Homecomer von CaroZ (Bound in Darkness 2) ================================================================================ Kapitel 2: Einfall ------------------ 9 Tage zuvor Harlock war betrunken. Es war nicht das erste Mal seit dem Ritual, aber schon das dritte Mal seit seiner Übungsstunde mit Yama. Der Alkohol half ihm, die unerträgliche Stille in seinem Kopf zu betäuben. Vielleicht, sagte er sich, war das einfach seine Art, mit Problemen umzugehen. Andere Leute, die den wichtigsten ihrer Sinne verloren hatten, griffen zu drastischeren Maßnahmen als sich hin und wieder die Kante zu geben. Und dieser Wein war gut. Sie hatten ihn im Venus-Sektor erbeutet, der erste erfolgreiche Überfall unter Yamas Kommando. So schlecht es Yama die ersten Tage gegangen sein mochte, die mentale Verbindung zur Arcadia führte ihn fehlerlos. Es war schneller gegangen als bei Harlock damals – oder? Hatte er nicht tagelang kotzend in einer Ecke gelegen, während sein verwandeltes Schiff, nun ein Piratenschiff, im Orbit des einzigen Planeten herumdümpelte, der ihm je wichtig gewesen war? Und den er in eine Wüste aus unfruchtbarem, von Dunkler Materie durchseuchtem Geröll verwandelt hatte. Harlock streckte sich auf der Chaise longue aus, die früher stets Miime okkupiert hatte. Der einzige gespannte Muskel in seinem Körper war der in seinem Arm, der das Weinglas halbwegs gerade hielt. Wahrscheinlich bot er einen bemitleidenswerten Anblick. Aber wen interessierte das? Jeder andere auf diesem Schiff hatte gerade genug eigene Probleme. Als Harlock Yama zu seinem Nachfolger ernannt hatte, hatte er nicht vorgehabt, Probleme zu haben, geschweigedenn zu verursachen. Er wollte wie ein Schatten in Yamas Nähe sein, wenn dieser sich ans Steuerrad klammerte und die ersten Befehle erteilte, wie ein Kleinkind am Treppengeländer das Gehen übt. Seine Präsenz sollte der Crew klarmachen, dass Harlock hinter Yama stand und nicht bereit war, das Feld schon jetzt zu räumen. Nichts, das sollten sie wissen, passierte ohne Harlocks Zustimmung. Er wollte eine stumme Erinnerung daran sein, dass er es war, der Yama auf diesen Platz gesetzt hatte, dass es noch immer seine Verantwortung war, was geschah, und dass niemand es wagen sollte, Yamas Kommando in Frage zu stellen, jene Autorität, die Harlock selbst ihm verliehen hatte. Ha. Guter Plan, sehr militärisch. So hätte es laufen sollen. Doch dann, als er wieder auf seinem Thron saß, wollten die Männer plötzlich nicht mehr unter ihm dienen. Wollten gehen. Nimm das, du alter Narr. Mmmh, noch ein Glas. Was machte das schon für einen Unterschied? Die Tage wurden nicht besser. Mit ungelenken Bewegungen schenkte er sich nach und dachte, dass seine Ablösung durch Yama gerade zur richtigen Zeit passiert war. Wie lange, fragte er sich, hätte die Crew einen Captain Harlock nach seinem Verrat noch toleriert? Wie lange hätten ihre Schuldgefühle es ihm noch erlaubt, sie zu kontrollieren? Sein Einfluss auf seine Männer schwand stetig, die Illusion vom rechtschaffenen, verkannten Helden verblasste ebenso wie das Hologramm auf der Erde und entblößte einen verbitterten, fehlgeleiteten alten Mann ohne Skrupel. Noch viel mehr Leute als die kleine Anzahl, die Shoda genannt hatte, hätten das Schiff verlassen