Reboot von MizunaStardust ================================================================================ Kapitel 1: Harddrive Crash -------------------------- 1. Harddrive Crash   „Ja, in der Tat. Unsere brandneue Mi-Duellarena fürs heimische Wohnzimmer ist die Innovation, die die DuelMonsters-Branche dringend gebraucht hat. Mit ihrer zusammenfaltbaren Oberfläche für die praktische Verstauung und ihren neuen Funktionen, wie einer digitalen Anzeige der Kartentexte auf dem Monitor und der Anpassung der Hologrammgröße, schafft sie ein ganz neues Spielerlebnis für das eigene Zuhause. Aber bevor ich selbst weiter von den Vorzügen unseres Produkts berichte, hören wir es uns doch von jemandem an, der das Spielerlebnis besser beurteilen kann als jeder andere es kann: von König der Spiele höchstpersönlich.“ Obgleich man Seto Kaiba ansah, dass er die Bühne nur unwillig für eine weitere Person räumte, trat er einen Schritt hinter den Tisch mit dem präsentierten neusten Marketing-Wunder der Kaiba-Corp. zurück und gab dem jungen Mann mit den tiefgründigen violetten Augen und der bunten Sternfrisur Raum, wahrgenommen zu werden.   „Ja, vielen Dank für die Einladung, Seto“, lächelte dieser höflich und gefasst. Setos Augen funkelten gefährlich ob der vertrauten Anrede, die er als ganz und gar unpassend empfand. „Tatsächlich hatte ich viel Freude mit dem DuelDome Mini 2001, das mir die KaibaCorporation freundlicherweise zum Test zur Verfügung gestellt hat“, berichtete der kleinere Duellant, „die praktischen Anpassungen für zu Hause machen es absolut lohnenswert, sich die Arena als Ergänzung zur mobilen DuelDisk anzuschaffen. Außerdem kann man die Duell-Arena auch problemlos mit zu Freunden nehmen und überall nutzen. Der Akku hält wortwörtlich ewig und man kann das Gerät gut und gerne zehn Stunden am Stück verwenden.“ Seto nickte zufrieden. Genauso hatte er sich das vorgestellt. Sein Plan ging voll und ganz auf und er war sich fast sicher, dass zum morgigen Verkaufsstart bereits vormittags alle lokalen Läden bereits ausverkauft sein würden.   „Einzig die kleinen Ruckler bei der Hologrammdarstellung zwischendurch mindern das Spielvergnügen ein wenig“, schloss der Gast schließlich seine mündliche Produktrezension und Setos Blick, der bisher starr auf die Vertreter von Presse und Einzelhandel gerichtet gewesen waren, die er zum Launch des neuen Produktes geladen hatte, flog ärgerlich zum König der Spiele hinüber.   Es war jetzt vollkommen still im Foyer der Kaiba Corporation. Heiße Wut kochte wie schäumende Lava in Seto hoch und er musste sich zusammenreißen, den kleineren Duellanten nicht am Kragen zu packen und aggressiv zu schütteln. Wie konnte dieser neunmalkluge Trottel es überhaupt wagen, sein Produkt öffentlich schlechtzureden, wo er ihm doch eigentlich nur dankbar sein konnte, dass er hier eine Plattform fand, seine eigene Person zu profilieren?! Dieser kleine Wichtigtuer wusste wohl nicht, mit wem er sich hier anlegte! Aber diese Anwandlungen würde er ihm schon austreiben! Na warte!   „Ja … vielen Dank, Atemu, für deine ehrliche Meinung und die Zeit, die du in den Test unseres Produkts gesteckt hast!“ Bevor Seto zu einer Erwiderung ansetzen konnte, war ihm sein jüngerer Bruder, zu Hilfe geeilt, um eine Eskalation zu verhindern und die Situation diplomatisch zu entschärfen, „und mit deinem letzten Punkt sprichst du auch schon das einzige Manko an, das unsere Arena bislang aufweist und an dem wir natürlich bereits mit Hochdruck arbeiten.“   Der 16-Jährige Kaibabruder hatte bei der Entwicklung dieses Produkts zum ersten Mal eine federführende Rolle eingenommen und seine Sache dabei sehr gut gemacht. Und im Augenblick war Seto tatsächlich dankbar für seine überragenden kommunikativen Fähigkeiten, denn seine eigene Reaktion auf Atemus Kritik wäre wohl sehr zum Nachteil des Rufs seiner Firma ausgefallen. „Allen, die unser DuelDome Mini 2001 schon jetzt erwerben, wird selbstverständlich zeitnah ein kostenloses Softwareupdate zur Verfügung stehen, das diese Kinderkrankheit behebt. Auch alle künftigen Updates sind im Übrigen vollkommen kostenfrei verfügbar.“   Als alle Fragen der Presseleute beantwortet und die Champagnergläser geleert waren, trat Mokuba zu Atemu, der sich die ganze Zeit über dezent, aber nicht unbehaglich am Rande des Geschehens aufgehalten hatte. „Danke, dass du uns heute für den Launch unterstützt hast“, begann er in seiner üblichen offenen Manier, „das war echt unschlagbar. Wir …“ Weiter kam er jedoch nicht, denn in diesem Augenblick näherte sich der ältere Kaiba den beiden wie eine bedrohliche Gewitterwolke und Mokuba verstummte augenblicklich.   „Für was bedankst du dich hier eigentlich, Mokuba?“, presste Seto schnarrend hervor, wobei er seinen geladenen Gast mit seinem herablassendsten Blick in Augenschein nahm, „etwa dafür, dass unser sogenannter Pharao unsere Produkte sabotiert, statt sie, wie vereinbart, zu bewerben?!“ Die stechend blauen Augen des Firmenchefs sprühten vor Abneigung und Angriffslust, als er die Arme vor der Brust verschränkte und buchstäblich auf den ehemaligen ägyptischen Herrscher herabblickte.   Doch dieser hielt seinem Blick tapfer stand, ohne sich in die Ecke drängen zu lassen. Schließlich stellte er ruhig sein halbvolles Glas auf einem kleinen Tisch ab und strich sich eine der blonden Strähnen seiner dreifarbigen Frisur aus dem Gesicht, bevor er sich seinem Gastgeber seelenruhig wieder zuwandte und zu einer Antwort ansetzte. „Ich hatte unsere Abmachung so verstanden, dass ich euer Produkt testen und ehrlich bewerten soll. Ich denke nicht, dass du es mir vorwerfen kannst, dass ich diesen Anlass nicht als Aufforderung gedeutet habe, für dich zu lügen. Denn dann hätte ich die Einladung gewiss ausgeschlagen.“   Ein giftiges Brennen wie von ätzender Säure breitete sich in Setos Brust aus, wenn er diese widerlich selbstgerechten Worte aus dem Mund seines ewigen Kontrahenten hörte. Er trat einen Schritt näher auf den Kleineren zu, bevor er seine Stimme zu einem bedrohlichen Wispern senkte. „Du hörst mir jetzt mal gut zu, mein Lieber: Ganz egal, was du in deinem vorherigen Leben warst oder dir einbildest gewesen zu sein“ – Bei den letzten Worten verdrehte Atemu entnervt die Augen, denn er wusste ganz genau, dass Seto sich der Wahrheit über ihre gemeinsamen Ursprünge nur zu genau bewusst war und sich trotzdem immer wieder hartnäckig als Zweifler gab. – „all diese Privilegien sind hier und heute verwirkt. Du solltest also besser so schnell wie möglich begreifen, wer diese Stadt hier wirklich regiert und mit wem man es sich besser nicht verscherzen sollte. Und sobald ich deinen Titel von dir zurückgeholt habe, wirst du über Kurz oder lang ohnehin irgendwo in den Z-Promi-Schlagzeilen verlorengehen! Also gewöhn dir deinen unangebrachten Stolz besser früher als später ab!“   Mit diesen Worten knallte er ebenfalls sein Glas auf das Tablett einer vorbeihuschenden Bedienung und ließ seinen Gast stehen, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. Dieser fing Mokubas entschuldigenden Gesichtsausdruck auf und begegnete ihm seinerseits mit einem mitleidigen Blick. „Atemu, tut mir leid, ehrlich. Seto meint es nicht so und kriegt sich schon wieder ein“, entschuldigte sich der Schwarzhaarige peinlich berührt für seinen Bruder. „Ist schon gut, Mokuba“, winkte der ehemalige Pharao ab, „es ist bedauerlich, dass Seto nach wie vor diesen Sturm nicht kontrollieren kann, der so unaufhörlich in ihm tobt. Aber ich mache ihm deshalb keine Vorwürfe. Wir alle sind von unserer Vergangenheit zu denen gemacht worden, die wir heute sind. Ich wünsche mir sehr für Seto, dass er es schafft, seinen Frieden mit seiner Vergangenheit zu schließen und endlich loszulassen. Andernfalls befürchte ich, dass er in einer Sackgasse landet und auf unangenehme Art und Weise lernen muss, dass sich etwas in seinem Leben verändern muss.“   Mokuba sah ihn nachdenklich an und Sorgenfalten bildeten sich auf seiner Stirn. Atemu hatte ausgesprochen, was er selbst nicht selten gedacht und befürchtet, aber sich nie getraut hatte auszusprechen. Und doch war er ratlos und überfordert, wie er seinem Bruder helfen konnte, den Zorn und dieses unbändige, ziellose Streben – nach was, das wusste wohl nicht einmal Seto selbst – unter Kontrolle zu bringen oder zu zerstreuen. „Ehrlichgesagt“, gestand er dem Älteren leise, „ich mache mir auch Sorgen um Seto. Ich finde es ja toll, dass er seinen Beruf liebt und dass es ihm Spaß macht, neue Produkte zu kreieren, aber das hier … das ist etwas anderes. In den letzten Monaten wirkt er gar nicht mehr glücklich und erfüllt, sondern wie getrieben. Als wäre er alleine in einem Tunnel, von dem er nicht einmal weiß, wohin er überhaupt führt. Ich weiß nicht, wohin ihn dieses Leben noch bringen soll und ob er jemals irgendwo ankommt. Es geht nicht immer noch weiter, noch höher. Ich meine … das kann doch nicht alles für ihn sein, oder doch?“ Atemus Blick wurde warm und verständnisvoll. „Nein, ich denke nicht“, entgegnete er sanft.   ~*~   Derjenige, dessen seelische Verfassung hier so ausführlich diskutiert wurde, war derweil mit dem Aufzug in sein Büro gefahren und hatte die wichtigsten Dinge zusammengepackt: Unterlagen, Laptop, Headset und einen Prototyp des neuen Produkts. Noch heute würde er für eine Marketing-Reise in die USA fliegen und war sich sicher, dort einige größere Ketten als Kunden zu gewinnen. Als er alles in seinem Koffer verstaut hatte, wies er Roland an, den Wagen vorzufahren, und wandte sich geschäftig zum Gehen.   Als er das Licht im Büro ausschaltete, wanderte sein Blick zu den unzähligen, winzigen Lichtern des nächtlichen Domino City, die er aus seinem Panoramafenster sehen konnte. Woher es so urplötzlich kam, konnte er nicht sagen, aber ein überwältigendes Gefühl der Beklemmung überkam ihn in diesem Augenblick und er brauchte einige Sekunden, bis er es niedergekämpft hatte. Kurz schloss er die Augen und all die Geräusche um ihn herum – die Gespräche der Mitarbeitenden, das Piepen und Summen der Scanner und Drucker, das Hupen von Autos draußen – all das kam ihm seltsam entrückt vor.   „Seto, alles klar?“, vernahm er plötzlich die Stimme seines Bruders an seiner Seite. Er nahm eine gerade Haltung ein und festigte den Griff um seinen Aktenkoffer. „Selbstverständlich. Was auch sonst. Gute Arbeit heute, Moki. Ich verlasse mich darauf, dass hier alles glattläuft, solange ich weg bin“, sagte er und berührte seinen jüngeren Bruder kurz und vertrauensvoll am Arm. „Klar Seto, so wie immer. Und du pass auf dich auf, ja?“   Schließlich ließ der Chef der KaibaCorporation die unerwünschten Emotionen des heutigen Tages hinter sich und trat aus der großen automatischen Fronttür des Firmengebäudes in die kühle, wohltuende Nachtluft. Er atmete einmal tief ein- und aus, bevor er sich auf den Weg zum Wagen machte, den Roland auf der anderen Straßenseite geparkt hatte.   Doch er hatte kaum einen Fuß vor den anderen gesetzt, als sein Kopf sich von einem auf den anderen Moment fühlte, als würde er implodieren. Ein gewaltiger Schmerz überwältigte ihn binnen weniger Sekundenbruchteile und löschte alles andere um ihn herum aus. Alle Kraft wich aus seinem Körper und er sank auf die Knie, die Hände an seinen Kopf gepresst, wie ein Spielball einer höheren Macht, mit der er den Kampf nicht einmal aufnehmen konnte.   Dann ein Piepen in seinem Ohr. Alle anderen Geräusche wie unter Wasser. Die Klarheit in seinen Gedanken zerschlagen, begraben.   Dann nur noch Bruchstücke von Ereignissen, Eindrücken. Sirenen, aufgeregte Stimmen, sein Name.   Jemand kniete neben ihm. Jemand, den er kannte. Es war nicht Mokuba. Dieser Jemand sprach auf ihn ein, sagte etwas zu ihm. Scheinbar etwas von Bedeutung. Dann wieder Dunkel. Hell, wieder dunkel. Wieder hell. Und dann nichts mehr.   ~*~   Jemand erwachte in einem Krankenhaus. Steriler Geruch, bedrückendes Weiß. Zeit schien aus dem Raum gesaugt. Personal wuselte unaufhörlich ins und aus dem Zimmer. Immerzu dieser pochende Kopfschmerz.   „Können Sie uns Ihren Namen sagen?“ Natürlich konnte er. Was für eine Frage. „Können Sie uns Ihr Geburtsdatum nennen?“ Wollen sie ihn für dumm verkaufen?   „Können Sie uns sagen, was Sie in den letzten Stunden getan haben?“ – Natürlich konnte er. – Oder etwa nicht? Er wollte. Er sollte. Er müsste doch. Aber da war nichts. Leere. Schmerzende Leere. Und immer dieser hämmernde Schmerz in seinem Kopf.   „Können Sie uns sagen, was sie beruflich machen?“ – Darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. Sollte er etwa? Hatte das eine Relevanz in seinem Leben? Seine Mutter hatte oft gesagt, er würde sicher mal was mit Zahlen machen. Weil er so gut im Mathematikunterricht war. Aber so sehr er auch in seinem Kopf kramte, etwas anderes trat nicht zum Vorschein.   „Psychogene Amnesie“ hörte er es mehrmals aus dem Mund der Ärztin. Aber er wusste nicht, was es bedeutete. Hatte es etwa mit ihm zu tun? Und wann ließen sie ihn endlich in Frieden. Wann würden sie ihn endlich nach Hause gehen lassen? Aber zu Hause … wo war das überhaupt?       Kapitel 2: System Diagnosis --------------------------- 2. System Diagnosis Sechs Augenpaare waren gespannt und verunsichert auf Mokuba Kaiba gerichtet, als dieser seine Teetasse vom Unterteller aufnahm und einen Schluck daraus nahm, während er sich offenbar erst einmal sammelte. „Mokuba, nun erzähl schon!“, drängelte Tristan schließlich ungeduldig, „wie geht’s deinem Bruder? Und warum hast du uns heute einbestellt?!“ „Ja!“, stimmte Joey sofort mit ein, „und stimmt es denn jetzt echt, dass der gute Kaiba sein Gedächtnis verloren hat??“ Mokuba setzte die Tasse behutsam wieder ab, dann nickte er resigniert. „Ja, es ist wahr“, bestätigte er schließlich die Gerüchte, die sich seit einigen Tagen hartnäckig in den Lokalmedien hielten. „Schrecklich“, murmelte Yugi betroffen und Atemu warf ihm einen kurzen Blick zu. Eine Woche war vergangen seit Setos Kaibas unerwartetem Zusammenbruch und vor drei Tagen war er wieder in sein Domizil im Villenviertel von Domino City zurückgekehrt. An diesem Samstagnachmittag hatte der jüngere Kaiba Yugi und seine Freunde schließlich in die Kaibavilla gebeten. Diese saßen nun auf Sofas und Sesseln in dem offenen, hellen Wohn-Ess-Bereich und blickten ihrem Gastgeber gespannt entgegen. „Also wie muss man sich das nun vorstellen?“, hakte Duke schließlich nach, „heißt das etwa, Kaiba hat aktuell nicht die geringste Ahnung, wer er ist?“ „Nein, ganz so einfach ist es nicht“, entgegnete der 16-jährige Kaibabruder, „Seto erinnert sich durchaus an seine Kindheit und glücklicherweise auch an mich. Erst kurz bevor wir ins Waisenhaus abgeschoben wurden, wird sein Gedächtnis brüchig.“ „Ach“, die kleine Gruppe wirkte erstaunt und machte große Augen, „aber was sagen denn die Ärzte, warum das so plötzlich passiert ist? Und warum gerade jetzt?“ Mokuba zuckte bedrückt mit den Schultern. „Sie haben etliche Tests gemacht, aber trotzdem können sie die Ursache der Amnesie nicht eindeutig bestimmen. Auch das medizinische Team der KaibaCorporation konnte nicht mehr Licht ins Dunkel bringen. Jedenfalls sind sich alle in dem Punkt einig, dass ein physischer Auslöser ausgeschlossen werden kann, da kein Schädel-Hirn-Trauma oder Ähnliches vorliegt.“ „Und was heißt das im Klartext? Kannst du das mal auf Joey übersetzen?“, fragte der temperamentvolle Blondschopf und kratzte sich ratlos am Kopf. „Es heißt, dass die Ursache psychischer Natur ist. Ich hatte ehrlichgesagt schon länger das Gefühl, dass es Seto nicht sonderlich gutgeht. Vielleicht ist das ja einfach die Art und Weise seines Körpers, ihm zu zeigen, dass etwas in seinem Inneren nicht rundläuft. Das ist jedenfalls die einzige Erklärung, die ich euch geben kann.“ „Mit anderen Worten: Kaiba ist ein Fall für die Geschlossene?“, grinste Joey und Yugi stieß ihm mit einem strengen Blick den Ellbogen in die Seite. „Schön und gut“, bemerkte Ryou in seiner üblichen sanften Art, „aber aus welchem Grund hast du uns denn nun heute einbestellt? Du hast am Telefon gesagt, du bräuchtest unsere Hilfe. Was können wir denn nun für deinen Bruder tun?“ „Liegt das nicht auf der Hand?“, stellte Mokuba die Gegenfrage, „wir sind für alles dankbar, das Seto dabei helfen könnte, einen Teil seiner Erinnerungen zurückzubringen oder den Prozess zumindest anzuregen. Das schließt natürlich auch die Personen in seinem persönlichen Umfeld mit ein. Tja, und da Seto nicht viele enge Kontakte pflegt, wart ihr meine erste Anlaufstelle. Ich erhoffe mir, dass es vielleicht etwas mit Seto macht, wenn er euch sieht. Ja, ich wünsche es mir so sehr, denn er kann sich jetzt schon eine Woche lang an nichts erinnern. Nicht an die Firma, nicht an unser zu Hause, nicht an … und nichts scheint sich zu verändern. Ich weiß einfach nicht weiter. Ich will nicht daran denken, was ich tun soll, sollte er …“ Er brach abrupt ab, da seine Stimme brüchig wurde. Schließlich senkte er den Kopf und schluckte einen dicken Kloß in seinem Hals herunter. Yugi setzte sich neben ihn und legte ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter. „Ich kann verstehen, wie du dich fühlst. Aber bitte gib noch nicht auf. Wir helfen dir. Wir tun, was wir können, Mokuba. Das versprechen wir dir.“ Es war noch nicht so lange her, dass er selbst sich in einer ähnlichen Situation befunden hatte. Schließlich hatte auch er ebenfalls für kurze Zeit geglaubt, einen Menschen für immer zu verlieren, der für ihn wie seine Familie geworden war. Doch es war glücklicherweise anders gekommen und Atemu war nicht ins Totenreich übergetreten. Dennoch konnte Yugi Mokuba seine Ängste nachfühlen: Wenn ein solcher Mensch all die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit verlor und noch dazu alles, was ihn bis dato geprägt hatte, war das denn nicht vergleichbar mit dem Verlust des Menschen selbst? „Danke Yugi“, sagte Mokuba, „das bedeutet mir viel. Also schön. Dann werde ich Seto mal dazuholen. Er ist schon den ganzen Tag ziemlich aufgeregt, euch kennenzulernen.“ ~*~ Seto blickte in das fremde Gesicht im Spiegel, das genaugenommen nicht vollkommen fremd war. Vielmehr war es erwachsener, als er es bisher gekannt hatte. Dem pausbäckigen Jungen mit den großen, strahlendblauen Augen war ein schlankes, müdes Erwachsenengesicht gewichen. Auch seine neugierigen Augen blickten ihm im Spiegel stumpfsinniger und weniger aufgeweckt entgegen, als er sie in Erinnerung hatte. Gedankenlos zeichnete er mit den Zeigefingern die markanten Konturen nach. Die Stirn, die Wangenknochen, das Kinn. Er wusste und spürte deutlich, er war kein Kind mehr. Er war ein erwachsener Mann und fühlte sich auch so, daran gab es keinen Zweifel. Aber der Weg, den er dorthin zurückgelegt hatte, war nicht mehr als unzählige verdeckte Memory-Kärtchen, die sich vor ihm erstreckten und die an der Tischplatte festgeklebt waren, sodass er keines davon umdrehen und nachsehen konnte, welches Motiv sich darunter befand. Wenn er sich so im Spiegel betrachtete, fühlte er rein gar nichts. Innerlich war er wie ausgehöhlt. Als er sich das nachtblaue Hemd zuknöpfte, das ihn noch erwachsener wirken ließ, und aus dem angrenzenden Bad zurück in sein Schlafzimmer kehrte, fiel sein Blick wie von selbst auf die Spielkarten auf seinem Nachttisch. Obenauf auf dem Kartendeck lag ein Motiv, das ihm vertraut war: der weiße Drache mit eiskaltem Blick. Er blickte es gerne an, denn es löste etwas in ihm aus. Eine wohlige Wärme kroch seinen Rücken hinauf und bis in seine Fingerspitzen, ähnlich dem Gefühl, das er hatte, wenn er sich an das Wenige erinnerte, das ihm von seinem Leben geblieben war: Der Tag, als er mit Mama und Papa zusammen eine Sandburg gebaut hatte. Die seltenen Vormittage, an denen er erkältet war und nicht in den Kindergarten gehen musste. Stattdessen hatte ihm Mama oft etwas vorgelesen und er hatte zugesehen, wie sie in der Küche Gemüse für dsa Mittagessen schnippelte. Dann sein siebter Geburtstag, an dem er seine allerersten DuelMonsters-Karten in der Hand gehalten hatte. Das aufgeregte Ziehen, das er verspürt hatte, als er mit Papa einen Ausflug ins Planetarium gemacht hatte. Die kindliche Freude, die er empfunden hatte, als er sich auf dem Rummel auf dem Rücken eines weißen Drachen schneller und schneller um das Karussel drehte. Der Moment, in dem er Mokuba zum ersten Mal auf dem Arm halten durfte, dieses kleine, hilflose Geschöpf. Die schweren Wochen nach Mamas Tod, in denen Papa dunkle Ringe unter den Augen hatte, aber stets lächelte und sagte, sie müssten tapfer sein. Sie würden das alles schon irgendwie schaffen und Seto solle sich keine Sorgen machen. Und dann schließlich der Tag, an dem er und Mokuba mit seiner Tante im Krankenhaus standen und bang darauf warteten, dass die Ärztin ihnen eine Nachricht über Papas Zustand überbrachte. Diese letzte Erinnerung, die er aus seinen inneren Schubladen hatte kramen können, zeigte seinen Bruder mit etwa fünf Jahren. Ab da wurde in seinem Kopf alles nebelig. Nun war Mokuba bereits 16. Äonen schienen vorbeigezogen zu sein, doch sie schienen ihn hier vergessen zu haben. Noch immer stand er hier und wartete, dass die Zeit ihn in ihrem Fluss erfassen würde. Vom einen auf den nächsten Augenblick hieß er plötzlich Kaiba. Ein vollkommen fremder, kalter Name, der nichts mit ihm zu tun zu haben schien. (*) Die Tür öffnete sich und Mokuba streckte vorsichtig den Kopf ins Zimmer. „Seto, sie sind hier“, sagte er, „bist du bereit?“ Er nickte, obwohl er sich ganz und gar nicht bereit fühlte. Doch er hatte sehr wohl wahrgenommen, wie sein Bruder in den letzten Tagen stumm unter der Situation gelitten hatte. Mehr noch, als er selbst es tat. Deshalb wollte er alles tun, damit sich die Dinge so schnell wie irgend möglich veränderten. Alles über sich ergeben lassen, ganz gleich wie unangenehm es sich auch für ihn gestalten würde. Zwei Minuten später schritt er hinter seinem Bruder her in den großen Wohn-Essbereich, wo sich augenblicklich sechs Personen erhoben. Seto musste schmunzeln, da er wahrnahm, dass diese sechs Menschen sich in dieser absurden Situation fast ebenso unwohl fühlten wie er selbst. Auch für sie musste dies hier eine mehr als ungewöhnliche Erfahrung sein. „Seto, das hier sind Tristan und Ryou, Duke und Yugi. Sie sind alle mit dir zur Schule gegangen“, erklärte ihm Mokuba eifrig. Der Reihe nach schritt Seto an jedem vorbei und neigte jedes Mal höflich den Kopf. „Freut mich“, sagte er, während er versuchte, in den nichtssagenden Gesichtern irgendeinen Anhaltspunkt zu finden – auf was, das wusste er nicht so genau. Doch er war sich sicher, dass es das war, was Mokuba von ihm erwartete. Und was er selbst wollen sollte. Ein sehr kleiner junger Mann holte nun sein Smartphone aus seiner Hosentasche und zeigte Seto ein Foto von einer weiteren Person. „Das hier ist Tea“, erklärte er ihm freundlich, „sie wohnt aktuell in New York, aber sie war ebenfalls in deiner Klasse.“ Seto nickte verstehend, doch auch das sympathisch wirkende brünette Mädchen löste keinerlei Geistesblitz oder Emotion in ihm aus. Als er schließlich bei einem jungen Mann mit wildem, aschblonden Haar Halt machte, bemerkte er dessen argwöhnisches Gesicht. „Dein Look …“, begann Seto nachdenklich und sofort nahm sein Gegenüber eine abwehrende Haltung ein und ballte seine Hände zu Fäusten. „Kaiba, du widerlicher Geldsack! Sogar ohne jegliche Erinnerung an mich kannst du es dir nicht nehmen lassen, dich über mich lustig zu machen! Das ist ja wieder mal typisch! Na warte!“, presste er zwischen den Zähnen hervor. Doch Seto blieb vollkommen ruhig. „dein Look … der gefällt mir echt gut. Mokuba, sag mal, war ich denn in der Schule wirklich mit so coolen Leuten befreundet?“, wandte er sich überrascht an seinen Bruder. „Das äh … also sowas in der Art“, stammelte Mokuba, während dem völlig perplexen Joey die Kinnlade herunterklappte. „Das also – du – das ist – und überhaupt – was soll – und ich … bin jetzt ehrlichgesagt ziemlich verwirrt“, brabbelte er unzusammenhängend drauf los, während Seto bereits weitergegangen war. Der letzte in der Reihe war ein junger Mann von schlanker Statur mit einer Stachelfrisur, ähnlich der des anderen eh3maligen Mitschülers, den er zuvor begrüßt hatte. Doch wirkte dieser junge Mann im Vergleich erwachsener, würdevoller und nachdenklicher. Als Seto ihn neugierig musterte, hob er seinen Blick und für einen Augenblick war der ältere Kaiba erstaunt über die Tiefgründigkeit und Verständigkeit der beiden amethystfarbenen Augen, die ihn fragend und erwartungsvoll in Augenschein nahmen, als könnten sie auf den Grund seiner Seele sehen. „Seto, das ist Atemu“, erläuterte Mokuba, „er war nicht in deiner Klasse, sondern ähm …“ Während er noch überlegte, wie er seinem Bruder dessen Verbindung zum ehemaligen Pharao am besten erklären sollte, ohne dass es absolut abstrus klang, geschah etwas Seltsames: Zuerst breitete sich ein warmes Gefühl in Setos Magen aus und er spürte, wie die Leere in seinem Inneren etwas anderem wich, etwas Mächtigem, Gewaltigem. Da war irgendetwas, das sich in seine Gedanken schob wie ein antiker Schrein, auf dessen Inhalt er jedoch nicht zugreifen konnte. Und trotzdem fühlte es sich so vertraut an, schien ihm so nah zu sein, dass der Wunsch in ihm wuchs, es zu berühren und nicht gehenzulassen. Seine Hände begannen zu schwitzen und die Intensität dieses Augenblicks explodierte schließlich als hunderte goldener Funken vor seinen Augen. Binnen Sekundenbruchteilen krümmte er sich abermals auf dem Fußboden und hielt sich verzweifelt den Kopf, während der junge Mann erschrocken zurückwich und Mokuba neben ihm kniete und hektisch auf ihn einredete. Doch er konnte nicht antworten. Alles um ihn herum wurde gewaltsam verdrängt von diesem Druck auf seinem Kopf und diesem überwältigend vertrauten Gefühl. ~*~ Zehn Minuten später trat Mokuba wieder zu den anderen, nachdem er Seto in sein Zimmer gebracht hatte. „Er ruht sich jetzt etwas aus“, erklärte er, während die anderen ihm besorgt entgegenblickten. Schließlich trat Atemu vor. „Mokuba, was passiert ist, tut mir sehr leid. Ich denke, es ist besser, wenn ich mich ab hier aus der Sache ausklinke. Ich möchte nicht, dass dein Bruder meinetwegen aufgewühlt ist oder sogar Schmerzen erleiden muss.“ Mit diesen Worten setzte er sich in Richtung Tür in Bewegung, doch der jüngere Kaiba hielt ihn mit einem „Atemu, warte!“ zurück. Der ehemalige Pharao hielt in der Bewegung inne und blieb verunsichert stehen, wandte jedoch nicht den Kopf zu ihm um. „Ich wünschte, du würdest bleiben“, erklärte Mokuba ihm fast flehend, „denn ich sehe das vollkommen anders als du. Auch wenn das eine unangenehme Erfahrung für Seto war, war das eben genau das, was ich mir von diesem Zusammentreffen erhofft hatte. Um ehrlich zu sein war ich erleichtert, weil es mir gezeigt hat, dass Setos Erinnerungen noch nicht verloren sind. Die starke Verbindung, die mein Bruder und du durch eure Verbindung zum alten Ägypten teilt, und sicherlich auch die Rivalität, die er heute für dich fühlt – etwas davon scheint diese körperlichen Reaktionen bei ihm ausgelöst zu haben. Deshalb bitte ich dich nochmals: Hilf meinem Bruder, sich zu erinnern! Bitte!“ Nun drehte sich Atemu überrascht zu ihm um und sein Blick wurde warm und verletzlich. Schließlich fragte er: „Also gut. Aber was kann ich tun?“ ~*~ Durch den pochenden Schmerz in seinem Kopf hindurch sah er ein prächtiges Gebäude, das fast wirkte wie ein Palast. Da war Wüste und heiße, stehende Luft auf seiner Haut. Etwas lag in der Luft, ein gewisses Mehr, als ob sich ein samtiger Schleier aus Magie und Mystik an die Realität schmiegte. Und da war wieder dieses vertraute Gefühl, als er erneut in diese überwältigend violetten Augen starrte, die ihm die Luft abschnürten und ihm doch gleichzeitig einen Druck von der Brust nahmen. Der junge Mann, den er heute in seinem Wohnzimmer gesehen hatte, trug jetzt ein weißes Gewand mit einem prächtig verzierten Gürtel und einem dunkelvioletten Cape. Außerdem einen goldenen Kopfschmuck. Und aus unerfindlichen Gründen war es Seto, als habe das alles so seine Richtigkeit. Als gehöre diese Kleidung vielmehr zu ihm als die anliegende Jeans und das pflaumefarbene Shirt, das er heute unter einer schwarzen Lederjacke getragen hatte. Das alles verwirrte ihn, aber gleichzeitig wollte er den Augenblick auch fest in sich einschließen, weil er ihn zum ersten Mal seit Tagen spüren ließ, ihm zumindest einen Hauch des Gefühls zurückgab, zu wissen, wer er war und wo er hingehörte. Als er erwachte, pochte sein Kopf nur noch schwach und die Eindrücke seines Traums waren bereits nach wenigen Minuten fast vollständig verblasst und der altbekannten Leere gewichen. Es klopfte und Mokuba öffnete leise die Tür und linste ins Zimmer. „Wie geht’s dir?“, wollte er wissen. Ächzend richtete Seto sich auf. „Ich weiß nicht“, entgegnete er wahrheitsgemäß. „Heute solltest du dich noch etwas erholen“, schlug sein Bruder vor. Dann setzte er hinzu: „Ist dir … denn etwas eingefallen?“ Seto dachte an seinen Traum und begriff nicht. „Ich – bin mir nicht sicher“, gestand er. „Hör zu“, druckste Mokuba etwas unsicher herum, „Atemu würde gerne etwas Zeit mir dir verbringen, um dir dabei zu helfen, deine Erinnerungen an ihn zurückzuholen. Nachdem du heute so heftig auf ihn reagiert hast …“ „Möchte denn Atemu das oder hast du ihn vielleicht darum gebeten?“, unterbrach Seto seinen Bruder schmunzelnd. Mokuba sah ihn ertappt an. „Ich möchte doch nur, dass wir alles versuchen, was in unserer Macht steht!“, erklärte er sich schließlich kleinlaut. „Schon gut“, nickte Seto, „ich mache es ja.“ „Ehrlich?“, der Jüngere wirkte sichtlich erleichtert. „Klar, was denn sonst?“ ------------ (*) Ich wollte mich hier an die Timeline im Manga halten, aber ehrlichgesagt gibt es da einige zeitliche Inkongruenzen. In der Serie ist Seto 18 und Mokuba 11. Setos und Mokubas Mutter starb bei Mokubas Geburt und ihr Vater als Seto acht und Mokuba drei war (was schon mal nicht passt, weil Seto dann nur fünf Jahre älter wäre als Mokuba). Seto müsste also eigentlich schon 10 gewesen sein, als sie ins Waisenhaus kamen. 10 soll er aber gewesen sein, als er gegen Gozaburo gewinnt und von ihm adoptiert wird. Oder Mokuba müsste erst ein Jahr gewesen sein, was mir auch unwahrscheinlich vorkommt. Außerdem bringt Seto Mokuba ja im Waisenhaus Schach bei, und ich bezweifle, dass das bei einem Dreijährigen so gut funktioniert (mit einem Einjährigen schon gar nicht). :D In dieser Geschichte soll Seto seine Erinnerungen an das Waisenhaus, seine Adoption und alles, was danach kam, verloren haben. Er hätte dann aber Mokuba gar nicht richtig gekannt und in meiner Wahrnehmung ist Mokuba im Waisenhaus schon etwas älter. Deshalb seht es mir nach, wenn es hier mit dem Alter manchmal nicht so ganz passt. Kapitel 3: Defragmentation -------------------------- 3. Defragmentation „Und was genau hast du jetzt vor?“, fragte Yugi sein ehemaliges Alter Ego, als er am Wochenende mit ihm und Ryou zusammen in einem kleinen Café platzgenommen hatte. „Was genau meinst du?“, erkundigte sich Atemu in gespieltem Unwissen. „Na, in Bezug auf Kaiba. Wie willst du jetzt an die Sache rangehen? Was genau willst du ausprobieren, um seine Erinnerungen zurückzuholen?“ „Ich … dachte, das entscheide ich relativ spontan“, der ehemalige Pharao rührte elegant in seinem Cappuccino, sein Blick jedoch haftete angestrengt auf seiner Tasse, „Mokuba hat da wohl etwas für uns organisiert, einen Tisch in einem Restaurant. Und den Rest können wir gemeinsam entscheiden, sobald wir miteinander warmgeworden sind.“ Yugi und Ryou warfen sich einen kurzen, aber vielsagenden Blick zu, der Atemu nicht entging. Entnervt atmete er aus und rollte mit den Augen. „Was? Was genau ist euer Problem? Nun rückt endlich raus mit der Sprache, statt nur um den heißen Brei herumzureden.“ Yugi seufzte. „Nichts, nur … ich denke, es wäre vielleicht besser, du würdest dich nicht weiter in diese Geschichte einmischen.“ Nun richteten sich Atemus herrschaftliche Augen auf ihn. „Ach ja, und was spricht deiner Meinung nach dagegen?“, fragte er pikiert, aber ruhig. „Ich weiß, du erhoffst dir hiervon viel“, mischte sich nun Ryou in das Gespräch ein, „und ich verstehe dich ja irgendwo auch. Aber … der ganzen Sache ist nicht zu trauen. Ihm ist nicht zu trauen. Das weißt du doch genauso gut wie wir. Und du weißt ebenfalls, dass es nicht so bleiben kann, wie es jetzt ist. Kaiba wird wieder zu dem zurückkehren müssen, was er vorher war. Was er im Grunde nach wie vor ist.“ „Wir möchten doch nur nicht, dass du verletzt wirst“, fügte Yugi hinzu, während sein warmer Blick fürsorglich auf dem Pharao lag, „oder dass jemand anderes durch all das hier verletzt wird.“ Mit einem unangenehmen Quietschen schob Atemu seinen Stuhl zurück und erhob sich abrupt. „Ich bin heute nicht hergekommen, um mir eure Moralpredigten anzuhören“, sagte er mit Stolz in seiner sonst so sanften und warmen Stimme, „wenn ihr sonst nichts zu sagen habt, dann entschuldigt mich bitte. Ich habe einen Termin mit Kaiba wahrzunehmen.“ „Atemu, bitte! So sehr du dich auch dagegen wehrst, du musst …!“ Doch den Rest hörte Atemu bereits nicht mehr. Er nahm einen tiefen Atemzug der kühlen Luft und versuchte, sein Gemüt zu beruhigen. Erinnerungen an Ereignisse der letzten Jahre übermannten ihn mit einem Mal. Schließlich beschloss er kurzerhand, vor seinem Treffen mit Seto Kaiba noch einen Abstecher in den Park zu machen, um seine Gedanken zu ordnen. ~*~ „Yugi!“, Atemu drehte sich um, als er Setos kalte, schnarrende Stimme hinter sich vernahm. Obwohl nicht sein eigener Name gefallen war, wusste der Pharao, dass er der Angesprochene war. Der Firmenbesitzer, der zuvor abseitsgestanden hatte, war an die kleine Gruppe herangetreten, die gerade ihren Sieg über Dartz und die Freude über die abgewendete Bedrohung auskostete. Atemu blickte seinem Rivalen mit offener Haltung entgegen. So, wie er es immer tat. So, wie bei ihrem ersten Duell in der heutigen Zeit, bei dem er sich gezwungen gesehen hatte, Setos Seele zu zersplittern, um dem Geschäftsmann einen neuen Zugang zu sich selbst zu eröffnen. So wie in dem Moment, in dem sie sich im BattleCity-Halbfinale erneut gegenübergestanden hatten und in dem ihrer beider Gedanken zu den Ereignissen im alten Ägypten zurückbefördert worden waren. Und so wie bei all den Kämpfen, die sie Seite an Seite bestritten hatten. „Ich stehe schon wieder in deiner Schuld und das gefällt mir nicht“, eröffnete Kaiba ihm trocken, „danke jedenfalls, dass du das Duell für mich zu Ende gespielt hast.“ Atemu nickte. Er mochte es selbst ebenfalls nicht, wenn man anderen etwas schuldig blieb, obwohl es für ihn heute selbstverständlich gewesen war, Kaiba zu helfen. „Kein Grund, mir zu danken. Unsere Decks haben sich heute wirklich hervorragend ergänzt“, sagte er lächelnd. Er zögerte einen Augenblick und atmete einmal tief durch, bevor er sich ein Herz fasste und mit sanfter Stimme und etwas leiser hinzufügte: „Aber – wenn du dich so dringend bei mir revanchieren willst: Wie wäre es, wenn wir diese Karten-Kombos bei Gelegenheit mal etwas ausfeilen, wenn es nicht darum geht, die Welt zu retten?“ Mit einem Mal pochte sein Herz heftig gegen seine Brust und er versuchte, aus Setos eisblauen Augen zu lesen, wie dieser seinen unerwarteten Vorschlag aufnahm. In seinen versteinerten Zügen versuchte er, auch nur die geringste Regung zu erhaschen. Doch Kaibas Blick blieb hart und sein Mund verzog sich zu einem überheblichen Grinsen. „Denkst du allen Ernstes, ich habe Interesse daran, dir mehr Einblick in meine Strategien zu geben, als es heute nötig war, und dir damit einen Vorteil gegen mich zu verschaffen? Das könnte dir so passen! Das nächste Mal, wenn unsere Karten im selben Raum zum Einsatz kommen, wird es bei meiner Revanche gegen dich sein, lass dir das gesagt sein!“ Damit wandte er sich abrupt ab und kehrte zu seinem Bruder zurück. Atemu sah ihm mit einem wehmütigen Gefühl nach. Es war nicht direkt Enttäuschung, die er verspürte. Nein, im Grunde hatte er gar nichts anderes erwartet. Und doch war da jedes Mal, wenn sie miteinander zu tun hatten, dieser unvermittelte Wunsch, Kaiba näher zu sein, als er es bisher war. Diese Neugier darauf, was für ein Mensch zum Vorschein kam, wenn man die unüberwindbare Barriere aus vorgetäuschter Unantastbarkeit durchbrach. Und ein unbändiger Ehrgeiz erwachte ihn ihm, derjenige zu sein, dem dieses Meisterstück gelang. Ein Ehrgeiz, der lange absolut absurd schien, da er selbst für Seto als eigenständige Person unsichtbar war. Da es in seinen Augen nur Yugi Muto gab. Deshalb hatte Atemu lange nicht die geringste Möglichkeit gesehen, wie sein Vorhaben für ihn zu bewerkstelligen war. Ja, nicht einmal, nachdem er endlich einen eigenen Körper und damit ein eigenes Leben gewonnen hatte und Seto hatte erkennen müssen, dass Atemu als eigenständige Persönlichkeit neben Yugi existierte und dass uralte Verstrickungen sie beide verbanden. Bis zum heutigen Tag. Denn von einem auf den anderen Moment hatte sich plötzlich diese Möglichkeit aufgetan. Ein lange verschlossene Tür hatte sich für ihn geöffnet. Und nun lag es ganz in seiner Hand, was er daraus machte. Und auch wenn ihm Setos heftige Reaktion auf sein Erscheinen zuerst einen großen Schrecken eingejagt und viele Zweifel heraufbeschworen hatte und es sein erster Impuls gewesen war, die Sache auf sich beruhen zu lassen – insgeheim wusste er, dass er zu entschlossen war, um diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen. Ganz egal, wie viele Warnungen Yugi oder Ryou auch aussprachen und welche Konsequenzen sein Handeln nach sich ziehen würde. Mit dieser Entschlossenheit erreichte er schließlich nach einem kleinen Umweg das Kaiba-Anwesen und zögerte nicht, an dem mächtigen, beeindruckenden Tor klingeln. ~*~ Draußen dämmerte es bereits, als sie einander in einem mehr als noblen Restaurant gegenübersaßen und ein Kellner ihnen eine Vorspeise brachte, die man auf dem Teller mit der Lupe suchen musste und deren Namen sie beide nicht einmal hatten aussprechen können. „Weißt du“, entschuldigte sich Seto ein wenig verlegen, „Mokuba hat das hier ausgesucht. Ich bin mir nicht so sicher, was er sich dabei gedacht hat. Ich weiß, dass ich in meinem neuen … in meinem jetzigen Leben – finanziell gut aufgestellt bin. Trotzdem fühlt sich das hier für mich momentan genauso ungewohnt an wie für dich auch.