock streichelte federleicht seine Schläfe, schob ihm seine Hüften etwas mehr entgegen. Er musste ganz vorsichtig sein. Yama tat sich schwer damit, seinen Kopf auszuschalten. Harlock wollte nicht, dass Yama sich unwohl fühlte, nicht ein bisschen; er musste ganz sicher sein, das Yama willig war, ehe er versuchen konnte, ihn in Richtung der Chaise zu dirigieren. Er zog sich ein wenig aus Yamas Mund zurück, widmete sich mehr seinen Lippen, stieß nur noch kurz und neckend mit der Zunge vor. Yama gab ein ganz leises Lachen von sich. Es klang entspannt. „Dieses Zeug“, murmelte er schließlich. „Wie schaffst du es nur, so viel davon zu trinken? Ich wusste nicht, dass so was Starkes überhaupt legal ist …“ Piraten tun keine legalen Dinge, dachte Harlock. „Möchtest du lieber schlafen gehen?“ Er fragte es aus Höflichkeit. Prüfte die Stimmung. „Jetzt noch nicht.“ Yama war gelöst, aber eindeutig noch Herr seiner Sinne. „Dann würde ich nur grübeln … Es tut gut, mal an nichts denken zu müssen. In letzter Zeit mache ich nichts anderes als denken …“ „Solche Zeiten wird es immer geben, aber sie gehen vorüber.“ Harlock versuchte zu deuten, wie bereit Yama inzwischen war. Er hatte viel Geduld, Disziplin war eine seiner großen Stärken. Eigentlich, das spürte er, brauchte Yama diese Zuwendung; Berührung, Intimität – Grundbedürfnisse des Menschen. Alle Cremitglieder, das wusste Harlock, hatten hin und wieder sexuelle Begegnungen auf dem Schiff, das war ganz natürlich; doch da Yama die Crew anführte, war es für ihn kaum möglich, sexuelle Beziehungen aufzubauen, ohne seine eigene Autorität zu untergraben. Harlock hatte nie eine Lösung für dieses Problem gefunden und war ihm schlicht aus dem Weg gegangen – was ihm leicht gefallen war, wenn er nur an Tochiro dachte. Tochiro war noch immer um ihn, nah, aber unerreichbar, und was sie gehabt hatten, war weder zurückzubringen noch zu ersetzen. Disziplin, ja. Harlock war ein disziplinierter Mann, diszipliniert durch den Schmerz und den Verlust. Keine Ermunterung von Tochiro hatte genügt, um Harlock dazu zu bringen, nach einer neuen Liebe zu suchen. Und er hatte nicht gesucht. Ein Jahrhundert lang hatte er nicht gesucht, und dann … dann hatte er, erzwungen durch das Ritual, mit Yama den Liebesakt vollzogen. Und das hatte etwas in ihm erweckt, das er vor Urzeiten bewusst ins künstliche Koma versetzt hatte. Plötzlich wollte er wieder Sex. Nicht nur einen Orgasmus, etwas Profanes, das er mit seiner eigenen Hand hätte auslösen können. Sondern Liebe machen. Haut auf Haut, warmen Schweiß, den Geruch und Geschmack des Körpers eines geliebten Menschen. Harlock hatte geliebt, wild, grimmig, leidenschaftlich. Dass eine andere Person diese Gefühle je wieder in ihm auslösen würde, war für ihn undenkbar gewesen. Doch jetzt hatte er Yama im Arm, ein hämmerndes Herz in der Brust und ein fast schmerzhaftes Pochen zwischen den Beinen. Yama löste sich von ihm, wie um noch einmal seinen lustvernebelten Verstand zu konsultieren, und sah Harlock offen ins Auge. Harlock blickte ebenso offen zurück. Er wollte nicht verschlossen sein, nicht jetzt. *** Yama fühlte sich angenehm entspannt durch den Alkohol. Nicht so