wollen, stünde Harlock noch immer selbst am Ruder der Arcadia. Viele der Männer blieben wegen Yama. Das war ein erhebender und zugleich erschreckender Gedanke. Trotz seiner elitären Herkunft war Yama einer von ihnen; sie kannten seine Fehlbarkeit, hatten seinen inneren Zwist ebenso wie seine Menschlichkeit aus nächster Nähe gesehen. Nun hatte Yama den Abtrünnigen versprochen, dass sie gehen durften. Natürlich ließ er sie einfach gehen – wie Gäste, die wieder abreisten, und nicht als die Deserteure, die sie waren. Ja, es stach. Früher waren die Männer wegen Harlock gekommen. Jetzt gingen sie wegen Harlock. Das nächste Glas widmete er den verdammten Blumen. Yama hatte gesagt, dass nichts anderes auf der Erde wuchs, und Yama musste es wissen, denn Yama war nun schon dreimal dort gewesen. Warum waren sie so dumm gewesen, sich Hoffnung zu machen? Warum klammerten sich die Menschen an jede Hoffnung, die sie finden konnten? Weil sie gratis war? Wie Münzen, die auf der Straße lagen? Er sollte Yama fragen, was für Blumen das überhaupt waren. Wahrscheinlich waren sie genmanipuliert, stammten aus einem der reichen Labore auf dem Mars, die zum Spaß schöne Pflanzen züchteten, die zu nichts nütze waren. Noch ein Glas. Zu guter letzt widmete er sich dem größten aller Probleme. Einem, das mit den anderen überhaupt nichts zu tun hatte, aber der Hauptgrund dafür war, dass Harlock nun seltener nüchtern war als in seinen Jahren als Student an der Militärakademie. Er konnte nicht aufhören, an das Ritual zurückzudenken. Yamas erboste Stimme, zwei Tage zuvor: Verdammt, du weißt, was wir gemacht haben. Ja. Natürlich wusste Harlock, was sie gemacht hatten. Er wachte nachts auf und wusste, was sie gemacht hatten. Er stand unter der Dusche seiner eigenen Nasszelle, wusch sich die Seife ab und wusste, was sie gemacht hatten. Er wusste es, wenn er Yama am Ruder stehen sah, und er hatte es erst recht gewusst, als Yama ihn vor zwei Tagen angeschrien hatte mit seiner aufgeregten, verzweifelten Stimme, in der der beschleunigte Herzschlag zu hören war. Mit unsicherer Hand goss Harlock den kleinen Rest Wein ins Glas und hielt die leere Flasche wie zum stummen Gruß in die Luft. Du hättest ihn gelobt, mein Freund, dachte er. Am liebsten hätte ich ihn mit dir getrunken. Yama trinkt wie ein Fünfzehnjähriger. Harlock kniff die Augen zusammen und hielt ein leises Stöhnen zurück. Er begehrte Yama, wie er seit Jahrzehnten nichts und niemanden begehrt hatte. Er hatte geglaubt, er könnte nichts mehr dieser Art empfinden nach all der langen Zeit, doch Yama hatte von Anfang an etwas in ihm gerührt, vom ersten Moment an, als er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf der Kante der Ladeluke gestanden hatte, die Augen groß und verunsichert wie die eines scheuen Tiers. Und nun … nun wurde es unerträglich. Die Tür öffnete sich mit einem leisen mechanischen Geräusch. Niemand konnte hier hereinkommen, da ein Sperrcode den Zugang verschloss. Niemand außer … „Harlock“, sagte Miime sanft. Sie glitt auf ihn zu, lautlose Schritte auf dem künstlichen Parkett. Er hob nicht einmal den Kopf. Er fühlte nichts. Miime war keine Hilfe mehr; er konnte nicht mehr nach ihr spüren, nicht mehr ihre Gedanken mit seinen berühren, um