“ „Vermutlich“, äußerte Atemu einen Verdacht, „wollte dein Bruder einfach nicht, dass man dich in einem normalen Laden ausfindig macht und es noch mehr Schlagzeilen über dich gibt als ohnehin in den letzten Tagen schon.“ „Das ist gut möglich“, nickte Seto und malte nervös mit dem Finger Kreise auf seiner Stoffserviette. Atemu wusste, es war jetzt an ihm, die Initiative zu ergreifen und dafür zu sorgen, dass Seto sich wohlfühlte. Erst in den Sekunden, bevor ihm das Tor des Anwesens geöffnet worden und er über das Gelände zur Kaibavilla geschritten war, war ihm bewusst geworden, wie sehr er sich davor fürchtete, dass Setos Reaktion auf seinen Besuch dieses Mal ähnlich ausfallen würde wie beim letzten Mal. Doch glücklicherweise waren die körperlichen Symptome ihres ersten Kontakts diesmal ausgeblieben. Allein das ließ Atemu Mut schöpfen. „Also schön, dann schieß mal los: Woher kennen wir beide uns nun, wenn nicht aus der Schule? Nachdem es mich bei unserem ersten Treffen buchstäblich umgehauen hat, bin ich natürlich mehr als neugierig.“ Der Firmenchef lächelte nun schüchtern und hob den Blick, was dem Pharao ein flattriges, warmes Gefühl in der Magengegend bescherte. „Bist du denn bereit für die ganze Geschichte?“, fragte er schmunzelnd und in seinen Augen blitzte ein verschmitzter Funke auf. „Tja, schwer zu sagen ohne den geringsten Anhaltspunkt“, seufzte Seto, „aber was solls. Rück schon raus damit. Ich möchte alles wissen, was mir helfen kann. Und bitte lass nichts aus.“ Etwa zehn Minuten später beendete Atemu seinen Bericht. Während er geredet hatte, hatte er die ganze Zeit über aufmerksam Setos Gebaren beobachtet. Aber weder hatte es den Anschein erweckt, dass seine Worte bei seinem Gegenüber irgendwelche Erinnerungen an die Oberfläche befördert hätten, noch wirkte Seto von dem eben Gehörten sonderlich verblüfft oder aus der Bahn geworfen. „Und … du sagst also, ein Vorfahre von mir war ein Hohepriester im alten Ägypten? Und das ist der Grund, warum unsere Leben auch in der Gegenwart eng miteinander verwoben sind?“ „Besser hätte ich es nicht zusammenfassen können“, bestätigte Atemu beklommen was Seto wiederholt hatte und fügte dann hinzu: „Du wirkst nicht sonderlich überrascht. Die Geschichte ist wohl zu abstrus, um sie überhaupt ernstzunehmen, was?“ „Nein, das … das ist es nicht“, Seto schüttelte langsam den Kopf, „es ist nur: Bisher habe ich zu wenig Informationen, um mir eine Meinung darüber zu bilden. Ich habe jedenfalls noch keine Anhaltspunkte, die deiner Aussage widersprechen. Außerdem scheint Mokuba an das zu glauben, was du sagst, was ebenfalls dafürspricht, dass es damit eine Bewandtnis hat.“ Atemu lächelte. Innerlich hatte er sich bereits auf heftigen Protest von Setos Seite eingestellt. Dass dieser seinen Behauptungen so offen gegenüberstand, erschien ihm wie ein abstruser Traum. Viel zu surreal, um wahr zu sein. Für einige Sekunden sahen sie sich einfach nur an, während das eben Gehörte bedeutungsschwanger zwischen ihnen im Raum stand. Atemus mysteriöse Augen strahlten nun eine Wärme aus, die auch Seto nicht kaltzulassen schien. Jedenfalls ließ der Firmenbesitzer abwesend sein Glas sinken und musterte den Pharao neugierig von seiner Seite des Tisches aus. „Weißt du“, ergriff Atemu erneut das Wort, „ich war vor einigen Jahren in einer ganz ähnlichen Situation wie du jetzt. Ich konnte mich nämlich an meine Vergangenheit als antiker Herrscher lange nicht erinnern.“ „Ach“, Seto zeigte sich überrascht. Atemu nickte. „Ja und deshalb kann ich sehr gut nachvollziehen, wie du dich fühlst. Diese Unruhe und das Gefühl, dass alle anderen besser zu wissen glauben, wer man ist, als man es selbst weiß.“ „Ja, das trifft es tatsächlich verdammt gut“, gab Seto verwundert zu. „In dieser Situation wurde ich von Yugis Schulfreundin Téa auf ein ähnliches Treffen geschleift wie du heute von mir“, lächelte der Pharao, „und nach einigen peinlichen Abstechern auf der Shopping-Meile und in der Spielhalle gab es dann tatsächlich doch noch einen Programmpunkt, der mir sehr geholfen hat.“ „Und welcher war das?“, fragte Seto interessiert. „Ich würde es dir gerne zeigen, wenn du damit einverstanden bist“, entgegnete Atemu. ~*~ Dreißig Minuten später standen sie im Domino-Museum in derselben Halle, in der Atemu und Téa an ebenjenem Abend gestanden hatten, als Kaiba seinerzeit den Start des BattleCity-Turniers verkündet hatte. Vor ihnen befand sich die riesige Steintafel, die auch Atemu damals erste Anhaltspunkte zu seiner Vergangenheit hatte geben können. Und zu seiner Verbindung mit Kaiba, die seine Vergangenheit und Zukunft bestimmte. Wie damals war der Raum wie ausgestorben und ihre Schritte hallten an den Wänden wider. „Ich bin dir vielleicht keine große Unterstützung, wenn es um die Erinnerungen an deine Jugend geht. Dabei kann dein Bruder dir sicher besser helfen. Aber ich kann dazu beitragen, dass du besser verstehst, warum einige Dinge in deinem Leben geschehen sind“, sagte Atemu leise. Er stand dicht neben Seto, der mit offenem und analytischem Blick die Gravuren auf dem Stein begutachtete. „Das hier bist tatsächlich eindeutig du“, stellte er fest, indem er auf Atemus steinernes Abbild zeigte, „aber was ihn hier betrifft“, er machte eine Handbewegung in Richtung des Kontrahenten des Pharaos, „bin ich mir weniger sicher. Im Grunde könnte das jeden darstellen. Und trotzdem …“ Atemu wandte den Kopf zu ihm um und versuchte aufmerksam, seine Züge zu lesen. Langsam fuhr Seto fort: „... trotzdem fühlt es sich an, als hättest du Recht mit dem, was du sagst.“ Atemu nickte bedächtig. In seinen Erinnerungen flackerte der Moment auf, als er selbst damals an Téas Seite hier gestanden hatte. Da war eine innere Stimme gewesen, die ihm gesagt hatte, dass all das, was er hier sah, tatsächlich mit seinem eigenen Leben verknüpft war. Und insgeheim hatte er sich erhofft, dass Seto heute genau diese Stimme in sich entdecken würde. Glücklicherweise schien er damit nicht zu hoch gepokert zu haben. Ganz behutsam streckte er seinen Arm aus und berührte mit seinem Zeigefinger Setos kühle Hand, wartete anschließend ab, ob dieser vor seiner Geste zurückschreckte. Aber nichts geschah. Also legte er schließlich seine eigene Hand über Setos. „Ich werde alles versuchen, um dir zu helfen, herauszufinden, wer du in den letzten Jahren – und Jahrtausenden – warst“, sagte er. Und er wollte es wirklich, wollte Seto diese Bürde nehmen, die so schwer auf dessen Gemüt lag und ohne die er sich wieder vollständig fühlen konnte. Und gleichzeitig fürchtete Atemu sich vor dem Augenblick, an dem mit all den Erinnerungen auch Setos dicker Schutzwall zurückkehren würde. Er war sich sehr genau darüber bewusst, dass jedes weitere Detail, das er an den Firmenchef herntrug, binnen kürzester Zeit alles zerstören konnte, was er durch diese Situation gewonnen hatte. Die Augenlider des Firmeninhabers flatterten jetzt ein paar Mal, bevor er sich Atemu zuwandte. „Danke“, sagte er, „ich denke, das bedeutet mir etwas.“ Kapitel 4: No Data ------------------ 4. No Data Als Seto an diesem Abend aus dem Museum zurückkehrte, drückte sich Mokuba bereits hibbelig im Flur des oberen Stockwerks herum und sah seinem Bruder ungeduldig und erwartungsvoll entgegen, als dieser bedächtig die Treppen hinaufstieg. „Und??“, wollte er wissen, ohne seine Neugierde zu verbergen. Seto schmunzelte nachsichtig. „Kannst du deine Frage etwas präziser formulieren?“ „Nun sag schon, wie war es?!“, forderte der jüngere Kaiba. „Sehr nett“, stellte Seto sachlich fest, „aber falls du wissen möchtest, ob einige meiner Erinnerungen während des Treffens zurückgekehrt sind – leider nicht.“ Mokubas Gesicht fiel enttäuscht in sich zusammen. „Aber“, beeilte sich Seto schnell zu sagen, „vielleicht muss man der Sache ja noch etwas Zeit geben. Atemu hat mir freundlicherweise angeboten, dass wir uns öfter treffen. Außerdem hat mir der Abend trotzdem sehr gutgetan. Ich habe den Eindruck gewonnen, Atemu und ich haben einiges gemeinsam und er versteht meine Situation sehr gut.“ „Ach ja?“, fragte Mokuba, nun wieder etwas hoffnungsvoller. „Ja, naja“, erklärte Seto, „zum einen weiß er, wie es sich anfühlt, keine Erinnerungen an ein früheres Leben zu haben. Außerdem musste er scheinbar ähnlich schnell erwachsen werden, wie das bei mir offenbar der Fall war. Und er hatte ähnlich viel Verantwortung in seiner Zeit als altägyptischer Herrscher.“ Mokuba nickte langsam. „Schön, das leuchtet mir ein. – Du Seto“, begann er dann etwas kleinlaut, „ich habe viel nachgedacht. Und dabei ist mir erst so richtig klargeworden, wie schlimm es für dich im Augenblick sein muss, dass wir plötzlich ohne Familie dastehen. Für mich ist das alles anders. Ich habe Mama nie gekannt und an Papa kann ich mich kaum erinnern. Seit ich denken kann, bin ich ein Kaiba. Aber für dich muss es sich anfühlen, als wäre dieser Verlust noch ganz frisch. Du hattest nie die Gelegenheit, richtig um Vater zu trauern, hab ich nicht Recht?“ Auf Setos Züge trat nun ein liebevoller, weicher Ausdruck und er strich seinem jüngeren Bruder fürsorglich über den Oberarm. „Zerbrich dir darüber bitte nicht den Kopf, Moki. Es reicht, wenn ich das tue, Ich kriege das schon irgendwie auf die Reihe, das verspreche ich. Oh, hey, was hältst du davon, wenn wir unsere Partie Schach von gestern vor dem Schlafengehen zu Ende spielen? Das hat doch gestern richtig Spaß gemacht, nicht wahr?“ Mokuba blickte seinen Bruder forschend an. „Weißt du, Seto – versteh mich nicht falsch. Ich wünsche mir ja nichts mehr als dass du dich wieder an alles erinnerst. Aber manchmal, da habe ich das Gefühl, du bist jetzt viel ausgeglichener. Irgendwie … glücklicher. Und mehr mit dir im Reinen. Ich wünschte, das würde so bleiben, auch nachdem du wieder der Alte bist.“ Seto runzelte die Stirn. „Ich kann mir schwer vorstellen, dass ich jemals anders gewesen sein soll“, sagte er nachdenklich und nun spürte der jüngere Kaiba deutlich, dass er das Falsche gesagt und Seto vor Augen geführt hatte, wie groß die Lücke in seinem Gedächtnis wirklich war und wie wenig er über sein heutiges Ich wusste. „Ach Mokuba, da ist noch was, das ich dich fragen wollte“, wechselte Seto schließlich das Thema. „Ja, was denn?“ „Es geht um Atemu. Ich wollte wissen, ob …“ Nun wirkte der ältere Kaibabruder resigniert, als fiele es ihm schwer, die richtigen Worte für sein Anliegen zu finden. Schließlich schüttelte er den Kopf, als wische er den Gedanken auf diese Weise weg, „ach, gar nichts. Vergiss es einfach wieder, ja?“ ~*~ Atemu wandte sich um und lächelte leicht, als sich Seto ihm näherte. Wie so oft bei ihren bisherigen Treffen war der CEO zu Fuß unterwegs. Nachdem sie eine Weile lang am Fluss Halma entlanggeschlendert waren, der sich durch Domino City zog, und sich über unverfängliche Neuigkeiten ausgetauscht hatten, fanden sie eine kleine Bank, auf der Atemu ein Körbchen mit zwei Bento-Boxen und zwei Glasflaschen mit Limonade abstellte. Als letztes zauberte er zwei Schokoladenküchlein im Glas hervor, was Seto besonders freute. Denn wie Atemu erfahren hatte, war er ein Süßmäulchen und liebte alles Schokoladige. Entspannt setzten sie sich und ließen sich ihr Essen schmecken. Es war bereits das vierte Mal, dass sie sich trafen, und mit der Zeit hatte sich eine gewisse Vertrautheit und Ausgelassenheit zwischen ihnen eingestellt. Bei ihrem zweiten Treffen hatte Seto Atemu gebeten, ihm die städtische Bibliothek zu zeigen. Atemu war selbst erst einmal dort gewesen, und so erkundeten sie die einzelnen Sektionen gemeinsam. Als sie das Gebäude wieder verließen, hatte Seto ein kindliches Strahlen im Gesicht und zehn dicke Wälzer über Technik auf dem Arm. Atemu beschlich der Gedanke, dass er wohl auch weiter in der Lage sein würde, seine Firma zu leiten, wenn seine Erinnerungen nie zurückkehren sollten. Der Pharao war heilfroh, dass sein Begleiter so vertieft in seine Lektüre war, dass er keinerlei Notiz davon nahm, wie hinter dem Tresen die Bibliotheksangestellten angeregt über ihren unerwarteten hohen Besuch tuschelten und ungläubige Gesichter machten, als dieser zum krönenden Abschluss auch noch einen Bibliotheksausweis beantragte. Auf dem Rückweg kamen sie an einer Konditorei vorbei, an deren Scheibe Seto sich die Nase plattdrückte. So erfuhr Atemu von dessen Schwäche für schokoladiges Backwerk. Und da es ohnehin gerade zu regnen begann, verbrachten sie den Nachmittag in dem kleinen Café dieses lauschigen Familienbetriebes. Für ihr drittes Treffen hatte Atemu sich überlegt, dass er Seto einen Kartenshop zeigen würde. Vielleicht würde der Kontakt mit Duel Monsters einige seiner Erinnerungen zurückbringen. Immerhin verbanden ihn mit dem Spiel starke Emotionen. Orte aufzusuchen, die für Seto von Bedeutung gewesen waren, war ursprünglich Mokubas Idee gewesen. Er hatte seinen Bruder durch die KaibaCorporation geführt, sein Luftschiff besichtigt, auf dem damals das BattleCity-Finale stattgefunden hatte, und war schließlich sogar mit ihm in das Waisenhaus zurückgekehrt, in dem sie aufgewachsen waren. Doch bei all diesen Besuchen war der ersehnte Erfolg bisher ausgeblieben. „Er sagt, dass es in ihm bestimmte Gefühle hervorruft, diese Dinge zu sehen“, berichtete der 16-Jährige dem Pharao, „aber er kann mit diesen Emotionen nichts anfangen und sie scheinen ihn in diesen Momenten eher zu verstören und zu irritieren, da er sie nicht zuordnen kann und sie ihm immer wieder aufzeigen, dass ihm Erinnerungen fehlen.“ Auch bei Atemus Experiment im Kartenladen schien keine der Spielkarten etwas in Seto auszulösen. Einzig der weiße Drache in seinem eigenen Deck weckte Erinnerungen aus seiner frühen Kindheit, wie er Atemu mit einem Funkeln seiner eisblauen Augen berichtete. Das Monster hatte ihn immer besonders fasziniert und er hatte insgeheim davon geträumt, die Karte einmal zu besitzen. Doch sie war zu teuer für seine Eltern gewesen, als dass er sie hätte unter dem Weihnachtsbaum finden können. Der Pharao zeigte ihm daraufhin auch sein eigenes Deck und insbesondere den schwarzen Magier. Doch auch diese Karte sagte dem Firmeninhaber nicht das Geringste. „Sieht lustig aus mit dem spitzen Hut“, kommentierte er lediglich das kleine Bild. „Was möchtest du heute machen? Es gibt da noch einige Orte in der Stadt, die während des Battle City-Turniers für dich eine Rolle gespielt haben“, fragte Atemu seinen Begleiter, nachdem sie ihr Picknick beendet hatten. Wenn er ehrlich zu sich war, dann gingen ihm langsam aber sicher die Ideen aus und so sehr er die Treffen mit Seto auch genoss, lastete doch ein gewisser Druck auf ihm, da er wusste, wie viel Mokuba sich hiervon erhoffte dass er seinem Spiegelbild nie wieder würde in die Augen sehen können, wenn es ihm nicht gelang, das hier rückgängig zu machen. „Um ehrlich zu sein“, entgegnete Seto mit einem resignierten Seufzen, „wieso können wir es heute nicht einfach mal entspannt angehen lassen? Versteh mich nicht falsch: Ich weiß, dass ihr euch alle sehr wünscht, dass ich mich erinnere, aber all das setzt mich doch ziemlich unter Zugzwang. Und ich komme mir manchmal vor, als müsste ich wie einen Marathon durch mein eigenes Leben zurücklegen. Ein Leben, der für mich das eines anderen ist. Verstehst du, was ich meine?“ Atemu blickte ihn verblüfft an. Er neigte dazu zu vergessen, dass wegen dieser ganzen Sache nicht nur auf ihm selbst, sondern auch auf Seto ein immenser Druck lag. Da dieser nicht wusste, was es genau war, das ihm fehlte, wollte er in erster Linie den Wünschen seines Umfeldes genügen. Nachsichtig lächelte er den Firmenchef an. „Bitte entschuldige. Daran hatte ich im Augenblick nicht gedacht. Natürlich müssen wir heute nicht über deine Vergangenheit reden. Wir können auch einfach etwas bummeln und vielleicht im Anschluss noch was essen gehen.“ „Sehr schön! Das hört sich toll an!“, Seto lächelte ein offenes, erleichtertes Lächeln, das in Atemus Magen ein warmes Ziehen auslöste, „da fällt mir ein, velleicht könntest du mir bei etwas behilflich sein. Mokuba bearbeitet mich schon die ganze Zeit, dass ich mir eine neue Garderobe kaufen soll. Ich bin nicht sonderlich gut darin, zu beurteilen, was mir steht. Da du immer sehr stilvoll gekleidet bist, dachte ich, du könntest mir vielleicht beim Einkaufen assistieren.“ Der Pharao war zusehends überrascht über diesen Vorschlag, freute sich aber über das Kompliment und willigte gerne ein. Zwei Stunden später trat Seto mit einem neuen schwarzen Sakko aus einer Umkleidekabine und drehte sich unschlüssig vor dem Spiegel. In einigen Einkaufstüten auf einem Hocker waren bereits einige weiße, graue und daneben auch ein himmelblaues Hemd verstaut, das seine Augen gut zur Geltung brachte. Außerdem einige schwarze Hosen und ein adretter schwarzer Wollmantel für den anstehenden Winter. Zufrieden trat der Pharao an Seto heran und rückte das Sakko und die dazugehörige schwarze Krawatte über dem fliederfarbenen Hemd zurecht. „Das steht dir ausgesprochen gut!“ stellte er nickend fest. „Findest du? Naja, wenn wir zusammen unterwegs sind, passt das zumindest hervorragend zu deinen Augen“, entgegnete Seto mit einem fast schüchternen Lächeln. Atemu sah zu ihm auf und für einen Augenblick verharrten seine Hände an dem neuen Kleidungsstück. „Atemu, hör mal“, begann sein Begleiter etwas holprig, „es gibt da etwas, das ich dich schon die ganze Zeit über fragen möchte.“ „Ach ja, was denn? Schieß los.“ Die Herzfrequenz des ehemaligen Pharaos erhöhte sich ein wenig und seine Hände begannen zu schwitzen. Vor Aufregung vergaß er, dass er nach wie vor ausgesprochen nah bei seinem Begleiter stand. „Naja, ich weiß nicht, wie ich es am besten formulieren soll“, dieser wirkte nun etwas überfordert, „also: Waren wir – oder sind wir – ich meine wir beide – in meinem vorherigen Leben ein Paar?“ Eine leichte Röte legte sich auf die Wangen des Pharaos. „Wie kommst du denn plötzlich darauf?“, fragte er leise. Erst jetzt wurde er sich darüber bewusst, welche Intimität er durch die körperliche Nähe erzeugt hatte, und er trat hastig einen Schritt zurück. „Wie soll ich es sagen“, nun lächelte Seto erneut und ein wehmütiger Ausdruck trat in seine Züge, „wenn ich mit dir zusammen bin, wenn ich dich ansehe, dann habe ich so ein warmes, vertrautes Gefühl. Es gefällt mir, aber ich weiß nicht, woher es rührt. Ich habe mich bisher nicht getraut, dich danach zu fragen, da ich befürchtete habe, dass die Sache komplizierter liegen könnte. Ich weiß ja noch nicht einmal, wie ich sexuell überhaupt orientiert bin und ob ich in der Zeit vorher viele intime Begegnungen hatte.“ „Darüber kann ich dir leider auch keine Auskunft geben“, erklärte ihm Atemu ruhig, „um ehrlich zu sein hatten wir wenig privaten Kontakt, bevor du deine Erinnerungen verloren hast. Obwohl – ich mir gewünscht hätte, dass es anders gewesen wäre. Also ich denke, das beantwortet dann auch deine Frage. Nein, wie sind oder waren kein Paar. Was du fühlst rührt vielleicht ganz einfach von dem starken Band her, das unser beider Schicksale seit Jahrtausenden aneinanderbindet.“ „Verstehe“, sagte Seto, obwohl er Atemus Vermutung anzweifelte. Das hier war etwas vollkommen anderes als der heftige Ausbruch, der ihn überkommen hatte, als er Atemu nach seinem Krankenhausaufenthalt in der Kaibavilla zum ersten Mal gesehen hatte. Er war gerne mit Atemu zusammen, weil er das Gefühl hatte, dass dieser ihn so akzeptierte, wie er war. Wenn er in seine wachen, gewitzten Augen blickte, lag darin für ihn so viel Sicherheit und Geborgenheit – aber gleichzeitig rissen sie ihn auch mit sich in einen schwindelerregenden Fall ohne Boden, der ihm Angst, aber ihn gleichzeitig neugierig auf mehr machte. Mit Atemu an seiner Seite durch die Straßen zu schlendern gefiel ihm von Mal zu Mal besser, und manchmal kam ihm der Gedanke, dass sie beide einander gut zu Gesicht standen und einen harmonischen Anblick für andere Stadtbummler boten, die sie während ihrer Treffen passierten. Ab und an ertappte er sich dabei, wie er sich fragte, wie es wohl wäre, Atemus warme Haut zu berühren, seine weichen Wangen zu streicheln, seinen Geruch, der nur in seltenen Momenten zu ihm herüberwehte, tief einzuatmen. Doch mit wem konnte er über diese Gefühle sprechen? Nicht einmal Mokuba hatte er sich bisher getraut nach seinen Gefühlen für den ehemaligen Pharao oder ihrer Beziehungskonstellation zu befragen. „Warum eigentlich?“, fragte er schließlich und schien Atemu damit sichtlich aus seinem eigenen Gedankenkarussel zu reißen. „Warum eigentlich was?“, fragte dieser verwirrt. „Na, warum hatten wir bisher so wenig Kontakt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich zu jemandem wie dir nicht selbst verstärkt Kontakt gesucht hätte. Wir verstehen und doch verdammt gut und ich habe das Gefühl, ich kann mir dir über alles sprechen.“ Die rote Farbe auf den Wangen des Kleineren intensivierte sich. „Ach, ich schätze, es hat sich einfach nicht ergeben. Du warst beruflich sehr eingespannt und dein Privatleben war nicht der Rede wert.“ Was hätte er dem Firmenchef schließlich sagen sollen? Dass er zu einem sozial verkümmerten, von Ehrgeiz zerfressenen Einzelgänger geworden war? „Das ist gar nicht gut“, Seto zog besorgt die Stirn kraus, „Mokuba hat auch schon sowas angedeutet. Work-Life-Balance ist doch unheimlich wichtig.“ Wie so oft in den vergangenen nasskalten Herbsttagen, begann es zu regnen, als sie das letzte Bekleidungsgeschäft verließen und sich auf den Weg machten, um nach einem Restaurant Ausschau zu halten, das ihnen zusagte. Gemeinsam zwängten sie sich unter einen Schirm mit dem Logo der KaibaCorp., den Seto mit klammen Fingern sorgsam über Atemu ausbreitete. „Weißt du“, wagte er sich nun doch an das Thema heran, „ich entwickle viele Theorien darüber, wie mein Leben in den letzten Jahren verlaufen sein muss.“ „Ach ja?“ „Ja. Ich denke mir, dass ich vielleicht keine Wahl hatte, als stark und unantastbar zu werden, damit ich mir für mich und Mokuba etwas aufbauen konnte. Dass ich also nicht die Zeit hatte, um einfach mal in den Tag hineinzuleben. Und dass deshalb mein Alltag hauptsächlich aus Arbeit bestand. Habe ich damit Recht?“ Atemu nickte langsam. „Ja, ich denke, das trifft es wohl ziemlich gut. Und ich konnte dir immer gut nachfühlen, weshalb du dich für diesen Weg entschieden hast. Mein Vater hat während meiner Zeit als Kronprinz oft zu mir gesagt: Gegenüber den meisten Menschen keine Schwäche mehr zuzulassen ist dein persönlicher Weg. Es gibt für dich keine Alternative. Es ist der Preis, den du für deine Stellung bezahlen musst. Und je schneller du das akzeptierst, desto leichter machst du es dir selbst. Also, ich schätze, in diesem Punkt sind wir uns recht ähn … äh – Seto?“ Atemu wandte sich um, denn Seto war plötzlich samt dem Regenschirm an Ort und Stelle stehengeblieben, als wäre er auf der Straße angewachsen. Regentropfen prasselten nun auf den Pharao herab und jagten ihm einen Schauer über den Rücken, als sie seinen Nacken trafen und sich ihren Weg unter seine Kleidung suchten. Aber Seto schien von einem auf den anderen Augenblick an einem ganz anderen Ort zu sein. „Keine Alternative …“, murmelte er, doch seine Worte wurden beinahe vom Prasseln des Regens verschluckt. Von Sekunde zu Sekunde begannen seine Hände heftiger zu zittern, sodass der Schirm schließlich einfach zu Boden glitt. Dann sackte der Firmeninhaber einfach auf dem Gehweg zusammen und hielt sich mit beiden Händen seinen Kopf, wie er es damals in der Kaibavilla getan hatte. „Seto, was ist los? Was hast du?!” Mit einem Satz kniete der Pharao vor ihm und legte behutsam seine eigenen Hände auf Setos. Er erschauderte, denn obwohl seine eigenen Finger froren, war Setos Haut eiskalt. Die Augen des Firmenchefs schienen ins Leere zu starren, vielleicht in eine Realität, die viele Jahre zurücklag. Und noch immer zitterte er erbärmlich. Atemu presste seine Hände auf Setos, versuchte, ihm durch seine Berührung Halt zu geben und trotz der herbstlichen Kälte etwas Wärme zu spenden. Unerlässlich redete er mit beruhigenden, sanften Worten auf ihn ein, ganz egal, ob Seto ihren Inhalt bewusst aufnahm oder nicht. Erst nach einigen Minuten der pausenlosen Ansprache gelang des Atemu, seinen Begleiter wieder ein Stück weit ins Hier und Jetzt zurückzuholen. Und mit Erleichterung stellte er fest, dass dessen Augen nun wieder unstet umherhuschten und ihre unmittelbare Umgebung registrieren. „Da war ein Haus“, flüsterte Seto, mehr zu sich selbst, „unser Haus. Aber es sah ganz anders aus. Und ich war so müde. Eine entsetzliche, überwältigende Müdigkeit. Schwer wie Blei habe ich mich gefühlt. Und es roch überall im Zimmer nach Büchern. Er war da und hat mir ständig über die Schulter geschaut. Mokuba hat mir ein Foto von ihm gezeigt. Gozaburo Kaiba. Überall waren Zahlen und Wörter und ich hatte Panik, dass ich ihren Inhalt nicht verstehe, obwohl er es doch von mir erwartet. Ich habe mich so machtlos gefühlt ihm gegenüber. So ausgeliefert. Und gleichzeitig unendlich wütend.“ „Du wirst schneller lernen als jeder andere, hast du mich verstanden? Ab heute bist du kein normaler Zehnjähriger mehr!“, bellte Gozaburos kalte, blecherne Stimme durchs Zimmer, „das ist jetzt dein Weg. Der Weg, den du dir ausgesucht hast in dem Moment, in dem du mich zu diesem Schachspiel herausgefordert hast. Das ist der Preis, den du dafür bezahlst, dass ich dich und diese nutzlose kleine Heulsuse aufgenommen habe! Dass du den Namen Kaiba tragen darfst! Für dich gibt es keine Alternative. Also akzeptiere es lieber früher als später!“ Dann knallte er einen weiteren dicken Wälzer über Betriebswirtschaftslehre neben Seto auf den Schreibtisch, sodass dieser verschreckt zusammenzuckte. Es war seine erste Woche in der Kaibavilla und er wollte es wirklich perfekt machen. Wollte Gozaburo gerecht werden und ihn nicht enttäuschen. Ihm zeigen, dass es sich gelohnt hatte, ihn zu adoptieren. Aber er hatte die letzten fünf Tage kaum geschlafen und er war so leergetrunken, ausgelaugt. Nahm alles wahr wie durch einen Schleier der Erschöpfung. Da war Druck auf seinem Kopf und Druck in seinem Inneren und diese schreckliche, tiefsitzende Angst, zu versagen. Und gleichzeitig das Bewusstsein darüber, dass dies für ihn keine Option war. Dass er einfach dafür sorgen MUSSTE, dass dies nicht passierte. „Es war eine Erinnerung“, wisperte er mit bebender Stimme, „die erste Erinnerung, die zu mir zurückgekommen ist.“ Dann wanderte seine rechte Hand zu seiner Stirn. „Diese Kopfschmerzen, ich fühle mich so schwach …“ Schließlich glitten seine Finger fahrig über seine Wange. Mit dem Regen hatten sich dort inzwischen salzige Tränen vermischt. Sie quollen unkontrolliert aus seinen Augenwinkeln und wollten gar nicht mehr versiegen. Plötzlich spürte er noch etwas anderes. Jemand, löste sanft seine Hand von seiner Wange und schloss sie fest in seine eigene. Und eine angenehme Wärme durchflutete ihn. Erst jetzt wurde Seto bewusst, dass der Pharao nach wie vor dicht vor ihm kniete. Sein dreifarbiges Haar war mittlerweile vom Regen durchnässt und umrahmte jetzt glatt seine ebenmäßigen, feinen Gesichtszüge. Einige blonde Strähnen hängen ihm in die Stirn und Regentropfen perlten von seinen langen Wimpern. Atemu verschränkte wortlos seine Finger mit Setos und drückte dessen Hand ganz fest. „Es tut mir leid“, hauchte der Pharao leise, „das ist alles meine Schuld. Aber ich werde dir helfen, das durchzustehen. In allen diesen Momenten werde ich bei dir sein. Wenn du das möchtest.“ Seto begriff nicht, wieso Atemu behauptete, das alles wäre seine Schuld. Dennoch nickte er stumm. In der Kälte des Nachmittags streifte der warme Atem des Pharaos sein Gesicht. Dann berührten dessen Lippen seine wie ein warmer Lufthauch. Einmal. Und noch einmal. Schließlich zerflossen sie wie von selbst in einen Kuss. Wie zwei Farbnuancen, die auf einer Leinwand perfekt ineinandergriffen. Violett und Blau. Seto wusste nicht mehr, wo er selbst aufhörte und wo Atemu anfing. Innen und außen, alles war eins. So saßen sie auf dem Gehweg. Auf der regennassen Straße, die nach und nach den Stoff ihrer Hosen an den Knien durchtränkte. Und der Regen prasselte unentwegt auf sie herab. Kapitel 5: System Overload -------------------------- 5. System Overload Als Atemu an einem Nachmittag einige Tage später nach der Arbeit die Kaibavilla betrat, trat ihm Mokuba mit ernster Miene entgegen. Sofort nahm Atemu wahr, wie gedrückt der jüngere Kaiba wirkte. „Was ist los?“, fragte der Pharao zaghaft, „ich dachte, es würde dich sicher freuen, dass dein Bruder eine erste Erinnerung zurückgewonnen hat.“ Irritiert legte er den Kopf schief. „Das tut es auch!“, beteuerte Mokuba schnell, „Ehrlich! Ich war so unglaublich erleichtert, dass Setos Erinnerungen überhaupt noch da sind. Ich hatte schon befürchtet, sie wären vielleicht für immer verloren.“ „Wieso ziehst du dann ein Gesicht wie zehn Jahre Dürre?“ „Es ist wegen Seto“, Mokuba senkte den Blick und friemelte nervös an seinen Fingernägeln herum, „seit diese Erinnerung zurückkam, fühlt er sich nicht sonderlich wohl. Dieser Moment scheint irgendwas in ihm ausgelöst zu haben. Er kommt kaum aus seinem Zimmer und hängt den ganzen Tag nur trübsinnig seinen Gedanken nach. Wenn ich ihn danach frage, was ihn genau bedrückt, kann er es mir nicht richtig erklären. Ich mache mir große Sorgen.“ „Geht er deshalb nicht an sein Telefon?“, erkundigte sich der Pharao, dem nun ein Licht aufging. Seit gestern versuchte er vergeblich , den Firmeninhaber auf seinem Smartphone zu erreichen. Deshalb war er nach der Arbeit unangekündigt hergekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Mokuba deutete seufzend auf ein Vertigo im Esszimmer, auf dem das Mobiltelefon seines Bruders lag. „Er hat es nicht mal bei sich. Vermutlich ist sogar der Akku leer.“ „Verstehe“, Atemu nickte, „denkst du, es würde helfen, wenn ich mal mit ihm spreche?“ „Schaden kann es auf keinen Fall“, nahm Mokuba das Angebot dankend an, „vorausgesetzt, er lässt sich aus seinem Zimmer locken. Ich sage ihm Bescheid, dass du da bist.“ Wenige Minuten später trat Seto ins Wohnzimmer. Er sah erschöpft aus und unter seinen Augen zeichneten sich tiefe Furchen ab. Als er Atemus Anwesenheit wahrnahm, wich er dessen Blick aus, der sanft und sorgenvoll auf ihm ruhte. „Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet hab“, murmelte der CEO, nachdem er sich neben dem Pharao auf dem Sofa nieder- und Mokuba die beiden alleingelassen hatte, „ich habe mich nicht so besonders gefühlt in den letzten Tagen.“ „Mach dir keine Gedanken darüber“, entgegnete Atemu und wandte sich ihm zu, um ihm besser ins Gesicht sehen zu können, „willst du denn überhaupt darüber sprechen? Falls nicht, ist das absolut okay. Dann komme ich ein andermal wieder.“ „Das ist es ja nicht“, Seto gab ein schweres Seufzen von sich und in seinen müden, blauen Augen flackerte Schuld und Unbehagen auf, „ich weiß nur einfach nicht, was ich dir sagen soll. Ich verstehe ja selbst nicht so richtig, wie ich mich im Moment fühle.“ „Vielleicht kann ich dir dabei helfen, es in Worte zu fassen?“, schlug der Pharao behutsam vor. „Versuchen kannst du es natürlich“, entgegnete er höflich. Atemu verspürte den Wunsch, seine Hand auf Setos zu legen, um ihm mehr Sicherheit zu geben. Aber er spürte, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war und er im Augenblick damit eine gegenteilige Wirkung erzielt hätte. Er wollte um jeden Preis vermeiden, dass Seto vollkommen dichtmachte. Im Augenblick schien dieser zumindest gewillt zu sein, seine Sorgen ihm gegenüber zu artikulieren. „Ich denke, vielleicht war der Ausgang unseres letzten Treffens etwas viel auf einmal für dich?“, tastete sich Atemu vorsichtig an das Thema heran, „die Erinnerung und … dass wir uns so nahgekommen sind?“ Seto schwieg einen Augenblick lang. „Ja, das könnte man schon so stehenlassen“, gestand er schließlich leise, „als ich zu Hause war und alles revuepassieren lassen habe, da habe ich mich plötzlich verunsichert gefühlt. Wie im freien Fall. Ich meine, ich habe nicht die geringste Ahnung, wer ich vorher war und wer du vorher warst und wie wir normalerweise zueinanderstehen. Und dann diese Erinnerung. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Bevor sie da war, war es alles irgendwie okay, aufgeräumter. Die ganze Situation. Ich wusste zwar nicht, was in den letzten Jahren passiert ist, aber gerade deshalb war da auch nichts, das mich verwirrt hat. Aber seit diese ganzen Emotionen von damals wieder zurückgekommen sind, ist alles durcheinandergewirbelt. Es ist, als …“ „Als wäre ein Dominostein angestoßen worden und tausende andere fielen mit ihm?“ Seto blickte überrascht zu Atemu auf. „Ja. Woher weißt du das?“, fragte er verblüfft. Atemu schloss kurz die Augen und ließ sich ein wenig Zeit, seine Worte sorgsam zu wählen. Schließlich atmete er hörbar aus und sagte: „Als mein Geist damals im Milleniumspuzzle wiedererwacht ist, habe ich mich anfangs wenig dafür interessiert, wer ich eigentlich bin oder warum ich hier bin. Diese Zeit habe ich irgendwie als einfach empfunden. Ich habe überhaupt wenig nachgedacht und einfach nur im Affekt gehandelt. Aber nach und nach wurden Yugi aus verschiedenen Quellen Informationen über mich zugetragen. So habe ich dann erfahren, wer ich vor 3000 Jahren war. Und nachdem ich auch das zuerst einmal nur so hingenommen habe, konnte ich den Drang irgendwann nicht mehr ignorieren, mich selbst besser kennenlernen zu wollen. Und herauszufinden, warum ich der bin, der ich heute bin. Dann bin ich mit Téa ins Museum gegangen, habe Ishizu getroffen und hatte Visionen einzelner Schlaglichter aus meiner Vergangenheit. Ab da wurde es richtig schlimm. So wie bei dir jetzt.“ „Verstehe“, sagte Seto, „jetzt denke ich, ich hätte früher mit dir darüber sprechen sollen. Ich hatte vergessen, dass du Ähnliches durchgemacht hast. Weißt du, es fühlt sich an, wie ein einzelnes Puzzleteil mit vielen Andockpunkten an allen Seiten, das einfach niemand vervollständigen kann. Und jede dieser offenen Sollbruchstellen schmerzt und brennt unaufhörlich. Vor dieser einen Erinnerung war mir nicht so sehr bewusst, dass da etwas fehlt. Aber jetzt, wo sie da ist, merke ich erst, wie leer es drumherum ist. Falls das irgendwie für dich einen Sinn ergibt.“ Er warf dem Pharao nun einen fast flehenden Blick zu. Atemu nickte bedächtig. „Ich wusste nicht, wie ich mich dir gegenüber verhalten soll, deshalb habe ich mich nicht gemeldet“, gestand Seto schließlich kleinlaut, „irgendwie gehörst du auch zu diesen Unbekannten in meinem Leben. Ich weiß nicht so richtig, was ich mit den Gefühlen anfangen soll, die ich für dich entwickle, weil ich … da sind momentan zu viele Emotionen, die ich nicht einordnen kann und die irgendwie nicht zu mir gehören. Bei unserem letzten Treffen hat mich das alles ziemlich überrannt und ich schätze ich war einfach überfordert.“ Atemu biss sich auf die Unterlippe, während er Setos Worten lauschte und es ihn mehr und mehr schmerzte, ihn so zu sehen. „Bitte entschuldige. Ich hätte nachdenken sollen, bevor ich so vorschnell gehandelt habe. Ich wollte dich auf keinen Fall mit irgendwas unter Druck setzen. Ich hoffe, du weißt, dass ich nichts von dir erwarte und du dich zu nichts verpflichtet fühlen musst.“ „Danke“, sagte Seto unbehaglich, „mir wäre es tatsächlich lieber, wenn wir uns erst mal nicht mehr sehen. Ich dachte, die Treffen mit dir könnten mir dabei helfen, herauszufinden, wer ich bin. Aber jetzt habe ich den Eindruck, ich kann meine Gefühle dir gegenüber ebenfalls nicht beurteilen, wenn ich mich selbst so schlecht kenne. Und in dieser Situation so kopflos in etwas zu rennen wäre wohl auch dir gegenüber nicht fair. Das würde alles nur schlimmer machen.“ „Verstehe“, sagte Atemu und versuchte, es wirklich verständnisvoll klingen zu lassen, obwohl er innerlich kalt wurde und eine große Enttäuschung über ihn hinwegschwappte, „natürlich. Wenn du das möchtest, werden wir vorerst auf Abstand gehen.