Beautiful Behavior von Varlet ================================================================================ Kapitel 13: Die Geschichte von Sharon Vineyard ---------------------------------------------- Vermouth saß auf dem Sofa in ihrem Hotelzimmer und nippte an einem Glas Wein. Ihr Zimmer war groß, beinahe schon eine Wohnung und ausgestattet mit einem Schlafzimmer, Wohnzimmer, einer kleinen Kochnische und ein Badezimmer mit Dusche und Wanne. Viele hätten gesagt, dass das Zimmer luxuriös eingerichtet wäre, aber für die Schauspielerin war ein solches Leben mittlerweile zum Standard geworden. Und sie konnte sich nicht vorstellen, diesen Standard je wieder zu verlieren. Anders als ihre Kindheit. Damals hatte sie alles verloren. Die kleine Familie musste sehen, wie sie über die Runden kamen. Ihren Vater kannte sie nicht, doch ihre Mutter tat alles Erdenkliche um Sharon ein gutes Leben zu ermöglichen. Sie stellte sogar ihre eigenen Bedürfnisse hinten an, sparte und unterstützte ihre Tochter bei allem was sie tat. Als Sharon in der Schule das erste Mal auf einer Bühne stand, kamen ihre Talente zu Vorschein. Sharon konnte sich schnell einen Text merken und sich in eine andere Rolle hineinversetzen. Sie wusste, wie sie Gefühle spielen musste, wie sie welche Ausdrücke verwenden sollte und wann es notwendig war zu improvisieren. Sie wurde gelobt und sollte in weiteren Stücken auftreten. Auch ihre Mutter war von den Darbietungen ihrer Tochter begeistert und begann, sie zum Schauspielunterricht zu schicken. Sharon fiel schon damals auf und wurde bereits in ihrer Jugend für Werbespots, Fotos und kleine Auftritte in Filmen gebucht. Die junge Frau tat alles, um möglichst viel Geld zu verdienen, damit sich die Rollen verschoben und sie ihre Mutter unterstützen konnte. Da Ruhm vergänglich war, lebte sie im Hier und Jetzt, denn sie wusste, dass die Rollen schlechter werden würden, je älter sie würde. Aus diesem Grund wollte sie sich immer etwas Eigenes aufbauen – etwas, das sie von den anderen Schauspielern unterschied. Aber so früh am Anfang ihrer Karriere fand sie es nicht und so war sie nur eine von vielen, die die Schauspielschule absolvierte. Durch die immer gleichen – kleinen Rollen – war Sharon schnell gefrustet und hatte das Gefühl, nur auf der Stelle zu treten. Die Rollen waren keine Herausforderung mehr und sie gab sich noch kaum Mühe. Dennoch war sie auf jedes Vorsprechen angewiesen, aber der große Durchbruch ließ auf sich warten. Irgendwann fand sie einen Umschlag in ihrem Briefkasten. Er war von einem anonymen Unterstützer, der ihr nicht nur einen Flyer sondern auch zwei Karten für die Magie-Vorstellung von Toichi Kuroba schickte. Anfangs war sie aus dem Häuschen, doch wäre sie nicht zu der Vorstellung gegangen, wäre alles anders geworden. Sharon erinnerte sich noch heute wie fasziniert sie von dem Illusionisten gewesen war. Kuroba bewegte sich elegant und geschmeidig wie eine Katze, während seiner Vorführung und schlüpfte andauernd in andere Rollen. Rollen der Gäste. Während der Vorstellung hatte er sie beobachtet und kurz darauf ihr Verhalten imitiert. Anfangs war Sharon davon ausgegangen, dass die Menschen mit dem Magier unter einer Decke steckten, aber dann wurde ihre Mutter nachgemacht. Beinahe perfekt. Noch während des gesamten Heimwegs grübelte sie darüber wie es der Magier geschafft hatte. Zu Hause recherchierte sie über ihn, las Artikel und sah sich freizugängliche Videos an. Aus den Zeitungsausschnitten erfuhr sie von dem Hotel, welches er bewohnte und suchte ihn am nächsten Tag auf. Kuroba hatte gerade das Hotel verlassen und war auf dem Weg zum Flughafen. Ohne groß darüber nachzudenken, war sie einfach in das Taxi gestiegen und hatte mit dem Reden begonnen. Erst als sie damit fertig war, bemerkte sie die skeptischen Blicke des Taxifahrers und seines Gastes. Toichi lachte und reichte ihr seine Karte. Sie sollte sich bei ihm melden, wenn sie genau wusste was sie wollte. Nachdem Beide am Flughafen ausstiegen, verabschiedeten sie sich und Sharon starrte die Visitenkarte mit der Telefonnummer an. „Nutzen Sie die Chance.