Wellen des Trosts und der Ruhe von ihr zu empfangen. Keine geistige Verbindung bestand mehr zwischen ihnen. Miime gehörte jetzt zu Yama. Genau wie das Schiff, und die Crew, und alles, was Harlock sich in über hundert Jahren aufgebaut hatte. Würdelos lag er vor ihr auf dem Polstermöbel, das zerzauste Haar in der Stirn, eine Hand schlaff auf der Tischplatte neben dem leeren Glas. Miime setzte sich auf die Kante und bettete seinen Kopf in ihrem Schoß. „Ich bin nutzlos“, murmelte er und glaubte, dass er ihr selbst über seine Gedanken niemals so ehrlich gesagt hatte, was er fühlte. Doch Miime lächelte nur und küsste ihn auf die Nase. Ihr Haar umfloss ihn, als sie beide Arme über seiner Brust kreuzte und sich niederließ, die kühle Wange auf der Hitze seiner Stirn. *** Ungefähr eine Stunde später kam Yattaran zurück, duftend wie ein ganzes Fässchen Zitronenöl. „Könnte sein, dass ich ’ne Idee habe“, verkündete er und genoss es vermutlich, alle Blicke der Brückencrew auf sich ruhen zu wissen. Harlock führte seinen Ersten Maat seit vielen Jahren und wusste, wie gut der Mann seine eigenen Stärken kannte. „Ich hab nachgedacht, ein paar Zahlen durch den Rechner gejagt … Möchte meinen, wir können mit zwei kleineren Energiequellen, wenn wir sie an Positionen mit besonderer Relation zueinander anbringen, den Schild knacken. Der ist gekrümmt, also … Wir müssten nur ein Trionisches Netz zwischenschalten, und wenn wir es richtig verkabeln, lässt sich der Energie-Output wie mit einem Verstärker verfünffachen, ja.“ Harlock sah das ehrliche Erstaunen auf Yamas Gesicht. Yama war immer so herrlich offen, was seine Gefühle betraf, wie ein aufgeschlagenes Buch. „Ein Trionisches Netz“, wiederholte er. „Sind die nicht ziemlich selten?“ „Das war nicht immer so“, übernahm Harlock die Antwort. „Früher wurden Schiffe serienmäßig mit Trionischen Netzen zur Energieverteilung ausgestattet, es war der neuste Stand der Technik.“ „Dann sind sie einfach veraltet?“ „Eher antiquiert.“ „Voltaire-Klasse vier und acht“, ergänzte Yattaran. „Die zum Beispiel haben eins.“ Yama dachte nach und schüttelte den Kopf. „Die Gaia Sanction fliegt keine Voltaire-Klasse-Schiffe mehr. Sie wurden ausgemustert, noch bevor ich geboren war.“ Yattaran lachte auf. „Das heißt aber nicht, dass die nicht mehr fliegen. Vor allem Schmuggler stehen auf restaurierte Voltaire-Schiffe, weil deren Steuerung bis heute bestens kompatibel mit moderner Tarnkappen-Technologie ist.“ „Wenn das so ist, gut. Wo finden wir so ein Schiff?“ Jetzt huschte Yamas forschender Blick zurück zu Harlock. „Es gibt zwei Orte, die wir zuerst ansteuern sollten. Tizmah –“ Harlock hoffte, dass Yama über diesen Planeten bereits etwas gelernt hatte; dort Halt zu machen stand regelmäßig auf dem Programm, denn auf dem zentral gelegenen Tizmah gab es praktisch nichts, mit dem kein Handel getrieben wurde. „– und Themeisias.“ Letztgenannter Planet war gefährlich, eine Hochburg der Kriminalität. Die Patrouillen der Allianz der Planeten trauten sich dort schon lange nicht mehr hin. Yama nickte wieder. Er hatte ohnehin keine andere Wahl, als den Erfahrungswerten seiner Offiziere zu vertrauen. „Einverstanden, wir beschaffen also ein Trionisches Netz. Wie geht es dann weiter – was ist mit den beiden Energiequellen?