“ Als er die Kaibavilla verließ, fuhr ein frostiger Wind unter seinen Mantel. Insgeheim hatte er ja sehr genau gewusst, dass die Sache sich nicht so einfach fügen würde, wie er es sich erhofft hatte. Aber dennoch fühlte er sich vor den Kopf gestoßen. Während er selbst sich getragen und leicht gefühlt hatte von der Euphorie dieses vertrauten Moments, hatte dieser Seto scheinbar innerlich ins Chaos gestürzt. Mit unglücklichem Ausdruck blickte Mokuba der zierlichen Gestalt des Pharaos aus dem Fenster nach, als sie sich zögerlich vom Anwesen entfernte. Nach diesen ersten Treffen mit ihm hatte sein Bruder so ausgeglichen und entspannt gewirkt, fast ausgelassen. Mokuba hatte den Eindruck gewonnen, dass diese Zeit ihm sichtlich gutgetan hatte. Nun war diese Seifenblase ganz plötzlich geplatzt und auf dem ganzen Haus schien eine bedrückte Stimmung zu lasten. ~*~ „Und es ist wirklich in Ordnung für dich, wenn Atemu auch herkommt?“, fragte Mokuba seinen Bruder nun schon zum dritten Mal. „Wie schon gesagt: Natürlich ist das okay. Er gehört immerhin auch zu deinen Freunden. Und zu meinen.“ Bereits den ganzen Tag wuselte Mokuba im Haus herum. Offenbar war er sehr nervös wegen der anstehenden Silvesterparty, die er am heutigen Abend veranstaltete. Mokuba war ein Macher und ließ sich ungerne Dinge abnehmen. Deshalb hatte er außer einem Catering keinerlei Hilfe für die Planung in Anspruch genommen. Während er jetzt abstaubte und Sekt kaltstellte, lief auf dem Fernsehschirm im Wohnzimmer in gedämpftem Ton der DuelMonsters-Kanal. Gerade stellten sie dort ein Ranking mächtiger Kartenkombos vor. Seto konnte nur darüber staunen, wie stark sich das Spiel in den letzten Jahren weiterentwickelt hatte. Mit einigen Karten in seinem aktuellen Deck konnte er kaum etwas anfangen. Während der letzten vier Wochen war keine einzige Erinnerung mehr zu ihm zurückgekehrt und inzwischen hatte sich auch der starke Sturm gelegt, den diese erste in ihm ausgelöst hatte. Die Verzweiflung und der Selbstverlust, den er gefühlt hatte, waren einer dumpfen Unzufriedenheit mit seiner gesamten Situation gewichen. Der Alltag hatte ihn eingeholt und neue Aufgaben seine Aufmerksamkeit beansprucht. Immerhin konnte seine Firma nicht ewig führungslos bleiben und so hatte er sich viele Selbstverständlichkeiten vollkommen neu aneignen müssen. Seto dachte oft am Atemu. An ihre inspirierenden Gespräche, an sein mysteriöses und doch vertrauenswürdiges Lächeln. An seine warme Haut und die sanften Lippen, die bei ihrem Kuss tausende sprühender Funken durch seinen Körper geschickt hatten. Ja, er vermisste seine Gesellschaft. Aber nun, da er ihn weggeschickt hatte, wusste er nicht, wie er den Kontakt wiederaufnehmen sollte. Und ob er das überhaupt wollte. Etwas auf dem Fernsehbildschirm zog unvermittelt seine Aufmerksamkeit auf sich. Gerade stellten sie dort fünf Karten vor, die jeweils ein Körperteil desselben Monsters zeigten. „Exodia – selten, aber heutzutage im Spiel kaum noch effektiv“, erklärte die Moderatorin dazu. „Exodia“, formte Seto das Wort mit seinen Lippen nach, „das kommt mir … irgendwie vertraut vor.“ Fünf Minuten später stürmte er in die Küche, wo Mokuba gerade Cocktailgläser bereitstellte und Crushed Ice in einen Behälter füllte. „Exodia!“, keuchte Seto atemlos, „es ist mir wieder eingefallen! Atemu hat mich damals mit Exodia geschlagen! Und danach hat er – ich weiß, es klingt absolut verrückt, aber – er hat meine Seele in tausend Teile zersplittert.“ Mokuba wandte sich langsam zu ihm um. Entgegen Setos Erwartung erklärte er ihn nicht etwa für offiziell verrückt wegen dem, was er soeben geäußert hatte. „Du hast dich also daran erinnert“, stellte er lediglich fest. „Ja, ich schätze schon. Ich erinnere mich“, wurde es Seto selbst erst richtig bewusst. „Seto, weißt du: Atemu hat das nicht aus böser Absicht getan. Er wollte dir …“ „… mir helfen, auf den richtigen Weg zurückzufinden. Ja, ich weiß doch.“ Für einen Augenblick schwiegen sie. „Und?“, wollte der ältere Kaiba schließlich wissen. „Was und?“ „Na, hat es denn funktioniert?“, fragte Seto schließlich mit einer nativen Hoffnung in seinem Ton. Mokuba wirkte nachdenklich und schien seine nächsten Worte sorgfältig abzuwägen. „Naja, ich schätze, ganz so einfach ist es dann doch nicht. Man kann Menschen nicht vollkommen neu zusammensetzen, auch wenn Atemu sicherlich etwas in dir in Bewegung gesetzt hat. Aber niemand kann sich vollkommen freimachen von dem, was ihn geprägt hat.“ „Also nicht“, murmelte Seto enttäuscht, „Mokuba, ich verstehe es einfach nicht. Wieso wollte ich keinen Kontakt zu Atemu, bevor ich mein Gedächtnis verloren habe? Wieso musste er überhaupt meine Seele zersplittern? Wie konnte es soweit kommen? Was für ein Mensch war ich vorher? Bitte, erzähl mir davon. Ich muss es einfach wissen!“ Unschlüssig blickte Mokuba ihn an und ließ sich schließlich ächzend auf einem Küchenstuhl nieder. „Bist du dir da denn sicher? Das könnte nicht gerade angenehm werden“, begann er schließlich. „Egal. Ich bin mir sicher“, entgegnete Seto entschieden, „ich bin bereit dafür. Also lass nichts aus.“ So berichtete Mokuba seinem Bruder nun zögerlich davon, wie dieser den Weißen Drachen von Yugis Großvater zerrissen und Atemu zum Duell gezwungen hatte, wie er, von Missgunst und Ehrgeiz zerfressen, den Pharao immer und immer wieder herausgefordert hatte. Wie dieser sich trotz allem im Kampf gegen Pegasus oder Dartz auch für Seto eingesetzt und ihm geholfen hatte. Und wie wenig ihm Seto diese Hilfe je gedankt hatte. Wie er stets alle seine Freundschaftsangebote ausgeschlagen und ihm die kalte Schulter gezeigt hatte. „Verstehe“, sagte Seto am Ende von Mokubas Bericht tonlos, „und obwohl ich mich an all das nicht erinnere, habe ich ihn nun schon wieder weggestoßen. Er muss sich schrecklich fühlen.“ „So ganz kann man das ja nun nicht vergleichen“, wandte der Jüngere ein. „Vielleicht nicht“, seufzte Seto, „aber das Ergebnis bleibt dasselbe. Ich verstehe einfach nicht, wie ich zu einem solchen Menschen werden konnte. Mokuba. Ich denke, wenn ich das höre, dann – dann will ich meine Erinnerungen gar nicht zurück!“ „Seto“, Mokuba sah etwas hilflos zu seinem Bruder auf, „Bitte sag sowas nicht. Du warst nie ein schlechter Mensch. Und zu mir warst du immer … anders. Irgendwie echt. Ich hatte dich zu jeder Zeit gern. Und ich denke, das trifft auf Atemu ebenfalls zu.“ Seto schwieg. Schließlich fragte er leise. „Denkst du denn, Atemu würde nach alldem noch Zeit mit mir verbringen wollen?“ Nun grinste ihn der jüngere breit an. „Da bin ich mir ziemlich sicher!“ ~*~ Das gesamte Kaiba-Anwesen erhellte förmlich die kalte Silvesternacht, als Atemu, Joey, Tristan, Yugi, Téa, Duke und Ryou zusammen mit Mokubas Freunden aus der Schule dort eintrafen. Denn überall in den Bäumen und Sträuchern, über dem Eingang und an der Brüstung, die die Terrasse umrandete, waren warmweiße Lichterketten angebracht. „Wow, Kaiba hat sicherlich einen höheren Stromverbrauch als ganz Domino City zusammen“, kommentierte Tristan diesen Ausnahmezustand amüsiert. „Die Credits hierfür gegen komplett an Mokuba“, erklärte Seto ihm, als er der Gruppe die Tür öffnete, „außerdem produzieren wir unseren eigenen Strom mit Photovoltaik auf dem Dach.“ „Vielen herzlichen Dank für die Einladung!“, sagte Téa, die sehr adrett aussah in einem enganliegenden nachtblauen Paillettenkleid und mit hochgesteckten Haaren. „Gerne, aber wie schon gesagt: Das alles geht auf Mokubas Kappe“, lächelte Seto freundlich. „Urg“, Joey umfasste seine Oberarme, als friere er, während er ins Haus stiefelte „da krieg ich ne waschechte Gänsehaut. Einem lächelnden Kaiba will ich ja nicht mal in der Geisterbahn begegnen! Das ist einfach nur falsch!“ „Entschuldige ihn bitte“, schmunzelte Yugi, „sehr schön habt ihr es hier!“ „Schon gut, ich hätte mein früheres Ich auch nicht gemocht“, seufzte Seto und sein Blick schweifte automatisch zu Atemu, der gerade eintrat und sich angeregt mit Duke Devlin unterhielt. Über einer schwarzen Hose trug der Pharao ein weinrotes Shirt aus leicht glänzendem Stoff unter einer schwarzen Jeansjacke. Seinen Hals zierte ein schöner, graziler Ankh-Anhänger. „Danke für die Einladung, Mokuba!“, sagte er höflich, „hallo Seto.“ Im Wohnzimmer war ein Büffet mit allerlei Salaten und Fingerfood aufgebaut. Es gab Toshikoshi-Soba und andere traditionelle Gerichte in handlichen Schälchen sowie einige moderne oder westliche Spezialitäten. Der Abend war kurzweilig und zum ersten Mal in seinem Leben unterhielt Seto sich mit Tristan über Automechanik, mit Duke übers Geschäft und mit Téa über ihr neues Leben in New York. Später wurde die Stimmung ausgelassener und Téa zog einen hochroten Yugi auf die Beine und auf einen freien Platz, den bereits einige von Mokubas jüngeren Freunden zur Tanzfläche umfunktioniert hatten. Zu vorgerückter Stunde trat Seto schließlich zu Joey, wobei dieser vor Schreck und Überforderung den Faden seiner soeben begonnenen Anekdote verlor und erstarrte. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass wir uns in der Vergangenheit … vielleicht etwas auf dem falschen Fuß erwischt haben“, begann Seto und Tristan und Duke kicherten hinter vorgehaltener Hand ob diesem starken Euphemismus. „Ich dachte“, fuhr Seto fort, unbeeindruckt von der Stille, die sich inzwischen über die Gruppe gelegt hatte, „vielleicht fangen wir einfach nochmal neu an, so zum Jahreswechsel. Das wäre doch eine gute Gelegenheit. Na, was denkst du?“ „Ich denke … dass ich jetzt eine Gänsehaut habe und irgendwie das Gefühl nicht loswerde, dass du mich auslachst, wenn ich dein Angebot jetzt annehme.“ Seto schwieg geflissentlich zu dieser Bemerkung und sah Joey lediglich weiterhin mit erwartungsvollem Blick entgegen. „Also –“, fuhr dieser fort, „hach, was solls! Wie kann ich dir das abschlagen. Dein neues Ich gefällt mir echt nicht schlecht, Alter. Das muss ich zugeben. Und eigentlich ist es auch zu verlockend, damit zu prahlen, mit Seto Kaiba befreundet zu sein.“ Er grinste zu seinem ehemaligen Erzrivalen hinüber und hielt ihm schließlich auffordernd die Hand hin, um mit ihm einzuschlagen. „Das letzte war natürlich nur ein Witz“, grinste er und seine braunen Augen blitzten. Seto schlug ein und der gesamte Raum brach in begeisterten Applaus und Johlen aus. Später hatte Mokuba Bleigießen organisiert und Joey, Tristan und Duke verbrachten einen Großteil des Abends damit, die erkalteten Bleigebilde der jeweils anderen auf besonders kreative und sadistische Art und Weise zu deuten. „Ey, Yugi! Tristan hört nicht auf zu sagen, dass mein Bleiklumpen die Form vom Sensenmann hat!“, beschwerte sich Joey empört. „Und du behauptest, meiner wäre eine Vier!“ „Leute!“, mischte sich Téa in den Zwist ein, „könnt ihr nicht mal was Positiveres in eure Vorhersagen für das kommende Jahr deuten? Wir sind doch hier nicht beim – oh, Joeys Klumpen sieht wirklich aus wie der Sensenmann. Tatsache.“ „Ist aber etwas deformiert. Könnte also auch Slenderman sein“, überlegte Duke. „Heyyy! Fallt ihr mir etwa auch noch in den Rücken?!“, entrüstete sich Joey lautstark. So verging die Zeit zum magischen Countdown geradezu im Flug. Atemu schien ein anregendes Gespräch mehr zu schätzen als das ausgelassene Feiern, und es schien ihm wenig auszumachen, wenn er ab und zu für sich war. Da sein Palast geräumig gewesen war und man einander dort gut aus dem Weg hatte gehen können, empfand er so viele Menschen auf engem Raum mehr als gewöhnungsbedürftig. Dass rings um ihn herum Leute standen, die einander zuprosteten, laut auflachten oder Herzlichkeiten austauschten, fand er eher alarmierend als warmherzig. Deshalb hatte er sich um kurz nach 12 etwas von den Jubelrufen und euphorischen Beglückwünschungen zum neuen Jahr zurückgezogen und hielt sich alleine auf der ausladenden Terrasse auf, die ebenfalls ringsum von Lichtern gesäumt wurde. Auf den darauf befindlichen Gartentischen waren geschmackvoll Kerzen platziert worden. Er musste nicht hinsehen, als sich die Tür, die er nur angelehnt hatte, ein zweites Mal öffnete. Er wusste auch so, dass Seto zu ihm getreten war. „Wusstest du“, sagte der Pharao sanft, „dass in meiner Kultur das neue Jahr im Sommer begann? Ich glaube, ich werde mich nie richtig daran gewöhnen, dass es hier so kalt ist bei einer Neujahrsfeier.“ „Tja, ich schätze, du hast dir den falschen Kontitent ausgesucht, um wiederzuerwachen?“, scherzte Seto, „Atemu, bist du böse auf mich?“, wollte er dann vorsichtig wissen. „Nein, überhaupt nicht.“ Nun wandte der Pharao sich zu ihm um und sein warmer Blick schien Seto förmlich aufzufangen. Langsam, aber entschieden schüttelte er den Kopf, „ich wollte lediglich dir die Entscheidung überlassen, ob du heute Zeit mit mir verbringen möchtest. Ich weiß ja, dass die Einladung von Mokuba kam und ich wollte dir meine Gesellschaft nicht aufdrängen. Deshalb habe ich etwas Abstand gehalten.“ „Es ist Mokubas Feier, das stimmt. Aber ich freue mich sehr, dass du hier bist. Ich … muss gestehen, du hast mir gefehlt in den letzten Wochen. Und ich habe meine vorschnelle Entscheidung mittlerweile sehr bereut.“ Nun musterte Atemu ihn aufmerksam. „Aber wieso denn das? Ich konnte wirklich gut nachvollziehen, wie du dich gefühlt hast.“ „Ich war in dem Moment einfach überfordert mit allem. Aber ich kann in meinem Leben ja auch nicht einfach den Pauseknopf drücken, bis meine Erinnerungen zurückkommen. Und auch wenn das schneller als erwartet passieren sollte – vielleicht ist das Ganze eine gute Gelegenheit, unter mein bisheriges Leben einen klaren Strich zu ziehen und ein paar Dinge zu ändern. Einen Reboot zu wagen, sozusagen. Ja, vielleicht ist es sogar genau die Chance, die ich vorher nie gehabt hätte. Was ich damit eigentlich nur sagen will – egal ob mit oder ohne Erinnerungen: Ich fände es schön, wenn du ein Teil dieses neuen Lebens wärst.“ Bei Setos Worten spürte Atemu, wie eine Anspannung von ihm abfiel. Er war jemand, dem es nur sehr schwerfiel, anderen zu zeigen, wenn ihn etwas bewegte. Nicht immer trug er sein Herz auf der Zunge. Doch es beeindruckte ihn zutiefst, wie Seto die Karten vor ihm so offenlegte. Einen so persönlichen und aufrichtigen Monolog hätte nie den Mund des alten Seto Kaiba verlassen. Langsam schritt er auf den Firmeninhaber zu, während sich ein glückliches Lächeln auf seine Lippen legte. „Wenn du das so sagst, dann lasse ich das gerne so stehen. Ich kann dir zwar nicht versprechen, dass ich dieses neue Leben gegenüber dem vorherigen bereichern kann, aber ich kann es zumindest versuchen.“ „Und wenn nicht, kann ich es ohnehin nicht beurteilen. Ich habe ja nicht den Vergleich“, schmunzelte Seto. Schließlich fügte er leiser hinzu: „ein glückliches neues Jahr, Atemu.“ „Das wünsche ich dir ebenfalls, Seto.“ Sie waren einander nun so nah, dass Atemu Setos ganz eigenen, unaufdringlichen und irgendwie aufgeräumten Geruch wahrnahm. Wie von selbst fanden sich jetzt ihre Hände. Schließlich legte Seto einen Arm um den ehemaligen Pharao und dieser ließ sich in die vertraute Geste fallen. So standen sie da und waren ganz für sich, während von drinnen fröhliche Stimmen zu ihnen drangen. Ihrer beider Atem war als Nebel in der Luft sichtbar, aber von innen heraus fühlte Atemu sich angenehm warm. Er dachte nicht daran, was das neue Jahr bringen würde, sondern blieb ganz im Moment verhaftet und ließ sich von der verklärten Schönheit des verträumten Lichtermeers einhüllen. ~*~ „Sie sehen sehr glücklich aus“, sagte Yugi zu Ryou, dessen Blick daraufhin dem Kleineren nach draußen folgte, wo zwei Silhouetten friedlich aneinandergeschmiegt dastanden und in sich zu ruhen scheinen. „Ja“, nickte Ryou, „vielleicht hätten wir ihm nicht so sehr ins Gewissen reden sollen. Vielleicht hat ihm das alles ja tatsächlich geholfen.“ Yugi blieb skeptisch. „Ich wünsche es ihm sehr. Und noch sieht es aus, als würde nichts zwischen ihnen stehen. Aber ich fürchte, spätestens wenn Kaiba alles erfährt, wird es ein böses Erwachen geben.“ „Ich hoffe, du irrst dich“, sagte Ryou leise. Kapitel 6: Easy as Binary Code ------------------------------ 6. Easy as Binary Code Mit einem leisen Ächzen legte Seto sein Buch auf dem kleinen Beistelltisch ab, lehnte sich in seinem Sessel zurück und fasste sich mit der rechten Hand an die Stirn. So verharrte er wenige Sekunden angestrengt, bis ihn eine sanfte Stimme aus seinen Gedanken schreckte. „Was ist los?“, fragte Atemu, während er auf seine übliche elegante Art leichtfüßig an den Firmenchef herantrat. Dieser öffnete die Augen, um einen Moment lang in den besorgten, offenherzigen Augen seines Gegenübers zu versinken. „Nichts, nur … manchmal überkommen mich seltsame Gefühle, die aus dem Nirgendwo zu kommen scheinen. Ich denke, es sind Erinnerungen an Ereignisse, die ich noch nicht ganz erfassen kann. Ich kann mit diesen Fetzen einfach nichts anfangen und sie … gehen mir ehrlichgesagt nur noch auf die Nerven.“ Atemu legte für einen Moment den Kopf schief, dann jedoch nickte er verständnisvoll und ein leichtes Lächeln legte sich auf seine Züge, das seine ausdrucksstarken Augen nur noch mehr in Szene setzte. Schließlich streckte er beide Hände aus und berührte mit kühlen, schlanken Fingern Setos Schläfen, so zaghaft wie kühle Regentropfen. Dieser erschauerte unter der gefühlvollen Berührung und elektrische Impulse jagten durch seinen gesamten Körper. Glücksgefühle kochten in ihm hoch. „Kann ich etwas tun, das dir helfen könnte?“, wollte der Pharao nun wissen. Nun war es an Seto, ein erschöpftes, aber dankbares Lächeln zu lächeln. „Nichts abgesehen von dem, was du ohnehin schon die ganze Zeit tust.“ „Ach ja? Und was genau wäre das?“, hakte der Pharao amüsiert nach, der sich offenbar keiner besonderen Leistung bewusst war. Wenn er wüsste, wie sehr er Seto in den letzten Wochen mit seiner bloßen Existenz geholfen hatte, wäre er womöglich weniger bescheiden. Wobei – wohl eher nicht. Es war mittlerweile Ende Januar und obwohl sich Seto an die letzten Jahre seines Lebens nicht erinnern konnte, hatte er den Eindruck gewonnen, dass er nie zuvor so gelöst und – ja, man konnte getrost sagen – glücklich gewesen war. Auch auf Mokuba schien es diesen Eindruck zu machen, und dieser hatte immerhin in den letzten Jahren reichlich Gelegenheit dazu gehabt, ihn Tag für Tag zu beobachten. Für Setos geistige Gesundheit war Atemu nicht vollkommen allein verantwortlich, denn auch in seiner Arbeit ging er vollends auf und lernte jeden Tag neue Dinge, die ihn geistig forderten und ausfüllen. Ja, er hatte richtig Spaß an diesem Job, den er sich selbst eigentlich ja nicht gewählt hatte. Hatte das Gefühl, er konnte ihn für sich neu entdecken und erobern. Dennoch steuerte der ehemalige Pharao einen nicht geringen Anteil zu diesem Hochgefühl bei, das seit der Silvesternacht anhielt. Denn im Gegensatz zu früher legte Seto, seit er Atemu regelmäßig traf, viel mehr Wert auf ein ausgeglichenes Verhältnis von Arbeit und Privatleben (zumindest nach Mokubas Aussage, die sein einziger Vergleichswert war) und konnte es kaum erwarten, abends oder an den Wochenenden Zeit mit dem König der Spiele zu verbringen. „Was liest du denn da?“, hatte sein jüngerer Bruder ihn vor einigen Tagen gefragt und neugierig auf ein Buch mit der Aufschrift „Zehn sichere Wege zum langfristigen Erfolg für Selbstständige“ in Setos Hand gedeutet. „Ach das“, hatte Seto etwas verlegen erklärt, „naja, ich dachte, ich eigne mir mal ein paar Softskills an. Immerhin weiß ich ja im Grunde nichts davon, wie man eine Firma erfolgreich führt. Hier drin steht zum Beispiel, man soll lernen, Aufgaben zu delegieren. Das macht Mitarbeitende glücklich, weil sie Verantwortung übertragen bekommen und man ihnen das Gefühl gibt, dass man ihnen Dinge zutraut. Und noch dazu hält es CEOs gesund.“ Mokuba verschluckte sich fast an seiner Cola und brach in einen heftigen Hustenanfall aus, der sich jedoch nach einigen Sekunden zu einem heiseren Lachen wandelte. „Lass mich raten: In meinem alten Leben habe ich von solchen Tipps nicht allzu viel gehalten“, stellte Seto unbeeindruckt fest. Eifrig nickte der jüngere Kaiba. „Nicht das Geringste. Du hast immer gesagt, dein Erfolg gebe nur dir recht und nicht irgendwelchen Ratgeberfritzen, die im Leben noch rein gar nichts erreicht hätten. Und dass man alles selbst erledigen müsse, wenn man will, dass es gut wird.“ Seto nickte. „Sowas in der Art dachte ich mir.“ In den letzten Wochen hatte er sein früheres Ich kennengelernt wie diesen einen Freund, von andere ständig die unmöglichsten Dinge und Ansichten berichten, den man aber selbst nur aus Erzählungen kennt. Fast fühlte dieser Seto Kaiba sich an wie eine Allegorie für alles, was man im Leben nicht sein wollte oder sollte. Aber jetzt lernte er seine Arbeit vollkommen neu kennen. Jetzt hatte er keine andere Option, als alles anders zu machen. Alles so zu machen, wie er es hier und heute für richtig hielt. Von vorn zu beginnen. Und außerdem hatte er jetzt Atemu. Seinen … Freund, wie es schien (An dieses Wort musste er sich wohl erst gewöhnen), für den es ihm wichtig war, Zeitfenster freizuschaufeln und der ihn seine Arbeit ab und an durch das Eintauchen in seine eindrucksvollen Augen vollkommen vergessen ließ. Noch immer wusste er nicht wirklich, wer er war, aber wenn er mit Atemu zusammen war, hatte er manchmal das Gefühl, sich in ihm zu wiederzufinden. Noch war Atemu natürlich für ihn kein echter Partner. Aber er war jemand, den er sich definitiv in der Zukunft als ein solcher an seiner Seite vorstellen konnte. „Alles, was du mich fühlen lässt, hält mir diese verwirrenden Emotionen und Bilder vom Hals“, erklärte Seto jetzt ruhig. Atemu nickte daraufhin verstehend. Seine Finger bewegten sich nun wie nebenbei weiter an Setos Schläfen nach hinten, vergruben sich in dessen Haar und kraulten sanft seine Kopfhaut, sodass auch die Muskeln in Setos Nacken sich automatisch ein wenig entspannten. Sein ganzer Körper wurde leicht und eine Gänsehaut jagte über seine Arme. Ohne, dass er es hätte verhindern können oder wollen, entwich ihm ein entspanntes Seufzen. Schließlich platzierte Atemu sich rittlings auf Setos Schoß, während er die letzte Distanz zwischen ihnen überbrückte und Seto automatisch in einen Kuss zog, wobei seine Hände schließlich locker in Setos Nacken liegenblieben. Dieser empfing den mittlerweile bereits vertrauten Körper nur zu bereitwillig und seine Hände glitten über die warme Haut unter Atemus schwarzem Langarmshirt. Der ehemalige Pharao drängte sich nun dichter an ihn, nahm Setos Gesicht in seine Hände und knabberte leicht an dessen Lippen, verwickelte ihn in einen spielerischen Tanz ihrer Zungen, während sein Körper sich gefühlvoll auf Setos Schoß bewegte und sich rhythmisch an ihn drängte, so dass dessen Blut in Richtung seiner Körpermitte schoss. Seto spürte deutlich, dass dies wieder einer dieser Augenblicke war, in die er sich nur zu gerne fallen ließ, um alles – seine ganze Situation, seine Person und all die Fragen in seinem Kopf – einfach auszublenden. Seine Gedanken waren dann nur noch und vollkommen bei Atemu und bei alldem, was dieser ihn seit einigen Wochen fühlen ließ. Dessen Hände wanderten nun an Setos Oberarmen hinab zu dessen Taille. Ihrer beider Atem ging mittlerweile schneller. Seto ließ seine Hände von Atemus Rücken nach vorne zu dessen Oberschenkeln gleiten. Nun erhob sich der Kleinere der beiden und kümmerte sich um die Knöpfe an Setos Hemd, während er ihn weiter küsste. Schließlich entledigte er sich auch seiner eigenen Oberbekleidung, ohne seine Aufmerksamkeit auch nur einen Moment von Seto abzuwenden. Er hielt kurz inne, nur um den Firmenchef glücklich anzulächeln, bevor er endlich seiner dessen mittlerweile unbequem gewordenen Beinkleider öffnete und einnehmend über die darunter freigelegte Boxershorts strich. Am Ende fielen auch die letzten Kleidungsstücke und auch wenn dies nicht das erste Mal war, verspürte Seto doch jedes Mal ein aufgeregtes Ziehen, wenn sie letztlich so Haut an Haut miteinander agierten, sich einander so schutzlos auslieferten und ihre Körper die Kontrolle übernehmen ließen. Atemu hatte paradoxerweise eine gleichsam elegante und rohe Art, den Begierden seines Körpers stattzugeben und auch wenn Seto ahnte, dass dies in seinem alten Leben vermutlich keine Option für ihn gewesen wäre, überließ er ihm ab und zu nur zu gerne die Oberhand und ließ ihn sich nehmen, was er begehrte. Und zu beobachten, wie sehr Atemu sich in die Hitze des Moments fallen lassen und genießen konnte, verleitete ihn dazu, dies ebenfalls zu tun und erregte ihn mit jedem Mal mehr. Atemu legte seinen Kopf in den Nacken und bäumte seinen Körper auf, um Seto in sich intensiver zu spüren, während Setos Hände an dessen Taille lagen und seine Lippen über Atemus erhitzten Nacken und Schultern glitten. Ihre Nähe zueinander war so natürlich, dass Seto sich kaum vorstellen konnte, dass es einmal anders gewesen sein sollte. Später ließ Atemu sich erschöpft gegen Setos Brust fallen. Sein Schweiß benetzte Setos Haut und roch angenehm vertraut. Tiefe Entspannung überkam ihn, während er sein Gesicht in Atemus nun unordentlich wegstehenden Haar vergrub und seine Arme um den zierlichen Körper legte. Beide dösten in einen schläfrigen Dämmerzustand, bis Atemu sich widerwillig erhob. Er suchte seine Sachen zusammen und kraulte Seto dann noch einmal wie abwesend durch sein Haar. Als ihre Blicke sich erneut ineinander verhakten, bemerkte der Firmenchef wieder eine für Atemu äußerst rare Gefühlsregung: Meistens wirkte er wie diese alte, veredelte Seele, die so sicher durch jede Situation navigierte. Aber in seltenen Momenten blitzte in seinem sonst so herrschaftlichen Blick eine Unsicherheit und Verletzlichkeit auf. „Was ist?“, sprach er seine Beobachtung sachte an, doch ein Lächeln auf den Lippen des Pharaos kaschierte die Wehmut in seinen Augen schnell. „Nichts nur … ich wünschte, alles könnte immer so bleiben wie jetzt. Manchmal kommt es mir vor, als befänden wir uns in einer Seifenblase.“ „Dann … lass uns doch einfach dafür sorgen, dass es so bleibt“, sagte Seto, vielleicht etwas zu naiv. Natürlich wusste er so genau, wie er es spürte, dass seine Beziehung zu Atemu nicht so einfach war, wie er sie heute empfand, dass sie unter dieser aalglatten Oberfläche vielschichtiger und komplexer sein musste. Aber im Augenblick teilte er die Sehnsucht des Kleineren. Er wünschte sich, dass seine Erinnerungen nie zurückkehrten und dass er einfach einen Strich hinter sein früheres Ich setzen konnte. So wie er scheinbar einen Strich hinter Gozaburo Kaiba gesetzt hatte. Vielleicht gab es für alles eine Zeit. Und diese hier war dafür da, um zu leben. ~*~ In den kommenden Wochen und Monaten rückte sein Wunsch ganz einfach deshalb mehr und mehr in den Hintergrund, da er scheinbar zur Realität wurde. Die wenigen Schlaglichter auf Emotionen und Bruchstücke aus seinem Gedächtnis quälten ihn zwar von Zeit zu Zeit, doch schaffte er es, sie ziemlich erfolgreich beiseitezuschieben, da er ohnehin meist wenig mit ihnen anfangen konnte. Manchmal waren es auch kleinere Erinnerungen an Ereignisse aus seiner geschäftlichen Laufbahn oder seiner Zeit bei Gozaburo, die er ohnehin nur zu gerne direkt wieder von sich wies wie einen Film, den er am Vorabend gesehen und am nächsten Morgen vergessen hatte. Die Tage und Wochen zogen ins Land und seit seinem Gedächtnisverlust waren nun mehr sechs Monate verstrichen. Gerade packte Seto im Büro seine Sachen zusammen und richtete sich noch einmal seine Krawatte. „Ich bin dann weg“, informierte er Roland, der gerade einige Aktenordner hereintrug und auf seinem Schreibtisch platzierte. „Schönen Feierabend, Herr Kaiba“, sagte sein Assistent wohlwollend, „und viel Spaß bei Ihrem Tanzkurs.“ „Danke, Roland. Oh, und mach du heute ebenfalls nicht mehr so lange. Es wurde mir zugetragen, heute ist ein großer Tag für dich. Dein Junggesellenabschied?“ „Da haben Sie richtig gehört“, Roland schmunzelte etwas ertappt. Seit jeher hatte er mit seinem Chef, den er von klein auf kannte, ein sehr gutes Verhältnis geführt. Doch für sein Privatleben hatte dieser sich früher wenig interessiert. „Na dann – lass es krachen oder was auch immer“, entgegnete Seto trocken, bevor er flüchtig winkte und schließlich mit seiner Aktentasche unter dem Arm eilig das Büro verließ. Beinahe wäre er mit seinem jüngeren Bruder zusammengestoßen, der gerade zur Tür hereinschneite. Auch mit ihm tauschte er nur einen flüchtigen Gruß, bevor er auf uns davon war. Mokuba sah ihm für einen Augenblick grübelnd nach. „Herr Kaiba?“, sprach ihn Roland vorsichtig an, „alles in Ordnung? Über was denken Sie nach?“ „Ach nichts“, Mokuba schüttelte hastig den Kopf, wie um die Gedanken zu vertreiben, „es ist nur … ich bin so hin- und hergerissen. Seto wirkt jetzt so glücklich. Fast kommt es mir richtig egoistisch vor, mir trotzdem zu wünschen, dass seine Erinnerungen zurückkommen.“ Roland nickte verstehend. „Ich finde nicht, dass Sie egoistisch sind“, widersprach er ihm nachdrücklich, „aber vielleicht“, schlug er nachdenklich vor, „schließt das eine das andere ja nicht aus. Vielleicht kann er sich seinen Lebenswandel auch mit seinen Erinnerungen beibehalten.“ „Ja, möglich“, entgegnete der jüngere Kaiba, aber in Wahrheit bezweifelte er es. Wenn all seine vergifteten Gefühle zurückkehrten, würde es schwer werden, sich diese Reinheit und Unvoreingenommenheit zu bewahren. Und sein gutes Verhältnis zu Atemu, der ihn in den letzten Monaten stetig aus dem Büro und vor die Tür zerrte. Seit neustem machten sie gemeinsam einen Tanzkurs. Eigentlich konnte Seto bereits ganz passabel tanzen (eine Fähigkeit, die er trotz seines Gedächtnisverlustes nicht verlernt hatte). Diese Erkenntnis hatte sein Bruder aus der ersten Stunde mitgenommen und sie hatte Seto selbst überrascht. Es stimmte also, dass man bestimmte Dinge einfach nicht verlernen konnte. Atemu aber kannte sich mit den Standardtänzen nicht aus und so begab sich sein Bruder nun bereitwillig noch einmal auf das Anfängerniveau.(*) „Wie auch immer, wir sollten an die Arbeit gehen, damit du heute Abend pünktlich hier rauskommst“, schloss Mokuba das Thema schließlich ab, „oh und Roland – lass doch bitte das ‚Herr Kaiba‘ Weg. Mokuba reicht nach wie vor vollkommen aus.“ ~*~ Seto betrat derweil gutgelaunt den Aufzug nach unten und betätigte den Knopf, der ihn ins Erdgeschoß brachte. Die Tür schloss sich fast geräuschlos und das leichte Ziehen im Magen, das die Abwärtsbewegung des fahrenden Raums ankündigte, nahm er kaum noch wahr. Ohnehin war er mit den Gedanken bereits bei dem geplanten Abend. Doch von einem Moment auf den anderen schlug Setos Wahrnehmung vollkommen um. Beklemmung überkam ihn so heftig wie ein Schlag auf den Kopf und ihm war, als kämen die metallenen Wände immer näher. Sein Magen machte sich bemerkbar und er musste sich zusammenreißen, um sich nicht zusammenzukrümmen. Hilflos krallte er seine rechte Hand in sein Haar und suchte mit der linken an der Wand Halt. Urplötzlich war er froh, dass sich außer ihm niemand im Aufzug befand. Und während es in seinen Eingeweiden riss und sein Magen sich fühlte, als drehe er sich einmal um, prasselten Bilder und Emotionen so heftig auf ihn ein, dass er keine Gelegenheit mehr hatte, sie zurückzudrängen. Er konnte nur hilflos abwarten, bis sie eine nach dem anderen Einzug in seine Gedanken gefunden hatten wie eine groteske Parade. Während er noch so dastand und unregelmäßig atmete, öffnete sich die Aufzugtür mit einem melodischen „Pling“. Von draußen blinzelte Atemu ihn verwirrt an. „Seto, alles okay? Ich hab etwas früher Schluss gemacht. Ich dachte, ich komme dich abholen.“ Langsam richtete der Angesprochene sich auf. Die Intensivität des Augenblicks verebbte langsam, aber etwas blieb bei ihm, ließ sich nicht abstreifen. Wie ein hartnäckiger öliger Film. „Ja, ich glaub schon“, antwortete er langsam und blickte Atemu an. Dessen skeptischer Ausdruck machte Seto sofort klar, dass er kein Wort vom dem Gehörten glaubte. „Schön. Sollen wir … gehen?“, fragte er dennoch, ohne weiter nachzuhaken. „Ja. Ja, auf jeden Fall.“ Als Seto neben Atemu herschritt, besah er ihn unauffällig von der Seite. Jetzt, gerade in diesem Moment, wäre er lieber alleine gewesen. Oder mit irgendjemand anderem unterwegs. Denn das, was er eben empfunden, was er gesehen hatte - all das hatte mit Atemu zu tun. Zum ersten Mal hatten ihn Erinnerungen an ihn erreicht. Und mit ihnen vollkommen unbeschreibliche Gefühle. Gefühle der Abscheu, der Rivalität, der Verachtung und Minderwertigkeit. Er fühlte sich hilflos, gedemütigt, rastlos und – verunsichert. All das konnte er nicht einordnen und auch nicht mit dem Bild von Atemu vereinbaren, das er in der Zeit nach seinem Erinnerungsverlust gewonnen hatte. Es war in etwa so wie diese seltenen Begebenheiten, bei denen man nachts überraschend von Personen aus dem eigenen Alltag träumt und man ihnen am darauffolgenden Tag völlig ungewohnte Gefühle entgegenbringt, wenn man ihnen im realen Leben begegnet. „Du bist so still. Hast du dich denn an etwas erinnert?“, schnitt Atemu nun das Thema noch einmal zaghaft an, nachdem sie bereits fast den gesamten Weg zum Studio schweigend nebeneinanderhergelaufen waren. Auch der Pharao schien wahrzunehmen, dass heute etwas zwischen ihnen stand. „Nichts, was der Rede wert wäre“, wich Seto resigniert aus. Wie sollte er es erklären? Er musste zuerst darüber nachdenken. In aller Ruhe seine wirren Gedanken ordnen. „Okay. Wenn du darüber reden möchtest, du weißt ja, ich bin hier.“ „Ja, danke.“ Das geplante Abendessen ließen sie nach der Tanzstunde einvernehmlich ausfallen. Atemu schien zu spüren, dass eine unsichtbare Barriere Seto zurückhielt. Und dieser war dankbar für dessen Feingefühl. Und dennoch fühlte es sich falsch an, als sie so auseinandergingen. Beklemmend. So ruhig Atemu auch äußerlich versuchte zu wirken. In seinen Augen hatte Seto bei ihrer Verabschiedung Angst gesehen. Dieselbe Angst, die er bereits bei seltenen Gelegenheiten manchmal erhascht hatte. Und die er ihm nicht nehmen konnte. Kapitel 7: A Virus Inside the System ------------------------------------ 7. A Virus inside the System „Das war mein härtestes und schwierigstes Duell, Kaiba“, sagte Atemu mit ruhiger Stimme, während er versöhnlich auf seinen Kontrahenten zutrat. Doch statt das Kompliment zurückzugeben zischte dieser ihm lediglich ein unwirsches „Spar dir das Gesülze!“ entgegen. Dieser kleine Wichtigtuer sollte endlich schweigen! Das Duell war vorbei, was wollte er also noch von ihm?? Sollte er doch seine leeren Floskeln für sich behalten und ihn in seiner Schmach alleinlassen! Stattdessen faselte er wie üblich etwas von Schicksal und Freundschaft, doch Setos Kehle war wie zugeschnürt und Übelkeit und lodernde Wut kämpften in seinem Inneren um die Oberhand. „Ich brauche keine tröstenden Worte!