“ Sharon sah auf. Ein älterer Mann lächelte sie an und drückte ihr ein Flugticket nach Japan in die Hand. Sie sah ihn irritiert an. „Nutzen Sie die Chance“, wiederholte er und verschwand in der Menge. Sharon starrte auf das Flugticket und runzelte die Stirn. Sie steckte das Ticket ein und fuhr nach Hause. Dort erzählte sie ihrer Mutter von der merkwürdigen Begegnung und wurde von dieser sogar noch darin bestärkt, das Angebot des Fremden anzunehmen. Und so war sie drei Tage später tatsächlich nach Japan geflogen. Sie hatte sich das Land ganz anders vorgestellt und war verwundert, als sie Yukiko bei dem Zaubrer traf. Sie war seine Schülerin und schon bald zählte Sharon auch als diese. Sharon und Yukiko ergänzten sich gut. Während Sharon anfing ein paar Brocken japanisch zu lernen, verbesserte Yukiko ihr Schulenglisch. Und Toichi unterrichtete die beiden Frauen zweisprachig. Nach einem halben Jahr kehrte Sharon wieder nach Hause zurück. Am Flughafen wurde sie von der Zollabfertigung in ein kleines Zimmer gebracht. Sharon versuchte sich ihre Nervosität und Irritation nicht anzumerken, aber die beiden Männer machten es ihr nicht einfach. Sie hatten sich die erste halbe Stunde angeschwiegen, aber dann durchbrach die junge Schauspielerin die Stille und wollte wissen, was die Männer mit ihr vor hatten. Sie waren sofort zum Punkt gekommen und boten ihr an, für ihre Organisation zu arbeiten. Selbstverständlich hatte Sharon dieses Angebot abgelehnt, doch damit ließen sie sie nicht durchkommen. Sie hatten sie gefördert – auch wenn die junge Frau nichts davon wusste – und nun forderten sie ihren Preis. Sharon lehnte das Angebot ein weiteres Mal ab und machte sich auf den Weg nach Hause. Dort verstand sie erst das gesamte Ausmaß der vergangenen Monate. Vier Stunden nachdem sie die Wohnung betrat, wurde sie von der Polizei besucht, die ihr berichteten, dass ihre Mutter Opfer eines Verkehrsunfalls mit Fahrerflucht wurde. Sie war noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben und hinterließ ihre Tochter – die nur noch ein Häufchen Elend war. Nachdem die Polizei weg war, rief sie eine unbekannte Nummer auf dem Handy an. Als Sharon ran ging, stockte ihr der Atem. Es war jener Mann vom Flughafen, der wissen wollte, ob sie nun zu einer anderen Entscheidung gekommen war. Und das war sie. Sie hatte keine andere Wahl, denn ansonsten würden weitere Menschen in ihrer Umgebung sterben. Das hatte sie nun verstanden. Und damit hatte sich ihr Leben endgültig verändert. Seit jenem Tag gehörte sie zur Organisation und musste viele fürchterliche Dinge tun. Damals hatte sie noch an einem Ausstiegsplan gearbeitet und sich unter verschiedenen Pseudonymen ein neues Leben aufgebaut. Sie hatte sogar Informationen über ihren Boss gesammelt und sicher verwahrt. Aber wann auch immer sie endlich aussteigen wollte, ließen sie ihr ein eindeutiges Zeichen zu kommen. Die Organisation wusste alles und sie ließen sich nicht in die Karten schauen. Nur deswegen hatte Sharon weiter für sie gearbeitet, sich hochgearbeitet, einen Codenamen bekommen und mutierte irgendwann zum Liebling des Bosses. Er würde sie nie gehen lassen, dafür hatte er viel zu viel in sie investiert. Sie baute ihre japanisch Kenntnisse aus, bekam Unterrichtseinheiten zu Medizin, Jura, Kriminalistik und zu anderen Themen. Außerdem bekam sie Sportunterricht, um ihre körperlichen Fähigkeiten auszubauen und natürlich auch ein Schießtraining. Besonders in der Anfangszeit wurde sie oft getestet. Es ging so lange, bis sie in vielen Disziplinen nahezu perfekt war. Und deswegen wusste sie, dass sie nur noch eine Wahl hatte: sich ihrem Schicksal fügen. Wenigstens war sie seitdem nur noch für die Informationsbeschaffung und Aufklärung zuständig und musste sich nur selten die Hände schmutzig machen. Und trotzdem wurde sie nicht von allen Mitgliedern der Organisation gemocht. Es gab zwar einige, die gern mit ihr arbeiteten, aber andere… Sie warfen ihr immer Alleingänge vor, aber so war es schon immer. Sie agierte eben oftmals alleine und war letztlich doch nur auf sich gestellt. Wem konnte sie denn schon vertrauen? Aber das war nicht schlimm. Mittlerweile hatte sie sich in der Organisation auch einen gewissen Ruf aufgebaut und keiner wagte es, ihr jetzt noch Befehle erteilen zu wollen. Und was war mit ihren Freunden? Eigentlich gab es nur noch Yukiko, aber mit dieser konnte sie sich kaum treffen. Yukiko war Mutter geworden und sie wollte nicht schon wieder ein Kind in Gefahr bringen. Da die Organisation auch weiterhin ihre