sehr, dass seine Sinne oder seine Motorik darunter leiden würden – Harlock hatte nicht versucht, ihn betrunken zu machen, im Gegenteil. Er wollte Yama aufheitern, ihm helfen, zur Ruhe zu kommen. Der Kuss erschien wie eine natürliche Folge ihres Beisammenseins. Körperliche Nähe war etwas, das einem Captain nicht oft vergönnt war und das sie beide nur selten zuließen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Yama versuchte, in Harlocks Ausdruck zu lesen. Seine Züge waren weich, die Narbe an den Rändern ein wenig gerötet durch den beschleunigten Herzschlag. Harlock verbarg sein Verlangen nicht vor ihm. Er ließ Yama alles sehen. Vertraute ihm. Es fühlte sich plötzlich nicht mehr so unangemessen an. Kurz dachte Yama an seinen Traum, an den Apfel und daran, was er repräsentierte. Seinem Unterbewusstsein war längst klar gewesen, was sein Verstand vehement geleugnet hatte. „Yama.“ Harlocks Lippen streiften bei diesem Wort seine Ohrmuschel, und Yama bekam eine Gänsehaut. „Würdest du es noch einmal tun wollen?“ Würde ich?, dachte Yama. Er wusste, was gemeint war, und zögerte. „Glaubst du denn, es würde noch mal funktionieren?“ Ohne das Drängen der Dunklen Materie … „Warum sollte es nicht? Es ist die simpelste, normalste Handlung des Universums. Keine Zauberei.“ Er küsste Yama erneut. Alles daran fühlte sich an wie Zauberei. Die Wirkung, die ihre Körper aufeinander hatten, glich keiner anderen Erfahrung, die Yama je mit einem Mädchen gemacht hatte. Er war versucht, sehr versucht, dem Drang nachzugeben. Harlocks Hände schwebten bereits an Yamas Seiten, bereit, ihn zu führen. Würde ich? Harlock strahlte keine Dunkelheit aus wie früher, nicht den Hauch von schwarzer Asche, den die Dunkle Materie auf seine Haut geatmet hatte. Er war nun voller Gesundheit und Wärme, ein geschmeidiger und doch starker Mann, der Mann, der Yama seine Freiheit geschenkt hatte. Die herrliche Intimität während des Rituals … das Gefühl, das völlig Richtige zu tun … Yama wollte Harlocks Verlangen nachgeben und sich in ihm verlieren, ganz egal, was auf Garfudias passiert war, ganz egal, was sie beide ihren liebsten Menschen angetan hatten … Und dann, plötzlich, spürte Yama es. Ganz tief unter Harlocks sanftem Drängen spürte er es, las es unter dem warmen Glanz in seinem Auge. Das Alleinsein. Die Isolation. Frustration. „Ich kenne es“, hörte er sich leise sagen. Harlock sah ihn fragend an. „Was meinst du?“ „Einsamkeit. Ich weiß, wie sich das anfühlt.“ Harlocks Blick wurde noch etwas verwirrter, und auch eine Spur ungeduldig. „Ich weiß das auch sehr gut, Yama, glaub mir. Niemand kennt Einsamkeit besser als ich. Worauf willst du hinaus?“ „Du suchst eigentlich etwas anderes. Das hier … das willst du gar nicht wirklich.“ Nun wirkte Harlock fast gekränkt, doch sofort verschwand der Ausdruck hinter der üblichen stoischen Miene. „Warum glaubst du zu wissen, was ich brauche oder was ich will?“ Als Yama nicht antwortete, fuhr er weicher, aber eindringlich fort: „Wir haben es doch schon getan, du und ich. Was ist jetzt anders?“ „Ich kann nicht“, sagte Yama, und es war die Wahrheit. „Mein Körper … Ich bin noch nicht so weit.