“, spie er ihm mit bebender Stimme entgegen. Nein, sie waren das Letzte, was er jetzt oder irgendwann sonst brauchte oder wollte. Und insbesondere nicht von ihm, der nun vor ihm stand und ihm so widerwärtig wohlwollend und gönnerhaft entgegenlächelte – in seinen großen Augen ein enttäuschter, ja, fast verletzter Ausdruck, als Seto ihn nun zurückwies. Die gesamte Art des 'anderen Yugi' widerte Seto an. Seine Person stand für alles, was er verabscheute, und doch hatte diese eine Sache, die er begehrte: den verdammten Titel, den dieser Gernegroß nicht einmal durch seine Fähigkeiten, sondern lediglich durch unverschämtes Glück nach wie vor führen durfte. Seto hasste seine durchdringenden Augen. Hasste ihn dafür, dass er immer als unüberwindbare Hürde vor ihm thronte. In Wirklichkeit hasste er sich selbst dafür, dass er wieder und wieder daran scheiterte, diesen Virus in seinen Gedanken endlich auszumerzen, ihn durch den befreienden Sieg endlich hinter sich zu lassen. Doch das war ihm in diesem Augenblick nicht bewusst. „Du warst getrieben von Wut, von Hass und von Neid“, sagte der andere Yugi jetzt. Damals hatte Seto es nicht verstanden. Damals waren es für ihn nichts als leere, altkluge Worte eines weltfremden Missionars. Sinnloses Gerede von Dingen, die angeblich sein Leben umkrempeln und besser machen würden, obwohl sie doch alle gar genau wussten, wie diese Welt in Wirklichkeit funktionierte. Wie der Hase eigentlich lief im Leben. Und heute? Ja, heute begriff er endlich, was Atemu ihm damals hatte sagen wollen. Heute machte es alles Sinn. Und seine damalige Haltung passte hervorragend in das Bild, das ihm alle von seinem früheren Ich malten. Dennoch – wenn er sich an sein letztes Duell in Battle City erinnerte, fühlte er noch immer den kalten Wind auf dem Dach des Duellturms, der ihm seine eigene Schmach ins Gesicht peitschte. Spürte die brennende Verachtung und den Hohn, als wäre es gestern gewesen. All diese negativen Gefühle, die wild um sich schlugen. Er konnte diese Emotionen nicht abschütteln, abstellen oder in etwas anderes umwandeln, so sehr er es auch wollte. In Wirklichkeit hatte er sich damals selbst gehasst, weil er die Welt auf seinen Schultern lasten spürte und nicht gut genug war, um seine Ziele zu erreichen. Weil er in sich selbst gefangen war und niemanden erreichen konnte, von niemandem gehört wurde. Angst hatte in Aggression und blinde Wut ausgeschlagen, hatte ihn um sich beißen lassen wie ein gepeinigtes Tier. All diese Emotionen hatte er damals auf Atemu projiziert. Er allein war das Objekt seiner Verachtung gewesen. Und wenn er jetzt an ihn dachte … dann kochte in ihm das unbändige Verlangen hoch, diese Manifestation seiner negativen Gefühle aus seinem Leben auszuschließen, auszuradieren, statt ihn weiter und weiter in seine intimsten Gedanken vordringen zu lassen. Auch wenn er das alles nicht wollte, er konnte sich nicht gegen diese mächtigen Gefühle wehren. ~*~ Auch Atemu verweilte in diesem Moment mit seinen Gedanken bei jener Erinnerung. Zwar konnte er nicht wissen, ob es genau diese Momente waren, die Seto heute Abend vor ihrer Verabredung noch einmal durchlebt hatte. Aber welche Rolle spielte das schon? Sicherlich handelte es sich bei der zurückgekehrten Erinnerung um eine ihrer zahlreichen Begegnungen, die jedes Mal auf dieselbe Art geendet waren. Auch Atemu konnte sich nur zu gut entsinnen, wie Seto ihn damals jedes Mal angesehen hatte. An die brennende, leidenschaftliche Verachtung in seinem Blick. Wenn er daran zurückdachte, ahnte er, mit welchen Gefühlen sein Freund im Augenblick zu kämpfen hatte. Genau davor hatte er die ganze Zeit über solche Angst gehabt. Nun war es also soweit. Der gefürchtete Augenblick war gekommen, der diese Themen auf den Tisch brachte und an die Oberfläche zerrte. Und Atemu wusste offengestanden nicht weiter. Er kam sich vor wie ein Hochstapler, der Seto über die eigentliche Natur ihrer Beziehung belogen und hinters Licht geführt hatte. Obwohl dem genaugenommen gar nicht so war. Dennoch war er noch nicht bereit, einfach so aufzugeben, was zwischen ihnen in denn letzten Wochen entstanden war. Noch betrachtete er dieses Spiel nicht als endgültig verloren. Und war das nicht seine Spezialität? Aus scheinbar ausweglosen Pattsituationen den einzigen Ausweg zu finden? In den nächsten Wochen versuchte er deshalb tapfer, seine Ängste und Bedenken in den hintersten Winkel seiner Gedanken zu drängen, stark zu aufzutreten und Seto mit seinen Gefühlen nicht alleinzulassen. Wieder und wieder nahm er Kontakt zu ihm auf und bat ihm darum, sich mit ihm zu treffen, versuchte vehement, ihre neugewonnenen Routinen aufrechtzuerhalten, damit der Firmenchef irgendwann sein verzerrtes Bild von ihm ablegen und durch ein neues ersetzen konnte. Anfangs spürte Atemu, dass Seto ihm dankbar für seine Initiative war und sich seinen Gefühlen ebenfalls stellen wollte, statt die Distanz zu wahren. Doch immer, wenn der Pharao ihn auf die Thematik ansprach und den offenen Dialog über das Geschehene suchte, konnte Seto schwer in Worte fassen, was seine zurückkehrenden Erinnerungen ihm zeigten. So wurde ihre offene Kommunikation zunehmend seltener. Atemu sah mit Sorge zu, wie Seto von Tag zu Tag abwesender, distanzierter und in seinem Inneren gefangen wirkte. Schließlich kam der Abend, den Atemu insgeheim vorhergesehen und lange gefürchtet hatte. Etwa eine Stunde vor ihrem wöchentlichen Tanzkurs rief Seto ihn auf dem Handy an und teilte ihm mit, dass er sich heute nicht wohlfühle und er es für das Beste halte, wenn er heute zu Hause bliebe. „Atemu, ich bin mir nicht sicher, ob ich den Termin in den nächsten Wochen noch einhalten kann. Ich habe aktuell einige zeitraubende Projekte auf der Arbeit, weißt du?“ „Augenblick mal, Seto“, intervenierte Atemu sofort, alarmiert über Setos Aussage, „ich kann dich nicht dazu zwingen, weiter mit mir diesen Kurs zu machen. Aber lass uns doch wenigstens darüber sprechen, was der eigentliche Grund dafür ist, okay? Wie wäre es, wenn ich in der Kaibavilla vorbeikomme und wir in Ruhe beratschlagen, wie es weitergeht.“ In der Leitung herrschte für einige Sekunden Schweigen. Dann hörte der ehemalige Pharao Seto resigniert aufatmen. „Atemu, ich denke ehrlichgesagt nicht, dass uns das weiterbringt. Im Augenblick weiß ich nicht, was ich dir sagen soll, verstehst du? Ich muss das alles erst sortiert kriegen.“ „Ja, ich verstehe dich ja, aber … versteh du auch, wie es mir dabei geht. Ich weiß rein gar nichts. Ich weiß nicht, wie wir zueinanderstehen, ob du mich noch magst, ob du wütend auf mich bist …“ „Ja, ich kann nachvollziehen, dass das für dich schwer ist. Aber … ich weiß es einfach nicht, okay? Ich kann dir nichts anderes sagen. Es tut mir leid.“ Stumme Tränen liefen Atemus Wangen hinab, als sie aufgelegt hatten und er gedankenverloren sein Smartphone sinken ließ. Sein gesamter Körper fühlte sich taub an und Verzweiflung breitete sich in ihm aus und senkte ihre tückischen Krallen in seine Brust. Es kam ihm vor, als wäre er aus einem Traum erwacht, von dem er sich gerade erst erlaubt hatte zu glauben, dass er Wirklichkeit werden konnte. Geblieben war nichts als ein Albtraum. Welchen Unterschied machte es jetzt noch, wie er sich verhielt? Hatte er denn überhaupt noch irgendwas zu verlieren? Nun konnte er auch genauso gut nach dem einzigen Strohhalm greifen, der ihm noch geblieben war. Mit einem Mal ging ein Ruck durch seinen Körper und es kehrte wieder Leben in ihn. Geschäftig schnappte er sich Mantel und Schlüssel und verließ sein Apartment mit einem klaren Ziel vor Augen. ~*~ Es war ein sonniger Abend im Juni, als Yugis Handy klingelte und Ryou sich mit besorgter Stimme bei ihm meldete. „Hey, Ryou, was gibt es? Falls es nichts Dringendes ist, kann ich dich zurückrufen?“, fragte Yugi, der gerade im Aufbrechen war. „Naja, mehr oder weniger“, ertönte Ryous Stimme in der Leitung mit einem bitteren Unterton, „ich wollte dich nur kurz über was informieren: Unsere Befürchtungen haben sich leider bewahrheitet. Eben habe ich zufällig gesehen, wie Atemu nochmal zu ihm gegangen ist. Ich war selbst gerade auf dem Weg dorthin und habe ihn ins Haus gehen sehen.“ Sofort zeichneten sich Sorgenfalten auf Yugis Stirn ab. „So ein Mist. Wo reitet er sich da nur rein? Aber was können wir jetzt noch tun?“ „So, wie es aussieht, wenig. Er wird sich schwer davon abbringen lassen, egal, was wir ihm sagen.“ „Ja, du hast sicher Recht“, nickte Yugi, „trotzdem danke, dass du mir Bescheid gegeben hast.“ „Klar doch.“ Zur selben Zeit stieg Atemu die lange Treppe in den sechsten Stock hinauf. Einen Lift gab es nicht in dem wenig einladenden Wohnahaus, das er soeben betreten hatte. Entschlossen hob er schließlich die Hand, um an eine Wohnungstür zu klopfen, als sie auch schon geöffnet wurde und ihm ein blasses, von weißem Haar umrahmtes Gesicht aus einem finsteren Wohnungsflur entgegensah. „Sieh an, sieh an. Es hat etwas gedauert, aber du bist wiedergekommen“, stellte Bakura mit einem belustigten Grinsen fest. „So ist es. Ich – brauche noch einmal deine Hilfe“, sagte Atemu abweisend und es kostete ihn einiges an Überwindung, die Worte auszusprechen, „du hast mir diese Suppe aufgetischt – jetzt wirst du mir auch helfen, sie auszulöffeln.“ Sein offensichtlicher Zwiespalt und seine Abneigung gegenüber seinem eigenen Handeln ließ das Grinsen im Gesicht seines Gegenübers noch größer werden. Der Pharao schluckte seinen Stolz hinunter und trat ein. Eigentlich hatte er sich gewünscht, er müsse nicht noch einmal hierher zurückkehren, als er diese Wohnung bei seinem letzten Besuch verlassen hatte. Dieser war nun bereits etwas über ein halbes Jahr her … ~*~ Ein schwerer Stein lag in Atemus Magen, als er die endlos scheinenden Treppen erklomm. Eigentlich sträubte sich jede Faser seines Körpers gegen diesen Gang. So lange hatte er mit sich gehadert, aber letztlich hatte diese kleine, garstige Stimme in ihm gesiegt, die ihm unentwegt ins Ohr flüsterte, dass sich ihm hier eine einmalige Gelegenheit böte. Seit er sich dazu entschieden hatte, nicht ins Totenreich überzuwechseln, hatte sich sein Leben stetig in die richtigen Bahnen gelenkt. Er konnte mit Recht von sich sagen, dass er angekommen war. Nur eine einzige Sache war da noch, ein einziger Wunsch war offengeblieben. Er gestand es sich nicht gerne ein, aber einer der Gründe, aus dem er das Leben der ewigen Ruhe vorgezogen hatte, war Seto Kaiba gewesen. Dass die uralte Seele von Priester Seth aus seiner Zeit als Herrscher Ägyptens wiedergeboren worden war und noch immer in dieser Zeit lebte, hatte in ihm die unverschämte Hoffnung geschürt, dass dies irgendwas zu bedeuten hatte. Dass er hier einen Menschen gefunden hatte, mit dem irgendeine Art von Verbindung bestand. Etwas, an das er anknüpfen konnte. Er spürte mehr, als dass er es durch Worte und Gesten hätte wahrnehmen können, dass da etwas zwischen ihnen existierte, das es zu ergründen galt. Dass diese Geschichte noch nicht zu Ende erzählt war. Leider sah Seto Kaiba das vollkommen anders und ließ ihn das ein ums andere Mal nur zu deutlich spüren. Jeder von Atemus Versuchen, sich ihm anzunähern, war zum Scheitern verurteilt. Für eine Weile hatte der ehemalige Pharao schließlich diese lächerliche Hoffnung fast begraben und sich den anderen Menschen in seinem Leben zugewandt, hatte neue Kontakte geknüpft und andere Männer getroffen. Doch niemals hatte er bei jemandem dieselbe Leidenschaft und Passion und dasselbe Knistern in der Luft gespürt wie mit Seto Kaiba. Niemals hatte er sich von jemandem so sehr angezogen gefühlt. Seto war für ihn wie ein starker Magnet. Und egal wie viele neue und nichtssagende Bekanntschaften er auch machte, so konnte er doch nie ganz von der fixen Idee lassen, dass er eines Tages den eiskalten Konzernchef für sich gewinnen würde. Sein Stolz ließ es nicht zu, diese Herausforderung am Ende als verloren zu betrachten. Doch je länger es dauerte, desto frustrierter wurde er und desto mehr wuchs seine Ungeduld und seine Sehnsucht. Ja, er musste es sich eingestehen, er sehnte sich nach dieser überwältigenden Intensität, die er nie bei einem anderen Menschen wahrgenommen hatte. Er wollte nicht irgendein lasches Abziehbild, sondern das echte, pure Erlebnis. Atemu war nicht irgendjemand und er verdiente und brauchte nicht irgendjemanden. So viel stand fest. Es war einige Tage, nachdem ihn die Einladung der KaibaCorporation erreicht hatte, die neue Duell-Arena für zu Hause zu testen. Natürlich hatte der werte Entwickler dieses technischen Wunderwerks nur ein Päckchen mit einem unpersönlichen geschäftlichen Schreiben und eine Einladung zum Produkt-Launch geschickt. Nicht einmal angerufen hatte er ihn, um ihn um seine Mithilfe bei der geplanten Kampagne zu bitten. Innerlich brodelte es in Atemu und Enttäuschung und Wut über diese unangemessene Behandlung kochten in ihm hoch. Er wusste nicht, wieso er sich so sehr erniedrigte und letztlich, nach langen und ermüdenden Überlegungen, dennoch zusagte. Ungefähr um die gleiche Zeit erzählte Ryou bei einem Treffen von Yugis Clique misstrauisch eine unerhörte Neuigkeit. „Leute, da ist was, was mich aktuell etwas beunruhigt“, sagte er und beugte sich verschwörerisch nach vorn, „es hat mit dem Geist des Milleniumsrings zu tun.“ „Ehrlich? Was treibt die alte Nachteule denn so?“, wollte Joey argwöhnisch wissen. „Naja“, erklärte Ryou nachdenklich, „seit Kurzen hat er wohl sowas wie – sagen wir ein neues, unangemeldetes Geschäftsmodell aus dem Boden gestampft.“ Da der antike Bakura zuvor nur Gelegenheitsjobs angenommen hatte und somit sein Konto meistens am Limit war, griff sein ehemaliger Wirt ihm ab und an finanziell etwas unter die Arme. Doch damit war es offenbar vorbei. „Seit ein paar Wochen scheint er nicht mehr so knapp bei Kasse zu sein und fährt richtig was auf, wenn ich ihn mal besuchen komme, um nach dem Rechten zu sehen“, erklärte der Weißhaarige. Tea, Tristan, Joey, Duke und Yugi machten große Augen. „Sag bloß.“ Auch Atemu legte neugierig den Kopf schief und lauschte Ryous Erzählung. „Ja, er will auch, wie er selbst sagt, ‚keine Almosen mehr von mir‘. Das hat mich natürlich gewundert. Erst wollte er nicht so richtig mit der Sprache rausrücken, wie er denn plötzlich so gut über die Runden kommt. Aber am Ende habe ich es doch aus ihm herausbekommen.“ Ryou schmunzelte geheimnisvoll und ein wenig stolz, während die anderen gebannt an seinen Lippen hingen, „er scheint unter der Hand mit allerhand Zaubern und ‚magischen Gefallen‘ zu handeln, die die ein oder andere Unannehmlichkeit in den Leben seiner Kunden galant ausbügelt.“ Atemu horchte interessiert auf, während seine Freunde besorgt dreinblickten. „Hoffentlich ist das keine Magie, über die wir uns Sorgen machen müssen. So langsam habe ich genug von diesem ganzen finsteren Hokus Pokus“, Duke verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich denke nicht“, beruhigte ihn Ryou schnell, „ich glaube, es sind lediglich kleine, harmlose Zauberkunststücke, für die die Leute trotzdem eine ganze Stange Geld bezahlen.“ Seit diesem verhängnisvollen Nachmittag wurde Atemu von einer wachsenden Unruhe ergriffen, wälzte sich nachts in seinem Bett hin und her und versuchte, den wahnwitzigen Einfall zu verdrängen, der ihm hartnäckig im Kopf herumspukte. Doch letztlich konnte er sich nicht mehr gegen seine Neugier und die aufkeimende Hoffnung erwehren. So fand er sich nur drei Tage nach Ryous Bericht am späten Abend unschlüssig in einem in die Jahre gekommenen Treppenhaus wieder und klopfe schließlich zaghaft an eine Wohnungstür. Der Moment, bis die Tür sich öffnete, zog sich schier endlos in die Länge und Atemus Herz hämmerte heftig gegen seine Brust. Schließlich blinzelten ihn zwei rehbraune Augen von der anderen Seite der Tür her überrascht an. „Sieh mal einer an. Welch königlicher Glanz beehrt mich in meiner bescheidenen Behausung“, ein gehässiges und zugleich amüsiertes Lächeln umspielte Bakuras schmale Lippen. „Ich bin lediglich hier weil …“, begann der ehemalige Pharao sofort, sich zu rechtfertigen. „Ich weiß, warum du hier bist. Du möchtest mich um einen Gefallen bitten, der den Weg deines Schicksals um ein paar Grad korrigieren soll.“ „Woher weißt du …?“, begann der Pharao, doch Bakura wandte sich um und schnitt ihm unhöflich das Wort ab. „Oh, bitte! Aus welchem Grund solltest du sonst hergekommen sein? Es gibt kein anderes Szenario, in dem du deinen royalen Hintern freiwillig auch nur in die Nähe meines unwürdigen Wohnsitzes bewegen würdest. Aber mir soll es Recht sein. Ich bin froh für alle Kunden, egal mit welchem Stammbaum. Bei mir sind sie ohnehin alle gleichermaßen Bittsteller und auf meine Fähigkeiten angewiesen. Hier drinnen sind alle sozialen Unterschiede passé. Denn wir alle sind gierig, haben unerfüllte Wünsche und Verlangen. Und was das betrifft ist auch der Hochwohlgeborene keinen Deut edler als die gemeine Taschendiebin. In diesem Sinne: Tritt ein in mein beschauliches Heim.“ Er machte eine vage einladende Geste mit dem Arm und bedeutete Atemu, ihm zu folgen. Dieser betrat misstrauisch eine fast stockfinstere Wohnung, die eigentlich nur aus einem einzigen Zimmer bestand. In einer Ecke stand ein schmales Bett. Eine zusammengestoffelte Küche schälte sich in sein Blickfeld, als seine Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten. „Hätte ich mir denken können, dass du lebst wie eine Fledermaus. Das passt zu deinem düsteren Gemüt.“ Bakura wandte sich grinsend zu ihm um. „Du glaubst allen Ernstes, ich hause freiwillig in dieser Finsternis? Du bist ja noch einfältiger, als ich dachte, Pharao. Nein, nein, das hat einen anderen Grund. Hab nämlich die Stromrechnung nicht bezahlt. War – sagen wir mal – kein so guter Monat fürs Geschäft. Pff. Leben in Dunkelheit, das sich nicht lache. Da kriegt man ja Depressionen.“ Die letzten Worte nuschelte er mehr in seinen Bart, als dass er sie zu Atemu sagte. Schließlich ließ der Geist des Ringes sich auf einem uralten Sofa aus rissigem Leder nieder, das unter seinem Gewicht tief einsank und aus dessen Armlehnen an mehreren Stellen das Polster quoll. Dann schlug er gewichtig die Beine übereinander und entzündete eine knisternde Kerze auf einer umgedrehten Getränkekiste. „Also dann, mit was kann ich Euch nun helfen, Eure Bedürftigkeit? Setzt euch doch.“ Mit der Hand wies er auf einen Ohrensessel, dessen ursprüngliche Farbe nur mehr schwer zu erahnen war. „Den hab ich vom Sperrmüll. Ist er nicht hübsch?“, kommentierte er das Möbelstück, als Atemus Blick seiner Geste folgte. „Danke … ich stehe lieber“, presste der Kleinere mit hochgezogener Braue hervor. „Oh, du willst also keine Zeit vergeuden und gleich zum Geschäftlichen kommen. Ganz wie du willst, Pharao. Also: Wo drückt denn das goldene Schühchen?“ Atemu holte tief Luft. Jetzt war der Moment gekommen, sein Anliegen vorzutragen. Und doch widerstrebte es ihm zutiefst, ausgerechnet dem Geist des Milleniumsrings derart tiefe Einblicke in sein Inneres zu gewähren. Alles, was von seiner strengen Erziehung hängengeblieben war, schrie ihm zu, seine Maske nicht abzulegen und sich für nichts auf der Welt auf diese Weise verwundbar und schwach zu machen. „Was ist nun?“, riss ihn der Ringgeist – nun seinerseits mit hochgezogener Braue – aus seinem inneren Zwiespalt. „Ich hab zwar wenig Kunden, aber trotzdem nicht ewig Zeit. In einer Stunde leite ich eine Runde Pen&Paper. Also, du musst mir schon sagen, was du von mir willst, wenn ich dir dienlich sein soll.“ „Das ist mir bewusst“, gab Atemu zähneknirschend zurück. Schließlich begann er, erst stockend und zum Ende hin immer gehetzter, aber vollkommen emotionslos und abgebrüht, sein Anliegen vorzubringen. Am Ende war ihm die Sache wohl doch zu wichtig, um steinern an seinen Prinzipien und seiner unantastbaren Fassade festzuhalten. Zuerst sagte Bakura nichts. Er blickte ihn lediglich an und aus seinen rotbraunen Augen blitzte der Schalk. Offenbar kostete er die seltenen Einblicke in das Privat- und Seelenleben des Pharaos unverhohlen aus. „Um es zusammenzufassen“, begann er schließlich, „du willst, dass ich dir helfe, das Herz dieses lächerlichen Priester-Verschnitts zu erobern.“ „Drück es aus, wie du es willst“, presste der Pharao zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „jetzt sag schon: Liegt das in deiner Kompetenz oder vergeude ich hier nur meine Zeit mit einem Stümper?“ „Selbst in die Enge getrieben bist du noch auf Konfrontation aus, was?“, seufzte Bakura beinahe nachsichtig, „Pharao, mal im Ernst. Hast du nicht diesen Disneyfilm gesehen? Aladdin? Es gibt keinen Zauber, der bewirkt, dass sich ein anderer Mensch in dich verliebt. Das wäre – unnatürlich. Um nicht zu sagen gefährlich.“ Für einen Moment ließ Atemu die Information sacken. Dann schüttelte er gefasst den Kopf, musste sich innerlich jedoch zusammenreißen, damit seine Züge nicht entgleisten. „Also kannst du mir tatsächlich nicht helfen. Ich hätte es mir denken können. In diesem Fall: Danke für deine Zeit und auf Nimmerwiedersehen.“ Mit diesen Worten wandte er sich um und schritt in Richtung Wohnungstür. Alles was er wollte, war, hier zu verschwinden. Diese blamable Episode hinter sich zu lassen und aus seinem Gedächtnis zu streichen. Und die Enttäuschung abzuschütteln, die in diesem Moment unwillkürlich und schwer in seinen Magen sackte. „Moment, Moment, Moment!“, hielt ihn da die Stimme des Ringgeists zurück, „warum denn so eilig? Ich habe mit Nichten gesagt, dass ich dir nicht helfen kann. Lediglich, dass ich nicht dafür sorgen kann, dass sich Kaiba in dich verliebt.“ Atemu fuhr unwirsch herum. „Was macht das für einen Unterschied? Das ist exakt dasselbe!“, zischte er Bakura gereizt entgegen. „Ist es nicht. Und würdest du mir mal für einen Moment zuhören, würdest du verstehen, was ich dir sagen will.“ „Dann rede endlich! Ich höre.“ „Ich wüsste da eine Möglichkeit für dich, wie du zu deinem Ziel kommen kannst, ohne dass ich Kaibas Gefühle manipuliere. Und ganz nebenbei könnte diese Option, solltest du dich dafür entscheiden, eine erhebliche Verbesserung seiner Lebensqualität herbeiführen. Also hör zu. Eine meiner Spezialitäten sind Amnesiezauber jeglicher Art. Waren mir schon oft von immensem Nutzen, kann ich dir sagen. Ich denke mir also Folgendes ...“ Und so hatte Bakura ihm erläutert, was ihm vorschwebte. Zuerst hatte Atemu verneint. Natürlich kam ein solch massiver Eingriff in Kaibas Leben auf keinen Fall in Frage. Das war moralisch beinahe ambiger als der Liebeszauber, den er im Sinn gehabt hatte. Doch am Ende, es ging bereits auf Mitternacht zu, verließ er Bakuras Wohnung mit exakt dem Deal, den der Grabräuber ihm vorgeschlagen hatte. Ja, er war schwach gewesen, er hatte seinen eigenen Wünschen und Sehnsüchten stattgegeben und sich eingeredet, dass es auch für Seto das Beste sei. Dass es ihm auf diese Weise bessergehen würde. Dass er sein Leben ändern konnte, wenn er ihn erst einmal zu einem Teil davon machte. Und das ging nun mal nur, wenn er ihm gegenüber vollkommen unvoreingenommen war. „Du weißt, es gibt natürlich Konditionen“, hatte Bakura gesagt, „keine Leistung ohne Gegenleistung.“ „Schon klar. Rück raus damit. Was willst du?“, hatte der Pharao bitter gefragt, „meine Seele? Ist es das, was du von deinen Kunden verlangst?“ Daraufhin war der Geist des Milleniumsrings nur in schallendes Gelächter ausgebrochen. „Hahaha! Ich krieg mich nicht mehr ein. Was hast du nur für Vorstellungen, wie ich arbeite? Wir sind doch hier nicht in einem Horrorfilm oder bei Supernatural. Nein, du Trottel. Alles, was ich will, ist ein Einkaufsgutschein im Wert von 15.000 Yen. Ich habe Ausgaben, du verstehst. Ich muss leben.“ „Oh“, hatte Atemu nur gesagt, als Bakura ihm auch bereits einen vorbereiteten Vertrag vor die Nase knalle. „Hier“, sagte er, „ich brauche deine Unterschrift hier, hier und … hier.“ „Mit … meinem Blut?“, fragte der Pharao, nun bereits etwas zaghafter. Bakura verdrehte nur kopfschüttelnd die Augen. „Mit Kuli, du Leuchte. Ich glaube ernsthaft, du siehst du viele Hollywoodfilme.“ Von diesem Tag an wartete Atemu jeden Tag in einem Wechselbad der Gefühle – von Nervosität über Schuld und Gewissensbisse bis hin zu Verunsicherung – auf das, was laut Bakuras Aussage innerhalb kürzester Zeit passieren würde. Ab und an glaubte er bereits, der Grabräuber habe ihn übers Ohr gehauen, denn die Medien ließen nichts darüber verlauten, dass der Firmeninhaber eine schwerwiegende Veränderung durchlebte. Als er sich bereits fast damit abgefunden hatte, über den Tisch gezogen worden zu sein, geschah das Ersehnte und Gefürchtete am Abend der Pressekonferenz in der KaibaCorporation schließlich doch noch. Und so nahm alles seinen Lauf … Kapitel 8: Breaking through the Firewall ---------------------------------------- 8. Breaking through the Firewall „Mit was kann ich dir heute dienlich sein? Beinahe bist du ja schon Stammkunde. Nur zu deiner Information: Bei drei Einkäufen bekommst du einen Treuebonus“, fuhr Bakura fort, während er Atemu auf seine üblich lässige Art ein zweites Mal in seine Wohnung führte. Erneut trat der Pharao in das Zimmer, durch dessen Fenster bei Tageslicht kaum viel mehr Licht drang als bei seinem letzten Besuch am späten Abend. Wie immer wirkte die mystisch-okkulte Einrichtung auf ihn verboten und deshalb gleichsam anziehend und abschreckend. „Durstig?“, wollte der Ringgeist wissen und hob einen Kelch mit einer schwarzvioletten, samtigen Flüssigkeit darin in die Höhe. „Nein … danke“, gab Atemu skeptisch zurück. „Verstehe“, entgegnete der Geist des Milleniumsringes und nahm einen großen Schluck aus dem Trinkgefäß, „wir sind also wortkarg, wie gewohnt. Wenn du nicht an einem Pläuschchen unter zwei alten Bekannten interessiert bist, dann also zur Sache.“ „Schön, die Sache ist Folgende: Dein Zauber – er verliert seine Wirkung!“, blaffte der Pharao anklagend, „und das bedeutet, dass er nicht zu dem Ergebnis geführt hat, das ich mir von dir erbeten hatte. Ich wünsche, dass du diese ungenügende Dienstleistung auf der Stelle behebst!“ Bakura legte amüsiert den Kopf schief. „Falsch. Das hatte ich dir damals bereits erklärt: Der Zauber kann keine permanente Amnesie herbeiführen. Du wusstest, dass deine kleine, heile Seifenblase irgendwann zerplatzen würde, und du hast dennoch in die Bedingungen eingewilligt. Wenn du es bis hierhin nicht geschafft hast, deinen Prinzen dazu zu bringen, dir seine Liebe zu gestehen, dann bist du es wohl, der versagt hat, nicht ich.“ „Aber, ich dachte nicht, dass es so schnell …!“, protestierte Atemu nun trotzig, aber sichtlich verunsichert. „Falsch! Du dachtest gar nicht!“, korrigierte ihn Bakura sachlich, „du hast ein Stück Kuchen gesehen und wolltest es auf der Stelle haben, ohne an die Konsequenzen zu denken. Und das ist okay. So sind Menschen nun mal. Aber gib jetzt nicht mir die Schuld dafür, dass es dir nicht bekommen ist.“ „Ich will doch nur …“ Atemu schwieg einen Augenblick und schien sich zu sammeln, schließlich sagte er in ruhigerem Ton: „Hast du denn keine Möglichkeit, es aufzuhalten?“ Bakura seufzte und schwenkte nachdenklich seinen Kelch in der Hand. „Weißt du …ach, verdammt, eigentlich sollte ich dir das gar nicht sagen, aber … ich hätte da schon etwas parat, das dir noch einmal einen kleinen zeitlichen Aufschub verschaffen könnte, indem Kaibas Erinnerungen und Gefühle erneut zurückgedrängt werden.“ „In Ordnung. Ich nehme es, egal, was es kostet!“, verkündete Atemu entschlossen, doch Bakura wedelte mit dem Zeigefinger. „Eh eh … nicht so schnell. So gerne ich dein Geld auch nehmen würde, Eure Doppelzüngigkeit, ich fürchte, ich kann dir nicht helfen.“ „Was, aber wieso das denn nicht?“, fragte Atemu nun irritiert, „ich zahle dir auch mehr dafür, wenn es das ist, was du ....“ „Nein, nein, darum geht es gar nicht“, erklärte Bakura entnervt, „es ist wegen Ryou. Ich musste ihm hoch und heilig versprechen, dass ich in dieser Sache nicht noch einmal mit dir kooperiere. Wenn er rausfindet, dass ich dir wieder geholfen habe, liegt er mir wieder tagelang damit in den Ohren. Und das möchte ich mir einfach gerne ersparen. Also, mit allen anderen Belangen kann ich dir selbstredend gerne weiterhelfen. Du kannst dir meinen Katalog gern zu Gemüte führen. Ich habe Potenzzauber, Glückszauber, oh, wie wäre es mit einem Wachstumszauber für dich?“ Nun war es an Atemu, laut zu seufzen. „Danke, kein Interesse! Warum musstest du Ryou überhaupt davon erzählen!? Das war eine Angelegenheit zwischen uns beiden. Natürlich hat er es gleich an Yugi ausgeplaudert und die beiden haben mir ordentlich den Kopf gewaschen!“ „Was denkst du, was ich mir deshalb anhören musste?“, knurrte der Geist des Ringes. Er schien kurz zu überlegen, „aber du hast nicht ganz Unrecht. Ich bin gegenüber Ryous inquisitiver Art eingeknickt. Ich schätze, du hast deshalb tatsächlich was gut bei mir. Also gut, ich mach dir einen Vorschlag: Unser letzter Deal ist kein Dienstgeheimnis geblieben, aber der nächste kann es bleiben, wenn du es willst. Was sagst du? Ich gehe dir in dieser Sache nochmal zur Hand, aber offiziell hat ein solcher Handel nie stattgefunden, wenn du verstehst.“ Ein konspiratives Lächeln schlich sich auf die Züge des Pharaos. „In Ordnung“, sagte er langsam, „meine Lippen sind verschlossen, wenn deine es auch sind.“ „Deal“, sagte Bakura und streckte Atemu entgegenkommend seine Hand entgegen. Dieser ergriff sie, ohne zu zögern. „Weißt du, Pharao, ich geb’s ungern zu, aber du beeindruckst mich. Deine unverfrorene Art, alle in deinem Umfeld so skrupellos hinters Licht zu führen, macht mir doch fast Konkurrenz. Ich gebe dir deshalb einen 10% Rabatt.“ ~*~ Im Schutz der einsetzenden Dämmerung verließ Atemu an diesem Sonntagabend schließlich Bakuras Wohnhaus mit einem mehr als drückenden Gewissen, aber mit exakt dem, was er wollte. Wie es aber der Zufall wollte, hatte der Ringgeist an diesem Abend mehr als nur diesen einen Kunden. Der ehemalige ägyptische Herrscher war nämlich nicht der einzige aus Yugis Bekanntenkreis, der von Bakuras kleinem Gewerbe gehört hatte. Und so klingelte nur wenige Augenblicke nach Atemus Verschwinden ein sichtlich nervöser und unentschlossener Mokuba Kaiba an dem heruntergekommenen Mehrparteienhaus. Hätte Atemu sich nur ein wenig länger bei Bakura aufgehalten, wären die beiden sich direkt in die Arme gelaufen. Doch so ahnte Mokuba nicht, dass Atemu vor wenigen Augenblicken den antiken Geist in derselben Angelegenheit aufgesucht hatte wie er selbst … naja, sagen wir in fast derselben Angelegenheit. Alles, was der jüngere Kaibabruder also an diesem Abend sah, war eine Gestalt, die in der Dunkelheit um die nächste Ecke verschwand, gerade als sein Wagen vor Bakuras Haus hielt. Die bereits weit entfernte Silhouette des jungen Mannes kam ihm seltsam vertraut vor, aber er dachte nicht weiter darüber nach. Zumindest noch nicht. „Welch erlesene Kundschaft!“, stellte Bakura auf seine übliche, ungerührte und zynische Art fest, als der jüngere Kaibabruder mit einem unwohlen Gefühl die kleine Wohnung betrat; „auch Dominos Wirtschaftselite ist also nicht ganz so zufrieden mit ihrem Leben, wie man meinen könnte.“ „Man … erzählt sich, du handelst mit Zaubern?“, artikulierte Mokuba diese absurde Vorstellung sichtlich argwöhnisch, als könne er sich allein durch das bloße Aussprechen der Worte lächerlich machen. Auch wenn er prinzipiell offener als sein Bruder für das war, was sich nicht durch Logik und Wissenschaft erklären ließ, begegnete er alldem doch mit einer gesunden Skepsis – und das immer mehr, je älter er wurde. Atemus Vergangenheit schenkte er natürlich mittlerweile uneingeschränkt Glauben. Aber dass es auch andere Ereignisse zwischen Himmel und Erde geben könnte, die nicht durch den Willen oder das Handeln von gewöhnlichen Menschen herbeigeführt wurden, das klang für ihn ebenso abstrus wie für Seto. „Du hast recht gehört“, entgegnete Bakura trocken, „und es ist keine Schande, diese Option zu nutzen.“ „Ich bin nicht hergekommen, weil ich etwas für mich selbst will!“, stellte Mokuba sofort entschieden klar, „nein, es … geht um meinen Bruder.“ „Oh“, machte Bakura nur und wirkte plötzlich etwas reserviert, was den jüngeren Kaiba unbewusst irritierte. „Naja“, begann er, „mein Bruder Seto hat vor ca. einem halben Jahr sein Gedächtnis verloren. Vielleicht hast du davon aus den Medien gehört. Jedenfalls … es geht ihm aktuell nicht gut. Fast täglich kehren Erinnerungen zu ihm zurück. Das wirft ihn jedes Mal aus der Bahn und stürzt in ein Gefühlschaos. Eine Zeit lang war das alles aber nicht so schlimm, da hatte ich den Eindruck, es ging ihm sogar besser als vor seinem Gedächtnisverlust. Aber seit Kurzen scheint er nur noch darunter zu leiden. Naja, ich habe mich gefragt, ob du nicht etwas tun kannst, damit Seto seine Erinnerungen endlich alle auf einen Schlag zurückerlangt. Oder vielleicht weißt du einen Weg, wie man das Ganze zumindest beschleunigen kann. Ich wünsche mir so sehr für ihn, dass all das endlich ein Ende hat und er wieder klarsieht, wer er wirklich ist!“ In den letzten Tagen hatte Mokuba mit Unbehagen und Mitleid zugesehen, wie sein älterer Bruder sich mehr und mehr quälte und offenbar in sich zurückzuziehen schien. Seine Stimmung war gedrückt und jedes Mal, wenn er ihn antraf, schien er in tiefes Grübeln vertieft oder vollkommen abwesend. Auch Atemu schien immer weniger an Setos Leben teilzuhaben und war seit einigen Tagen sogar gar nicht mehr auf dem Kaiba-Anwesen anzutreffen. Die Beziehung der beiden war offenbar (noch) nicht verfestigt genug, um diese Krise zu überstehen, was Mokuba sehr bedauerte. Wenn er versuchte, Seto auf sein Befinden anzusprechen, schien dieser noch mehr überfordert und wusste offenbar nicht, wo er beginnen und wie er all das in Worte fassen sollte. Des Öfteren sprach der jüngere Kaiba mit Roland über die Angelegenheit, der Seto seit seiner Kindheit kannte. Auch dieser schien mehr als besorgt wegen seines psychischen Zustands. Kurzum: Setos komplettes Leben schien sich um 180 Grad gedreht zu haben. Hatte Mokuba vorher noch vermutet (und irgendwie auch befürchtet), dass es seinem Bruder in seinem aktuellen Zustand besser ging, schien er nun in eine Identitätskrise gestürzt zu sein. Nach Tagen des bangen Zusehens war Mokuba zu dem Schluss gekommen, dass es das Beste für seinen Bruder wäre, wenn die ganze Sache endlich ein Ende hätte. Wenn er entweder auf gar keine oder aber auf all seine Erinnerungen an sein früheres Leben Zugriff hätte. Und da die erste Option eine war, über die er gar nicht erst nachdenken wollte, weil sie zu sehr schmerzte, stand es für ihn fest: Er musste irgendwie erreichen, dass letzterer Zustand schneller herbeigeführt wurde, als es der Lauf der Dinge vorsah. Aber wie sollte er das anfangen? Sollte er mit Seto noch einmal ausführlich über ihre Vergangenheit sprechen? Sollte er ihn damit konfrontieren? Irgendwann in seinen Grübeleien lauschte er in der Schule durch Zufall einem Gespräch zweier Mitschüler. Einer davon prahlte damit, dass er sich angeblich eine Portion Extra-Glück erkauft hatte, die sich in einem Gewinn bei einem Preisausschreiben manifestiert hatte. Anfangs tat Mokuba die Anekdote als bloße Wichtigtuerei ab. Richtig hellhörig wurde er erst, als er in der Konversation einen Namen wiedererkannte. Hatte der Mitschüler da eben nicht gesagt, dass er den Handel mit einem gewissen „Bakura“ abgeschlossen hatte? Als Mokuba nach der Schule von Roland nach Hause gefahren wurde, dämmerte es ihm so langsam, dass es sich hierbei nur um den Geist des Milleniumsringes handeln konnte. Und dass diese fabelhafte Story vielleicht nicht so abwegig war, wie er anfangs vermutet hatte. Nach wenigen Tagen des Für und Wider hatte er schließlich beschlossen, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Was hatte er schon zu verlieren? Und nun stand er hier. Verzweifelt, wie ein Bittsteller, ohne wirkliches Vertrauen in Bakuras Fähigkeiten. „Also, kannst du mir weiterhelfen?“, fragte er jetzt noch einmal, nachdem Bakura nicht auf sein Anliegen reagierte. Der Ringgeist kräuselte nun seine Lippen und schlug ein Bein über das andere. „Nein, kann ich nicht“, sagte er dann wortkarg. Nun war Mokuba doch etwas vor den Kopf gestoßen und wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. „Weil … es gar nicht stimmt, dass du Magie vertickst?“, hakte er dennoch behutsam nach. „Doch, das ist schon richtig“, gab Bakura offen zu. „Also dann hast du keinen Zauber, der mir– oder bessergesagt meinem Bruder – helfen kann?“ „Den habe ich in der Tat.“ „Also dann“, der jüngere Kaiba trat nun einen Schritt nach vorn und in seinen Augen Flackerte ein Flehen auf, „ich habe Geld, das ist dir doch bewusst, oder? Ich zahle gut dafür, dessen kannst du dir sicher sein.“ „Das zweifle ich keineswegs an und es schmerzt mich sehr, dass es mir nicht vergönnt ist, in den Genuss zu kommen, dir eine horrende Summe aus der Tasche zu ziehen, einfach nur, weil du etwas brauchst, das nur ich dir geben kann.“ Ärger kochte nun in Mokuba hoch. Er würde sich sicher nicht von diesem Nachtgespenst so dreist an der Nase herumführen lassen. Unterm Strich war auch er schließlich ein Kaiba und hatte einen gewissen Stolz! „Also, was willst du dann!? Jetzt rede schon und spar dir deine dämlichen Spielchen! Nach so etwas steht mir nun wirklich nicht der Sinn und ich bin sicher niemand, der sich so leicht auf den Arm nehmen lässt! Unterschätze mich besser nicht!“ Bakura seufzte, kratzte sich am Kopf und schien sichtlich mit sich zu ringen. „Tut mir leid, Kleiner, aber so gerne ich es auch würde – ich kann dir mit deinem Problem nicht weiterhelfen, da ich einem anderen Kunden bereits zur Treue verpflichtet bin. Dafür hast du sicher Verständnis. Der Kunde ist König. Der Kunde, der bereits für eine Leistung gezahlt hat, versteht sich.“ „Nein … nein, ich verstehe kein Wort von dem, was du sagst“, knurrte Mokuba mit frostiger Stimme, „aber ich vergeude hier offenbar meine Zeit. Also dann …“ In ihm drin brodelte es, als er sich umwandte und ohne Abschiedsgruß die heruntergekommene Bleibe verließ. „Falls du mal an einem eigenen Problem arbeiten möchtest – ich habe alles, was dein Herz begehrt oder irgendwann begehren wird!“, rief Bakura ihm noch hinterher, „ein Mittel gegen Minderwertigkeitskomplexe zum Beispiel, für den Fall, dass ältere Geschwister alles erreicht haben und man selbst nichts!