“ Yattaran kratzte sich hinter dem Ohr, wo sein Bandana noch nass war, als würde er selbst zum Haarewaschen nicht abnehmen. „Gut, dass du fragst. Die müssten es nämlich jede auf immerhin einundzwanzigtausend Terasparks bringen, und keine unserer Waffen kann das – jedenfalls keine, die wir an Bord haben.“ „Was soll das heißen?“, bohrte Kei, die Arme vor der Brust verschränkt. Harlock kam ein unguter Verdacht. Yattaran bestätigte ihn, indem er die Nase feucht hochzog und erklärte: „Wir bräuchten nichts Geringeres als zwei Dimensionenschwingungssprengköpfe.“ *** 5 Tage zuvor Dieses Mal wurde er gestört. Er hatte aufgehört, die Stunden, die er auf der Brücke in Yamas Schatten verbrachte, und die, die er betrunken im Salon herumlag, gegeneinander aufzurechnen; es konnte jedoch gut sein, dass in den letzten Tagen ein gewisses Missverhältnis entstanden war. Schon mehrfach hatte er den Weinvorrat in der Wanduhr aus den Frachträumen nachversorgen müssen, und dass er dies nachts persönlich getan hatte, konnte nur bedeuten, dass ihn das Ausmaß seiner einsamen Gelage selbst beschämte. Hatte er sich während des letzten Zyklus überhaupt einmal auf der Brücke sehen lassen? Wie erging es Yama, während er stundenlang um die Erde kreiste und Neugierige vertrieb – aus Sorge, sie könnten seine Blumen pflücken, oder einfach weil er zu viel Angst hatte, sich stattdessen seiner Vergangenheit zu stellen und mit ihr abzuschließen? Es brauchte Harlock im Grunde nicht zu interessieren. Yama machte den Job am Ruder mittlerweile sehr gut und schätzte die Kräfte des Schiffes richtig ein. Um im Orbit der Erde zu kreisen, dafür brauchte er Harlock schon lange nicht mehr. Währenddessen zog sich das Gefühl von Isolation und Verlassenheit immer stärker um Harlock zusammen wie ein Tourniquet um eine blutende Gliedmaße. Er fühlte sich nicht mehr willkommen in seinem eigenen Zuhause. So hatte er noch nie zuvor empfunden. Doch nun war an der versperrten mechanischen Tür ein hartnäckiges Klopfen zu hören, das einfach nicht aufhören wollte. Miime konnte es nicht sein. Erstens konnte sie sich selbst hereinlassen, zweitens war sie schon den ganzen Tag bei Yama. „Machen Sie auf. Sie wissen genau, dass ich hier reinkomme, wenn ich will!“ Kei. Der Klang ihrer Stimme bewirkte nur ein träges Zucken der Hand, die das halbleere Glas mit den silbernen Ornamenten festhielt. „Was willst du?“ „Reden.“ „Rede mit Yama.“ „Yama soll das Thema sein. Also machen Sie auf oder ich schließe die Türsperre kurz. Irreparabel.“ Gegen seinen Willen schmunzelte er. Nichts auf diesem Schiff war irreparabel, wenn er – … wenn Yama es wollte. „Ich zähle bis drei.“ Was wollte sie so dringend von ihm, dass es nicht warten konnte? „Eins.“ Was konnte auf eine solche Art wichtig sein, dass sie es nicht mit dem Captain selbst besprechen wollte, sondern nur mit seinem ausgemusterten Vorgänger? „Zwei.“ Vielleicht sollte er sich selbst einmotten und aufs Hangardeck stellen, um auf Tizmah an einen Antiquitätensammler verkauft zu werden. „Zweieinhalb.“ Oder ganz einfach von Bord gehen, irgendwo, wo die Bürgerkriege weit weg waren, und sich unerkannt zur Ruhe setzen. „Drei.