“ Harlock sah ihn einen Augenblick lang forschend an, dann nickte er und seufzte; der leise Anflug von Verletztheit verschwand zur Gänze aus seiner Körpersprache. Etwas steif zog er sich von Yama zurück und stand auf. „Ich verstehe. Nun, wenn du mich brauchst, dann weißt du, wo du mich findest.“ Er berührte Yama an der Schulter, freundlich, aber unverbindlich, und ging ohne Eile hinaus. Yama ließ das Kinn auf die Brust fallen. Er fühlte sich plötzlich abgehärmt, überbeansprucht wie ein Kleidungsstück, an dem zu viel herumgezerrt worden war. Vor ihm stand das leere Glas. Warum war es nicht gegangen? Warum konnte er nicht loslassen? Harlocks Gründe brauchten ihn nicht zu interessieren. Es war nicht richtig, mit seinen verbesserten Sinnen Harlocks Seelenwelt zu durchschnüffeln, nur weil sie einmal offen vor ihm lag. Harlock hatte mit ihm intim sein wollen, hatte versuchen wollen, den Zauber des Rituals zurückzuholen, als einen schönen Augenblick für sie beide. Er hatte nicht vorgehabt, Yama zu benutzen. Warum konnte Yama nicht einfach mitziehen, zumal sein Körper mehr als willig gewesen war? Selbst jetzt ließ die Erektion nur langsam wieder nach. Er mochte Harlock, und warum, das spielte doch gar keine Rolle. Er dachte oft an den Akt zurück; daran, wie Harlock nackt und verletzlich vor ihm gelegen hatte, daran, wie ihre Gedanken sich während des gemeinsamen Höhepunktes vereinigt hatten. Ein solch tiefes Gefühl von Verbundenheit hatte er nie zuvor empfunden. Er sehnte sich danach. Auch wenn es vielleicht nicht aus ihm selbst kam. Er fühlte Miimes Ankunft, bevor er sie eintreten sah. Ihre langen Beine durchschnitten die Luft wie Seidenbahnen das Wasser. Mit ihr war er immer mental verbunden; sie konnte kommen und gehen, wie sie wollte, und es gab nichts, das er vor ihr geheimzuhalten wünschte. Auch jetzt tat er nichts, um vor ihr zu verbergen, was passiert war. Sie schaute ihn an, und er ließ sie alles sehen: die zarte Röte auf seinen Wangen, das leichte Zittern seiner Fingerspitzen, die noch sichtbare Wölbung in seinem Schritt. Sie blinzelte langsam. Die silbrigen Nickhäute glitten über ihre winzigen, schlitzförmigen Pupillen und wieder zurück. „Ich konnte nicht“, sagte er tonlos. „Warum konnte ich nicht? Ich mag ihn, Miime.“ „Ich weiß.“ „Ich kann ihm doch nicht sagen, dass … ich auch nicht weiß, was ich …“ Er gab auf. Es war nicht nötig, sich ihr zu erklären. „Harlock und ich, wir haben uns nie richtig unterhalten über … Dinge. Wir wissen immer noch rein gar nichts über einander. Ich meine, er hat Tausende von Menschen kennen gelernt in seinem langen Leben … Will er das überhaupt noch? Hat er noch echtes Interesse an anderen Menschen? An jemandem wie mir?“ „Obwohl ich ihn lange kenne, länger als ein Leben, musst du diese Antwort selbst finden, Yama. Das müsst ihr beide.