“ Den Rest hörte Mokuba nicht mehr, als er sich festen Schrittes von Bakuras Haus entfernte. ~*~ Es war Sonntagabend und für Seto war es der krönende Abschluss einer niederschmetternden Woche. Ein immens wichtiger Firmendeal mit der Schroeder-Corporation war ihm am vergangenen Freitag mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Lappen gegangen. Und das nur, weil er nicht im Stande gewesen war, sich ausreichend auf seine Vertragspartner vorzubereiten. Denn zwei Mal hatten sich an diesem Tag verschüttete Ereignisse aus seiner Vergangenheit ihren Weg in sein Gedächtnis gebahnt. Zum ersten Mal war es während ebenjener Vorbereitungszeit passiert. Daraufhin waren die Buchstaben in den Akten, die Roland sorgfältig für ihn vorbereitet hatte, vor Setos Augen verschwommen und er hatte sich kein Wort davon mehr einprägen können. Der zweite Zeitpunkt hätte nicht ungünstiger sein können, denn eine weitere aufwühlende Erinnerung drängte sich ihm mitten in der Verhandlung auf. War zuvor das Gespräch bereits stockend verlaufen, war es ab diesem Moment vollkommen an die Wand gefahren. Jeder verzweifelte Versuch, die Erinnerung zu ignorieren oder zurückzudrängen, schlug fehl und schließlich sah sich Seto gezwungen, sichtlich verstört den Raum zu verlassen und die Besprechung zu vertagen. Und das, nachdem er es nach Jahren der Feindschaft in den letzten Monaten ganz behutsam geschafft hatte, eine Kooperation der beiden Unternehmen anzubahnen. Alles zunichtegemacht nur an diesem einen vermaledeiten Nachmittag! Am Wochenende war er des Arbeitens deshalb vollkommen überdrüssig und wollte sich einfach nur ablenken. Aber er wusste absolut nichts mit sich anzufangen und fühlte sich rastlos und unzufrieden. Das Verrückte war: Er vermisste Atemu und seine Gedanken schweiften oft zu ihm und ihrer gemeinsamen Zeit. Seine Anwesenheit und Nähe fehlte ihm sehr und er hätte sich gerne in seine einehmenden Augen fallen lassen oder sich in seinen Berührungen verloren. Aber das war völlig absurd! Denn, wie er mittlerweile wusste, war Atemu sein ärgster Kontrahent. Immer gewesen. Seto verabscheute seine Freundlichkeit, seine lächerliche Loyalität, seine Angewohnheit, ihm immer wieder sagen zu müssen, was gut für ihn war – und gleichzeitig fehlte ihm all das auch, weil er sich darin aufgehoben und geborgen fühlte. Ja, eigentlich mochte er es ganz gern, wenn Atemu ihm sagte, dass er für heute genug gearbeitet hatte, und ihm vorschlug, gemeinsam einen Spaziergang zu machen. Meist tat er das in Momenten, in denen Seto sich erschöpft die Schläfen rieb, ihm selbst aber gar nicht bewusst war, dass er Abwechslung oder frische Luft brauchte. Und wenn er ehrlich zu sich war, dann beruhigte ihn auch Atemus gelassene, freundliche Art, wenn er selbst sich unausgeglichen und aufgewühlt fühlte. In den letzten Tagen hatte ihn dieser Zwiespalt so sehr aufgerieben, dass er sich förmlich ausgesaugt fühlte. Er war es so leid, von den Wellen seiner Gefühle hin- und hergeworfen zu werden wie in einem wackligen Boot. Heute ging es ihm schlicht und ergreifend schlecht. Schlafen war alles, was er wollte Mokuba schien ausgegangen zu sein. Deshalb ließ er die Rollläden in seinem Schlafzimmer herunter und ging früh zu Bett. Als er am Montagmorgen erwachte, war er in banger Erwartung, dass sein Gedankenkarussell sich sofort wieder in Bewegung setzte. Doch während er ins Bad ging und seine Morgentoilette verrichtete, fühlte sich sein Inneres stumpf an. Wie abgedämpft. Als er versuchte, auf seine Emotionen von gestern zuzugreifen, waren sie – undeutlich, verblasst. Vielleicht hatte er diese kräftezehrende Phase nun endlich vollends überstanden? Vielleicht war das einfach der gewöhnliche Lauf der Dinge? Zuerst war es schlimm und dann war es – irgendwie weniger wichtig. Er fühlte sich deutlich erholt und konnte sich heute viel besser auf seine Arbeit konzentrieren. Vielleicht würde es etwas bewirken, Zigfried von Schroeder einfach nochmal zu kontaktieren. Vielleicht war in dieser Sache das letzte Wort noch nicht gesprochen. Vielleicht würde er sogar später Atemu anrufen und fragen, ob er nicht vorbeikommen wollte. Er wollte ihn wirklich sehen und so ganz verstand er auch nicht mehr, weshalb er sich in den letzten Tagen so sehr von ihm zurückgezogen hatte. Zwischen ihnen war doch alles so vielversprechend gelaufen und Atemu tat ihm unheimlich gut. Dessen war er sich bewusst. Irgendetwas war da zwar gewesen, das ihn dem ehemaligen Pharao gegenüber skeptisch gestimmt hatte, aber so richtig konnte er sich nicht mehr entsinnen, was es gewesen war … ~*~ Mit zitternden Fingern und beschleunigtem Puls nahm Atemu an diesem Abend nervös sein Smartphone zur Hand und den eingehenden Anruf an, der Setos Nummer auf dem Display anzeigte. Hatte Bakura ihm tatsächlich die zweite Chance verschafft, die er sich so sehr gewünscht hatte? Kapitel 9: Technological Revolution ----------------------------------- 9. Technological Revolution Als Mokuba an diesem Abend das Kaiba-Anwesen betrat und die Treppe zum ersten Stockwerk erklomm, stockte er überrascht. Aus dem Arbeitszimmer seines Bruders drangen Stimmen und sein Seto schien nicht allein zu sein. Offenbar unterhielt er sich dort recht ausgelassen mit jemandem. Und wenn Mokuba sich nicht täuschte, dann gehörte die zweite Stimme zu Atemu. Verwundert zog der jüngere Kaiba die Stirn kraus, denn der ehemalige Pharao war bereits seit Tagen nicht mehr Gast im Hause gewesen. Dass sich dies so abrupt geändert hatte, erstaunte ihn. Noch vor wenigen Tagen hatte er bei einem Gespräch mit Seto den Eindruck gewonnen, dass dieser nicht mehr die Kraft aufbringen konnte, sich den komplexen Gefühlen für den ehemaligen Pharao zu stellen. ~*~ „Was ist los? Wartest du auf eine Nachricht oder so?“, fragte Mokuba, der seinen Bruder bereits seit zwei Minuten stumm dabei beobachtet hatte, wie er mit gerunzelter Stirn auf sein Smartphone starrte, das auf der breiten Kücheninsel lag. Seto selbst wirkte abwesend oder tief in Gedanken verstrickt. Als Mokuba die Frage an ihn richtete, schien er kurz zusammenzuzucken, wandte sich ihm dann jedoch freundlich zu. „Nein“, gestand er, „das nicht. Es ist … ich überlege, selbst eine zu schreiben.“ „An Atemu?“, wagte der jüngere Kaiba einen Schuss ins Blaue. Daraufhin legte sich ein verlegenes Grinsen auf die Züge des Älteren. „Ich muss wirklich leicht zu durchschauen sein.“ „Bei wem würdest du sonst so lange zögern?“, zuckte Mokuba nur leichthin mit den Schultern und angelte sich einen Apfel aus einem Obstkorb auf der Küchenzeile, „warum rufst du ihn nicht einfach mal an? Rede persönlich mit ihm. Wenn man eine Person so lange nicht sieht oder mit ihr spricht, bastelt sich das Gehirn automatisch ein verqueres Bild von ihr zusammen. Vielleicht klärt sich ja alles, sobald du ihn in Natura vor dir hast.“ Seto lehnte sich nun rücklings gegen die Arbeitsplatte, wobei er sich mit beiden Händen darauf abstützte. Er seufzte. „Wenn es doch nur so einfach wäre. Aber ich habe ehrlichgesagt Angst, dass mich ein Treffen komplett überfordern wird und ich dann nicht weiß, wie ich mich verhalten soll. Ich befürchte, dass diese … giftigen Emotionen wieder hochkommen. Ich kann einfach nicht mit ihnen umgehen und eine solche Situation würde Atemu nur noch mehr verletzen. Das alles war ein Fehler. Ich hätte mich in meiner Verfassung nicht auf ihn einlassen dürfen.“ Mokuba dachte nach, während er einen Bissen seines Apfels ausgiebig kaute. „Seto, ich kann in etwa verstehen, wie du dich fühlst. Schließlich habe ich miterlebt, wie sehr du dich früher wegen Atemu gequält hast. Aber andererseits denke ich, man kann nicht jedem Groll ewig nachhängen. Sich in bestimmten Gefühlen zu zerbeißen tut einem auf Dauer nicht gut. Manchmal muss man die Dinge einfach loslassen. Einfach mal so stehenlassen und weitergehen, weißt du?“ Nun studierte Seto ausgiebig das Gesicht seines jüngeren Bruders, der manchmal so viel weiser war als er selbst. „Ich habe das öfter gemacht, nicht wahr? Dinge bis zur Besessenheit verfolgt?“ Mokuba nickte ertappt. „Ja. Und du warst furchtbar nachtragend. Atemu meint es gut mit dir. Das hat er immer getan.“ „Ich würde es ja gerne versuchen“, sagte der Ältere schließlich leise und Mokuba hatte seinen Bruder selten so verloren erlebt, „es … ging mir so gut mit Atemu. Ich weiß das. Aber ich fürchte, ich bin nicht stark genug. Es ist, als würde die Vergangenheit mich tief unter Wasser ziehen und mich nicht mehr an die Oberfläche lassen, um Luft zu holen.“ ~*~ Während Mokuba jetzt darüber nachgrübelte, weshalb sein Bruder plötzlich offenbar doch den Mut gefunden hatte, Atemu einzuladen, trat letzterer von hinten an Setos Schreibtischstuhl heran und legte ihm federleicht die Hände auf die Schultern. „Du hast mich doch nicht hergebeten, damit ich dir beim Arbeiten zusehe?“, fragte er verschmitzt, während er eine braune Haarsträhne hinter Setos Ohr steckte. „Nein, du hast ja Recht“, lächelte dieser, „ich muss nur noch diese eine Mail schreiben, dann gehört meine Aufmerksamkeit ganz dir.“ Zufrieden glitten die Finger des ehemaligen Pharaos über Setos Nacken nach oben zu dessen Haar und kraulten seine Kopfhaut, hinterließen federleichte Tupfer darauf. „Wenn ichs mir recht überlege“, schmunzelte der Chef der Kaiba Corporation, „hat die Mail auch bis morgen Zeit.“ Sein heutiger Schriftverkehr mit Zigfried von Schroeder war recht vielversprechend und es machte ganz den Anschein, als komme die geplante Zusammenarbeit nun doch noch zustande. Es war, wie Mokuba gesagt hatte: Manchmal musste man einen alten Groll einfach loslassen. Und ein alter Groll war es wohl auch auf beiden Seiten gewesen, der die Feindschaft zwischen seiner Firma und der Schroeder Corporation nach sich gezogen hatte. So hatte es ihm sein Bruder zumindest berichtet, denn an diese Fehde hatte er nach wie vor keine Erinnerungen und auch kein Bedürfnis, diese zurückzuerlangen. Er lehnte sich jetzt entspannt in seinem Stuhl zurück und ließ sich nun vollkommen in Atemus Berührungen fallen. „Du hast mir gefehlt“, rutschten die Worte schließlich einfach so aus ihm heraus. Atemu hielt kurz in seinen Bewegungen inne, schließlich antwortete er, mit einer leichten Verunsicherung in der Stimme: „Du … hast mir auch gefehlt. Sehr sogar. Ich hab mich gefreut, dass du heute angerufen hast. Ich … hatte tatsächlich nach wie vor die Hoffnung, dass du mich vielleicht auch vermisst.“ „Das hab ich“, bestätigte Seto, „und ich … hach, ich weiß auch nicht so genau, weshalb ich mich nicht getraut hab, mich bei dir zu melden. Das war ausgesprochen dämlich von mir.“ „Schon okay“, sagte Atemu, „das ist alles neu für uns beide.“ Das hier war tatsächlich neu. So viel stand fest. Bakuras Magie hatte Wirkung gezeigt. Die Karten waren völlig neu gemischt und das Blatt schien sich wieder gewendet zu haben. Er hatte die Kontrolle über die Situation zurückgewonnen, und Seto so entspannt und gelassen zu erleben, ließ Atemus Herz etwas schneller gegen seine Brust schlagen. Es fühlte sich an, als wäre alles endlich wieder an seinen rechten Platz gerückt. Nur zwei Dinge waren unverändert geblieben: Die Angst, dass dieser schöne Traum sich jeden Augenblick in einen Albtraum wandelte, und die nur schwer zu ertragende Ungewissheit, wie Seto reagieren würde, würde er jemals erfahren, wie es dazu gekommen war, dass er sich hier so sorglos seinen Liebkosungen hingab. Und doch sah Atemu ganz genau, dass all das Seto guttat. Dass es ihm zu mehr Lebensqualität und vielleicht zu einem Stück Zufriedenheit verholfen hatte. Und war es das denn unterm Strich nicht wert gewesen? Konnte das, was er dafür getan hatte, denn so falsch sein? Würde Seto es vielleicht sogar verstehen und ihm beipflichten, wenn er jetzt auf der Stelle alle Karten auf den Tisch legen würde? Oder würde er ihn stattdessen hochkant rauswerfen, mit ekelerfüllter Miene und Enttäuschung in den schönen, eisblauen Augen, die jetzt so weich, offen und verletzlich wirkten? Die beste Lösung wäre, Seto würde das alles niemals erfahren. Immerhin bestand nun wieder die Chance – und war sie auch noch so klein – dass er sich vollends für Atemu entschied, noch bevor all die negativen Gefühle und Erinnerungen erneut zurückkehrten. Womöglich konnten sie dem, was zwischen ihnen entstanden war, am Ende nichts mehr anhaben. Atemu musste es nur schaffen, diesen Punkt rechtzeitig zu erreichen, musste endlich Setos volles Vertrauen gewinnen. Hätte er doch nur etwas mehr Zeit! Er hörte förmlich den Sand in der Sanduhr nach unten rieseln, als hätte Bakura diesen in den Zauber mit eingebaut, um ihn zu verhöhnen. Warum konnte dieser Stümper auch keine wirklich mächtigen Zauber wirken? Langsam begann der Pharao sich zu fragen, ob diese unzufriedenstellende Leistung sein Geld überhaupt wert gewesen war. „Wieso hörst du auf?“, fragte Seto unvermittelt und wandte fragend den Kopf um. „Oh“, machte Atemu aufgeschreckt. Er hatte sich zu tief in Gedanken verstrickt, statt – wie es die Situation erforderte – im Hier und Jetzt zu bleiben, „ich …“ Bevor er sich weiter erklären konnte, zog Seto ihn an der Taille auf seinen Schoß und strich ihm zärtlich über den Rücken. Für einen Augenblick sahen sie einander einfach nur an, überwältigt von den offenliegenden Gefühlen des anderen und diesem Moment der langersehnten Nähe. „Atemu?“, fragte Seto. „Hm?“, machte der Pharao leise, um den Moment nicht durch unnötig viele Worte zu zerstören. „Ich denke … ich habe mich ziemlich heftig in dich verliebt.“ Die Lider des Pharaos flatterten ein paar Mal schnell und er musste die Tränen zusammen mit so vielen Emotionen zurückdrängen, die in seinem Inneren um die Oberhand kämpften. Schließlich lächelte er, als er seine Arme um Setos Nacken legte und mit seinen Lippen viele innige Küsse auf Setos Lippen tupfte. Dann umrahmte er mit den Händen dessen Gesicht, strich mit beiden Daumen wieder und wieder über dessen Wangen. „Bitte halt dieses Gefühl ganz fest, ja? Diesen Moment“, bat er. Seto sah ihn fragend und etwas amüsiert an. „Was meinst du damit? Du … siehst ein bisschen traurig aus. Stimmt was nicht? Hab ich was Falsches gesagt?“ „Nein, gar nicht! Im Gegenteil, nur … ich habe einfach ein bisschen Angst, dass all das hier wieder verschwindet.“ „Blödsinn“, sagte Seto, während er dem Pharao eine blonde Strähne aus der Stirn strich, „ich gehe nirgendwohin.“ „Weißt du was? Geh doch schon mal vor ins Wohnzimmer, wenn du magst“, bot der Firmenchef ihm zuvorkommend an, „ich hole uns rasch etwas Wein. Dann können wir es uns gemütlich machen.“ „Gern“, lächelte Atemu. Als Seto die Küche betrat und eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank angelte, spürte er Mokubas inquisitiven Blick auf sich ruhen. „Ist was?“, fragte er etwas irritiert. „Ich … war nur überrascht. Dass du Atemu eingeladen hast“, gab sein Bruder offen zu. „Ach das“, nickte der Ältere, „ja, das war ich ehrlichgesagt selbst.“ „Und was ist mit deinen verwirrenden Gefühlen? Hast du denn endlich einen Ausweg gefunden?“ Seto gab einen vagen Laut von sich. „Ich weiß ja auch nicht. Um ehrlich zu sein … es klingt verrückt, aber als ich heute aufgewacht bin, waren sie irgendwie … nicht mehr so stark. Wie wenn man eine Schmerztablette nimmt. Ach, im Grunde kann ich gar nicht mehr so genau sagen, was mich so beschäftigt hat. Alles war so überwältigend … und jetzt ist die Welt wieder viel klarer. Vielleicht habe ich die ganze Sache jetzt einfach überstanden. Wie ein Fieber oder so. Irgendwann muss es ja mal besser werden, oder?“ „Gut möglich“, entgegnete Mokuba und sah seinem Bruder nach, wie er beschwingt ins Wohnzimmer verschwand, sich zu Atemu gesellte und fürsorglich einen Arm um ihn legte. Doch in Wahrheit glaubte er kein Wort von Setos Vermutung. Irgendwas Höchstseltsames ging hier vor sich. Das hier war nicht einfach so „vorbei“. Nicht, bevor Setos Erinnerungen alle zurückgekehrt waren. Es war, als hätte man seinem Bruder über Nacht einen von diesen Microchips transplantiert, die Gefühle verhindern oder sowas. Wie in einem wirren Science Fiction-Streifen. Nur, dass es sowas in ihrer Welt noch nicht gab, solange Seto es nicht höchstselbst erfunden hatte! ~*~ „Wir haben definitiv alles, was wir zum Lernen brauchen!“, deklarierte Yugi motiviert, „Chips, Energy-Drinks, Nüsse und natürlich Gemüse, um wenigstens so zu tun, als würden wir uns gesund ernähren …“ „Bücher? Stifte? Karteikarten?“, ergänzte Ryou mit hochgezogener Augenbraue. „Richtig, das auch“, zwinkerte Yugi. Es war Juli. Das Semester neigte sich dem Ende und da Yugi und Ryou dieselbe Uni besuchten, hatten sie sich zu einem Lerntandem zusammengeschlossen. Auch wenn sie unterschiedliche Fächer studierten, so motivierte es doch, nicht alleine in einem Zimmer zu sitzen und einsam vor sich hin zu büffeln. „Übrigens“, sagte Yugi beiläufig, während er eine Hand voll Nüsse aus der Schüssel nahm, „hast du von Bakura mittlerweile erfahren, was Atemu nochmal von ihm wollte?“ Ryou ächzte gequält und sah plötzlich gar nicht glücklich aus. „Nein!“, stieß er frustriert aus, „ich weiß genau, dass da etwas ist, was er mir nicht sagt. Aber ich bekomme es verdammt nochmal nicht aus ihm heraus! Ich begreife das nicht! Ich habe den Eindruck, ich verliere meinen guten Draht zu ihm.“ Seine letzten Worte klangen gequält und fast jammernd. Nun war es an Yugi, die Braue hochzuziehen. „Was regst du dich so auf? Sei doch froh, dass dieser Parasit sich endlich von dir abnabelt. Ich glaube, dein mutmaßliches Helfersyndrom ist in Wirklichkeit nur das getarnte Bedürfnis, dein ehemaliges Alter Ego von dir abhängig zu machen!“ „Hey! Frechheit!“, beschwerte sich Ryou empört, „ich darf das ja wohl. Immerhin hat er mich jahrelang von sich abhängig gemacht! Also jedenfalls … alles, was er mir sagt, ist, dass Atemu ihn nochmal aufgesucht hat, um an einer persönlichen Umfrage über Kundenzufriedenheit teilzunehmen. Was für eine offensichtliche Ausrede!“ „Aber eine witzige, das musst du zugeben“, gestand Yugi grinsend ein. „Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“, gab Ryou mürrisch zurück. „Auf – auf Kaibas Seite, ehrlichgesagt, wenn überhaupt auf irgendeiner. Auch wenn ich nie gedacht hätte, das sich sowas mal sage. Und deshalb … bin ich mir auch aktuell gar nicht so sicher, ob es uns nicht einfach egal sein sollte, was Atemu mit Bakura vereinbart hat. In den letzten Wochen wirken er und Seto auf mich ziemlich glücklich. Ich frage mich so langsam, ob es nicht letztlich das Ergebnis ist, das zählt.“ „Mokuba Kaiba wird das sicher nicht von dieser Seite sehen, sollte er es jemals rausbekommen. Und Seto auch nicht“, gab Ryou zu bedenken. Yugi seufzte. „Hach … kümmern wir uns zur Abwechslung mal nicht um die Probleme anderer Leute, sondern um unsere eigenen. Nämlich um unsere Klausuren.“ ~*~ Tatsächlich hatte Setos und Atemus Beziehung nach der unerfreulichen Durststrecke nun wieder ein stabiles Level erreicht. Das zeigte sich erneut bei Joeys Geburtstagsfeier im August, die die beiden als Paar besuchten. Auf alle Anwesenden wirkten sie glücklicher als je zuvor. Atemus Aura schien in Setos Gegenwart noch mehr aufzublühen und Seto Kaibas Gesinnungswandel war natürlich ein nicht versiegendes Gesprächsthema. Den Jungunternehmer zur Abwechslung nicht verbissen und ernst, sondern leger und aufgeschlossen und zu allem Überfluss noch ganz offensichtlich verliebt zu erleben schien für die Gäse noch immer surreal. Ja, Kaiba hatte sogar Tea, die zwischen Domino und New York pendelte, einen Nebenjob in seiner Tochterfiliale beschafft, sodass sie ihre Tanzausbildung besser finanzieren konnte. Und Tristan, mit dem die junge Frau mittlerweile liiert war, hatte er ebenfalls bereits den ein oder anderen Flug dorthin ermöglicht, wenn einer seiner Privatjets ohnehin die Strecke zurücklegte. Dem Gastgeber dieses Abends fiel es wohl von allen am schwersten zu akzeptieren, dass er sich nicht mehr für die permanente Schikane von Seiten des Firmenbesitzers wappnen musste und dass dieser – es war wirklich kaum zu glauben – sogar über seine Witze lachte. Noch immer vermutete er dahinter eine Art Falle, die zuschnappte, sobald er bereitwillig hineintappte – doch nichts dergleichen geschah. „Menno … fast ein bisschen langweilig geworden, der Gute“, murmelte der Blondschopf halb amüsiert, halb enttäuscht, in seinen Bart. „Wo warst du denn noch?“, fragte Seto jetzt an Atemu gewandt, als sie dem Geburtstagskind gratuliert und ihre Geschenke überreicht hatten, „wolltest du nicht eigentlich vor der Feier noch bei mir vorbeikommen?“ „Richtig“, Atemu lächelte schuldbewusst, „ich … war schon spät dran und bin dann noch kurz in die Stadt gefahren, um eine Karte zu besorgen.“ „Verstehe“, lächelte Seto und hauchte dem ehemaligen Pharao einen Kuss auf die Wange, „die Karte habe ich gar nicht gesehen. Zeig mal her.“ „Ich … hab sie zu Hause liegenlassen.“ „Aha. Naja, dann geh ich mal Joey etwas ärgern. Bis später.“ Als der Größere außer Sichtweite war, wurde das Lächeln auf Atemus Gesicht schwächer und er verspürte einen kleinen Stich in der Brust. Natürlich fühlte er sich mies dabei, Seto anzulügen, aber was hätte er ihm sagen sollen? Dass er spät dran gewesen war, weil er den Nachmittag bei Bakura verbracht hatte? „Ich habe ein wenig herumexperimentiert“, erklärte der Geist des Milleniumsringes dem Pharao bei seinem dritten Besuch stolz, „deshalb habe ich dich heute einbestellt. Und ich denke, ich habe DIE Lösung für dein Problem gefunden!“ „Ehrlich?“, Atemu schaute ihm neugierig über die Schulter. Auf einem kleinen Tischchen standen allerlei Gefäße, Tinkturen und merkwürdige wabernde Substanzen, von denen der Pharao nicht genau sagen konnte, ob sie fest, flüssig, gasförmig, lumineszent oder keines von alldem waren. „Korrekt. Und ich habe für dich diese nützlichen Dragees entworfen. In jedem von ihnen ist eine kleine Dosis der Magie, die es braucht, um Kaibas Erinnerungen zurückzudrängen. Er sollte sie täglich einnehmen, am besten immer zur selben Uhrzeit. Solange er das tut, solltest du keine Probleme mit plötzlichen Rückfällen mehr bekommen. Na, was sagst du dazu?“; wollte der antike Geist stolz wissen und hielt Atemu ein Briefchen mit schwarzen, länglichen Pillen vor die Nase. „Das … ist ziemlich genial, ehrlichgesagt. Aber wie soll ich Seto denn jeden Tag eine Tablette unterjubeln? Hast du darüber mal nachgedacht?“ Bakura schnaubte belustigt. „Oh, ich bin mir sicher, da fällt dir was ein. Du bist doch gewieft und schon zu weit gegangen, als dass dich eine solche Herausforderung noch abschrecken würde.“ Der Pharao seufzte. „Schön. Danke für deine Mühe. Aber wieso eigentlich der ganze Aufwand für mich?“ „Na, na, Pharao. Denkst du denn, die Anliegen meiner Kunden lägen mir nicht am Herzen? Ich bin zufrieden, wenn du es bist!“ „Du wirst mir den letzten Yen für dieses Zeug aus der Tasche ziehen, nicht wahr?“, tippte Atemu augenrollend. „Du vermutest richtig. Aber du bist schließlich mit dem reichsten Mann der Stadt liiert. Also, hast du ihm denn noch keine Kreditkarte abgezwackt?“ „Noch bin ich kein gewissenloser Dieb, so wie du!“, zischte der Pharao defensiv. „Stimmt. Du bist nur ein Betrüger, dessen Leben auf einer Lüge basiert“, stellte Bakura trocken fest und Atemu holte zähneknirschend sein Portemonnaie aus der Tasche. Schnell musste er jedoch feststellen, dass Bakuras Einfall tatsächlich die Lösung für all seine Probleme bot. So schien es zumindest. Seine Angst, Setos Erinnerungen könnten abrupt zurückkehren, war dadurch wie weggewischt. Und dank Setos obsessivem Koffeinmissbrauch stellte es fast nie eine Herausforderung dar, eines der Dragees in seinem bitteren Kaffee verschwinden zu lassen, den er über den Tag verteilt konsumierte. Also suchte er Bakura nun alle 14 Tage auf, um sich seinen überteuerten Nachschub an Tabletten abzuholen. So hatte er auch heute dort noch vorbeigeschaut, denn am gestrigen Tag war erneut ein Briefchen zur Neige gegangen. Und während er Seto jetzt einen Drink vom Buffet mitbrachte, ließ er wie beiläufig eine der schwarzen Pillen hineingleiten. Die ganze Angelegenheit hatte sich schon so sehr zur Routine entwickelt, dass er kaum noch darüber nachdachte. Alles verlief in geregelten Bahnen. Bis zu dem Moment an diesem Abend, an dem Seto ihm die schockierenden Neuigkeiten eröffnete. Atemu ließ entgeistert seinen Becher sinken und starrte ihn schockiert an. „Jetzt schau doch bitte nicht so“, bat sein Freund ihn zerknirscht, „ich weiß, es ist nicht ideal, aber es ist ja nur für einen Monat. Und wir können jeden Tag telefonieren. Du kannst mich auch zwischendurch mal besuchen.“ „Ei … einen ganzen Monat? In den USA?“, wiederholte der Pharao tonlos. „Ja genau. Es ist eine Promo-Tour für die Mini-Duell-Arena. Da sie in Japan ein durchschlagender Erfolg war, hat Pegasus da etwas organisiert, das auch Industrial Illusions zugute kommt.“ „Kann … denn Mokuba nicht stattdessen gehen?“, platzte es verzweifelt aus dem Pharao heraus. Seto lächelte gequält. „Nein, in dem Fall ist das strategisch nicht sinnvoll. Ich muss sagen, auch wenn es hart wird, dich so lange nicht zu sehen, freut es mich jetzt doch irgendwie, dass ich dir offenbar genauso fehlen werde wie du mir.“ „Fehlen, ja. Genau“, nickte Atemu abwesend. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken wild umher. Wie konnte er es bewerkstelligen, dass Seto die Tabletten weiterhin einnahm, wenn er einen ganzen Monat lang keinen Zugriff auf ihn hatte?! Und wenn er es nicht tat – würde diese Zeit ausreichen, um alles Aufgebaute zunichtezumachen? Kapitel 10: Data Recovery? -------------------------- 10. Data Recovery? „Jetzt tu schon irgendwas! Irgendeine Art von Erfolgsgarantie muss es bei dem Preis doch geben!“, verlangte Atemu frostig, während er es sich auf Bakuras ranzigem Sofa bequem gemacht hatte und es nicht danach aussah, als wolle er so bald wieder verschwinden. „Was kann ich denn dafür, dass du es nicht mal hinbekommst, dem Typen eine verdammte Tablette am Tag zu verabreichen!“, verteidigte sich Bakura, halb amüsiert, halb entrüstet. „Er ist 5000 Kilometer entfernt!“, blaffte Atemu ihn empört an. „Und weiter? Du hättest ja jemanden damit beauftragen können oder so. Was weiß denn ich? Also, kann ich dir sonst noch irgendwie helfen oder …?“ „Wir beide sind noch nicht fertig miteinander!“ „Das habe ich befürchtet!“, nuschelte Bakura. „Du wirst dir mein Dilemma gefälligst bis zum Ende anhören!“, schnauzte der ehemalige Herrscher pikiert. „Das habe ich!“, stieß der König der Diebe verzweifelt aus, „bereits drei Mal! Die Geschichte wird auch beim vierten Mal nicht besser!“ „Dann … gib mir wenigstens dein Wort, dass dieser Monat nicht ausreicht, um Setos Erinnerungen zurückzubringen?“, bat Atemu, nun kleinlauter und vielmehr verzweifelt als fordernd. Bakura atmete tief ein und aus. „Das kann ich nicht, so gerne ich es auch würde. Vielleicht hast du ja Glück, wer weiß.“ „Aber vielleicht auch nicht“, jammerte der Pharao resigniert. „Und wenn schon! Dann ist es eben so“, Bakura hob gleichgültig beide Hände in die Luft, „dann hattest du ne nette Zeit mit Kaiba und kannst dich anderen Dingen zuwenden. Ich verstehe ohnehin nicht, was du mit diesem langen Lulatsch willst. Andere Mütter haben auch schöne Söhne. Wieso hast du dich so in diese Sache verbissen, Pharao?“ „Atemu“, korrigierte ihn der Pharao geistesabwesend, „und du bist auch nicht ganz unschuldig daran!“, gab Atemu trotzig zurück, „du bist auf einmal mit diesen Tabletten um die Ecke gekommen!“ Abermals seufzte Bakura. „Schön, wie du meinst, Atemu . Komm hier rüber, ich zeig dir was“, wechselte er schließlich abrupt das Thema. „Was denn?“, wollte der Pharao wenig interessiert wissen. „Ich bringe dir bei, wie man einen kleinen Zauber wirkt, der erhitzte Gemüter wie deines beruhigt. Den kannst du jederzeit anwenden, wenn du mal aufgewühlt bist.“ „Ehrlich? … Das kostet mich doch wieder was, oder nicht?“ „Unnötige Frage“, nickte Bakura geschäftig, „für Workshops gibt es einen Pauschalpreis, egal, wie lange es dauert, bis du das Lernziel erreicht hast. Aber wie ich dein Potenzial einschätze, wird es nicht lange dauern. Na, was sagst du?“ „Ich weiß ja nicht … das ist doch schwarze Magie, oder nicht?“ „‘Schwarz‘ ist so ein aufgeladenes Wort“, wiegelte Bakura schmunzelnd ab, „es ist jedenfalls eine Magie, die niemandem schadet.“ „Also schön, was solls“, seufzte der Pharao frustriert, „dann sag an.“ ~*~ Dieser Unterredung folgten vierzehn endlose Tage, in denen Atemu jeden Abend ängstlich ins Telefon lauschte, ob Setos Stimme etwas darüber verraten ließ, dass seine Erinnerungen sich wieder ihren Weg an die Oberfläche kämpften. Aber alles blieb soweit wie immer. Doch auf den ehemaligen König wirkte das alles nur wie die Ruhe vor dem Sturm. Und generell hatte Seto wenig Zeit für ausgedehnte Gespräche, da sein Terminkalender mit Geschäftsessen oder Pressekonferenzen vollgestopft war, um für sein Produkt so viel Promotion wie möglich während seines Aufenthalts mitzunehmen. Endlich, nach der Hälfte seiner Abwesenheit, hatte Atemu es geschafft, Mokuba dazu zu überreden, Seto gemeinsam in New York zu besuchen. Auch Tristan nahmen sie bei dieser Gelegenheit mit, damit er Tea in ihrer Wahlheimat besuchen konnte. („Danke, Mokuba! Ihr uns euer Privatjet sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass diese Fernbeziehung funktioniert!“, bedankte sich dieser überschwänglich.) Und so kam es, dass Mokuba, Tea und Tristan sich noch am Ankunftstag verabredeten, um gemeinsam die Stadt zu erkunden und sich ins New Yorker Nachtleben zu stürzen, während Atemu den Abend mit Seto verbringen wollte. „Wow, in diesem Hotel wohnt dein Bruder?“, staunte Tristan anerkennend, als sie Tea eingesammelt und sich danach alle im Foyer der Luxusunterkunft eingefunden hatten, um Seto dort zu treffen. „Tja, wenn schon, denn schon“, zuckte der jüngere Kaiba augenzwinkernd mit den Schultern. „Sieh mal, unser Atemu“, wisperte Tea ihrem Freund kichernd zu, „er ist richtig aufgeregt, Kaiba wiederzusehen. Steht ganz neben sich. Die zwei Wochen Trennung haben ihm wohl echt zugesetzt. Sind die beiden nicht einfach purer Zucker?“ So treffsicher die junge Frau auch Atemus Körpersprache gelesen hatte, so daneben hatte sie doch bei der Ursache für seine Nervosität gelegen. Denn der Pharao wirkte nicht deshalb abwesend und angespannt und seine Hände schwitzten nicht deshalb so stark, weil er Seto vermisst hatte, sondern weil er nicht wusste, wie dieser bei ihrem Wiedersehen auf ihn reagieren würde. Würde nun alles wieder von vorn losgehen? Würde wieder eine Zeit des schmerzhaften Bangens abrechen? Und würden erneut härtere Maßnahmen erforderlich sein, um die Sache in die rechten Bahnen zu lenken? Endlich ließ der Aufzug ein melodisches „Pling“ vernehmen und die Türen öffneten sich. Atemus Herz schlug fast schmerzhaft gegen seine Brust, während Seto aus dem Lift trat und seinen Blick auf sie richtete. Er winkte ihnen kurz zu, bevor er zu ihnen herüberkam und zuerst seinem Bruder kurz begrüßte, ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfte. Dann schenkte er dem jungen Pärchen ein Nicken, bevor er sich schließlich an Atemu wandte. „Hey du“, sagte er mit einem kaum merklichen Lächeln, während der Kleinere auf ihn zuging und sich zu ihm hochstreckte, um ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen zu drücken. Seto legte zufrieden einen Arm um ihn und wandte sich dann wieder den anderen zu. „Ihr habt bereits Pläne gemacht, habe ich gehört?“, wollte er wissen, „dann darf ich Atemu also für heute Abend in meine Suite entführen?“ „Aber gern doch“, grinste Tea fröhlich und ein großer Stein rollte von Atemus Brust. Alles schien glücklicherweise noch zu sein wie immer. Offensichtlich hatte er unverschämtes Glück gehabt. Er empfand nicht nur Erleichterung, sondern auch eine Art Genugtuung oder Triumpf, als er mit Seto wieder in den Aufzug stieg und ins oberste Stockwerk des Hotels fuhr. Als sie Setos großzügiges Loft betreten hatten und dieser ihm die Aussicht auf New York aus dem großen Panoramafenster zeigte, spürte der Pharao dessen warmen Blick auf sich ruhen. Die Bindung zwischen ihnen schien noch stärker geworden zu sein und womöglich hatte das die Erinnerungen so lange in Schach gehalten? Womöglich wurde er besser in diesem Spiel und konnte sicherer darin navigieren. Trotzdem durfte er kein unnötiges Risiko eingehen. Vorsicht war jetzt oberste Priorität. Entschlossen tastete er nach dem Briefchen mit Tabletten in der Tasche seines Blazers, das er sich am Abreisetag bei Bakura abgeholt hatte. Der Ringgeist hatte ihn dieses Mal selbst bei der Herstellung helfen lassen und es fühlte sich gut an, dass er möglicherweise bald nicht mehr auf jemand anderen angewiesen war, sondern die Dinge selbst in die Hand nehmen konnte. „Man kann sogar Liberty Island von hier sehen!“, erklärte Seto und Atemu folgte seiner Zeigegeste. Erst jetzt wandte er sich zur Gänze dem Hier und Jetzt zu und das war wirklich atemberaubend. Die Sonne versank gerade hinter der Skyline der Stadt und die letzte Wärme, die sie auf die Fensterscheibe warf, erhitzte Atemus glühendes Gesicht. Die gesamte Suite war in einen unaufdringlichen Rotton gehüllt. Nun ging Seto zu einem Tablett, das auf einem Abstelltischchen stand, und schenkte ihnen aus einer teuer aussehenden Flasche Wein ein, bevor er zurückkehrte und Atemu eines von zwei Gläsern reichte. „Auf einen schönen Abend!“, sagte er und prostete ihm zu. „Auf diesen und viele weitere!“, schmunzelte der Pharao und eine tiefe Zufriedenheit erfüllte ihn mit einem Mal. Sanft zog er den Firmenchef zu sich herunter und legte locker seine freie Hand in dessen Nacken. „Ich konnte es nicht abwarten, dich hier zu besuchen“, hauchte er gegen die Lippen des Größeren. Dabei drückte er unbemerkt eine Tablette nach der anderen aus der kleinen Verpackung und ließ sie in Setos Getränk gleiten. Immerhin hatte er hier einige versäumte Tage aufzuholen, und sicher war sicher! Als das Briefchen schließlich leer war, ließ er es schnell wieder in seiner Tasche verschwinden. So standen sie eine Weile gemeinsam am Fenster und unterhielten sich versonnen, bis sie ihre Getränke geleert hatten. Schließlich nahm Atemu Seto das Glas aus der Hand und zog ihn verschmitzt zu dem großen Pharao-Size-Bett hinüber. Bestimmt drückte er ihn auf die Matratze und küsste sich an seinem Nacken und Hals nach unten, während er sein Hemd öffnete. Sofort zog auch Seto ihn näher zu sich heran, bis der Pharao rittlings auf seinem Becken zum Sitzen kam und die nun freigelegte Brust des Firmenchefs liebkoste. Verlangend drängten ihre Becken gegeneinander, bis Atemu deutlich spürte, wie erregt Seto bereits war. „Ich hatte eigentlich gedacht, dass wir uns zuerst einen gemütlichen Abend machen, aber wir haben uns viel zu lange nicht gesehen“, schmunzelte der Geschäftsmann etwas verlegen. Atemu ging nicht darauf ein. „Was hältst du davon, wenn du mir heute mal die Kontrolle überlässt?“, fragte er nah an Setos Ohr und spürte, dass diesem die gehauchten Worte eine Gänsehaut bescherten. „Ich werde mich nicht beschweren“, lächelte Seto verschmitzt, „die Führungspersönlichkeit liegt dir schließlich im Blut und ich muss sagen, sie steht dir ausgesprochen gut, auch in dieser Situation.“ In Setos Augen stand neben der ungeduldigen Erwartung nun auch deutlich sein großes Vertrauen in Atemu geschrieben und dieser blickte angetan auf seinen Partner herab. Dieser neue, unerfahrene Seto legte seine Gefühle so bereitwillig und unbedarft in seine Hände, und das beschämte den Pharao einerseits. Aber andererseits musste er sich auch eingestehen, dass es ihm auch gefiel und ihn erregte. Und letzteres überwog im Augenblick eindeutig. Zufrieden über die Antwort, die er erhalten hatte, befreite er den Chef der Kaiba Corporation ohne Umschweife von den störenden Beinkleidern und begann sofort, mit einer Hand dessen Erregung zu verwöhnen, während er sich weiter über seine Brust küsste. Er spürte, wie die Ungeduld in ihm selbst wuchs und seine Lenden bereits heftig pochten. Deshalb angelte er sich schnell die Tube Gleitgel aus seiner Tasche, die er vorhin vor dem Bett abgestellt hatte, und benetzte seine Finger damit. Während seine eine Hand weiter über Setos Eichel strich und schließlich dessen gesamte Länge gefühlvoll massierte, begann er mit der anderen Hand, ihn vorzubereiten. Alles an Setos Körpersprache zeigte ihm, dass dieser sich vollkommen in die Situation fallenlassen konnte, was ihn weiter antrieb und das Warten fast unerträglich machte. Und gleichzeitig genoss er diesen Moment in vollen Zügen, in dem auch Seto sich so eindeutig nach ihrer Vereinigung sehnte. Schließlich befreite er sich selbst schnell von Jeans und Unterbekleidung und platzierte sich zwischen den Beinen des Firmeninhabers. Mit einer letzten Bestätigung durch Setos hingebungsvollen Blick drang er schließlich in ihn ein. ~*~ Atemu war in einen zufriedenen, gedankenlosen Dämmerzustand gesunken und driftete unter der Oberfläche seines Bewusstseins. Sein Kopf lag an Setos Brust. „Atemu?“, drang irgendwann die Stimme seines Freundes wie durch Watte zu ihm durch und Seto strich ihm eine lose Strähne hinters Ohr. „Hm?“, fragte der Pharao schläfrig. „Wir sollten aufstehen. Es ist ja noch früh und wir könnten noch was unternehmen.“ Jetzt hob Atemu den Kopf und blinzelte ihn an. Seto fasste ihn kurzerhand um die Taille und zog ihn näher zu sich. Für einige Momente sahen sie einander nur an und genossen die Nähe zueinander. „Ich weiß eigentlich nicht so recht, wie man sowas am besten einleitet oder was der richtige Moment dafür ist“, begann Seto schließlich etwas zurückhaltend, „aber … ich sag es jetzt einfach grade heraus: Ich liebe dich. Und … im Augenblick würde ich mein Leben um keinen Preis ändern wollen.“ Eine Gänsehaut überlief den Pharao und Hitze wallte in ihm auf. Er wollte gerade ansetzen, um etwas zu sagen, da schnellten Setos Hände ruckartig zu seinem Kopf und sein Körper krümmte sich neben ihm krampfhaft zusammen. Ein gequälter Laut verließ seine Kehle, der dem Pharao durch Mark und Bein ging. „Seto, was ist los? Was hast du?!“, keuchte er panisch und versuchte, nach Setos Händen zu greifen, einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Doch der Firmenchef erhob sich, ohne zu antworten, und taumelte in Richtung des kleinen Bades, wo er verschwand und die Tür hinter sich zustieß. Atemu richtete sich auf. Mit pochendem Herzen schälte er sich ebenfalls aus dem Bett. Schließlich machte er einige Schritte auf die angelehnte Tür zu. „Seto?“ Keine Reaktion. Vorsichtig drückte er die Badezimmertür auf – und sofort schoss Panik durch seine Blutgefäße. Seto stand am Waschbecken, beide Hände an den Waschbeckenrand gekrallt. Sein Gesicht war aschfahl und Schweiß rann in Sturzbächen über seine Stirn. „Seto, hast du denn?“, Atemu getraute sich fast nicht, zu fragen, doch ohnehin erhielt er nach wie vor keine Antwort. Sein Freund schien ihn nicht mehr wirklich wahrzunehmen. „Seto! Rede mit mir!