Schritte überwachte, nahm sie zu Yukiko Abstand. Wenn sie herausfanden, dass es noch jemanden gab, der ihr etwas bedeutete, würde es nicht gut enden. Nicht einmal der Freitod half ihr, weil das Gift, das innerhalb der Organisation entwickelt wurde, seine Wirkung gänzlich anders entfaltete. Statt zu sterben, hatte es ihr Leben auf eine andere Art und Weise verlängert. Sie war wieder jung. Jung und schön. Chris Vineyard – ihre Tochter war an jenem Tag geboren und bekam eine Hintergrundgeschichte fernab des Medienrummels. Aber mit Make-up alleine konnte sie Niemanden täuschen. Sich alt schminken war eine Sache, sich alt zu benehmen eine andere. Es war anstrengend, aber auch diese Rolle hatte sie mit Bravour gemeistert und meisterte sie noch immer. Aber nun musste Sharon sterben und wer war dafür am besten geeignet, wenn nicht das Mädchen von damals? Vermouth hatte sie all die Jahre über beobachtet und immer gewusst, wo sie sich befand. Das Mädchen sollte ihre Karte in die Freiheit sein – auch dann wenn ihr das FBI auf die Schliche kam. Die Schauspielerin leckte sich über die Lippen. Sie hatte noch genügend Trümpfe auf der Hand und kam es zum Äußeren, würde sie diese auch nutzen. Durch die Organisation hatte sie sich komplett verändert. Sie würde alle Chancen nutzen, die sich ihr ergaben, sogar Risiken, wenn sie ihren Zielen dienten. Und ihr Selbstvertrauen war mittlerweile groß, anderen Personen gegenüber sogar noch größer. Selbst wenn die Situation ausarten würde, aufgrund ihrer Schauspielkunst würde sie sich schnell auf die neuen Begebenheiten einstellen und versuchen einen Vorteil aus der Sache zu ziehen. Ihr scharfer Verstand wurde glücklicherweise jahrelang von der Organisation trainiert und erlaubte es ihr, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Nicht zu vergessen, die weibliche Intuition. Sie hatte ihr schon oft das Leben gerettet. Vermouth stellte das Glas auf den Tisch und schlug die Beine übereinander. Die Schauspielerin klappte ihren Laptop auf, startete ihn und tippte ihr Passwort ein. Anschließend wählte sie ein Programm aus und steckte sich einen Kopfhörer in das Ohr. Sie war in ihrer neuen Rolle als Milena Sherman – der Tochter des Privatermittlers Edward Sherman mal wieder aufgegangen. Nicht nur, dass der Mann ausgerechnet Jodie unter seine Fittiche nahm, seine Detektei war überhaupt nicht gesichert. Vermouth konnte ganz einfach rein und in den Räumen Abhörgeräte anbringen, ohne dass diese ein Störgeräusch zur Folge hatten. Sie hatte sich sofort Zugang zu den wichtigsten Akten – hauptsächlich zu Jodie – verschafft und studiert. Nun kannte sie vieles in der Beziehung von Jodie zu den Angestellten der Detektei und konnte bei der jungen Frau noch viel einfacher die richtigen Knöpfe drücken. Und als Milena hatte sie selbst dafür gesorgt, dass Jodie nicht nur von ihrer Anwesenheit in New York wusste, sondern auch, dass sie es war, die in jener Nacht im Haus war. Der Plan war damals zwar schief gegangen, aber sie hatte das Beste aus der Situation gemacht und das Ergebnis ließ sich sehen. Jetzt bekam die Schauspielerin sogar in Echtzeit mit, was die junge Frau tat und sie würde ihr auf jeden Fall auf den Friedhof folgen. Die Schauspielerin lächelte. „The show must go on“, sagte sie zu sich selbst. Sie nahm den Kopfhörer aus dem Ohr und legte ihn auf den Tisch. Anschließend beendete sie das Abhörprogramm und rief eine andere Datei auf. Sie überflog die Daten und schmunzelte. Nun war es Zeit für die nächsten Schritte. Sie musste ihren Plan in die Tat umsetzen, ehe sie Jodie nicht mehr in eine ganz bestimmte Richtung drängen konnte. Und sie wusste schon, wer sie dabei unterstützen konnte. Außerdem musste sie jenen Mann für sein Schweigen tadeln. Ein Grinsen legte sich auf ihr Gesicht. Sie würde ihm Angst machen und ihn an seine Loyalität erinnern. Vermouth nahm ihr Handy und rief das Telefonbuch auf. Alle Einträge waren codiert und sie suchte jenen raus, den sie brauchte. Sie tippte auf das Wählen-Symbol und wartete. Es klingelte, bis er den Anruf entgegen nahm. Vermutlich wusste er, dass sie es war. Aber das war okay. Er sollte wissen, mit wem er es zu tun bekam. „Tri…pton.“ Seine Stimme zitterte. „Hallo Roy, ich bins“, antwortete sie ruhig. „Hast du mich vermisst?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)