“ Sie kam zu ihm und tröstete ihn auf dieselbe unaufdringliche und dennoch zärtliche Art, wie sie es stets bei Harlock getan hatte. Sie legte die Hand auf die Seite seines Kopfes und zog ihn sanft an ihre Brust, und ihre freie Hand begann seine Schläfe zu streicheln. Yama schloss die Augen, lauschte dem ruhigen Schlag ihrer zwei Herzen, eines in der linken, eines in der rechten Brust, und erlaubte es ihrer taukühlen Haut, seine Unruhe zu lindern. *** Der Nachgeschmack des Roten Bourbons saß bitter in seiner Kehle. Ich habe mich selbst zum Narren gehalten, dachte Harlock. Hundert Jahre genügen nicht, diese menschliche Schwäche abzulegen. Es hatte alles danach ausgesehen, als wäre Yama einverstanden. Harlock hatte nichts überstürzt, es war nicht sein Ziel gewesen, Yama um jeden Preis zu verführen, sondern zu ergründen, ob Yama verführt werden wollte. Eine Frage brachte immer zwei Antwortoptionen mit sich, und beide mussten akzeptiert werden. Doch es fiel ihm schwer. Das Schlimmste war, dass Yama vermutlich Recht hatte. Sie wussten beide, wie sich Einsamkeit anfühlte, und natürlich war Einsamkeit einer der treibenden Motoren hinter Harlocks starkem Bedürfnis nach Nähe. Die Abwesenheit der telepathischen Verbindung löste Gefühle der Isolation in ihm aus, die ihn fast wahnsinnig machten; er hatte Alpträume vom Alleinsein, jede Nacht. Die Leere in seinem Kopf konnte er nicht ignorieren, und Yama hätte diese Leere füllen können, zumindest für einen Moment. Yama hätte seine Droge sein können. Sein Rauschmittel. Und was dann? Ich will ihn auf keinen Fall benutzen. Niemand darf Yama jemals wieder benutzen. Wahrscheinlich war es völlig richtig von Yama, Harlock zurückzuweisen. Sie waren ein lächerliches Paar. Dysfunktional, zu unterschiedlich. Yama war ein junger Mann voller Energie und Entschlossenheit. Seine frühere Liebe war ein hübsches junges Mädchen gewesen, so wie es sich gehörte. Genau das brauchte Yama – ein Mädchen, keinen verbitterten alten Mann. Wie alt war Yama überhaupt, zweiundzwanzig? Kaum ein Erwachsener. Harlock starrte sein Bett an, groß und leer. Hier hatten sie gelegen in jenem Moment, während die Zeit um sie herum stillstand und Miime in einem tiefen Koma lag, und hatten sich geliebt, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Sie hatten es nicht nur auf eine Art getan, sondern gleich auf mehrere Arten. Er hatte es genossen. Und Yama ebenfalls, das wusste er. Allerdings … und dieser Umstand ließ sich nicht einfach ausblenden … war es in einer Art Trance geschehen. Keiner von ihnen hatte in Frage gestellt, was passierte; sie hatten es einach zugelassen. Ihre Körper, getränkt in Dunkle Materie, hatten allein das Sagen gehabt, über jede Handlung, jede Berührung. Sie waren … wie … ferngesteuert gewesen. Nie hätten sie ohne diese Impulse etwas getan, das so weit außerhalb ihrer Kontrolle lag. Und doch … Wären sie gar nicht Herren ihrer Sinne gewesen, so würde sich die Erinnerung an den Akt falsch anfühlen – bizarr, erzwungen, vielleicht sogar abstoßend. Sie würden vor sich selbst leugnen, dass es passiert war, würden nie darüber sprechen, es hartnäckig verdrängen, voller Scham. Sie würden sich nicht so leidenschaftlich daran erinnern … Nein, genug davon. Es reichte. Er würde aufgeben, bevor es zu schmerzhaft wurde. Vor dem Ritual hatte er über hundert Jahre lang keinen Sexualpartner gehabt, also würde er es auch schaffen, diese neuen Begierden im Zaum zu halten. Yama hatte Besseres verdient als einen emotionalen Krüppel wie ihn. Er würde hier allein schlafen. Heute und auch weiterhin. *** Am nächsten Morgen hatte Yama große Mühe, sich wieder seinen Aufgaben zu stellen. Er fühlte sich, als hätte er wieder einmal einen Fehler gemacht, den er lange bereuen würde. Doch es half nichts. „Was weißt du über das Schiff, das uns angegriffen hat?