“, bat er noch einmal lauter. Schließlich schien der Firmeninhaber zu registrieren, dass er nicht alleine war, doch der Pharao spürte, dass er die Situation nicht vollständig erfasste. Er schien zu stark auf sich selbst fixiert zu sein. „Irgendwas stimmt nicht …“, murmelte er angestrengt, „mein Kopf … diese Kopfschmerzen … alles fühlt sich seltsam – aaaAAARG!“ Plötzlich begann sich sein Körper zu winden, als wolle er einen heftigen Angreifer abschütteln, und mit einem Mal glitt er zu Boden und kauerte sich zusammen, während seine Hände heftig zitterten. „Seto! Seto! Ach … verdammt!“ Atemu versuchte, durch seine nun aufwallende Panik einen klaren Kopf zu bewahren. Er hechtete ins dunkle Zimmer, tastete auf dem Nachtschrank nach seinem Handy, fand irgendwie den Notrufknopf. Als jemand ihm versichert hatte, dass ein Krankenwagen auf dem Weg sei, eilte er zurück zu Seto. „Keine Sorge, Hilfe ist unterwegs!“, keuchte er atemlos. Seto wandte den Kopf zu ihm um und für einen Moment wusste Atemu, dass er ihn nun endlich erkannte, dass er ihn sah, alles von ihm. Früher und heute – und tiefe Abscheu trat in seinen Blick. Atemu wich automatisch einen Schritt zurück – und dann brach das Chaos los. ~*~ Den Rest des Abends nahm der Pharao wahr wie in Watte gepackt. Er konnte kaum sagen, was er in den folgenden Minuten tat. Noch immer stand er fast regungslos im Hotelzimmer und sah zu, wie die Rettungskräfte sich um Seto scharten. Irgendwann kam Mokuba zu ihm herüber und strich ihm fürsorglich über den Arm. Er musste einen wirklich bemitleidenswerten Eindruck machen, wenn sogar dieser Teenager Bruder versuchte ihn zu trösten, obwohl dieser sich doch sicher ebenso große Sorgen um seinen Bruder machte. „Hey … keine Sorge. Es kommt alles wieder in Ordnung. Körperlich ist Seto gesund. Er hat scheinbar einen heftigen Erinnerungsschub, aber das legt sich hoffentlich“, hörte er ihn sagen. Aber Atemu interessierte es nicht. Und er begriff es auch nicht. Wie konnte das sein? Schließlich hatte er Seto doch selbst heute noch die Tabletten verabreicht, die genau das verhindern sollten. „Wir fahren jetzt alle zusammen ins Krankenhaus, okay?“, vernahm er nun auch Teas Stimme, die ebenfalls wohlwollend auf ihn einredete. Er antwortete nicht, sondern ließ alles nur geschehen. Bis er schließlich auf einem kalten, unbequemen Stuhl im sterilen Wartebereich eines NewYorker Hospitals saß. Bis sich die Aufregung und der tiefsitzende Schock langsam legten und Erschöpfung über ihn hereinbrach. Und mit ihr viele Gedanken und Fragen, die sich nun klar in seinem Kopf zu formen begannen. „Ich … bin gleich wieder da. Ich will kurz telefonieren“, informierte er die anderen tonlos und ging ein Stück weit einen dunklen Krankenhausflur hinunter. Schließlich holte er sein Handy aus seiner Tasche und wählte die einzige Nummer, die im Augenblick für ihn von Belang war. „Hast du sie eigentlich noch alle?“, brabbelte Bakura schläfrig ins Telefon, „du weißt schon, dass das nach einem saftigen Nachtschichtbonus riecht, Pharao!“ „Dein Kapitalismus interessiert mich nicht!“, schoss Atemu zurück, „Wach besser schnell auf! Ich habe eine saftige Reklamation für dich!“ Und dann erläutere er Bakura die neusten Ereignisse. „Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?!“, wetterte der Ringgeist ungehalten in den Hörer, „du hast ihm allen Ernstes ALLE Pillen auf einmal gegeben?! Und dann wunderst du dich, dass so etwas passiert!? Hast du denn kein Quäntchen Verstand in deinem hübschen Köpfchen?!“ „Was soll das bitte heißen!“, entgegnete der Pharao defensiv, aber etwas weniger selbstsicher, „ich dachte, nachdem er die Tabletten einige Tage nicht genommen hat …“ „Liest du denn nie den Beipackzettel, wenn du dir Medikamente kaufst?“ „Den …was?“ „Sieh auf der Rückseite nach!“, ordnete Bakura an und Atemu drehte das Briefchen um. Dort klebte ein handgeschriebener Zettel mit Bakuras krakeliger Handschrift. Darauf stand: „Bei übermäßigem Missbrauch ist mit starken Nebenwirkungen zu rechnen. Dazu zählen: Herzrasen, Schweißausbrüche, Angstzustände, Muskelkrämpfe, Kopf- und Gliederschmerzen, Umkehrung der enthaltenen Magie.“ Atemu ließ die Tablettenpackung sinken und starrte mit leerem Blick auf die karge Wand vor ihm. In ihm breitete sich eine große Leere aus. „Jetzt komm erst mal wieder runter. Was passiert ist, ist passiert, das lässt sich nicht mehr ändern“, begann Bakura nun etwas ruhiger auf ihn einzureden. „Ja, aber ich …“, wollte er gerade zu einer Antwort ansetzen, da vernahm er hinter sich Mokubas Stimme. „Atemu, der Arzt war eben bei mir. Ich wollte dir nur Bescheid geben.“ Vor Schreck warf der Pharao das Telefon in die Höhe und hatte Mühe, es rechtzeitig aufzufangen, bevor der jüngere Kaiba den Namen auf dem Display erspähen konnte. Schnell drückte er den Anruf weg. „Mit wem hast du gesprochen? Mit Yugi?“, erkundige Mokuba sich. Kapitel 11: Reboot ------------------ 11. Reboot „Mit wem hast du gesprochen? Mit Yugi?“ Etwas in Mokubas Stimme ließ Atemu aufhorchen. Etwas Waches, Angriffslustiges. „Ich … ja, genau. Ich habe Yugi angerufen. Ich musste einfach kurz mit ihm sprechen“, antwortete der Pharao und wusste noch im selben Augenblick, dass er das Falsche gesagt hatte. „Aha, das ist ja interessant“, schoss Mokuba unvermittelt zurück, „wie kann das denn vonstattengehen, wo doch Tea gerade mit ihm telefoniert?“ „Ich …äh …“ Atemus Puls beschleunigte sich und mit einem Mal begriff er, dass er in eine hinterhältig gelegte Falle getappt war. „Jetzt rück raus mit der Sprache“, forderte Mokuba ihn nun mit frostiger Stimme auf, „ich habe dein Gespräch eben mitgehört. Du hast Bakura angerufen, ist es nicht so?“ „Nein, ich … wie kommst du nur …?“ „Ich habe deutlich gehört, wie du seinen Namen gesagt hast! Du hast irgendeinen Deal mit ihm gemacht, hab ich nicht Recht?“ Soeben hatte der Arzt Mokuba mitgeteilt, dass Setos Zustand stabil war, er jetzt aber schlief. Sie hatten ihm Schmerzmittel gegeben und wollten ihm bis zum darauffolgenden Tag Zeit geben, um sich etwas zu erholen. Erst danach wollten sie Besuch gestatten. Nachdem Mokuba die Information an Tristan und Tea weitergegeben hatte und die junge Frau entschieden hatte, ihre Freunde in Domino via Yugi zu informieren, beschloss er, Atemu ebenfalls auf den neusten Stand zu bringen. Dieser hatte den ganzen Abend lang vollkommen neben sich gestanden und ziemlich verstört gewirkt, deshalb hoffte der jüngere Kaiba, dass ihn diese Entwarnung erst einmal etwas beruhigen konnte. Er hatte unheimliches Mitleid mit dem Freund seines Bruders, der bei dessen Zusammenbruch zugegen gewesen war. So ging er los, um den ehemaligen Pharao in den schwach durch Neonröhren beleuchteten Krankenhausfluren zu suchen. Am Ende eines Ganges erspähte er schließlich seine schlanke Gestalt und wollte ihn gerade ansprechen, als er plötzlich einen Fetzen des Telefongesprächs aufschnappte, das er gerade zu führen schien. Atemu sprach leise und eindringlich in den Hörer und klang dabei vielmehr fordernd als verzweifelt. Dann hörte der jüngere Kaibabruder aus den Worten deutlich einen Namen heraus: Bakura. Sofort zog er sich ein wenig hinter die nächste Ecke zurück und lauschte dem Gespräch. Und je mehr er davon aufnahm, desto mehr ergab alles plötzlich einen Sinn. Wie hatte er es bloß nicht sehen können? Nein, viel eher hatte er es nicht sehen WOLLEN! Unvermittelt spukten ihm nun die Worte des Ringgeists wieder durch den Kopf: „Ich kann dir mit deinem Problem nicht weiterhelfen, da ich einem anderen Kunden bereits zur Treue verpflichtet bin. Dafür hast du sicher Verständnis. Der Kunde ist König. Der Kunde, der bereits für eine Leistung gezahlt hat, versteht sich.“ Der Kunde ist König … Wie hatte er nur so einfältig sein können? Seine Gliedmaßen fühlten sich taub an und in seinen Gedanken drehte sich alles. Das alles konnte nicht wahr sein! Hatte er seinen Bruder wirklich selbst in die Arme dieses Hochstaplers getrieben? Eines Marionettenspielers, der im Hintergrund die Fäden zog und mit den Erinnerungen und der geistigen Gesundheit seines Bruders spielte? Und er selbst hatte Seto sogar noch ermutigt, Atemus Hilfe in Anspruch zu nehmen! Was war er für ein blinder Narr! „Ich war selbst bei Bakura und habe ihn darum gebeten, dass er Seto hilft! Aber er hat es abgelehnt, obwohl er dazu imstande gewesen wäre. Damals habe ich seine kryptischen Andeutungen nicht begriffen, aber jetzt … jetzt wird mir alles klar. Ihr beide steckt unter einer Decke. Aber warum? Ich kann das einfach nicht glauben. Wie konntest du nur? Ich habe dir das Wohl meines Bruders anvertraut“, sagte Mokuba tonlos in die Leere des Krankenhausflurs hinein. Von einem Augenblick auf den anderen änderte sich Atemus Gebaren. Er schien nun zu begreifen, dass es keinen Sinn mehr hatte, irgendwas abzustreiten oder zu beschönigen. Vielleicht wollte er das auch gar nicht mehr. Ja, Mokuba glaubte sogar, eine gewisse Erleichterung im Gesicht des ehemaligen Herrschers auszumachen, als wäre er dankbar, dass endlich jemand seine Scharade aufgedeckt hatte. „Mokuba, ja, es stimmt. Aber bitte hör mir zuerst zu. Es ist nicht so, wie du vielleicht denkst“, begann er nun sanfter. „Ach ja? Was denke ich denn?! Dass du meinen Bruder ins Chaos gestürzt hast, einfach nur zum Zwecke deiner Unterhaltung?! Dass du mein Vertrauen missbraucht hast? Unser aller Vertrauen? Dass du freiwillig fragwürdige, okkulte Unterstützung von einem antiken Geist mit einem verfluchten, schwarzmagischen Artefakt suchst?!“ „ICH bin ein antiker Geist mit einem schwarzmagischen Artefakt!“, spie Atemu ihm unvermittelt entgegen und mit einem Mal wirkte er wie ausgewechselt, bedrohlich, „das wusstest du. Und trotzdem wolltest du, dass ich deinem Bruder helfe und ihm näherkomme!“ Mokuba verstummte, für einen Moment aus dem Konzept gebracht. Schließlich fuhr der Pharao fort und die Erhabenheit und Härte in seinem Gesicht wich nun wieder dem sanftmütigen Wesen, das Mokuba vertraut war: „Okay, hör zu: Es gibt keine Ausrede für das, was ich getan habe. Ich verstehe, dass du dich hintergangen fühlst. Aber ich wollte deinem Bruder nie etwas Böses. Ich wollte ihn glücklich sehen. Das musst du mir einfach glauben. Und wenn du Bakura selbst aufgesucht hast, dann solltest du nur zu gut wissen, welche Motivationen einen zu dieser Art von Handel bringen.“ Mokuba schnaubte verächtlich. „Das ist etwas völlig anderes! Ich wollte meinem Bruder helfen, weil ich es nicht mit ansehen konnte, wie er leidet! Du hingegen hast dieses Leid erst verursacht!“ „Er hat vorher ebenfalls gelitten“, entgegnete der Pharao nun kleinlauter. Fassungslos schüttelte Mokuba den Kopf. Schließlich drehte er sich einfach um und schritt davon. „Es ist mir vollkommen egal, wie du diese absurde Perversion von Glück rechtfertigen willst“, sagte er im Gehen über seine Schulter, „wer unserer Familie schadet, der ist für uns gestorben. So war es immer und so wird es immer sein. Komm meinem Bruder nochmal zu nahe und ich werde alle Register ziehen. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.“ ~*~ Verdammt! Frustriert schlug Seto Kaiba mit der Faust gegen die Tür des Aufzugs. Schon wieder hatte er es nicht geschafft, seiner verwirrenden Gefühle Herr zu werden. All seine Pläne waren nach hinten losgegangen. Eigentlich hatte er den anderen Yugi oder bessergesagt diesen Atemu (wie er sich nannte), dazu eingeladen, sein neustes Produkt zu testen und sein Resultat bei der heutigen Pressekonferenz kundzutun, um endlich Klarheit und Struktur in seine Gedankenwelt zu bringen. Obwohl dies eigentlich nicht nötig sein sollte. Im Grunde wusste er ja selbst nicht, was in letzter Zeit mit ihm los war. Es war mehr als kurios. Seit Seto Kenntnis davon hatte, dass Atemu tatsächlich eine vollkommen eigenständige Persönlichkeit war, seit er ihn in seine 3000 Jahre alten Erinnerungen begleitet hatte, war alles in seinem Inneren nur noch wirr. Aufgerieben. Unordentlich. Noch immer empfand er zwar für den König der Spiele eine erbitterte, unerschütterliche Rivalität. Ja, vielleicht war sie sogar noch stärker als zuvor, als er noch in dem Glauben gewesen war, dass es der kleine Yugi Muto sei, der ihn immer wieder in Duel Monsters schlug. Aber zu der Abscheu und Feindschaft waren auch noch andere Gefühle getreten. Da war dieses seltsam (un)angenehme Ziehen in der Magengegend, jedes Mal wenn er dem ehemaligen Pharao begegnete, schweißnasse Hände und – am abartigsten von allen – der absurde Wunsch, mehr über ihn zu erfahren. Ihn irgendwie kennenzulernen. Mit ihm zu sprechen und ihm umgekehrt etwas von sich selbst preiszugeben. Der groteske Gedanke, dass sie einander verstehen würden, dass es etwas zu bedeuten hatte, dass ihre Leben miteinander verwoben waren. Und dann waren da noch diese Fantasien, über die er sich kaum traute, bewusst nachzudenken: Fantasien von Atemus ganz eigentümlichen und einzigartigen Geruch. Darüber, wie es sein würde, seine Haut zu berühren, ihm so nah zu sein, dass ihre Körper einander ertasten konnten. Und dann Atemus Lippen, wie sie sich kraftvoll auf seine pressten – Nein, so konnte es nicht mehr weitergehen! Wochenlang quälten ihn diese rivalisierenden Emotionen nun schon, obwohl sie in seinem aufgeräumten Kopf absolut nichts zu suchen hatten. Und nun musste er sich eingestehen, dass es an der Zeit war, sie ein für alle Mal auszumerzen. Sich Atemu zu stellen und ihn für sich zu entzaubern. Sich selbst darüber klarzuwerden, wie er wirklich zu ihm stand und was er für ihn empfand. Und trotzdem hatte er es heute wieder nicht geschafft, dies zu bewerkstelligen. Obwohl er es sich so fest vorgenommen hatte. Eine einzige spitzzüngige Kritik an der neuentwickelten Mini-Duell-Arena von diesem Spinner, der sich selbst über alles erhaben fühlte, hatte gereicht, um erneut alle Sicherungen in Setos Gehirn durchbrennen zu lassen. Wie er da stand, so in sich ruhend und dennoch nach Aufmerksamkeit lechzend. Wie jedes seiner Worte so natürlich daherkam, mit seiner sanften, melodischen Stimme. Seto wollte ihm sein selbstgefälliges Mundwerk stopfen und gleichzeitig wollte er denselben spitzfindigen Mund leidenschaftlich küssen. Aber statt sich mit der Situation auseinanderzusetzen war er lediglich in Richtung seines Büros davongerauscht und hatte all die belastenden Emotionen erneut mit sich genommen. Vielleicht würden sie endlich verblassen, sobald er außer Landes auf der Marketingreise war. Aber er bezweifelte es. Heute sah er es so klar wie nie zuvor: Mit derselben Leidenschaft, mit der er Pharao Atemu hasste, war er auch magnetisch von ihm angezogen. Geistig und körperlich. Und auf beiden Ebenen wollte er sich mit ihm messen und ihn in einen eleganten Tanz verwickeln. Und er würde es tun müssen, wenn er irgendwann wieder zu seinem klaren, analytischen Denken zurückkehren wollte. Heute war die Gelegenheit vertan, aber sobald er von seiner Promotour für die neue Duellarena zurückkehrte, würde er sich alldem stellen. Ein für alle Mal. Mit diesem Entschluss trat er schließlich, sein neustes Produkt in einer Aktentasche verstaut, ins Freie. Doch seinen Plan hatte er nie in die Tat umsetzen können. Denn hier endete die Spur seiner Gedanken abrupt. Das war nun zehn Monate her. Und an diesem Vormittag in einem Krankenhaus in New York City sah er zum ersten Mal wieder klar. Seine kräftezehrenden Kopfschmerzen waren über Nacht in ein erträgliches Pochen übergegangen und auch der Schwindel hatte sich gelegt. Es war, als habe sich ein Schleier vor seinem inneren Auge gelichtet. Und endlich konnte er wieder sicher in seinem eigenen Selbst navigieren. Endlich war es kein Blindflug mehr durch Erinnerungsfetzen und Erzählungen von Dritten. Er war wieder mit sich selbst verbunden – vielleicht so sehr, wie er es nie zuvor gewesen war. Denn er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal so tief über seine eigenen Emotionen und Handlungen reflektiert hatte. Nun sah er alles gestochen scharf. Sowohl das Davor als auch das Danach. Seine Jugend bei Gozaburo und sein Leben vor zehn Monaten – aber auch sein neues Dasein, seine geistigen Errungenschaften der letzten Monate und seine Beziehung zu Atemu. Nie war er sich über seine Gefühle für den ehemaligen Pharao so klar gewesen, wie er es heute war. Er wusste nun, was er vorher für ihn empfunden hatte, dass er bereits damals romantische Gefühle für ihn gehegt hatte, die seiner langgehegten Feindschaft in die Quere gekommen waren. Und er kannte ebenfalls die tiefen Gefühle, die er in den letzten Monaten für den antiken Herrscher entwickelt hatte, nachdem er ihm erlaubt hatte, ihm so nahezukommen. Das Einzige, was nach wie vor ein Rätsel für ihn war, waren Atemus Gefühle für ihn. Sein Bruder Mokuba war der erste gewesen, der ihn heute Vormittag besucht hatte. Fast etwas verunsichert war der 16-Jährige ein- und auf das Krankenhausbett zugetreten. Nach einigen kurzen Augenblicken des Haderns überwogen schließlich Erleichterung, Liebe und Fürsorge und der Teenager fiel ihm überschwänglich um den Hals. Seto nahm seinen Bruder wortlos in den Arm und strich ihm behutsam über den Rücken. „Tut mit leid, dass du da durchmusstest“, sagte er mitfühlend, „ich bin sehr stolz auf dich. Du hast dich tapfer geschlagen.“ „Hauptsache, ich hab dich wieder!“, schluchzte Mokuba hemmungslos an seiner Schulter. Nachdem sie einige Minuten so verharrt hatten, hatte der Jüngere sich wieder gesammelt und wurde nun sichtlich nervös. „Seto, ich …“, begann er unschlüssig, „ich hab großen Mist gebaut. Ich bin so dumm gewesen! So dumm! Ich bin mit dafür verantwortlich, dass du durch diese Hölle gehen musstest!“, platzte es schließlich ungehalten aus ihm heraus. „So ein Blödsinn!“, deklarierte Seto entschieden, „was meinst du denn damit? Wovon sprichst du?“ So hatte er durch seinen Bruder letztlich alles erfahren. Alles über den anderen Yugi und wie er seine eigene Hilfsbedürftigkeit so schamlos ausgenutzt hatte. Und Seto konnte sich nicht erklären, weshalb. Was waren seine Motive und was hatte er von ihm gewollt? Über eines war er sich jedoch klar: Er würde nie wieder zulassen, dass jemand ihn in seinen schwächsten Momenten derart manipulierte. Nein, es würde überhaupt erst gar keine schwachen Momente mehr geben! ~*~ Als Atemu das Krankenzimmer betrat, wirkte er gefasst, aufgeräumt. Im Gegensatz zu seinem Gespräch mit Mokuba gestern schien er sich in den letzten Stunden gesammelt zu haben. Langsam schritt er in die Zimmermitte, bis er wenige Schritte von Setos Bett entfernt angelangt war. Dort machte er Halt. Den Blick hielt er gesenkt und zunächst schien es, als wolle er es vermeiden, den Besitzer der KaibaCorp anzusehen. Doch schließlich hob er langsam den Kopf an und sah Seto fest in die eisblauen Augen, die aufmerksam auf ihm ruhten und ihn förmlich in seiner Integrität herausforderten. „Respekt dafür, dass du dich noch einmal hierher getraut hast“, begann Seto kühl und mit Distanz in der Stimme, die Atemu in den letzten Monaten so warm und vertraut wahrgenommen hatte, „Ich denke, das Beste ist es, wenn wir diese Angelegenheit jetzt ein für alle Mal klären, bevor wir getrennte Wege gehen.“ „Dann hast du also deine Erinnerungen zurück?“, fragte der ehemalige Pharao in vertrautem Tonfall, was dem Firmenbesitzer sichtlich zu missfallen schien, „es freut mich, dass es dir heute besserzugehen scheint.“ „Du vermutest richtig. Und das bedeutet, dieser ganze Spuk hier hat endlich ein Ende. Ich hoffe, du bist dir darüber bewusst, dass ich dich auf Schmerzensgeld verklagen könnte. Du hast unverschämtes Glück, dass ich kein Geld brauche und ein Gericht diesem Wahnsinn ohnehin keinen Glauben schenken würde, von dem Mokuba mir heute Vormittag berichtet hat. Abgesehen davon ziehe ich es vor, ab sofort endgültig einen Strich unter diese Episode zu ziehen. Solltest du in Zukunft gegenüber irgendjemandem Lügen über mich verbreiten, wirst du eine saftige Rufmordklage am Hals haben. Ich hoffe, wir verstehen uns.“ Atemu sagte nichts, er nickte lediglich. „Gut. Mein Privatjet fliegt dich heute noch nach Hause. Hast du noch irgendwas zu sagen? Ansonsten war es das von meiner Seite aus.“ Mokuba stand wortlos, aber reserviert und aufmerksam neben Setos Bett, die Arme vor der Brust verschränkt, und taxierte Atemu mit hartem, angewidertem Blick. Er machte den Anschein, als wollte er auf ihn losstürzen, sobald er sich seinem Bruder auch nur näherte. „Warte“, warf der Pharao ruhig ein, „ich möchte dir tatsächlich noch etwas sagen.“ Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er mit fester Stimme fort, „es war falsch, dass ich auf diese Weise in dein Leben eingegriffen und dich obendrein darüber getäuscht habe. Das war mir immer bewusst. Aber ich will, dass du weißt, dass ich es nicht aus böser Absicht getan habe. Und dass alles andere, was ich während der letzten Monate gesagt oder getan habe, der Wahrheit entspricht. Trotzdem respektiere ich selbstverständlich deine Entscheidung. Ich hoffe dennoch, dass du in Zukunft einen so guten Zugang zu dir selbst findest, wie du ihn ohne deine Erinnerungen hattest. Denn dir ging es so viel besser. Mokuba wird dir das bestätigen, wenn auch vielleicht ungern. Auch wenn dieser Zustand gegen deinen Willen herbeigeführt wurde, glaube ich, dass das Ergebnis nicht ausschließlich schlecht war. Deshalb werde ich mich dafür nicht entschuldigen. Und ich frage mich, wie oft du selbst bereits moralisch umstritten gehandelt hast, nur um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, das für dich zufriedenstellend war.“ Er näherte sich nun Setos Bett und Mokuba wirkte mit einem Mal unruhig und alarmiert, schritt aber nicht ein. „Wie viele kleinere Firmen hast du geschluckt? Wie viele Mitarbeitende gefeuert, die gute Arbeit geleistet haben? Warst du es nicht, der Yugis Großvater entführt hat, nur um eine Karte zu bekommen, die du so unbedingt wolltest? Hast du dich nicht in Pegasus Satellit gehackt, um ein Duell zu manipulieren? Sicher, unsere Taten machen aus, wer wir sind. Wenn man einen Menschen wirklich durchdringen möchte, wie ginge das besser als über die Dinge, die er tut oder nicht tut? Aber es ist auch einfach, die Handlungen anderer als moralisch ambig oder verwerflich zu verurteilen und dieses Urteil dann auf den gesamten Menschen zu übertragen, der sie ausgeführt hat. Wir alle sind Menschen und handeln nun mal … nun ja … menschlich.“ Er stand jetzt direkt vor Seto und schien etwas in seinen Augen zu suchen. Etwas, das an die gemeinsamen Monate anknüpfte. Aber der Blick des Firmenchefs sprühte vor Abscheu. „Raus!“, wisperte er bedrohlich. Abermals nickte der Pharao ungerührt. Er wandte sich um und schritt Richtung Tür. „Eine Sache sollst du noch wissen, und hör mir jetzt genau zu, denn ich werde das hier sicher kein zweites Mal sagen!“, erklang plötzlich noch einmal Setos Stimme. Atemu, der bereits seine Hand auf die Türklinke gelegt hatte, hielt in der Bewegung inne. „Fast hättest du mich soweit gehabt“, fuhr der Firmeninhaber fort, „ich meine vor deiner linken Aktion. Fast hätte ich mich dazu hinreißen lassen, deinem gefährlichen Charme zu verfallen und herauszufinden, was zwischen uns sein könnte. Ja, ich habe mich zu dir hingezogen gefühlt. Und so gesehen muss ich dir dankbar dafür sein, dass du mir vorher dein wahres Gesicht gezeigt hast. Denn alles, was ich in diesem verblendeten, unmündigen Zustand getan habe, zählt für mich nicht. Und jetzt, da ich an eigenen Leib erfahren habe, von welchem Schlag du bist, kann ich mich endlich von dir lossagen und mich wichtigeren Dingen zuwenden.“ „Viel Glück“, sagte Atemu leise, „und Mokuba: Mach dir bitte keine Vorwürfe. Dich trifft keine Schuld.“ Dann verließ er das Zimmer. Kapitel 12: Drivers getting installed ------------------------------------- 12. Drivers getting installed In sich gekehrt saß Atemu auf den aufgereihten Stühlen im Besucherbereich des Krankenhauses und wartete geduldig darauf, dass Setos Privatjet bereit für die Abreise war. Tea und Tristan unterhielten sich in einiger Distanz zu ihm leise miteinander und der Pharao spürte förmlich, dass er selbst Gegenstand des angespannten Gesprächs war. Tristan blickte neugierig und etwas nervös zu ihm herüber. Er hatte wenig Feingefühl für komplexe soziale Sachverhalte und würde nicht mit ihm sprechen, bis Gras über die Sache gewachsen war. Das wusste Atemu. Falls das jemals der Fall sein würde, verstand sich. Er fühlte sich ansteckend, ausgestoßen. Isoliert. Offenbar war er von einem gewöhnlichen menschlichen Individuum zu einer exotischen, potenziell gefährlichen Kreatur, einem ambigen Schwellenwesen mutiert. Zumindest Tea kam irgendwann langsam zu ihm herüber und setzte sich neben ihn. Er konnte ihr unaufdringliches Parfüm riechen und spürte, dass sie es gut mit ihm meinte. „Atemu, hör zu … wir haben natürlich gehört, was … vorgefallen ist.“ „Natürlich“, murmelte der ehemalige Pharao tonlos. „Und naja … ich würde gerne deine Sicht der Dinge hören. Möchtest du mit uns darüber sprechen?“ Er hob den Blick und sah die junge Frau direkt an. Schließlich schüttelte er langsam den Kopf. „Alles ist ganz genau so, wie Mokuba es euch erzählt hat. Es gibt keine andere Sicht auf die Dinge und sollte auch keine geben.“ „Ähm … okay. Verstehe“, antwortete Tea verunsichert, „dann … lasse ich dich wohl besser wieder allein.“ „Danke“, sagte Atemu leise. Er hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren, als Mokuba schließlich aus Setos Zimmer trat und auf ihn zuschritt. „Komm mit“, sagte er in geschäftlichem Tonfall und führte ihn nach draußen. Schließlich übergab er ihn an einen Piloten, der ihn in das Flugzeug dirigierte und ihm einen Platz zuwies. Es war, als fänden die Dinge an ihm vorbei statt, ohne seine Anwesenheit. Er war alleine. Und war er das nicht irgendwie immer schon gewesen? Er war sich selbst so fremd wie er es für die Menschen in seinem Umfeld mit hoher Wahrscheinlichkeit geworden war. Und gleichzeitig hatte er den Eindruck gewonnen, sich jetzt besser zu kennen als jemals zuvor. Vielleicht hatte er heute etwas über sich selbst gelernt. Zu Hause angekommen starrte er lange auf sein Mobiltelefon und liebäugelte damit, Yugis Nummer zu wählen. Aber was hätte er ihm sagen sollen? Er ertrug es im Augenblick nicht, sich seine Moralpredigten und sein „Ich hab’s dir ja gesagt“ anzuhören, seine enttäuschten Blicke auf sich ruhen zu spüren. Auch wenn er es wahrscheinlich verdient hatte. Zumindest wollten alle ihn das Glauben machen. Er wollte diese ganze Sache jetzt einfach vergessen, wollte allein bleiben und doch nicht mit seinen Gedanken alleine sein. Er war müde und rastlos, schuldbewusst und trotzig, resigniert und enthusiastisch, ohne zu wissen, auf was er seine Energie lenken sollte. Er sehnte sich nach der Gesellschaft von jemandem, der nichts davon wusste, was er getan hatte. Oder es nicht wertete. Mit diesen miteinander in Konflikt stehenden Gefühlen klopfte er schließlich noch am Abend seiner Ankunft an Bakuras Tür. Dieser ließ ihn wortlos, wie beiläufig ein, als wäre sein Besuch nichts, das ihn in irgendeiner Weise verwunderte. „Willst du nicht wissen, was ich noch hier will?“, fragte der Pharao etwas verunsichert. „Liegt das denn nicht auf der Hand?“, der Geist des Milleniumsringes zog eine Braue nach oben, „ich bin der einzige, an den du dich wenden kannst nach alldem. Hab ich nicht Recht? Der einzige, der dich nicht verurteilt.“ Atemu nickte ertappt. „Also, dann schieß mal los. Was darf es denn dieses Mal sein? Ein weiterer Vergessenszauber? Diesmal für dich?“ „Was? … Nein, nein, ich bin nicht hier, um etwas zu kaufen. Ich … will nur reden.“ Nun war es Bakura, der sich verwundert umwandte. „Reden? Ausgerechnet mit mir?“ Wenig später saß der Pharao auf dem ranzigen Sofa, in eine kratzige Decke gehüllt. Das Wetter war bereits herbstlich und es war unverschämt kalt in Bakuras heruntergekommener Bleibe. „Weißt du, was das Verrückteste an der ganzen Sache ist?“, fragte er, bevor er einen Schluck von seinem Tee nahm, der abenteuerlich und nach aufregenden Gewürzen schmeckte. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie getrunken und nahm gleich einen weiteren Schluck, um diesen intensiven Eindruck weiter zu ergründen. „Du wirst es mir sicherlich gleich offenbaren“, gluckste Bakura. „Dass ich es noch immer nicht wirklich bereue. Ich meine, jetzt müsste doch dieser Moment des Einsehens und der Schuldgefühle und des Verlustes einschlagen wie eine Bombe und mich von den Füßen hauen. Aber – nichts. Nichts dergleichen.“ Der Geist des Milleniumsringes seufzte und goss seinem Gast Tee nach, da der Inhalt von dessen Tasse bereits zur Neige ging. „Das verwundert mich nicht“, entgegnete er schließlich. „Wie meinst du das?“, der Pharao beäugte ihn kritisch. „Naja, wie soll ich dir das am besten sagen?“, zum ersten Mal schien der Ringgeist nach den richtigen Worten zu suchen, bevor er sprach, „es ist doch offensichtlich, dass du mittlerweile mehr Gefallen daran gefunden hast, deinen Hohepriesterverschnitt zu zähmen und zu erobern als daran, dir seiner Zuneigung sicher zu sein. Du hast den Kick dieses Versteck- und Fangenspiels gebraucht und es hat dich mehr gepusht, das Spiel zu spielen, als es zu gewinnen.“ Atemu sagte nichts, aber er bestritt auch nicht. Er wusste, dass Bakuras Worte in eine Kerbe in seinem Inneren schlugen, auch wenn sie widerlich klangen. Sie schwiegen für einige Sekunden. „Um ehrlich zu sein“, setzte der Pharao erneut an, „ich weiß nicht mal mehr, ob ich mich in Seto verliebt habe oder vielmehr in die Idee, derjenige zu sein, der seine Mauer durchbricht.“ „Willst du mich denn eigentlich nicht einen Kopf kürzer machen, weil ich mich bei diesem kleinen Mini-Playback-Kaiba verplaudert hab?“, wollte der antike Geist schließlich wissen. Atemu schüttelte lediglich den Kopf. „Das alles ist auf meinen Mist gewachsen. Ich bin nicht mehr daran interessiert, jemand anderem die Schuld in die Schuhe zu schieben. Diese Suppe habe ich mir eingebrockt und werde sie auch auslöffeln.“ Bakura war auch isoliert, wie er. Das stand ihm nun deutlich vor Augen. Aber er schien wesentlich besser mit dieser Tatsache klarzukommen als er selbst. „Wie machst du es?“, fragte er mit ehrlicher Neugierde. „Was?“, gähnte Bakura gelangweilt. „Na, wie ist es dir so egal geworden, was der Rest der Welt von dir hält?“ „Ach das“, jetzt grinste Bakura ihn frech an, „wenn du eine selbsterfüllende Prophezeiung bist, dann fügst du dich irgendwann in dein Schicksal und lebst das, was alle ohnehin schon on dir denken. Und ganz ehrlich: So übel ist dieses Leben gar nicht.“ Nun zuckten seltsamerweise auch Atemus Mundwinkel und auf seinen Lippen formte sich ein leichtes Lächeln. Er glaubte zu verstehen. Zum ersten Mal, seit er vor zehn Monaten diese Wohnung betreten hatte, studierte er Bakuras Gesicht. Es wirkte vom Leben gezeichnet, manchmal gleichgültig, aber nicht uninteressant. „Was wirst du jetzt tun?“, fragte Bakura nachdenklich. „Ich hab nicht die geringste Ahnung“, antwortete Atemu schwermütig. Sein Blick schweifte durch den Raum und blieb schließlich an den Gefäßen mit der wabernden Materie hängen. „Kannst du mir was zeigen?“ „Was meinst du´“, fragte Bakura in einem Ton, der einen Deut zu genervt klang, um nicht aufgesetzt zu wirken. „Du weißt schon – irgendein Kunststück. Einen coolen Zauber“, insistierte der Paarao unbeeindruckt. Alles, was er sich wünschte, war etwas, das seine Gedanken konzentrierte und von der Leere ablenkte, die sich vor ihm auftat. „Also schön“, seufzte Bakura gedehnt, „fangen wir mit etwas Leichtem an.“ „Verstehe“, nickte Atemu. In diesem Moment klingelte sein Mobiltelefon und Yugis Name wurde auf dem Display angezeigt. Der ehemalige Pharao blickte einen Moment darauf, dann drückte er den Anruf weg. „Okay!“, sagte er, „ich bin ganz Ohr!“ Die Augenbraue des Ringgeists flog amüsiert nach oben. „Keine Sorge“, sagte er, „deinen Besuch hier werde ich auch diesmal diskret behandeln.“ Doch der Pharao schüttelte müde den Kopf. „Nein, schon gut. Ich wollte herkommen. Es kümmert mich nicht mehr, wer davon weiß.“ ~*~ Als Atemu erwachte, genoss er die Schwerelosigkeit, bevor seine Gedanken zu ihm zurückkehrten. Eine Wärme umgab ihn und er kuschelte sich dankbar hinein. Gleichzeitig spürte er, dass ihn etwas Raues umgab. Und ein vertrauter Geruch. Er schlug die Augen auf. Lose über seinen Schultern lag die Decke, die Bakura ihm gestern entgegengeworfen hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie sich übergestreift zu haben oder überhaupt eingeschlafen zu sein. Kaum ein Laut war zu vernehmen und die Möbel um ihn herum waren dank der zugezogenen Jalousien nicht mehr als unscharfe Schemen. Unwillig schloss er noch einmal die Augen, als ihn ein ohrenbetäubendes Pochen an der Tür urplötzlich hochschrecken ließ. Alarmiert und mit beschleunigendem Puls fuhr er hoch, unschlüssig, was er tun sollte. Noch einmal sah er sich um. Von Bakura war weit und breit keine Spur zu sehen. Wieder pochte es ungeduldig an die Tür. „Hallo? Ist jemand da?! Bakura? Ich komme, um die Ware abholen!“ „Augenblick, ich bin gleich da!“, rief Atemu, mehr als einem Reflex heraus. Schließlich eilte er zum Fenster und zog schwungvoll die Jalousien nach oben. Dann durchquerte er das Zimmer und öffnete vorsichtig die Tür einen Spalt breit. Da er ein gutes Gespür für Menschen hatte, begriff er sofort, dass von dem Mitdreißiger, der dort vor der Tür stand, keinerlei Gefahr ausging. Flehend und fast verzweifelt blinzelte dieser ihm entgegen. „Sie sind nicht Bakura“, stellte er überflüssigerweise fest. Noch bevor Atemu etwas entgegnen konnte, fuhr er fort: „Ich will eigentlich nur meine Bestellung abholen. Es ist wirklich ... dringend.“ „Oh, verstehe“, Atemus Augen suchten hektisch den Raum ab und schweiften über die Utensilien, die seit gestern noch unverändert und unordentlich auf dem kleinen Tischchen mit der Zeitung unter dem zu kurzen Stempel standen. Darauf hatten sie gestern einen Selbstbewusstseins-Zauber geprobt. Schließlich blieb sein Blick an einem Regal hängen, in dem ein geöffneter Hefter lag. Irgendetwas schien Bakura dort eingetragen zu haben. Der Pharao fischte sich den Ordner und fand seine Vermutung bestätigt. Darin waren in schludriger Handschrift Namen von Kundinnen und Kunden, Bestellungen und Preislisten festgehalten. Neben dem Ordner standen einige vorbereitete Päckchen, Säckchen und Umschläge. „Das haben wir gleich“, lächelte er dem nervösen Kunden zu, „wie war noch gleich Ihr Name?“ „Sakurabi“, erklärte der Mann bereitwillig. Atemu überflog die Liste und fand glücklicherweise einen passenden Eintrag. „Ah ja, Anerkennungszauber!“, rezitierte er. „Richtig, richtig“, nickte der Kunde eifrig und zugleich etwas unangenehm berührt. „Hier haben wir es auch schon, Herr Sakurabi.“ Er nahm eine kleine Pralinenschachtel mit dem entsprechenden Namensschild vom Regalbrett, „das macht dann 20.000 Yen.“ „Ja, natürlich“, mit sichtlicher Erleichterung angelte der Mann seine Brieftasche aus seinem Sakko und begann, einige Scheine abzuzählen. „Sie wirken etwas gestresst“, konnte sich Atemu den Kommentar nicht verkneifen, „darf ich Ihnen vielleicht als kleines Goodie einen Entspannungszauber vorschlagen?“ Der Mann hielt in seinem Tun inne und sah den ehemaligen Herrscher interessiert an. „Ach … wie aufmerksam. Das hört sich in der Tat an, als wäre es etwas für mich. In letzter Zeit bin ich tatsächlich ziemlich unter Strom, wissen Sie?“ „Ich weiß, wovon Sie sprechen“, lächelte Atemu freundlich und konnte förmlich beobachten, wie der Kunde ruhiger und weniger gehetzt wirkte, „und glauben Sie mir, diesen Zauber kann ich Ihnen aus persönlicher Erfahrung empfehlen. Ich wende ihn selbst ab und zu an und er ist jeden Yen wert. Und wissen Sie was? Für Stammkunden gibt es das Ganze zum Sonderpreis. Nur 25.000 Yen alles zusammen. Was sagen Sie?“ „Ich sage: Da kann ich wohl kaum ablehnen!“, nickte Herr Sakurabi. „Sie werden es nicht bereuen!“, lächelte der Pharao höflich. Wie er es zuvor bereits einige Male getan hatte, nahm er aus einer großen Tüte einige Teeblätter und füllte sie in eine kleinere Papiertüte ab. Für einen Augenblick schloss er die Augen und fokussierte sein Inneres auf die Magie, die Bakura ihm beigebracht hatte, ließ die Kraft, die in seinem Puzzle eingeschlossen war, in seinen Körper fließen und konzentrierte sie auf den Zauber, den er wirken wollte. Schließlich hielt er seine Hand locker über die offene Papiertüte und ließ er die freigesetzte Magie durch seine Fingerspitzen in die abgefüllten Teeblätter rieseln. Endlich verschloss er die Tüte und reichte sie dem Kunden. Genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Nebenraum und Bakura betrat das Zimmer. „Ah, guten Morgen!“, grüßte Herr Sakurabi verlegen, „ich bin bereits bedient worden von diesem reizenden jungen Mann.“ „Ja, das sehe ich“, stellte der Ringgeist trocken fest. „Sehr freundlich, wirklich, Ihr Assiste …“ „Partner“, unterbrach ihn Bakura bestimmt und trat neben den Pharao. „Wie nett. Ich sehe, das Geschäft floriert. Also dann bis nächste Woche!“ „Bist du verrückt geworden?!“, blaffte Atemu ihn an, sobald der Kunde aus der Tür war, „was erlaubst du dir?! Was soll das heißen, ‚Partner‘?!