“ Etwas zischte, und ein paar kleine Funken stoben an den Seiten der hydraulischen Türscharniere vorbei. Dann entstand zwischen den Türflügeln ein schmaler Spalt, in den sich zwei Paar schlanke Finger hineinschoben und die Salontür aufdrückten. In nicht mehr als zehn Sekunden stand Kei im Raum, die blauen Augen vor Missmut sturmumwölkt. „Was zum Teufel machen Sie da, Captain?“ „Ich bin nicht der Captain“, korrigierte er sie automatisch. „Nein, Sie sind nur ein Stück Altinventar, nicht wahr? Vergessen Sie’s. Von mir aus ist Yama der Junior-Captain und Sie der Senior-Captain, mir doch egal, wie ihr das aufteilt. Aber das hier hört jetzt auf.“ Es amüsierte ihn gar nicht, dass sie mit ihm sprach wie mit einem sich daneben benehmenden Teenager. Das hatte sie noch nie getan. Beim Versuch, das Glas elegant abzustellen und Haltung anzunehmen, rollte er fast über den Rand der Chaise longue und konnte sich gerade noch rechtzeitig mit der linken Hand am Boden abstützen. „Kei“, ächzte er, „ich verbitte mir diesen Ton. Wie du weißt, bin ich außer Dienst.“ „Am Arsch“, fauchte sie. „Soll Yama sich jetzt Ihren Umhang anziehen, mit Ihrem Säbel rasseln und sagen, ‚Seht her, ich bin’s, Captain Harlock‘?“ „Ich wüsste nicht, was dagegen spricht. Er ist jetzt der Mittelpunkt dieses Schiffs, die Quelle der Dunklen Materie. Er ist nicht mehr Yama.“ Noch während er sprach, hatte Kei tief Luft geholt, wie um ihn noch einmal tüchtig anzuschreien; doch jetzt ließ sie den Atem mit einem theatralischen Stöhnen entweichen und reckte die Arme in die Luft. „Wie viele von euch gehen?“, fragte Harlock plötzlich. Kei ließ die Schultern fallen und blinzelte verwirrt. „Was?“ „Von der Crew. Wie viele?“ „Ah.“ Kei kreuzte die Arme und betrachtete ihn lauernd. „Was denken Sie denn?“ Er dachte an die Hälfte. Zwanzig. Mehr wären schlimm. Dreißig wäre katastrophal. Vor allem die Crewmitglieder mit Sonderfunktionen waren schwer zu ersetzen. Harte Zeiten kamen auf sie zu … Kei zählte an den Fingern ab. „Sieben.“ „Sieben?“ Harlocks Augenbrauen wanderten aufwärts. „Ja. Die meisten davon sind unsere Freunde von Berda – Sie wissen schon, die Ex-Söldner, die bei den Evakuierungen vergessen wurden. Aber fast alle anderen …“ „Und du bleibst ebenfalls?“, unterbrach er sie, unfähig, der ihn plötzlich durchströmenden Erleichterung über den Weg zu trauen. Sie sah ihn an, als hätte er einen vierzig Jahre alten Witz erzählt. „Hatte ich das nicht klargemacht? Die Arcadia ist mein Zuhause. Was soll ich denn woanders? So sieht es übrigens auch Yattaran, auch wenn es manchmal so aussieht, als wäre er nie zufrieden. Unsere Brückencrew bleibt auch – Alonso, Norrel, Cervus, Caruso … und unsere Schützen … Sato, Roukan, Maji, Tiberius …“ Sie zählte weitere Namen auf, die durch Harlocks misstrauisches Gehör hindurchrauschten. „… und natürlich die Köchin und der Doktor, aber er wünscht sich neuen Strapaleci, wenn wir wieder auf Tizmah sind. Wie kann man diese Katzenpisse nur trinken. Habe ich jemanden vergessen? Oh, im Übrigen war meine Zeit auf der Arcadia die befriedigendste meines Lebens, und auch damit stehe ich nicht alleine da. Mag ja sein, dass ein Musikstück durch ein schlechtes Ende ruiniert wird, doch bei Lebensabschnitten bin ich großzügiger. Bis auf die Sache mit der Zerstörung des Universums waren Sie ein großartiger Captain. Es hat sich gut angefühlt, Teil einer solchen Mannschaft zu sein, eine Mission zu haben, für etwas zu kämpfen. Ich werde so lange damit weitermachen wie möglich.