“, fragte Kei, als sie sich zusammengefunden hatten, um den Einsatz zu planen. Yama hatte die Frage kommen sehen; eigentlich hätte er sie unmittelbar nach ihrer Abreise von Garfudias erwartet. Offenbar war er nicht der Einzige gewesen, der eine Weile gebraucht hatte, um das Scheitern seiner Pläne und den Verlust der Obstplantagen zu verwinden. „Nicht viel, fürchte ich“, sagte er nachdenklich. „Es ist die Astraios, fast baugleich mit der Okeanos. Ich glaube nicht, dass die Flotte viel Zeit hatte, ihr Upgrades einzubauen. Trotzdem macht es Sinn, dass sie das neue Flaggschiff ist.“ „Wer kommandiert sie?“, fragte Yattaran, die Arme über der Brust verschränkt. „Ich erinnere mich nicht. Es war jemand, den ich nie persönlich getroffen habe. Vielleicht ist er auch ersetzt worden.“ Er überlegte, wer Isora als Flottenkommandeur beerbt haben könnte. Levary war zu alt, Amedes zu jung … Wen gab es da noch? Yamas Hirn weigerte sich, Namen aus seinem früheren Leben auszugraben. „Und warum haben wir dieses neue Vorzeige-Exemplar und seinen Captain einfach ziehen lassen?“, fragte Yattaran weiter. „Mit ein bisschen Grips hätten wir ihre Skip-out-Koordinaten entschlüsseln können.“ „Und dann?“ Yama fixierte ihn. „Du kennst die Skyraider-Klasse. Wir hätten die Astraios entern und die Crew im Nahkampf Mann für Mann töten müssen, der gleiche Kampf wie mit der Okeanos. Hättest du Lust auf gehabt?“ Er nicht. Überhaupt nicht. „Er hat Recht“, stimmte Kei zu. „Gegen die Okeanos hätten wir am Ende den Kürzeren gezogen. Auch wenn das neue Schiff weniger erfahrene Männer hat, es wäre kein Spaß geworden.“ Yattaran ließ die Schultern fallen. „Ihr habt ja Recht. Mich wurmt nur, dass sie uns jetzt hinter der nächsten Ecke wieder auflauern werden. Hit-and-run, ihr wisst doch, wie unfair die kämpfen. Ich wünschte, wir könnten sie einfach aus der Ferne erledigen.“ Auch Yama war sicher, dass sich ihre Wege nicht zum letzten Mal mit denen der Astraios und ihrem unbekannten Captain gekreuzt hatten. Doch er musste hoffen, dass sie sich lange genug fernhielten, um nicht auch den zweiten Teil ihres Plans zu durchkreuzen. „Also“, seufzte er, „Tokarga.“ „Aye, Tokarga“, murmelten Yattaran und Kei ziemlich unisono. Niemand mochte den Plan. „Die Koordinaten, zu denen wir den Sprengkopf geflogen haben, sind noch gespeichert“, sagte Kei. „Dass er sich noch genau dort befindet, ist aber unwahrscheinlich. Tokargas Erdoberfläche hat eine starke seismische Aktivität, das liegt an den vielen unterirdischen explosiven Gasvorkommen, Lavaflüssen, Magmakammern und nicht zuletzt an den Tunneln, die die Mudouwds ins Gestein graben.“ Und Yama hatte geglaubt, es wäre die schlechte Luft gewesen, die zur Aufgabe der Besiedelungsversuche geführt hatte. „Jedenfalls“, übernahm Yattaran, „kann der Sprengkopf entweder ganz tief im Gestein feststecken, durch den Lavafluss kilometerweit weggetragen worden sein oder durch die Erdbewegungen ganz oben auf einem Hügel liegen, wo wir ihn nur pflücken müssten. Alles etwa gleich wahrscheinlich.