“ Bakura grinste schief. „Das heißt, was es heißt. Bei deinem Sinn fürs Geschäft und deinem verkäuferischen Charme, von dem ich da soeben Zeuge geworden bin, können wir unsere Umsätze verdoppeln. Und das heißt, dieses Unternehmen hat gut Platz für zwei Mitarbeiter. Wenn du interessiert bist, versteht sich.“ ~*~ „Ich glaube das einfach nicht.“ Langsam schüttelte Mokuba den Kopf und strich sich fahrig durch sein schwarzes Haar. „Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Es tut mir ehrlich leid, Mokuba“, sagte Yugi, der ihm gegenüber am Küchentisch in der kleinen Wohnung über „Muto-Spiele“ saß. Er wirkte sichtlich zerknirscht. „Ich weiß ja, dass Atemu dir wichtig ist“, fuhr Mokuba mit zusammengezogenen Brauen fort, „aber sowas zu vertuschen … so kenne ich dich gar nicht. Ich hätte von dir echt anderes erwartet.“ Yugi senkte kleinlaut den Blick. „Hätte ich gewusst, welchen Rattenschwanz das Ganze nach sich zieht, hätte ich mich mit dir in Verbindung gesetzt“, murmelte er, „aber dass Atemu mit Bakura einen Deal gemacht hat, habe ich erst von Ryou erfahren, als die Sache schon über die Bühne war. Und auch dann wusste ich auch nicht wirklich, um was es bei der Abmachung ging. Erst nachdem dein Bruder sein Gedächtnis verloren hatte, ist es mir gedämmert, welche Magie Atemu sich von Bakura erkauft hat. Und ich … ja, ich gebe zu, ich wollte nicht, dass Atemu Schwierigkeiten bekommt. Ich wollte ihm die Chance geben, seine Handlungen zu bereuen oder sogar rückgängig zu machen. Er … steht mir ja trotz allem nahe und war ein wichtiger Teil von mir. Und ich denke, so irre das auch klingt, Ryou geht es da genauso.“ Ryou nickte ernst, sagte aber nichts weiter. Immerhin hatte er selbst mit den Kaibas wenig zu tun und war Mokuba nicht dieselbe Rechenschaft schuldig, die dieser nun von Yugi rückwirkend verlangte. „Und …“, ergänzte dieser nun etwas weniger enthusiastisch, „ich muss gestehen, ich wollte auch nicht in die Schusslinie geraten. Ich hatte mit der Sache nichts zu tun und wollte nicht derjenige sein, der sich einmischt und alles auffliegen lässt.“ Mokuba schwieg eine ganze Weile. Er wusste, hätte sein Bruder ähnlich unrecht gehandelt und dieses Handeln hätte Auswirkungen auf Yugi oder dessen Freunde gehabt, wäre es ihm ebenfalls nicht leichtgefallen, Seto an den Pranger zu stellen. Er musste sich zähneknirschend eingestehen, dass er womöglich ebenso die Füße stillgehalten hätte. „Wie auch immer“, sagte er schließlich etwas frostig, „die Sache ist erledigt. Reden wir nicht mehr davon.“ „Heißt das denn jetzt, Kaiba ist wieder der arrogante Sack, den wir kennen und … hassen?“, fragte Joey salopp und fing sich sofort strafende Blicke von Yugi und Mokuba ein. „Schon gut, schon gut, schaut mich nicht so an. Ich mein ja nur: Ich für meinen Teil bin froh, dass dieser irre Spuk vorbei ist. Diese Stadt war mir schon ziemlich langweilig ohne einen reichen Pinkel, über den man sich aufregen kann.“ „Wo ist dein Bruder jetzt?“, wollte Tristan wissen. „Er ist in der KaibaCorp. und will dort nach dem Rechten sehen“, erklärte Mokuba, „ich fahre jetzt ebenfalls hin und sehe, ob ich ihm helfen kann.“ Setos Krankenhausaufenthalt hatte, wie zu erwarten, nicht lange angedauert. Bereits nach weniger als 24 Stunden hatte er sich kurzerhand selbst entlassen und erklärt, dass sein eigenes, ohnehin besser ausgebildetes medizinisches Team seinen Zustand im Auge behalten würde. Allerdings fühlte er sich bereits vollständig wiederhergestellt. Nicht nur körperlich, nein. Auch und vor allem sein Kopf arbeitete effizienter denn je. Nachdem er die letzten Termine seiner Marketingkampagne wahrgenommen hatte, flog er nach Domino zurück und ließ sich von Roland unverzüglich zur Firma bringen, um aufzuarbeiten, was er in den letzten Monaten einem unerfahrenen Stümper mit seinem Körper hatte überlassen müssen. So fand ihn Mokuba an diesem Tag vertieft über seinem Schreibtisch brütend, als dieser die Chefetage betrat. „Wie kommst du voran?“, fragte er neugierig. „Wie man‘s nimmt. Ich muss einiges aufholen und vor allem unseren Kurs an mehreren Stellen korrigieren. Es ist mir ein Rätsel, wie jemand mit meinem Verstand so ineffizient denken und einige für das Unternehmen so unprofitable Entscheidungen treffen konnte.“ Er begriff es tatsächlich nicht im Ansatz, und er tat ohnehin besser daran, all das weit von sich wegzuschieben und seinen Führungsstil des vergangenen Jahres zu behandeln, als wäre es der eines anderen gewesen. Alles andere hätte ihn wohl in eine erneute geistige Krise gestürzt. „Welche Entscheidungen meinst du genau?“, fragte sein Bruder nun ehrlich interessiert und Seto blickte zu ihm auf, verblüfft darüber, dass der Jüngere diese Frage überhaupt als diskutabel erachtete. „Ich meine zum Beispiel all die Verantwortung, die plötzlich auf verschiedene Positionen verteilt ist. Das geht entschieden zu weit. Man sagt nicht umsonst, viele Köche verderben den Brei. Und ich verlasse mich sicher nicht auf einen Haufen unerfahrener Laien, wenn es um wichtige interne Prozesse geht.“ „Ich … denke, dein Gedanke dabei war, dass diese Mitarbeitenden durch die neue Verantwortung schnell lernen und an Selbstbewusstsein gewinnen. Und dass sie sich auf ihren Positionen wohlfühlen, wenn sie merken, dass man Ihnen etwas zutraut und Ihre Arbeit wertschätzt“, erklärte Mokuba ruhig, aber ein wenig zurückhaltend, „du … hattest da so ein Buch gelesen … einen Ratgeber …“ Gegen Ende des Satzes war er immer leiser geworden, ängstlich, das gefürchtete Wort überhaupt in den Mund zu nehmen. Setos Blick, der bereits wieder einige Akten überflogen hatte, schnellte erneut zu seinem Bruder und er zog lediglich vielsagend eine Augenbraue nach oben. „Einen Ratgeber“, stellte er fest und spie das Wort förmlich aus, als wäre es eine vergiftete Mahlzeit, „findest du nicht, das sagt bereits alles? Oh, ich verachte diesen kleinen Pharao-Verschnitt so unendlich dafür, dass er es zugelassen hat, meine Firma in den Ruin zu treiben, indem sie von einem ratgeberlesenden, inkompetenten Weichei geführt wird!!“ Damit schien das Thema für ihn beendet zu sein und er schritt zum nächsten Tagesordnungspunkt, „ach apropos, Mokuba, sei so gut und gib Roland diese Vertragsvorlagen zur geplanten Kooperation mit der Schroeder-Corp. für den Aktenvernichter, ja?“ „Du willst die Kooperation platzen lassen?! Aber warum denn?!“, nun klang Mokubas Ton bewegter und hörbar schockiert. „Aber natürlich. Ich arbete nicht mit Idioten zusammen. Das ist wohl Grund genug. Und abgesehen davon habe ich es durchgespielt. Von einer solchen Partnerschaft hätten wir keinerlei Nutzen. Dieser lächerliche Clown-Verein würde uns nur mit deren Problemen belasten, die wir dann ausbügeln können.“ Für einige Sekunden stand Mokuba lediglich da. Er wusste nicht recht, was er erwidern sollte. Er wollte Seto nicht erneut widersprechen und ihm dadurch den Eindruck vermitteln, dass er Entscheidungen seines erinnerungslosen Pendants zu befürwortete und seine heutigen anzweifelte. Aber er konnte auch nicht leugnen, dass es ihm unsagbar wehtat, dass all die behutsamen Anbahnungen der beiden Firmen und die Entwicklung der KaibaCorp. zu einem mitarbeiterfreundlicheren Arbeitgeber von jetzt auf gleich in Scherben lagen. Seto schien seinen inneren Zwiespalt zu spüren. Er erhob sich und schritt auf ihn zu. „Wie ich merke, bist du nicht einverstanden“, stellte er trocken fest. „Nein, das … so wollte ich das nicht … ich … ich weiß nicht so recht, wie ich es sagen soll, Seto. Aber es war nicht alles schlecht, was du in den letzten Monaten getan hast. Ich denke, es war nicht zwangsläufig der falsche Weg. Sondern eben lediglich ein anderer.“ Nun war es an Seto, zu schweigen. „Nun“, sagte er, „ich bin nicht mehr dieser Mensch. Und das bedeutet, dass ich die Dinge auf meine Weise regele. Da du aber ein entscheidender Teil dieser Firma bist und dir ein großes Mitspracherecht zusteht, schlage ich vor, dass wir die endgültige Entscheidung nochmal vertagen. Ich erwarte von dir bis Montagmorgen eine Präsentation aller stichhaltigen Argumente für eine Kooperation mit den Schroeders. Wenn du mich damit überzeugen kannst, können wir die Sache neu verhandeln. Bist du damit einverstanden?“ Mokuba nickte. Das klang fair. „In Ordnung“, sagte er. Seto legte ihm eine Hand auf die Schulter und lächelte leicht. „Ich habe den Eindruck, wir müssen uns beide an diese neue … alte Situation erst wieder gewöhnen und uns neu alignieren.“ „Scheint so“, auch Mokuba grinste nun. Es war wohl naiv zu glauben, dass man einfach an dem Punkt weitermachen konnte, an dem man aufgehört hatte. Nicht nach allem, was geschehen war. Kapitel 13: Damage beyond Repair -------------------------------- [CENTER/]13. Damage beyond Repair Würden diese Schmerzen jemals aufhören? Würde er jemals seinen Körper wieder so spüren, wie er ihn kannte? Heil und ohne die zahlreichen Prellungen und das unerträgliche Pochen in seinem Kopf? Alles, was er wollte, war schlafen. Nichts mehr spüren, bis diese Situation ein Ende nahm. Egal welches Ende. Hauptsache irgendeines. Aber sie ließen ihn nicht. Alle paar Stunden öffnete sich eine schwere Metalltür und er wurde rüde aus seinem lethargischen Dämmerzustand gerissen. Sie rollten ihn auf dem Rücken, grinsten voller Genugtuung auf ihn herab. Verpassten ihm unzählige Tritte, bis er ihnen das sagte, was sie hören wollten. „Kaiba wird so richtig blechen“, triumphierten sie hämisch, „wir behalten dich noch ein paar Tage hier. Dieser loyale Trottel würde doch alles tun, damit sein kleiner, heißgeliebter Bruder am Leben bleibt. Wir nehmen ihn aus wie eine Weihnachtsgans. Er wird doch für dich jeden nur erdenklichen Betrag zahlen, oder was denkst du, Kleiner?“ Mokubas Lider flatterten erschöpft. „Vermutlich“, nuschelte er. „Wie bitte? Sprich deutlich! Ich hab dich überhaupt nicht verstanden“, raspelte einer der unbekannten Männer und verpasste ihm einen weiteren Tritt, diesmal direkt auf sein Kinn. Mokubas Kiefer schmerzte. Alles schmerzte. „Sag es lauter“, feixte sein Peiniger. „Ja, er wird das Lösegeld zahlen“, brachte der jüngere Kaiba mit rauer, heiserer Stimme hervor und dachte gleichzeitig mit Sorge an Seto. Natürlich würde er zahlen, aber was würde das für ihn bedeuten? Für die Firma? Oder hatte sein Bruder bereits einen anderen Plan? „Hey, denkst du nicht, das reicht langsam mal?“, mahnte jetzt eine dunklere, ruhigere Stimme. Insgesamt waren diese Typen zu dritt. Jedenfalls hatte Mokuba bisher sonst niemanden gesehen. „Wieso denn?“, schnappte der Mann, der ihn getreten hatte, zurück, „wir haben Kaiba lediglich versprochen, dass er die kleine Nervensäge lebend zurückbekommt. Den Zustand, in dem er sich dann befindet, haben wir nicht näher beschrieben.“ „Du bist widerlich“, sagte die ruhigere Stimme distanziert, „es geht hier ums Geld und nicht um deine kranken Vorlieben.“ Der andere Mann schnaubte verächtlich und schoss dann wie jeden Tag ein Foto mit der tagesaktuellen Zeitung. Endlich schloss sich die schwere Metalltür und der Schlüssel drehte sich im Schloss. Mokuba hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, wie viel Uhr es war oder wo er sich befand. Und scheinbar hatte Seto letzteres ebenfalls noch nicht herausgefunden. Sonst hätte er ihn längst hier rausgeholt. Und seine Hoffnung schwand mit jeder Minute. Und alles, was er wollte, war etwas Ruhe. Ruhe und Schlaf. [CENTER/]~*~ Seto saß neben dem Bett seines Bruders, der stumpfsinnig auf seine Hände hinabblickte. Es war nun eine Woche her, dass Mokuba aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Er hatte zahlreiche Prellungen und Rippenbrüche davongetragen und zwei Zähne eingebüßt. Diese Verletzungen machten es für Seto nur zu deutlich, dass sein Bruder schreckliche Misshandlungen hatte durchleben müssen. Doch Mokubas körperliche Schmerzen waren nichts gegen den Schmerz, den der ältere Kaiba fühlte, wenn er dessen gebrochenen Blick sah. Darin lag nichts als Stumpfheit und Erschöpfung. Alles, für was er Mokuba immer so sehr geschätzt hatte, seine erfrischende Motivation, sein leichtes Gemüt, seine unerschöpfliche Energie, die andere ansteckte, – das alles gab es nicht mehr. Zumindest im Augenblick nicht. Und er wusste nicht, ob es jemals zurückkehren würde. Warum hatte er diese ganze Episode nicht einfach vergessen können? Warum hatte sein Gehirn nicht in einer inneren Schutzreaktion diese traumatischen Erlebnisse weit aus seinem Bewusstsein verbannt? Seine Erinnerungen waren es, die seinen Körper und seine Seele vergifteten. Dieses Gift sickerte tiefer und tiefer, je öfter er das Erlebte wieder abrief. Und das tat er sehr oft. Jede Nacht im Schlaf hörte Seto seinen jüngeren Bruder schwer atmen und manchmal abrupt aufschreien. Seit er aus dem Krankenhaus zurückgekehrt war, hatte der ältere Kaiba nachts auf dem Sofa bei ihm im Zimmer geschlafen, weil Mokuba ihn leise darum gebeten hatte, ihn nicht alleinzulassen. „Es tut mir so leid“, sagte Mokuba nun gedrückt. Setos Blick flog fassungslos zu ihm hin. „Mokuba, was um Himmels Willen müsste dir denn leidtun?! Mir tut es leid! Dass ich nicht früher da war, dass das überhaupt passiert ist! Einfach alles!“ Ein dicker Kloß bildete sich in seiner Kehle und er spürte, wie ihm die Tränen kamen, kämpfte jedoch tapfer dagegen an. Wie hätte er es verhindern können? Hätte er Mokuba rund um die Uhr bewachen lassen sollen? Ihm das Leben eines normalen Teenagers verweigern? Hätte das die Situation wirklich geändert? „Dass wir so viel Geld verloren haben. Und dass du jetzt so viel Arbeit mit mir hast, das tut mir leid“, murmelte Mokuba jetzt. Ja, Seto hatte das Lösegeld letztlich gezahlt. Zwar hatte er mit der Polizei zusammengearbeitet, aber am Ende war es ihm doch zu riskant gewesen. So waren die Täter entkommen und die Ermittlungen liefen weiter auf Hochtouren. Auch Seto selbst ließ privat weitere Nachforschungen anstellen. Aber all das konnte Mokuba nun nicht mehr helfen. In diesen zehn Tagen, in denen Mokuba verschwunden war, war auch Seto durch die Hölle gegangen. Doch nicht durch dieselbe Hölle, die sein Bruder durchlebt hatte, das wusste er sehr genau. Und noch immer hatte sein Bruder nicht ausführlich über das gesprochen, was dort mit ihm geschehen war. „So ein Blödsinn! Nun hör endlich auf, dir wegen so etwas auch noch Vorwürfe zu machen!“ Mokuba war viel zu gut für diese raue Welt. Er von allen hatte am wenigsten verdient, was ihm widerfahren war. „Mokuba, bitte überleg dir, was ich dir gestern vorgeschlagen habe“, bat Seto seinen Bruder nun nachdrücklich. Aber sein Bruder schüttelte nur den Kopf. „Nein, ich will das nicht“, sagte er entschieden, „die Dinge sind nun mal, wie sie sind. Wir alle müssen mit unseren Erfahrungen leben. Niemand hat das Recht, daran etwas zu ändern oder sich aus der Affäre zu ziehen. Diese Erinnerungen gehören jetzt zu mir.“ In Setos Gesicht zeichnete sich Schmerz ab und eine heftige Woge der Verzweiflung überrollte ihn. Es war nicht fair. Nichts davon. Und diese Ohnmacht machte ihn so unsagbar wütend. Nachdem Mokuba schließlich eingeschlafen war, erhob er sich und verließ das Zimmer. Er trat auf den finsteren Flur hinaus, ließ seine Faust gegen die Wand krachen und endlich seinen heißen Tränen freien Lauf. [CENTER/]~*~ Die zarte Glocke an der Tür kündigte an, dass Kundschaft eingetreten war und Atemu trat lächelnd hinter den Tresen. „Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“ „Ich wollte meine Bestellung abholen. Ich hatte angerufen“, sagte eine junge Frau mit braunem, geflochtenem Zopf. „Gern. Das waren fünf Brötchen, eine Flasche Olivenöl und 200g Frühlingszwiebeln, richtig?“ „Richtig. Und dann wäre da noch – die andere Bestellung“, lächelte die junge Frau halb verlegen, halb verschwörerisch, und zwirbelte eine lose Strähne ihres Haars zwischen ihren Fingern. „Aber natürlich“, sagte Atemu, griff unter den Tresen und angelte dort eine kleine Papiertüte hervor. „Darf es sonst nochwas sein?“, erkundigte er sich, während er alles über den Tresen reichte. „Nein, vielen Dank. Heute war es das.“ Nachdem er die Kundin abkassiert hatte, ging er zur Ladentür und drehte das Schild von „offen“ auf „geschlossen“. Dann streckte er sich ausgiebig. „Feierabend für heute?“, fragte eine vertraute Stimme hinter ihm. Bakura war in den Verkaufsraum getreten und öffnete routiniert die Kasse, um das Geld darin zu zählen. „Ja, mir reichts für heute“, lächelte Atemu, „ich geh nur noch ins Lager und packe die neuen Lieferungen aus.“ Es war ein sonniger Tag im Mai. Neun Monate waren vergangen, seit Atemu aus den USA zurückgekehrt war und Bakura ihm das Angebot unterbreitet hatte, sein Geschäftspartner zu werden. Zunächst war der ehemalige Pharao entrüstet über diesen brüsken Vorschlag gewesen. Wie konnte der Geist des Milleniumsrings nur ernsthaft glauben, dass er sich auf sein Niveau eines gemeinen Kleinkriminellen herabbegeben würde, der die innigsten Begehren der Menschen ausnutzte, um sie nach Strich und Faden auszunehmen? Aber die Wahrheit war … je länger er darüber nachgedacht hatte und je mehr Zeit ins Land gezogen war, desto deutlicher war ihm bewusstgeworden, dass sein Leben dringend einen neuen Kurs brauchte – und Bakuras Vorschlag der Richtungsweiser war, der ihm geradewegs vor die Füße gefallen war. Irgendwann hatte er sich eingestehen müssen, dass die Abneigung, die er geglaubt hatte gegen Bakuras Geschäftskonzept zu hegen, im Grunde nur die Angst davor war, wie andere darüber urteilten. Er selbst fand die Art des Ringgeistes, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, vielmehr erfrischend und einfallsreich als moralisch verwerflich. Und so war ihm am Ende klargewesen, dass er in Wahrheit längst mit dem Angebot liebäugelte. Anfangs hatte er sich um eine Antwort gedrückt, während er Bakura nach wie vor regelmäßig aufgesucht hatte, um von ihm neue Zauber zu lernen. Irgendwann war es dann schließlich nicht mehr nötig gewesen, seine Antwort auszuformulieren. Denn nach und nach war er immer weiter in Bakuras kleines Geschäft eingestiegen, ohne dass sie noch darüber sprechen mussten. Es war Atemu, der schließlich auf den Einfall gekommen war, dass sie ihre Verkaufsräume aus Bakuras ranziger Einzimmerwohnung verlegen sollten. So hatten sie zwei kleine Zimmer in der Altstadt von Domino gemietet und darin einen kleinen Feinkostladen eröffnet. Von dort konnten sie auch ihre etwas anderen Transaktionen durchführen und ganz nebenbei die daraus gewonnenen Geldbeträge über das Konto des Ladens waschen. Was Bakura ihm an Talent für Magie, an Ideen für neue Verkaufsschlager und an Gespür für die Bedürfnisse der Kundschaft voraushatte, konnte Atemu mit Charme beim Verkauf und planerischem Geschick aufwiegen. So ergänzten sie sich ausgesprochen gut. Und nicht nur das. In den letzten Monaten war zwischen ihnen so etwas wie eine Freundschaft entstanden. So genau konnte Atemu es nicht benennen, denn sie hatten nie offen darüber gesprochen. Nachdem Atemus Mitbewohnerin an einer Uni in Tokyo angenommen wurde und aus ihrem WG-Zimmer auszog, war es die natürliche Konsequenz, dass Bakura sein Apartment kündigte und bei ihm einzog. Immerhin erfreute er sich mittlerweile eines regelmäßigen Einkommens und konnte sich etwas Besseres leisten als die vergilbten, winzigen vier Wände, die Atemu insgeheim liebgewonnen hatte und in denen sie sich viele Nächte beim Proben und Entwerfen neuer Zauber um die Ohren geschlagen hatten. „Also dann“, sagte Bakura jetzt, „ich werd mich dann schon mal vom Acker machen. Bis später!“ „Ja, bis gleich“, sagte Atemu, „oh, soll ich uns was zum Abendessen von dem neuen Imbiss mitbringen?“ „Wenn du willst“, Bakura fischte sich seine Schlüssel vom Schlüsselbrett und öffnete die Ladentür. Dann jedoch stockte er und wandte sich noch einmal um: „Hey … hör mal“, begann er etwas zäh. „Hm?“, machte Atemu. „Erklär mir mal, wieso du das eigentlich machst.“ „Machst? Was meinst du?“ „Na, wieso du freiwillig Zeit mit jemandem wie mir verbringst?“, rückte der Ringgeist schließlich mit der Sprache heraus. Atemu, der bis eben einen Karton mit Gewürzen ausgepackt hatte, ließ nun von seinem Tun ab und sah Bakura an. Es wunderte ihn nicht, dass dieser ihm eine solche Frage stellte. Und er zögerte mit einer Entgegnung nicht deshalb, weil er die Antwort darauf nicht kannte, sondern vielmehr, weil sie schwer in Worte zu fassen war. Mit jedem Tag, den er mit Bakura verbrachte, fühlte er sich mehr und mehr wie er selbst. Es war heilsam für ihn, weil Bakura etwas verkörperte, was er selbst immer irgendwie gespürt hatte: Dass die Welt nicht in Schwarz und Weiß gemalt war. Dass man Gutes für Menschen tun konnte, obwohl man nach den Standards der meisten Menschen Unrechtes tat. Atemu sah in den Augen ihrer Kundinnen und Kunden, dass er und Bakura ihnen etwas geben konnten, ihnen auf eine Art und Weise helfen konnten, wie es niemand sonst konnte. Manche Menschen ließen sich in Arztpraxen Medikamente verschreiben, damit ihr Leben etwas erträglicher wurde. Und sndere kamen eben zu ihnen und holten sich hier ihre Ration Liebe, Selbstvertrauen und manchmal auch ein kleines Quantum Extra-Glück. So hatte er das Gefühl, dass er etwas in der Welt bewirken konnte. Und dass sie der Macht der Milleniumsgegenstände nun doch irgendwie einen besseren Sinn verliehen hatten. Bakura hatte ihm diesen Weg nicht nur gezeigt, er war auch derjenige gewesen, der sich nicht von ihm abgewandt hatte, als ihm alle anderen das Gefühl gegeben hatten, dass er nur noch angewidert von sich selbst sein sollte. Derjenige, der von Anfang an nicht geheuchelt hatte, dass niemand außer ihm jemals andere Menschen aus egoistischen Motiven manipuliert hatte. Da hatte Atemu gewusst, dass es eine Seele auf dieser Welt gab, die war wie die seine. Allein das war der Grund, weshalb er heute sein Spiegelbild ohne Scham betrachten konnte. Und das würde er dem Geist des Ringes nie vergessen. Aber wie sollte er Bakura das alles in wenigen Worten mitteilen? „Weißt du das denn nicht?“, stellte er schließlich die Gegenfrage. Der Ringgeist sah ihn nachdenklich an, erwiderte aber nichts. „Mit wem sollte ich denn sonst meine Zeit verbringen, wenn nicht mit dir?“, lächelte der ehemalige Pharao. Daraufhin nickte Bakura und in seinen Augen flackerte Verständnis und etwas wie Rührung auf. Er schien zu begreifen. Möglicherweise hatte er sich auch nur vergewissern wollen, dass Atemu dieselbe Seelenverwandtschaft fühlte wie er selbst. Dann verließ er auffallend rasch den Laden. Schmunzelnd wandte sich Atemu wieder seinem Karton zu. Als er die letzten Waren in die Regale geräumt hatte, wollte er sich gerade ebenfalls seine Schlüssel greifen, als das kleine Glöckchen über der Tür abermals läutete. „Wir haben schon geschlossen! Kommen Sie doch bitte morgen wi …“, sagte er laut und wandte sich zur Tür um, unterbrach sich dann jedoch selbst. „Oh.“ Neugierig betrachtete er den Kunden, der nun im Eingang des Ladens stand. „Ich werde morgen nicht wiederkommen, denn ich brauche jetzt etwas“, entgegnete Seto Kaiba in geschäftlichen Tonfall, während er in seiner üblichen erhabenen Art auf den Tresen zuschritt. „Hallo Seto, lange nicht gesehen“, entgegnete der Pharao sanft, „was führt dich her?“ „Etwas Geschäftliches“, stellte der Besitzer der KaibaCorporation klar, obwohl Atemu auch so keinerlei Zweifel daran gehabt hatte. Was sollte der Firmenchef auch sonst noch von ihm wollen? „Und mit was genau könnte ich dir helfen?“, erkundigte er sich weiter. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass du dich auf Bakuras zwielichtiges Geschäftsmodell eingelassen hast und euer illegales kleines Unterfangen offenbar floriert. Eigentlich könnte ich euch bei der Steuerbehörde melden für das, was ihr hier verzapft. Aber deshalb bin ich nicht hier. Ich“, Seto machte eine kurze Pause, und nur wer ihn gut kannte, konnte erahnen, dass er für einige Sekunden nach den richtigen Worten suchte, „ich brauche eines von euren kleinen Zauberkunststückchen. Und du weißt nur zu gut, welches ich meine. Das, das Erinnerungen löscht.“ Atemu sah ihn über den Tresen hinweg nachdenklich an und überlegte gut, wie er seine nächsten Worte wählen sollte. „Also gut. Und wie groß soll die Zeitspanne in etwa sein, an die du dich nicht mehr erinnern möchtest?“, fragte er schließlich sachlich. Für einen Augenblick schwieg Seto, offenbar unwillig, etwas auszusprechen, was nur zu deutlich im Raum stand und was auch Atemu bereits genau zu wissen schien. „Der Zauber ist nicht für mich. Er ist für Mokuba“, sagte er dann leiser und fast bedrohlich. Atemu nickte. Natürlich hatte er in den lokalen Medien von der spektakulären Entführung und Lösegelderpressung gelesen, deren Opfer Mokuba vor einigen Wochen geworden war. Seine Gedanken waren oft bei den beiden Kaibabrüdern gewesen, doch seit den Ereignissen in New York hatte er deren Wunsch respektiert, sich von ihnen und aus ihren Leben fernzuhalten. Und so war dies das erste Mal, dass er Seto seit ihrem Gespräch im Krankenhaus persönlich traf. „Es tut mir sehr leid, was Mokuba durchleben musste. Und wenn er sich dazu entschieden hat, dass er einige seiner Erinnerungen unterdrücken möchte, dann möchte ich euch bitten, dass er mir diesen Wunsch selbst mitteilt. Das ist dringend nötig, damit ich euch helfen kann.“ Nun schnaubte Seto verächtlich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Seit wann bist du auf einmal so päpstlich und überkorrekt?“, forderte er Atemu heraus, „Mokuba wird natürlich nicht herkommen und diesen Wunsch dir gegenüber äußern. Weil es nicht sein Wunsch ist, sondern meiner.“ Der Pharao zeigte sich ungerührt. „Du willst also gegen den Willen deines Bruders einen Gedächtniszauber auf ihn anwenden und damit sein Leben nachhaltig beeinflussen?“, fragte er. Obwohl in seiner Stimme keinerlei Urteil oder Provokation mitschwang, brachte die Frage offenbar etwas in Seto zum Überschäumen und seine kühle Fassade bröckelte für einen Moment. „Damit wir uns hier verstehen, du kleiner Besserwisser: Das hier ist etwas vollkommen anderes als deine miesen, kleinen Gehirnwäschespielchen von damals! Mein Bruder leidet! Er leidet jede Sekunde seines Lebens unter dem, was er erlebt hat! Und auch wenn er sagt, dass er seine Erinnerungen nicht verlieren will, ich weiß einfach, dass es ihm damit bessergehen wird! Und überhaupt hat dich das nichts anzugehen! Gib mir einfach das, wofür ich dich bezahle, alles klar?!“ Statt Setos giftigen Worten mit demselben Temperament zu begegnen, schritt Atemu lediglich um den Tresen herum und auf ihn zu. „Seto, ich verstehe deinen Schmerz. Aber ich kann dir leider nicht geben, um was du mich bittest.“ In dem Augenblick, in dem er es sagte, nahm er deutlich wahr, wie Setos Schultern nach unten sackten und sein gesamter Körper erschlaffte. Auch wenn es andere nicht bemerkt hätten, empfand der ehemalige Pharao ihn in diesem Augenblick wie ein Häufchen Elend, seine letzte Hoffnung zerschlagen. Wahrscheinlich hatte er es insgeheim bereits geahnt. „Ich führe keine Zauber durch ohne die Erlaubnis desjenigen, den die Magie betrifft. Ich weiß, dass es manchmal die einfachste Lösung scheint, jemanden zu seinem Glück zu zwingen. Und ich verstehe, warum du zu mir gekommen bist. Aber ob du es glaubst oder nicht, ich habe meine Lektion insofern gelernt, dass eine solche Entscheidung viele Leben beeinflusst und viele Lawinen lostreten kann. Und deshalb haben wir diese Art von Magie aus unseren Geschäftsbedingungen ausgeschlossen. Und wenn du ehrlich mit dir bist, dann entspricht das doch gar nicht deinen Werten. Jedenfalls nicht denen, die du bei unserem letzten Gespräch noch so vehement vertreten hast. Es wäre eine Handlung aus dem Affekt und aus Verzweiflung heraus, die du dein Leben lang bereuen würdest.“ Im Laufe seiner Partnerschaft mit Bakura hatte Atemu eine Regel eingeführt, die es ihnen verbot, Magie zu wirken, die das Leben von Unbeteiligten manipulierte. Er wusste zwar sehr wohl, dass Bakura die Sache nicht immer so genau nahm wie er, aber das war allein dessen Angelegenheit. Obwohl seine eigene Entscheidung von damals mittlerweile zu ihm gehörte und er sie akzeptiert hatte, wusste er heute, dass er etwas gesucht hatte, das er auch auf andere Art hätte bekommen können. Und wenn er eine Lehre aus der ganzen Sache ziehen konnte, dann die, dass er andere nicht in dieselbe Situation bringen würde. „Wenn das wirklich ist, was du willst und du dich nicht von dieser Sache abbringen lassen willst, dann gebe ich dir den Rat, dich an meinen Geschäftspartner zu wenden“, schloss er, „aber ich glaube, dass es das Beste für dich wäre, noch einmal eine Nacht darüber zu schlafen.“ In Setos Gesicht standen so viele Emotionen geschrieben, dass es Atemu schwerfiel, eine einzelne davon herauszulesen. Der Firmenchef schien etwas fahler geworden zu sein und nach einem kurzen Augenblick wandte er sich wortlos um und verließ geknickt das Gebäude. Kapitel 14: Reconnecting to the Network --------------------------------------- 14. Reconnecting to the Network „Tee?“, fragte Seto mit hochgezogener Braue und starrte missmutig auf die dampfende Tasse mit der penetrant duftenden Flüssigkeit vor ihm. „Ganz recht“, sagte Zigfried von Schroeder streng, „ich sorge dafür, dass du mal was anderes konsumierst als immer nur massenweise Kaffee. Das hier wird dir viel besser tun und dein Gemüt etwas beruhigen! Ich verstehe ohnehin nicht, dass du so wenig auf deine Gesundheit achtest. In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist! Und der ist doch dein Arbeitskapital!“ Seto ließ ein undefiniertes Murren vernehmen, bevor er einen Schluck aus der kredenzten Tasse nahm und das Gesicht verzog. „Ich bin alt genug, ich brauche dich nicht als Sitter“, gab er Zigfried zu verstehen, der bereits wieder am Herd stand und in einem Kochtopf rührte, „und noch weniger brauche ich deine Kochkünste.“ „Du bist selbst schuld“, deklarierte Zigfried standhaft, „wenn du nicht darauf achtest, regelmäßig zu essen, muss ich mich eben auch darum noch kümmern! In letzter Zeit war deine Ernährung recht besorgniserregend. Aber nun zu etwas Relevantem: Nun sag schon! Warum willst du mir nicht verraten, wo du gestern Abend noch so lange warst? Ich habe fast zwei Stunden hier auf dich gewartet.“ „Was denn? Habe ich jetzt etwa auch noch einen Stalker? Bin ich dir über alle meine Aktivitäten Rechenschaft schuldig?“, murrte Seto, halb tadelnd, halb amüsiert. „Ach, hör schon auf, die Dramaqueen zu spielen. Ich sorge ja lediglich dafür, dass du nicht vom rechten Weg abkommst oder dich in irgendwelche Dummheiten verrennst.“ „Wie was denn zum Beispiel?“ „Das weiß ich noch nicht genau, aber ich habe ein ziemlich mulmiges Gefühl in der Magengegend und mein Gespür trügt mich selten“, beharrte der rosahaarige Firmenbesitzer. Tatsächlich hatte Mokuba seinerzeit mit seiner Präsentation seinen Bruder davon überzeugen können, die Zusammenarbeit mit der Schroeder Corporation nicht in den Wind zu schießen. Er hatte einige nicht zu ignorierende Argumente vorzubringen gehabt, das konnte Seto nicht leugnen. Und doch waren diese nicht der einzige Grund, weshalb er die von seinem verweichlichten Ich angebahnte Zusammenarbeit schließlich weiterverfolgt hatte. Er konnte es selbst kaum greifen oder beschreiben, aber … er hatte das unbestimmte Gefühl gehabt, dass es der richtige Weg war. Und dass das, was er in seinem weichgekochten Zustand priorisiert hatte, nicht vollkommen irrsinnig gewesen war. Er spürte, dass es diesem anderen Selbst wichtig gewesen war – und dieses Gefühl hatte sich auch mit seinen widererlangten Erinnerungen nicht ganz verflüchtigt. Je länger er über die Sache nachgedacht hatte, desto schwerer war es ihm gefallen, all die Papiere und Dateien einfach zu schreddern oder in der virtuellen Mülldeponie verschwinden zu lassen. Also hatte er schließlich den Sprung ins kalte Wasser gewagt. Sollte Mokuba doch diese Sache betreuen, dann würde er sich nicht selbst mit diesem Schroeder-Schnösel abgeben müssen. Immerhin war es Mokubas Anliegen gewesen und es war ohnehin nur richtig, dass er mehr und mehr Verantwortung in der Firma übernahm. Doch es kam alles ganz anders. Nach und nach freundete sich der jüngere Kaibabruder mit dem etwa gleichalten Leon von Schroeder an. Und so kam auch Seto schließlich nicht umhin, sich mit dem älteren Exemplar anzugeben. Nach und nach lernte er, Zigfried auf eine eigenwillige Art zu respektieren. Er erkannte durchaus sein Talent fürs Programmieren und seinen guten Riecher für Produktdesign und Werbetauglichkeit. So ungern er es auch zugab, in dieser Hinsicht konnte er einiges von seinem stylischen Geschäftspartner lernen. Zudem fand Seto es faszinierend, wie Zigfried es mit erschreckender Trefferquote schaffte, immer genau das von seinen Geschäftspartnern zu bekommen, was er wollte – ohne jegliche Kompromisse. Fast ein wenig unheimlich war das. So entstand aus einer Geschäftspartnerschaft eine Art private Affiliation … es Freundschaft zu nennen war Seto bisher nicht so recht in den Sinn gekommen und behagte ihm auch noch nicht so ganz. Meistens trieb Zigfried Seto mit seinem nicht enden wollenden Redeschwall, seinen extravaganten Hobbies und seiner selbstgewählten Rolle als sein Lebensberater zur Weißglut. Aber gleichzeitig war es ihm auch überraschend egal, dass Zigfried nie ohne ein Modemagazin irgendwohin ging, seinen Arbeitstag nicht ohne eine Stunde Yoga beginnen konnte, vor jedem Meeting das Farbkonzept des Konferenzraums änderte und ihren anderen Geschäftspartnern ein Ohr über ihr Outfit oder ihren Haarschnitt abkaute. Manchmal wunderte sich Seto selbst über seine Toleranz für diese Angewohnheiten. Sie musste wohl auf eine für ihn unerklärliche Sympathie zurückgehen. Er spürte mehr als es ihm bewusst war, dass Zigfried das Herz am rechten Fleck hatte und es gut mit ihm meinte. Ihre Beziehung hatte sich insbesondere in den letzten Wochen festgezurrt, als Setos und Mokubas Leben von jedem großen Einschnitt gezeichnet wurde. Leon war Mokuba ein treuer Freund und konnte mit seiner empathischen Art die ersten unsteten Funken seiner früheren Energie neu entfachen. Und Zigfried kümmerte sich seit der Entführung darum, dass Seto sich nicht selbst verlor, seine Gefühle in Arbeit ertränkte oder seinem grenzenlosen Aktionismus nachgab, der ihn fast alles dafür hätte tun lassen, Mokubas Entführer dingfest zu machen. Natürlich hatte Seto bereits auf eigene Faust Nachforschungen angestellt, Ermittler bemüht und begonnen, sich in Überwachungssysteme zu hacken. Zigfried hatte ihn letztlich aber davon abbringen können, die Grenze der Legalität zu weit zu überschreiten, und ihn davon überzeugt, dass auch die Polizei von Domino fähiges Personal hatte, das den ganzen Tag nur damit beschäftigt war, den Täter ausfindig zu machen. Einmal hatte Zigfried Seto sogar in so einen dämlichen Selbsthilfekreis mitgeschleift, wo alle nur rumheulten und dann von den anderen Trotteln dafür Applaus bekamen. Bis heute wusste Seto nicht, wie sein rosahaariger Partner das geschafft hatte. Er musste ihn mit Chloroform betäubt oder ihn in einem schwachen Moment erwischt haben oder dergleichen. „Mir geht’s gut, ehrlich“, versicherte Seto ihm jetzt genervt. Zigfried setzte sich seufzend zu ihm an den Esstisch. „Seto, wem machst du was vor? Ich sehe doch genau, dass dem nicht so ist. Aber das ist schon okay. Es gibt nichts Unattraktiveres, als sich selbst hängenzulassen, und ich schätze es an dir, dass du das um keinen Preis willst. Trotzdem hilft es manchmal, über Dinge zu reden. Ich wünschte, du würdest das tun. Ich würde jedenfalls zuhören. Aber vielleicht … willst du ja auch nur nicht mit mir darüber sprechen?“ Seto blickte von seinem mittlerweile abgekühlten Tee auf. Er wollte gerade etwas erwidern, als die Türglocke beide aufschrecken ließ. „Nanu? Wer besitzt denn um diese Zeit noch die Unverfrorenheit, hier aufzukreuzen?“, rümpfte Zigfried die Nase. „Ach, du meinst, wenn du das tust, ist es in Ordnung, aber bei anderen ist es ein Fauxpas?“, grinste Seto, während er sich erhob und zur Sprechanlage an der Wand hinüberschritt. „Ja?“, raspelte er unwirsch hinein. „Hallo Seto, ich bin es. Ich möchte kurz mit dir sprechen“, sagte eine Stimme, die er nur zu gut kannte. Nun sprang auch die Kamera an und auf dem Überwachungsbild war deutlich Atemus schmale Statur zu sehen, die mit verschränkten Armen vor dem Anwesen wartete. „Wer ist denn er?“, fragte Zigfried, der neugierig über Setos Schulter lugte, „Hm, also Stil hat er jedenfalls.“ Der Besitzer des Anwesens zögerte einen Augenblick, schließlich sagte er: „Komm rein.“ Der Summer ertönte und das große metallene Eingangstor zum Anwesen öffnete sich. Erhaben wie üblich schritt Atemu langsam den Weg entlang, bis er an der Haustür angelangt war. Seto öffnete ihm und führte ihn ins Wohnzimmer, wo Zigfried ihn unverhohlen von Kopf bis Fuß musterte. Atemu nahm die dritte Person im Raum nur kurz zur Kenntnis. „Ich habe über unser gestriges Gespräch nachgedacht“, sagte er ruhig und Seto spürte deutlich, wie in Zigfried die Neugierde aufflammte und ihm tausend Fragen auf der Zunge brannten. Nachher würde er sich einem Kreuzverhör stellen müssen, so viel stand fest. „Ich würde dir gerne helfen“, fuhr der Pharao fort. Seto nickte. „Das wurde auch Zeit. Aber besser spät als nie“, entgegnete er frostig, woraufhin Atemu lediglich mitleidig lächelte. „Aber wie ich dir schon sagte, kann ich dir nicht auf die Art helfen, die du dir erhoffst.