“ Einen Moment lang sah sie ihn so an, wie sie es früher getan hatte, bewundernd, beinahe liebevoll. Dann schien sie wieder zu bemerken, welch zerstörten Anblick er bot, und der Äger kehrte auf ihre Züge zurück. „Wenn wir uns einig sind, dass ich genug Süßholz geraspelt habe, dann bewegen Sie sich jetzt augenblicklich auf die Brücke.“ Harlock wich zurück, als sie mit forschen Schritten auf ihn zuhielt, doch sich ins Polster der Chaise zu drücken half ihm nicht; sofort war Kei bei ihm, ergriff seine schlaffe Hand und zog daran. Ächzend richtete Harlock sich auf. Er fühlte sich wie ein alter Mann – wund und benommen. „Los jetzt, Yama braucht Sie!“, drängte Kei. Harlock stolperte auf die Füße, ließ sich weiter durch den Raum zerren. „Was ist mit Yama?“ „Wir hängen im Asteroidengürtel fest.“ „Weshalb?“, fragte er lahm. „Yama hat kurz die Kontrolle über die Dunkle Materie verloren, weil er einfach verdammt müde ist. Jetzt ist er desorientiert und kriegt das Schiff nicht durch die vielen Gravitationsfelder durchgesteuert. Wir versuchen es schon seit ein paar Stunden.“ Harlock schüttelte ungläubig den Kopf, während er Kei durch die nun nutzlos offen stehende Tür folgte. „Das hättest du mir sofort sagen müssen.“ „Ach ja? Hätte Sie das aus Ihrer bequemen Suhle aus erbärmlichem Selbstmitleid rausgeholt?“ Natürlich!, dachte er und hielt den Mund. Ihr Spott schmerzte, und zu Recht. Doch das spielte überhaupt keine Rolle. Yama hatte Schwierigkeiten, nur das spielte eine Rolle. Alle Köpfe drehten sich, als Harlock hinter Kei die Brücke betrat. Sofort schlug ihm Yamas Erschöpfung entgegen; er glaubte sie am eigenen Körper zu spüren. So sollte es nicht sein. Das war nicht richtig. Auch Miimes Kopf flog zu ihm herum, ihre Augen groß und sorgenvoll. Nur, wer sie nicht kannte, hielt ihre Augen für leer. „Harlock“, murmelte Yama, als Harlock hinter ihn trat und seine Hände auf Yamas legte, um mit ihm das Ruder zu halten. Vor den Fenstern schwebten von Sternstaub glattgeschliffene Asteroidenbrocken, kleine und sehr große. Keiner von ihnen war eine Bedrohung – es sei denn, man hatte eine neu gewonnene Sensibilität gegen die im All wirkenden Kräfte zu überwinden. „Atme tief durch, Yama. Hör auf, gegen die Arcadia zu kämpfen. Sie wird dir sagen, was du tun musst.“ Yama stöhnte leise. „Es geht nicht … Irgendwie schaffen wir es nicht, die Schwerkraft zu überwinden. Erst die eine, dann eine nächste, und die Asteroiden, sie sind überall, ich kann nicht … kann nicht …“ Nicht all die Anweisungen zeitgleich ausführen, dachte Harlock. Es sind einfach zu viele auf einmal. So viele Eindrücke, so viele Richtungen … Er wusste noch sehr genau, wie sich das anfühlte. Dem Gefühl der eigenen Unfähigkeit folgten Stress, Macht- und Hilflosigkeit, dann nackte Angst. Yamas blasses, ermattetes Gesicht sagte: Wir kommen hier nie mehr raus, wir sterben hier, weil ich versagt habe. Fester umfasste er Yamas kalte Finger, die vor Anstrengung zitterten. „Konzentrier dich, Yama. Einmal noch. Und hab keine Angst. Lass mich führen.