“ „Könnte er hochgegangen sein?“, fragte Yama. „Hochgegangen?“ Yattaran zog die Brauen hoch. „Dimensionenschwingungssprengköpfe wurden erbaut, um Sonnen auszulöschen. Mit einem Satz von zwanzig Stück kannst du einem Stern fast jeder Klasse das Licht ausknipsen. Glaub mir, ein bisschen Lava und Mudouwd-Zähne hält der aus.“ „Es könnte aber durchaus sein, dass wir ihn nicht bergen können“, räumte Kei ein. „Wie Yattaran schon sagte. Wenn er vom Magma abtransportiert wurde und dieses um ihn herum erkaltet ist, müssten wir ihn aus vielleicht kilometerdicken Gesteinsschichten heraussprengen. Das wäre wochenlange Arbeit.“ „Wenn die Scanner ihn in so einem Fall überhaupt lokalisieren könnten“, ergänzte Yattaran. Yama seufzte. „Wir brauchen also etwas Glück.“ Und wir haben es verdient. Sehr sogar. Kei begann etwas in ihr Pad zu tippen. „Gut, ich schlage folgendes Vorgehen vor: Falls der Sprengkopf frei zugänglich ist, sollten Caruso und Cervus das Trägershuttle erst zu einem sicheren –“ „Ich gehe allein“, unterbrach Yama sie ruhig. Keis Mund blieb offen stehen. „Hast du gerade gesagt, du gehst allein?“, wiederholte Yattaran ungläubig. „Du hast mich richtig verstanden.“ „Bei allem Respekt, das wird nichts!“, empörte sich der Erste Maat. „Der Platz eines Captains ist auf der Brücke!“ „Ich weiß. Aber ich riskiere nicht das Leben eines Crewmitglieds für ein Ziel, das nur meins ist.“ Weiß der Geier, warum Harlock das getan hat. „Also erstens haben alle hier an Bord das Ziel, es Gaia heimzuzahlen nach alldem, glaub mir. Und zweitens –“ „Ich bin aber der Einzige, dem nichts passieren kann“, fiel Yama ihm gnadenlos ins Wort. Yattaran schloss den Mund, stierte ihn aber weiter trotzig an. Yama hielt dem Blick Stand. „Nenn mir einen von euch, der unsterblich ist, und ich schicke den auf die Mission.“ „Yama.“ Kei legte ihm die Hand auf den Arm. „Du bist nicht unverwundbar. Falls etwas passiert, können wir das Schiff ohne dich nicht fliegen.“ „Nun, solange ich nicht sterbe, werdet ihr einen Weg finden, mich zu retten. Und sterben werde ich nicht.“ „Yama, bitte. Über diese Unsterblichkeit wissen wir zu wenig. Vielleicht ist es gar nicht so …“ Er nahm ihre Hand und löste sie sanft von seinem Arm. „Ich habe es entschieden, Kei. Und ich bin nicht mehr so wankelmütig wie früher. Ich bleibe bei meiner Entscheidung.“ Sie biss die Zähne zusammen. „Der Cap– … Harlock wird das furchtbar finden.“ „Genau deshalb bespreche ich es nicht mit ihm.“ Yattaran schnaubte und zuckte die Achseln. „Ja, bitte, mach es, wie du willst. Du bist der Captain. Aber wenn du am Ende doch tot bist, sag nicht, wir hätten dich nicht gewarnt.“ Und Kei zischte: „Als ob du dich überhaupt genug mit den Sprengköpfen auskennen würdest.“ „Ich habe alles darüber gelesen, was im Speicher ist.