“ „Aber du kannst nicht …“ „Ich habe schon Schiffe geflogen, als du noch lange nicht geboren warst“, schnitt Harlock ihm sanft, aber bestimmt das Wort ab. „Ich werde auf Sicht steuern. Kümmere du dich nur um den Schub. Lass dir eingeben, wie du den Gravitationsring überwinden musst. Erfühle ihn.“ Yama atmete tief durch und nickte. Harlock hielt Yamas Hände mit seinen eigenen und spürte, wie sie sich langsam unter den Handschuhen wieder erwärmten. Vorsichtig drehte er das Rad, ohne das riesige Frontfenster aus dem Auge zu lassen. Früher, als die Arcadia nichts weiter als eines von vier Deathshadow-Klasse-IV-Schiffen gewesen war, hatte er auf unzählige Monitore gestarrt, die ihm beim Navigieren und Rangieren halfen; nun hatte er nur noch das Fenster, das, was er mit dem bloßen Auge sehen konnte. Und Yama hatte die Dunkle Materie, um seine Hand zu führen. Um beides miteinander zu vereinen war Yama noch nicht erfahren genug im Umgang mit seinen neuen telepathischen Fähigkeiten, doch er würde es lernen. Es war nur zum Teil eine Kunst, zum anderen ein Handwerk. Bald würde Yama ohne Harlocks Hilfe Asteroidenfelder durchkreuzen können, um Verfolger abzuschütteln; er würde durch sie schweben wie ein Schlafwandler, eine Hand am Steuerrad, das die Dunkle Materie in seinem Kopf bewegte. Bald. Aber nicht jetzt. Nicht, wenn er überfordert und dem geistigen Zusammenbruch so nahe war. Ich hätte ihn nicht allein lassen dürfen. Fünfunddreißig quälend lange Minuten kroch die Arcadia aus dem Asteroidengürtel heraus. Yama, halb ohnmächtig, dosierte den Schub, um die wirkenden Kräfte zu überwinden, während Harlock hochkonzentriert durch die Gesteinsbrocken hindurch manövrierte. Endlich, als die Anspannung kaum mehr auszuhalten war, drifteten sie ins freie All hinaus. Harlock fing Yama auf, als dessen Knie unter ihm nachgaben und er gegen ihn sackte. „Tut mir leid, ich wollte nich’ …“, kamen beschämte Worte als halb verständlicher Brei aus ihm heraus. Harlock hielt ihn umfasst, drehte ihn um und schob ihn vom Steuerrad weg, bis sie seinen Thron erreichten. „Setz dich“, sagte er schlicht, bevor er Yama behutsam herunterdrückte. Unelegant plumpste Yamas Hintern auf den hohen Stuhl; er hatte dort noch nie gesessen, es wäre ihm im Traum nicht eingefallen, diesen Platz von Harlock einzunehmen. „Ruh dich aus. Ich übernehme das Ruder, bis wir wieder auf dem richtigen Kurs sind.“ Yama konnte nicht mehr tun als nicken. Er saß auf dem Thron wie jemand, der dort nicht hingehörte. Harlock ging zurück zum Steuerrad und tauschte einen kurzen Blick mit Yattaran, dann mit Kei. Letztere formte mit den Lippen einen Satz, der wahrscheinlich lautete: Wagen Sie es nie mehr, ihn so lange allein zu lassen. Hatte sich Yamas Nase nicht eben gekräuselt, als er den Alkohol an Harlock gerochen hatte? War sein Blick nicht halb erleichtert, halb enttäuscht gewesen? Harlock drehte das Rad mit ruhiger Hand, um die Arcadia zu wenden. Bis zur Sperrzone musste Yama noch durchhalten, dann konnte er sich von einem Crewmitglied ablösen lassen und eine Mütze voll Schlaf nehmen. Das war das letzte Mal, dachte Harlock und schob im Geiste die sabotierte Tür zum Salon zu. Er hatte beschlossen, seine Würde zu behalten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)