“ Yama würde vor ihnen nicht nachgeben. Er war nicht mehr schwach, nicht mehr unentschlossen. Sie konnten keine Argumente liefern, die er nicht aushebeln konnte. Sie würden ihn nicht aufhalten. „Als wir Nummer neunundneunzig installiert haben, wusste ich noch gar nichts darüber. Aber das spielte keine Rolle, denn du brauchtest du mich gar nicht für das Handling des Sprengkopfes, Kei, nicht wahr? Du hast alles allein gemacht. Ich war nur dein Backup. Harlock schickte zwei Leute auf solche Missionen, damit zumindest einer lebendig mit der Ausrüstung zurückkommen konnte.“ Und den anderen versuchte er dann aus Schuldgefühlen zu retten. Kei bleckte die Zähne. „Rede nicht über ihn, als hätte er ständig unsere Leben aufs Spiel gesetzt!“, fuhr sie ihn an. „Aber das hat er getan. Er hat den Sprengkopf nicht selbst installiert, obwohl er es problemlos gekonnt hätte“, hielt Yama schonungslos dagegen. „Du hast selbst gesehen, wie mühelos er mir in den Krater gefolgt ist und die Situation korrigiert hat. Er hätte von Anfang an selbst gehen sollen. Ich werde selbst gehen. Bitte akzeptiert es.“ Seine beiden Offiziere musterten ihn mit kühlen, fast gekränkten Blicken. Sein versöhnlicher Ton schien sie nicht erreicht zu haben. „Wie du willst“, sagte Yattaran schließlich. Kei hielt die Lippen stumm zusammengepresst. Bis sie Tokarga erreichten, war Yama nicht dazu gekommen, sich die Holodisc anzuschauen, die Harlock ihm mitgebracht hatte. Er stellte fest, dass sie noch in seiner Hosentasche war, als er sich für den Einsatz vorbereitete. Noch waren sie nicht tief genug in die Atmosphäre eingetaucht, um die Oberfläche des Planeten nach dem Sprengkopf abtasten zu können, doch es würde jeden Moment so weit sein. Er fragte sich, ob die Gaia-Flotte ihn auf irgendeine Weise beobachtete. Theoretisch war es unmöglich, doch die Gnadenlosigkeit, mit der sie die Plantagen dem Erdboden gleichgemacht hatten, schürte in Yama eine neue Angst. Irgendetwas daran hatte seine Welt ein Stück weiter aus den Fugen geraten lassen. Er hasste sie. Trost gebracht hatte ihm heute Morgen ein Besuch im Frachtraum, wo das viele Obst in kühlen, trockenen Behältern lagerte. Die Köchin hatte angekündigt, damit köstliche Dinge zubereiten zu können – eine weitere Kunst, die sehr selten geworden war, Wissen, das in Vergessenheit zu geraten drohte. Die Menschen vergaßen ihre Heimat, aber zum Glück nicht alle von ihnen. Zu diesen gehörte offenbar auch Bouko, Callis Gehilfe, den er ebenfalls im Frachtraum antraf. Statt eines Grußes rief er Yama zu: „Aus jeder diese Früchte lässt sich theoretisch eine neue Pflanze ziehen. Wir müssen nur irgendeine Möglichkeit finden. Wir haben hier viele verschiedene Sorten von jeder Frucht an Bord … Wenn Sie möchten, Captain, kann ich von jeder ein Exemplar auswählen, und wir könnten sie konservieren.“ Yama war dankbar für jeden konstruktiven Vorschlag. „Ja, das klingt gut. Bitte tu das.“ Bouko nickte bestätigend. „Ich habe gehört, dass vor uns eine Mission auf Tokarga liegt.“ „Die liegt nur vor mir. Die Crew bleibt in Bereitschaft, bis ich zurück bin“, informierte Yama ihn. Er hoffte, Bouko würde keine neugierigen Fragen stellen, und er tat es auch nicht. „Mal sehen, ob ich mir etwas überlegen kann, wie wir die Obstplantagen wieder aufbauen können“, sinnierte er stattdessen. „Vielleicht ist ein Teil des Substrats noch nutzbar, wenn es einige Jahre in Ruhe gelassen wird. Wer weiß, ob sich nicht einige Pflanzen auf Garfudias wieder erholen.“ Yama hielt das für illusorische Träumerei. Allerdings hatte er großen Respekt vor Prof. Callis Wissen. Wenn die beiden zu dem Schluss gelangt waren, dass noch Hoffnung bestand … Kurz dachte er darüber nach, Bouko die Holodisc auszuhändigen, damit sie sie anschauen konnten, während er fort war. Doch er verwarf den Gedanken. Es war nicht so, dass diese Sache eilig war, und außerdem wollte er seine eigenen Ideen spinnen, sobald er Zeit dazu hatte. Er könnte das Material auch mit den beiden Botanikern gemeinsam sichten, sobald der Sprengkopf geborgen war. Bis dahin konnte es warten. „Ich hab ihn“, meldete Cervus ohne große Euphorie in der Stimme. Tokargas violett umwölkte Oberfläche, die nur aus tiefen Schluchten und schwindelnd hohen Plateaus zu bestehen schien wie eine mit riesigen Gabeln aufgebrochene Kruste, schwebte ihnen entgegen. Yama erinnerte sich plötzlich Wort für Wort, wie Cervus damals die Stelle benannt hatte, an der Harlock den Sprengkopf platzieren wollte: „Östlich des Waidar-Plateaus, südlich der Gimlis-Schlucht.“ Sein Blick suchte die Gegend ab. Er erkannte nichts wieder. „Wo ist er?“ „Zweiunddreißig Grad drei Minuten nördliche Breite, hundertfünfundzwanzig Grad eine Minute westliche Länge. Er … scheint frei zu liegen, nicht im Gestein.“ Innerlich stieß Yama ein erleichtertes Seufzen aus. Kein Freisprengen. „Wie sieht die Umgebung aus?“ „Sieh es dir selbst an, Captain“, forderte Yattaran ihn auf, der neben Cervus auf die interaktive Karte starrte. Yama trat zu ihnen. Er sah Tokargas Oberfläche in verschiedenene Farben getaucht; die vielen topographischen Unebenheiten machten die Darstellung schwer lesbar. „So sieht die Stelle für unsere Biosensoren aus“, erklärte Yattaran. „Die Sonaransicht bringt uns nichts zur Gefahrenabschätzung.“ „Du meinst die korrosiven Hochdruckgase?“ „Die sind nicht überall, sonst hätte man wohl kaum versucht, hier Menschen anzusiedeln. Hier, die blaue Fläche zeigt an, dass der Ort stabilisiert ist. Siehst du? Keine Geodynamik. Die violetten Felder hier sind in Bewegung, hohe Temperaturen, vielleicht vulkanische Aktivität. Die grünen Flecken sind Höhlen, in denen sich explosive Gase sammeln. Die gelben sind giftig oder ätzend. Aber alles, was blau ist, ist sicher, da kannst du dich ohne Gefahr frei bewegen.“ Yama betrachtete das Interface. Er wusste nicht, auf welche Weise Tokarga weniger feindlich aussah. „Können wir auch Mudouwds auf der Karte sehen?“ „Nur, wenn wir gezielt nach ihnen suchen. Sonst wäre euer Fast-Unglück damals wohl kaum passiert. Die Haut eines Mudouwds ähnelt in ihrer Zusammensetzung so sehr dem Gestein, dass nur die feinste Einstellung des Bioscanners sie unterscheiden kann.“ „Aber er müsste eine dynamische Umgebung bewirken, oder? Sobald er sich bewegt, wäre er in einem violetten Feld.“ „Natürlich“, seufzte Yattaran. „Aber wenn du dich sowieso in einem violetten Feld befindest, wie du und Kei und der Captain damals, dann nützt das nicht viel als Warnung.“ Yama nickte. „Ich mache mich jetzt auf den Weg zum Hangardeck.“ „Viel Glück“, sagte Yattaran. „Ich mein’s ernst.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)