“ Sofort wurden Setos Gesichtszüge hart und sein Gebaren änderte sich. „In diesem Fall haben wir nichts mehr zu bereden! Ich weiß nicht, was du überhaupt noch hier willst!“ Doch der ehemalige Pharao machte keine Anstalten, der indirekten Aufforderung zum Gehen nachzukommen. „Du musst meine Art von Hilfe natürlich nicht annehmen. Dennoch will ich dir sagen, dass es nicht nur diesen einen Weg gibt, Mokuba in seiner Situation zu unterstützen. Ich nehme Anteil an eurer Situation und ich möchte gerne etwas beitragen, um sie zu verbessern. Bitte nimm das.“ Damit schritt er unverwandt auf Seto zu, griff sich seinen Arm, drehte seine Handfläche nach oben und legte etwas hinein. „Du musst es nicht verwenden, aber ich möchte, dass du es zumindest hast“, erklärte Atemu weiter. Seto starrte mit ausdrucksloser Miene auf ein antik wirkendes Amulett aus Gold hinab. Geformt war es wie eine Schlange, deren ineinander verschlungener Körper ein Kreisrund bildete. Auf dem Körper schlängelten sich Hieroglyphen. „Kannst du lesen, was darauf steht?“, erkundigte sich der Pharao. „Nein“, log Seto, denn natürlich konnte er den Text problemlos lesen. Dort stand: >Schlafe gut, die Nase voller Freude, wenn das Land hell wird, dann sehe du Amun!< (*) Atemu lächelte wissend. „Es ist ein altägyptischer Schutzzauber und eine vollkommen legitime Methode, um deinen Bruder vor bösen Erinnerungen und Träumen abzuschirmen. In meinem früheren Leben diente er dem Schutz vor Unheil wie Schlangen und Krankheiten, aber auch vor anderen Zaubern und Dämonen. Und letztere suchen Mokuba aktuell öfter heim, als er ertragen kann, wie ich es verstehe. Ich wünsche euch heilsame Gedanken.“ Damit machte er auf dem Absatz kehrt und verließ das Wohnzimmer und schließlich das Anwesen. Seto sah ihm schweigend nach, während Zigfried eine Augenbraue hochzog. „Ich schätze, du wirst mir einiges erklären müssen“, sagte er pikiert. ~*~ „Das ist für dich mit der Post gekommen“, informierte Bakura Atemu, als dieser einige Minuten später seine Jacke an die Garderobe gehängt hatte. Als er den Umschlag aus dickem, braunen Umweltpapier in Händen drehte, war ihm sofort klar, dass es sich um eine Hochzeitseinladung handelte. Beim Öffnen kam ein schön arrangiertes Foto von Tea und Tristan auf einer saftig grünen Wiese zum Vorschein. Tea trug ein blaues Sommerkleid, das ihre Augen betonte, und lächelte sehr natürlich in die Kamera, während Tristan nur Augen für sie zu haben schien. In den ersten Monaten nach seiner Trennung von Seto hatte der Kontakt zu seinen Freunden, die eigentlich Yugis Freunde waren, auf Eis gelegen. Dass er angefangen hatte, seine Zeit mit Bakura zu verbringen, hatte die Sache nicht besser gemacht und Tea, Tristan, Duke und Joey zusätzlich davon abgehalten, zu ihm Kontakt zu suchen. Einzig und allein Yugi hatte nie aufgehört, ihn anzurufen, egal wie frostig und unangenehm ihre anfänglichen Gespräche auch gewesen waren. Offengestanden wäre Atemu eine völlige Funkstille zunächst lieber gewesen, da er Angst davor hatte, Yugi könne eine Erklärung von ihm verlangen oder das Thema wieder hochkochen. Doch dieser war clever genug, genau das nicht zu tun. Nach allem, was passiert war, waren sie noch immer verwandte Seelen, die einander mittlerweile besser kannten als sich selbst. Nach und nach hatte Atemu begriffen, dass Yugi diese Seite, von der er so sehr fürchtete, er könne sie verurteilen, längst gekannt hatte. Und trotzdem hatte er ihn immer uneingeschränkt gerngehabt. Es dauerte ganze drei Monate, bis Yugi Atemu mit seiner großherzigen Beharrlichkeit davon überzeugen konnte, seine und Joeys WG-Einweihungsparty zu besuchen, zu der auch seine anderen Freunde erscheinen sollten. Die ersten Augenblicke waren unerträglich gewesen und die Unterhaltung in der Gruppe zog sich zäh dahin wie Kaugummi bei 40 Grad Celsius. Noch dazu hatte sich Atemu Bakura als Backup mitgebracht, der unbeeindruckt das Büffet plünderte und von allen argwöhnisch dabei beäugt wurde. „Also, nun aber mal Klartext!“, platzte es schließlich aus Joey heraus. Offenbar waren sie an dem Punkt angelangt, wo der Blondschopf seine Neugierde nicht mehr im Zaum halten konnte und all die Fragen loswerden musste, die sich über die vielen Wochen angestaut hatten, „Stimmt es echt, dass du mit Bakura zusammenwohnst UND mit ihm zusammen schwarze Magie vertickst?!“ Atemu lächelte matt. „Ja, das stimmt“, bejahte er etwas unterkühlt, „und ich kann durchaus verstehen, wenn ihr das verwerflich findet. Das ist für mich okay. Ich würde es in dem Fall allerdings vorziehen, das Thema nicht weiter zu vertiefen.“ „Hey, ganz ruhig, Kumpel. Ich wollt‘ ja gar nicht urteilen. Man wird doch noch mal fragen dürfen“, ging Joey sofort in die Defensive, „du … hast uns halt gefehlt. Da will man doch mal wissen, was in deinem Leben so abgeht.“ Überrascht sah Atemu von seiner Bowle zu ihm auf. Mit Joeys vertraulicher Ansprache hatte er nicht gerechnet, doch er schätzte seinen redseligen Freund dafür, dass er immer die richtigen Worte fand, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen und seltsamerweise die Situation dadurch zu entschärfen. „Bitte entschuldige; Joey“, sagte er beschämt, „ich gebe offen zu, ich weiß nicht recht, wie ich mich euch gegenüber verhalten soll.“ „Aaaach, schon okay“, entgegnete der Blonde, während er seine Arme hinter dem Kopf verschränkte, „das wissen wir doch auch nicht. Aber eins kann ich dir sagen: Ich blick zwar nicht so richtig durch mit alldem, was da zwischen dir und Kaiba abgelaufen ist, aber ehrlichgesagt ist es mir mittlerweile auch egal. Es is‘ nicht mein Bier und ich persönlich würde es vorzieh‘n, einfach meinen alten Kumpel wiederzuhaben!“ Atemu blickte ihn perplex an und hinter seinen Augen begann es verdächtig zu brennen. „Und außerdem“, fuhr Joey fort, bevor er etwas entgegnen konnte, „hab ich selbst schon ziemlich miese Dinger gedreht. Und ich war immer froh, dass Yugi und die andern trotzdem zu mir gestanden und mich aus diesen miesen Kreisen weggebracht haben. Oh Mann, wenn ich nur an diese Yo-Yo-Gang von damals denke … das war richtig übel. Wisst ihr noch, Leute?“ „Joey, ganz ehrlich“, warf Tristan amüsiert ein, „du kannst nicht ein Wort wie Yo-Yo-Gang in den Mund nehmen und ernsthaft erwarten, dass irgendjemand davon beeindruckt ist.“ „Nah … es waren halt andere Zeiten“, winkte Joey verlegen ab. Auch Duke und Tea kicherten. „Jetzt aber mal zu was WIRKLICH wichtigem“, wechselte der größere der beiden Gastgeber jetzt abrupt das Thema, „erzähl mal: Wie ist Bakura denn privat so? Schleppt er dich auch immer auf Friedhöfe und so’n Kram?“ Seine warmen, braunen Augen funkelten den ehemaligen Pharao erwartungsvoll an. „Nur bei Vollmond“, antwortete dieser trocken und musste lächeln. Es ging nicht über Nacht, aber so nach und nach festigte sich das Band zwischen Atemu und der alten Clique wieder und er nahm wieder häufiger an gemeinsamen Unternehmungen teil. Manchmal verlor man weniger, wenn man einen Groll ziehen ließ und die Dinge so hinnahm, wie sie nun mal waren. Das hatte Atemu begriffen. Leider schien es nicht so, als wäre dies Seto genauso problemlos möglich wie Joey. Wenigstens hatte er heute versucht, ihm zu helfen, ungeachtet dessen, ob dieser seine Hilfe letztlich schätzen würde. ~*~ „Du warst bei Kaiba, richtig?“, Bakura setzte sich zu seinem Mitbewohner an den Küchentisch und biss in eine Mettstange. Atemu legte die Karte beiseite und sah ihn an, überrascht über Bakuras Schlussfolgerung war er jedoch nicht. „Ja, richtig. War ich so durchschaubar?“ „Sein Besuch im Laden gestern hat dich beschäftigt, das war nicht zu übersehen“, erklärte der Grabräuber. „Ich wollte ihm gerne helfen“, rechtfertigte der Pharao sich überflüssigerweise. „Weil du dich schlecht fühlst wegen damals?“, Bakura lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Nein, weil ich denke, dass es das Richtige ist, zu helfen, wenn es im Bereich meiner Möglichkeiten liegt.“ „Das musst du wissen“, sagte der Ringgeist unergründlich, „aber sieh doch trotzdem vor, nicht nicht denselben Pfad zu beschreiten wie vorher. Versuch nicht schon wieder, dir Kaiba gefügig zu machen. Ob durch gelöschte Erinnerungen oder dadurch, dass du etwas hast, was er braucht, das spielt keine Rolle. Letztlich kommt es auf dasselbe raus. Diese Sache mit dir und Kaiba wird nie unter einem guten Stern stehen, egal wie du sie drehst und wendest.“ „Woher willst du das wissen?“, gab der Pharao nun doch überrascht und etwas argwöhnisch zurück, „es hätte immerhin funktionieren können. In irgendeiner anderen Ausgangslage, in einem anderen Szenario hätte alles anders ausgesehen.“ „Vertrau mir, das hätte es nicht“, sagte Bakura entschieden. Damit erhob er sich und verschwand in seinem Zimmer. Atemu sah ihm grübelnd nach und biss sich auf die Unterlippe. Erneut wandte er sich der Einladungskarte zu. „Gib uns Bescheid, ob du ein Plus Eins mitbringst“, stand am Ende des Einladungstextes. Der Pharao runzelte die Stirn. Hätte er damals darauf gewartet, dass Seto sich seine Gefühle für ihn von selbst eingestand, wer weiß? Vielleicht wäre er mit dem Firmenchef dort hingegangen. Aber so war es nun mal nicht gekommen und Atemu verabscheute nichts mehr als in einer hypothetischen Welt zu leben oder verpassten Gelegenheiten nachzuhängen. Er wusste, sein jetziges Leben wäre auf diese Weise nie zustande gekommen, und dieses Leben wollte er nicht mehr eintauschen, egal was hätte sein können. Und doch hatte er heute, als er Seto gegenübergestanden hatte, nicht umhingekonnt sich zu fragen, ob wirklich bereits alle Türen verschlossen waren. Doch im Augenblick freute er sich einfach darüber, dass Tristan und Tea an ihn gedacht hatten und ihn dabeihaben wollten. ~*~ Mokuba drehte nachdenklich das goldene Amulett in seiner Hand. „Ich wollte dir nicht vorenthalten, dass es existiert“, hatte Seto ihm vor einigen Minuten eröffnet und ihm die Kette überreicht, „auch wenn ich nicht glaube, dass es irgendwas bewirken kann.“ „Und du gibst mir das, obwohl es von Atemu kommt?“, wollte Mokuba zweifelnd wissen. Nicht einmal er selbst konnte dem Pharao verzeihen, was er seinem Bruder vor Monaten angetan hatte. Umso mehr überraschte es ihn, dass ausgerechnet Seto nun etwas von ihm angenommen hatte. Denn niemand war nachtragender als sein großer Bruder und wenn er einen Menschen aus seinem Leben radierte, tat er dies gründlich und unwiderruflich. Gleichzeitig rührte es ihn sehr, dass Seto offenbar dieses Prinzip über Bord geworfen hatte, nur um ihm, Mokuba, nicht eine mögliche Chance auf Heilung vorzuenthalten. Bereits vor einigen Wochen hatte er ihm den Vorschlag unterbreitet, von Atemu und Bakura einen Amnesiezauber zu erwerben und damit die Erinnerungen und Albträume auszulöschen, in deren Krallen sich Mokuba seit Wochen befand. Seit dieser fragwürdigen Idee hatte Mokuba sich große Sorgen um Seto gemacht. Das Letzte, was er wollte, war, dass sein Bruder seinetwegen eine Dummheit beging – und dann auch noch für etwas, das für ihn ohnehin nicht in Frage kam. Verstohlen sah er den Älteren von der Seite an. Er konnte nur raten, weshalb dieser letztlich doch zu Atemu Kontakt gesucht hatte und weshalb er jetzt mit einer vollkommen anderen Art von Magie vor ihm stand als der, die er eigentlich im Sinn gehabt hatte. Doch Mokuba beschloss, Seto nicht danach zu fragen und die Sache auf sich beruhen zu lassen. Als sein Bruder das Zimmer verlassen hatte, strich Mokuba noch einmal über den Anhänger und legte sich die Kette dann kurzerhand um den Hals. Augenblicklich hatte er den Eindruck, dass seine Brust etwas leichter und er innerlich ruhiger wurde. Aber das war sicher Blödsinn und wahrscheinlich nur so ein Placeboeffekt, dem er sich nicht erwehren konnte. ---------------- (*) Übersetzung: Uni Heidelberg. Der Text (ein Schutzzauber) befindet sich auf der Kopfstütze des Kener. Kapitel 15: Data Leaks ---------------------- 15. Data Leaks „Du hast mir letztens nicht die ganze Wahrheit erzählt“, begann Zigfried unvermittelt, als er neben Seto im Aufzug stand und darauf wartete, dass dieser in der obersten Etage der KaibaCorporation angelangte. „Wie bitte?“, entgegnete Seto verwirrt und in Gedanken bereits bei seiner Arbeit, „was soll das nun wieder heißen?“ „Na, du hast mir gesagt, dass du mal mit diesem Atemu liiert warst –“ „Du meinst, du hast es unter Folter aus mir herausgequetscht“, warf Seto knurrend ein, doch Zigfried ignorierte den Einwand, „– und dass ihr euch am Ende auseinandergelebt habt“, beendete er seinen Satz. Bei den letzten Worten zeigte er virtuelle Anführungszeichen in der Luft. „Korrekt“, nickte Seto, „und was soll daran bitte nicht stimmen?“ Zigfried wandte sich ihm nun zu und musterte ihn eindringlich von der Seite. Der Besitzer der Schroeder-Corp. trug heute einen türkisfarbenen Anzug und dazu eine bauschige rosa Schleife, die die Farbe seines Haars aufgriff. Dieses wiederum wurde mit einer zweiten Schleife in der Farbe des Anzugs in einem Zopf zusammengehalten. Nichts an seinem Erscheinungsbild war dem Zufall überlassen oder imperfekt. Was diese Dinge betraf, steckte Zigfried ebenso viel Aufwand ins Detail wie es Seto bei seinen technischen Produkten tat. Sicherlich war sein Blick deshalb gut geschult für die kleinen Teile, die fehlten, um jedes Puzzle zu vervollständigen. „Ich habe ein wenig über deinen Ex recherchiert“, sagte er jetzt trocken. Seto wurde es etwas wärmer im Gesicht, da er ahnte, dass „ein wenig“ hier eine starke Untertreibung war und Zigfried diese Arbeit gründlich erledigt haben musste. Was würde er ihm also jetzt unterbreiten? Trotzdem antwortete er lediglich mit einem unbeeindruckten „So so.“ „Er hat einen Laden gemietet mit einem gewissen Bakura, über den ich ebenfalls recherchiert habe. Und es ist geradezu faszinierend: Stell dir vor, beide werden erst vor fünf Jahren zum ersten Mal aktenkundig. Vorher scheinen sie in der bürokratischen Welt nicht zu existieren. Keine Steuer-ID, keine Sozialversicherungsnummer, keine Geburtsurkunde, keine Ausweispapiere, kein Wohnsitz, kein …“ „Ja, schon gut. Ich bin im Bilde!“, unterbrach ihn Seto rüde. „Jedenfalls“, fuhr Zigfried fort, „habe ich mich dann in das System der Steuerbehörde gehackt und herausgefunden, dass einige Einnahmen der beiden unterm Radar durchgehen. Und da dieser Atemu davon gesprochen hat, dass du etwas von ihm haben wolltest …“ Setos Mobiltelefon klingelte in seiner Tasche und er atmete dankbar auf. Eine Fügung des Schicksals hatte Zigfrieds wohldurchdachten Elevator Pitch unterbrochen. Schnell zog er das klingelnde Gerät hervor, doch noch bevor er auf dem Display nach rechts wischen konnte, fischte es ihm Zigfried aus der Hand und schaltete es aus. Dann fuhr er fort, als wäre nichts geschehen: „Ich habe außerdem mit Leon geredet und erfahren, dass Mokuba ihm erzählt hat, du und dieser Atemu hättet euch nicht ‚auseinandergelebt‘, sondern euch im Streit getrennt.“ „Zigfried, was ist dein Punkt?!“, nun riss dem Chef der KaibaCorp. endgültig der Geduldsfaden und er funkelte seinen Geschäftspartner herausfordernd an. „Mein Punkt ist“, griff Zigfried die Formulierung auf, „du hattest eine Partnerschaft, über die du bisher kein Wort verloren hast.“ „Weil es darüber nichts zu sagen gibt!“, zischte Seto ihm entgegen, „und weil es dich auch nicht das Geringste angeht!“ Der verletzte Ausdruck, der über Zigfrieds Gesicht huschte, entging ihm keineswegs, doch der rosahaarige CEO schien sich schnell wieder zu fangen. „Würdest du mir wenigstens bis zum Ende zuhören? Danke. Also, ich persönlich hätte nicht geglaubt, dass du überhaupt an einer festen Partnerschaft interessiert bist. Aber nun, da ich weiß, dass es eine gab, denke ich, dass dir eine solche Partnerschaft gerade in der aktuellen Situation guttäte. Und mir drängt sich der Eindruck auf, dass du trotz was auch immer zwischen dir und diesem Zwerg passiert ist, du nach wie vor Gefühle für ihn hast. Deshalb – und tut mir leid, wenn ich dir damit zu nahetrete – frage ich mich, ob du ihn nicht kontaktieren und herausfinden solltest, was da zwischen euch noch ist oder sein könnte!“ „Zigfried, das hier geht entschieden zu weit!!“, blaffte Seto ihn jetzt ungehalten an. Wäre ihre Beziehung rein geschäftlicher Natur, hätte er Zigfried nach diesen Äußerungen in hohem Bogen von der Security aus dem Gebäude befördern lassen, „und noch dazu ist es absoluter Blödsinn! Für mich ist diese Sache schon seit Ewigkeiten abgehakt. Und was bildest du dir überhaupt ein, dich auf so anmaßende Weise in mein Privatleben einzumischen?! Ich hätte wirklich mehr Taktgefühl und Benehmen von dir erwartet, Zigfried. Seit wann führst du dich auf wie der letzte Neandertaler?!“ Das melodische Pling des Aufzugs ertönte und die elektrische Tür öffnete sich fast geräuschlos. Sie waren in der obersten Etage angekommen, aber keiner der beiden schien es wahrzunehmen oder Anstalten zu machen, die fahrende Kabine zu verlassen. Stattdessen trat Zigfried einen Schritt auf Seto zu, sodass sich ihre Gesichter fast berührten. Seine Miene war so grimmig und ernsthaft, wie Seto sie noch nie zuvor gesehen hatte. „Ich bin mir durchaus darüber bewusst, dass ich hier meine sozialen Befugnisse überschreite“, sagte er und es war kaum mehr als ein Flüstern, „aber drastische Situationen erfordern manchmal drastische Maßnahmen. Und mir ist es ein dringendes Anliegen, dass du herausfindest, was du für diesen Atemu empfindest. Denn wie ich schon sagte, glaube ich, dass eine Partnerschaft dir guttäte – und ich glaube obendrein, dass ich ein wesentlich besserer Partner für dich wäre als dieser Atemu es jemals sein könnte. Dennoch werde ich keine weiteren Schritte dahingehend unternehmen, wenn du nicht dein vorheriges Beziehungsleben entwirrt und jeden Faden dahin gekappt hast. Denn alles andere wäre unter meiner Würde! Sollte sich also herausstellen, dass du mit diesem Atemu glücklich werden kannst, dann freue ich mich aufrichtig für dich. Aber sollte sich zeigen, dass diese Beziehung toxisch ist und er dich lediglich mit seiner mystischen Art um seinen Finger wickelt, dann kann ich dir nur eindringlich raten, dass du die Sache mit ihm abhakst – und zwar ohne Schlupfloch. Und dass du dir jemanden suchst, der es ernst mit dir meint!“ Mit diesen Worten drehte er sich elegant auf dem Absatz um und verließ mit einem „Und nun zum Geschäftlichen“ den Aufzug in Richtung Setos Büro. Es war einer der wenigen Momente in Setos Karriere, in denen ihm tatsächlich der Mund offenstand. Zigfrieds erschütternde Ehrlichkeit hatte ihm für einige Sekunden die Sprache verschlagen und in seinem Inneren kämpften Ärger und Respekt um die Oberhand. Es kostete schon viel Mut, die eigenen Absichten so offen zu äußern. Wenn es um die Verbalisierung seiner Gefühle ging, konnte sich Seto mit einer solchen Offenheit selbst nicht gerade rühmen. Zigfried schien einen heißen Draht zu sich selbst zu haben und sich über seine eigenen Emotionen ganz genau bewusst zu sein. Vielleicht war dieses dämliche Meditieren doch für irgendwas nütze. ~*~ Eine undefinierbare, nicht aggregierte, dunkle Materie umhüllte fast schmeichlerisch Bakuras linke Hand, während er in seiner rechten eine kleine bauchige Phiole festhielt. Gekonnt ließ er mit der Linken einen kleinen Teil der manifestierten Magie in das Behältnis fließen, verkorkte es dann routiniert und griff sich ein weiteres, um den Vorgang zu wiederholen. Einige dieser Gefäße mit herumwabernder Magie reihten sich bereits auf dem Esstisch der kleinen WG. Atemu saß neben Bakura und füllte Pralinenförmchen zur Hälfte mit Schokolade, die er aus einer Aluminiumkanne goss. Schließlich stellte er die Kanne weg und konzentrierte sich auf den Zauber, der die Pralinen wortwörtlich füllen sollte, bevor sie mit einer weiteren Schicht Schokolade verschlossen wurden. Es war fast ein allabendliches Ritual geworden, dass die beiden so beeinandersaßen und konsumierfreundliche Magie herstellten. Atemu blendete alles um sich herum aus, bis er nur noch die Magie spürte, die er durch sein Milleniumspuzzle in seinem Körper freisetzen und durch ihn in der realen Welt manifestieren konnte. Bakura konnte seine Zauber bereits völlig ohne die Hilfe seines Milleniumsgegenstands wirken, aber Atemu schien noch nicht die Zuversicht zu haben, dass diese Kraft wirklich aus ihm selbst entsprang und der Gegenstand nur als Katalysator diente. Als nächstes musste er sich darauf fokussieren, was seine Kräfte in der Welt bewirken sollten. Doch heute fiel ihm das zusehends schwer. Ständig drängten sich ungewollte Gedanken und Fragen in seinem Inneren auf und störten die intentionale Präzision, die der Zauber voraussetzte. Verärgert und ungeduldig begann er schließlich dennoch, die Magie aus seiner Fingerspitze in die erste Praline fließen zu lassen, als plötzlich sein Handgelenk gepackt wurde und der magische Strom abrupt versiegte. Atemu öffnete überrascht seine Augen. „Willst du deine Kunden vergiften? Was du ds produzierst ist der letzte Schmu!“, herrschte Bakura ihn grimmig an und ließ sein Handgelenk los. Der Pharao senkte zerknirscht den Kopf. „Du hast Recht. Ich bin heute irgendwie unkonzentriert“, gab er zu und schob die Förmchen beiseite. Vermutlich hatte es heute wirklich keinen Zweck mehr, sein Werk zu beenden. „Und warum das?“, fragte Bakura, doch in seinem Ton schwang mit, dass er nicht wirklich erpicht darauf war, die Antwort zu erfahren. Der ehemalige Pharao gab sie ihm dennoch, einfach weil er das Bedürfnis hatte, sich jemandem mitzuteilen und Bakura immer seine erste Anlaufstelle dafür war: „Seto hat mich für morgen um ein Treffen gebeten.“ „Aha“, stellte Bakura frostig fest. „Ich weiß, du wirst nicht begeistert von der Idee sein –“ „Das hast du gut erkannt“, warf Bakura knurrend ein, „– aber so ganz verstehe ich es eigentlich nicht“, beendete Atemu den Satz, „ich meine immerhin warst du doch derjenige, der damals schon nicht über meinen Erinnerungszauber geurteilt hat. Wieso spielst du jetzt plötzlich den Moralapostel?“ „Das stimmt wohl“, entgegnete Bakura, während er eine weitere Phiole füllte und seinen Blick auf ihr geheftet ließ, „aber das heißt ja nicht, dass ich dich dieses Mal nicht davor warnen kann, die dieselbe Falle zu tappen. Du hattest deinen Spaß mit Kaiba, du hast ihn einmal für dich erobert, mithilfe von etwas Magie. Brauchst du das jetzt wirklich noch ein zweites Mal? Verstehst du nicht, dass du nur wieder eine Gelegenheit witterst, ihm nochmal dein Schmetterlingsnetz überzuwerfen und dir zu beweisen, dass du es auch ohne Zauber kannst? Warum sonst bist du ihm hinterhergerannt und hast ihm dieses Amulett gebracht – das ganz nebenbei mir gehört hat.“ „Du meinst, das du aus einem Grab entwendet hast, nachdem es eigentlich jemand anderem gehört hat?“, korrigierte ihn Atemu streng. „Wie auch immer. Das ist doch jetzt völlig unwichtig“, wischte der Dieb den Einwand weg, „jedenfalls ist es doch völlig leicht vorherzusagen, was passieren wird: Kaiba wird sich morgen bei dir bedanken, weil dein kleiner Schutzzauber seinem Bruder geholfen hat. Dann wirst du ihm sagen, dass du dich freuen würdest, wenn ihr in Zukunft wieder friedlich koexistieren könntet. Kaiba wird dich, von deinem Charme und seiner jahrtausendelangen, tiefgreifenden Anziehung zu dir geblendet, zum Essen einladen oder irgendwas in der Art. Und schon geht der Eroberungszug von vorne los.“ „Und wenn es so wäre?!“, wurde Atemu nun lauter, „wieso sollte das denn unbedingt etwas Schlechtes sein? Warum kann aus dem Wunsch, jemanden für sich zu gewinnen, nicht eine stabile Beziehung erwachsen!?“ Bakura stellte nun das Glasgefäß weg, das er soeben zur Hand genommen hatte, und richtete seinen Blick auf den ehemaligen Pharao. Atemu spürte sofort, dass die Atmosphäre im Raum sich abrupt veränderte. Wild und mit unstetem Blick funkelte ihn der Ringgeist an und die Magie, die seine Hand zuvor nur hatte mystisch glimmen lassen, loderte jetzt als dunkle, hungrige Flamme in seiner Handfläche auf. Diese schien von Bakuras Zorn genährt zu werden und schnell zu wachsen. „Weil es zu nichts führt und weil es so viele andere Dinge für dich gibt, die dich der Mensch sein lassen, der du wirklich bist!“, erhob der Grabräuber nun seine Stimme, „und es macht mich so unsagbar wütend, dass du das noch nicht selbst erkannt hast nach all diesen Monaten! Und nach allem, was wir uns aufgebaut haben! Ich kann nicht glauben, dass du das einfach so wegwerfen willst!“ Der ehemalige Pharao hatte seinen Mitbewohner nie so bewegt gesehen. Bakura war sonst stehts gefasst, zynisch, fast gleichgültig. Die jetzige Situation bildete einen krassen Kontrast dazu. Durch seine warmen rotbraunen Augen war nie zuvor so viel von seinem Inneren gedrungen wie in diesem Moment, in dem sich ihre Blicke ineinander verhakten. „Aber das will ich doch gar nicht!“, protestierte Atemu nun, „Ich verstehe nicht, wie du darauf kommst, dass diese Dinge sich gegenseitig ausschließen. Es ist doch nicht so, dass nicht beides einen Platz in meinem Leben haben kann.“ „Doch, genauso ist es!“, widersprach Bakura lautstark, „du kannst nicht tun, was du jetzt tust, und gleichzeitig in Dominos ehrenwerter High Society verkehren. Sei doch nicht so naiv und mach endlich die Augen auf!! Sei ein einziges Mal ehrlich mit dir selbst! Im Grunde ist es dir immer noch wichtig, gesellschaftlich rehabilitiert zu werden. Obwohl ich es absolut nicht verstehe! Ich meine, was erhoffst du dir davon? Was soll am Ende dabei herauskommen?! Willst du dein gesamtes restliches Leben mit Kaiba in einer Villa residieren und la dolce Vita genießen? Wenn du ein solcher Heuchler bist und es die ganze Zeit über das war, was du wolltest, dann kannst du dich auch gleich aus dem Staub machen! Dann sind wir fertig miteinander!“ Nicht nur Bakuras Hand, sondern sein gesamter Körper glomm nun unheilverheißend und eine feindselige, wilde und ungezähmte Magie schlug dem Pharao entgegen, die offenbar von Bakuras aufgewühlten Gefühlen entfesselt worden war. Und vielleicht von etwas anderem. Plötzlich begriff Atemu, wie verwundbar Bakura im Grunde doch war. Und diese Erkenntnis hinderte ihn daran, weiter mit ihm zu streiten. Statt weiter zu widersprechen oder Bakuras Aufforderung nachzukommen tat er das Erste, was ihm in den Sinn kam. Er streckte beide Hände nach seinem Freund aus und schloss sie um dessen Hand, auf der noch immer bedrohlich die dunkle Flamme züngelte. Wie ein Blitzschlag zuckte es durch Atemus Körper, als er mit Bakuras mächtiger Magie in Berührung kam. Unverkennbar nahm er dessen magische Signatur wahr und realisierte gleichzeitig, wie ähnlich seine eigene ihr bereits war, wie sehr sie sich in den letzten Monaten aufeinander eingestimmt hatten. Durch diese magische Verbindung fühlte er jetzt mehr und mehr Nuancen von Bakuras Gefühlswelt. Wie bei einem Wein, der in Mund langsam sein aussagekräftiges Aroma entfaltet. Und trotzdem ließ er nicht los. Durch die lodernde ausschlagende Kraft hindurch umschloss er Bakuras Hand fest mit seinen beiden Händen, bis er durch die dunkle Kulmination dessen warme Haut spüren konnte. Lautlos leckten die Flammen an ihrer beider Hände hinauf und versuchten, sich freizukämpfen. Doch Atemu ließ sich nicht beirren und blieb ruhig sitzen. Mit seinem Daumen strich er über Bakuras Handrücken. Und ganz allmählich verebbte die finsterr Macht, zog sich unter Bakuras Haut zurück, bis schließlich nichts mehr davon sichtbar war. Seine Emotionen schienen sich wieder in sein Innerstes zurückgezogen zu haben. Noch immer hielt Atemu Bakuras Hand, bis dieser sie ihm schließlich abrupt entwand, sich erhob und die Küche verließ. Auf seinem Zimmer trat der ehemalige Grabräuber ans Fenster und brauchte einen Moment, um sich zu sortieren. Er begriff selbst nicht, was eigentlich in ihn gefahren war. Im Grunde war es ihm vollkommen egal, wer sich für ihn interessierte oder sich mit ihm abgab. Er hatte nie jemanden gebraucht und arbeitete gerne allein. Er war es gewohnt, von allen misstrauisch und angewidert beäugt zu werden, und fand sogar Gefallen daran, dass alle ihn fürchteten. Dass ausgerechnet der ehemalige Pharao ein Teil seines Lebens geworden war, war absolut nicht geplant gewesen. Dennoch war es passiert. In seinen verletzlichen, tiefgründigen Augen hatte Bakura plötzlich dieselbe Verlorenheit und Missverstandenheit wahrgenommen, die er selbst sein Leben lang mit sich trug. Er hatte gespürt, dass sie verwandte Seelen waren, weit weg von ihrer Heimat. Und er hatte es mit dem Angebot einer Geschäftspartnerschaft auf einen verrückten Versuch ankommen lassen. Und es hatte funktioniert. Und nun hatte er sich irgendwie an Atemus Anwesenheit gewöhnt. Er hatte Gefallen daran gefunden, dass da jemand war, der ihn nicht abschätzig und furchtsam ansah, sondern wie einen gewöhnlichen Menschen. Dass Atemu ihn betrachtete wie jemanden, der es wert war, sich mit ihm abzugeben, und den man vielleicht sogar gernhaben konnte. Und der Gedanke, dies alles wieder zu verlieren – und somit wieder zu dem menschenunwürdigen, verhassten Wesen zu werden – zerriss ihn innerlich geradezu. Aber am schlimmsten war die Erkenntnis, dass er selbst und das Leben, das sie führten, Atemu offenbar nie würden genügen können. Denn dadurch fühlte er sich wertloser denn je. Er begriff nicht, was dem Pharao in seiner Existenz noch fehlte. Denn Bakura konnte deutlich sehen, dass es ihm seit seiner Trennung von Kaiba bessering und dass er mehr in sich ruhte. Warum wollte er also jetzt plötzlich etwas daran ändern, nur um diesem nichtssagenden Eiswürfel wieder näher zu sein, der Atemu im Grunde gar nicht kannte und ihn auch niemals würde auch nur im Geringsten verstehen können? Bakura widerte es selbst an, dass er solche Gedanken hegte. Er begriff nicht, wie es hatte so weit kommen können, wie er seine Schilde so hatte sinken lassen. Nun bekam er die Quittung dafür und vielleicht hatte er sie verdient. Dennoch musste er sich eingestehen, dass er Angst davor hatte, wieder allein zu sein. Entsetzliche Angst. ~*~ Sie saßen einander im Konferenzsaal der KaibaCorporation gegenüber. An den beiden kurzen Enden des Konferenztisches. Seto und Zigfried. Zwei hochgewachsene Männer in aufrechter Haltung. Bereit zu verhandeln. „Also, was wolltest du mit mir bereden?“, fragte Zigfried. Ihr Gespräch im Aufzug lag bereits einige Tage zurück. Seitdem hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Seto räusperte sich vernehmlich, dann legte er beide Hände flach auf den Tisch vor sich. „Ich habe über deinen Vorschlag nachgedacht“, sagte er schließlich sachlich und kühl, wie bei einer Geschäftsverhandlung, „und du hattest Recht. Ich habe nach wie vor Gefühle für Atemu. Auch wenn ich es mir nicht erklären kann. Je länger ich darüber nachgedacht habe, desto klarer ist mir geworden, dass ich mich bei meinem Besuch in seinem Laden noch immer zu ihm hingezogen gefühlt habe. Und ich muss gestehen, es ist mir mehr als lästig. Aber dennoch kann ich es nicht ändern.“ Zigfried schlug lässig die Beine übereinander. „Tja, willkommen in der Welt der Menschen, Seto. Wir sind nun mal nicht immer rational. Also schön. Verstehe ich das richtig? Haben wir demnach einen Deal?“, fragte er ebenso nüchtern. „Ja“, entgegnete Seto, „den haben wir. Ich kläre diese Angelegenheit ein für alle Mal. Und sollte ich unter die Sache mit Atemu für mich selbst einen Schlussstrich ziehen können, werde ich dich wegen eines Rendezvous kontaktieren.“ „In einem Restaurant, das meiner würdig ist, nehme ich doch an.“ „Korrekt“, bestätigte Seto. „Also gut“, sagte Zigfried, „ich gebe dir exakt einen Monat. Solltest du mir bis dahin keinen Termin für unser erstes Date nennen oder solltest du mir stattdessen mitteilen, dass du in einer erfolgreichen Beziehung mit deinem Ex bist, ist die Sache abgehakt und wir kehren zum Status Quo zurück. Wie klingt das?“ „Unkompliziert und ganz nach meinem Geschmack“, bestätigte Seto, „ziehst du es vor, dass wir einen schriftlichen Vertrag aufsetzen?“ „Nein, schon gut. Dein Wort reicht mir, wenn dir meines ebenfalls reicht.“ Vortrefflich. Das war leichter gewesen als erwartet. da Zigfried erfreulich sachlich an die Dinge heranging und geradeheraus war. Der nächste Schritt bereitete Seto wesentlich mehr Kopfzerbrechen. Und so breitete sich dieses unangenehm ungewisse Gefühl immer weiter in seinem Magen aus, je näher der Tag sich dem Ende neigte. Denn heute nach der Arbeit würde er Atemu treffen. Er hatte ihn selbst um diese Zusammenkunft gebeten und der Pharao hatte eingewilligt. Anfangs hatte Zigfrieds offene Ansprache im Lift Seto wütend gemacht und aufgewühlt. Doch je mehr Zeit ins Land strich, desto mehr hatte ihm imponiert, wie einfach die Dinge für Zigfried waren, weil er sich vollkommen klar über seine Ziele und Gedanken war. Rational betrachtet wusste er, dass er in Zigfried wohl einen zuverlässigen Partner auf Augenhöhe finden würde, sollte er auf seine Avancen eingehen. Und warum sollte er es nicht tun? Es ergab alles erstaunlich viel Sinn. Das Problem bei der Sache hatte Zigfried ebenfalls treffsicher identifiziert: Der einzige Mensch, der ihm emotional bisher den Boden unter den Füßen weggerissen hatte, war der Pharao. Natürlich hatte er es versucht zu ignorieren – was auch sonst – aber Zigfried hatte den Finger in die Wunde gelegt. Diese Gefühle existierten nach wie vor. Nachdem der Kontakt zwischen ihm und Atemu abgerissen und Seto von Abscheu und Enttäuschung gegenüber Atemu eingenommen war, waren sie abgekühlt und er hatte angenommen, sie seien für immer verschwunden. Er hatte sich anderen Dingen gewidmet und sein Leben war weitergegangen. Aus den Augen aus dem Sinn. Aber die Zeit hatte dafür gesorgt, dass mittlerweile all die negativen Gefühle verblasst waren. Und nun, da sie wieder Platz für andere geschaffen hatten, war auch die Anziehung und Faszination für den Pharao zurückgekehrt. Und zwar exakt in dem Moment, als er ihn in diesem ranzigen Loch aufgesucht hatte – und erneut, als der Pharao ihm das Amulett übergeben hatte. Nun versuchte er sich ein Beispiel an Zigfried zu nehmen und zu dem vorzudringen, was er wirklich empfand. Egal, wie unangenehm der Weg dorthin war. Es war, wie wenn man ein Pflaster abzog. Zuerst tat es weh, aber danach stellte sich Erleichterung ein. So fand er schließlich heraus, dass er die Fehler des Pharaos heute anders und sachlicher bewertete als damals. Natürlich hatte er aus niederen, selbstsüchtigen Motiven gehandelt. Aber wer tat das nicht? Und konnte es nicht sein, dass der Pharao trotz allem dieselbe Zuneigung für ihn empfand, die auch Seto empfand? Warum sonst war er noch einmal zurückgekehrt und hatte ihm seine Hilfe in Form des Schutzzaubers angeboten? Ja, wenn er zum Kern der Dinge vordrang, dann wünschte er sich eigentlich, dass er Atemu nach wie vor wichtig war. Und wenn Zigfried die Dinge so deutlich beim Namen nennen konnte, dann konnte er selbst heute auch da hingehen und dasselbe tun. Er war es nicht nur sich selbst schuldig, sondern auch Zigfried, mit dem er einen bindenden Vertrag geschlossen hatte. Mit dieser angenehmen Klarheit in der Brust schritt er schließlich auf die schmale Silhouette zu, die bereits am Ufer der Halma wartete. „Hallo“, sagte er. „Hi“, grüßte Atemu zurück. Kapitel 16: Initiating Backup ----------------------------- 16. Initiating Backup „Wie geht es dir?“, fragte Atemu lächelnd, während er Seto seine volle Aufmerksamkeit schenkte. Wie üblich war sein durchdringender Blick für Seto ebenso unangenehm wie prickelnd. Eine Gänsehaut aus Altvertrautem, lang Vergessenem und unbekannten Möglichkeiten legte sich auf seine Arme. Er beschloss, sich auf die Frage zu konzentrieren und horchte in sich. Dabei stellte er fest, dass ihm eine Antwort nicht gerade leichtfiel. Also entschied er sich stattdessen für eine Information, die mit seinem Befinden zumindest in Verbindung stand: „Ich habe Hoffnung, dass wir Mokubas Entführer endlich stellen können. Die Polizei hat mich heute informiert, dass sie einen konkreten Verdacht und einen Durchsuchungsbeschluss haben. Wenn wir Glück haben, ist es nur noch eine Frage von ein paar Stunden.“ Der Pharao nickte. „Seto, ich freue mich aufrichtig für euch. Ich wünsche euch, dass ihr dieses dunkle Kapitel endlich für euch abschließen könnt. Ihr beide.“ Seto schwieg einen Augenblick lang. Schließlich beschloss er, die Gelegenheit zu ergreifen, um auf den Punkt zu kommen. „Apropos Kapitel abschließen: Sicher fragst du dich, weshalb ich dich heute hergebeten habe.“ Wieder erschien ein verschmitztes Lächeln auf Atemus Zügen, aber es wurde durch einen Hauch von Unsicherheit überschattet. „Ja, ich war neugierig, das gebe ich zu. Nachdem du mich seinerzeit zum Teufel gejagt hast, frage ich mich natürlich, was du jetzt noch von mir wollen könntest. Brauchst du denn nochmal meine Hilfe?“ „Vielleicht. Aber nicht die Hilfe, an die du denkst“, entgegnete Seto seufzend. Er wandte sich zum Fluss um und legte seine Unterarme locker auf das Geländer, sodass er Atemu nicht ansehen musste, während er sagte, was er sagen wollte. „Zum einen wollte ich mich ... bei dir bedanken“, nur widerwillig brachte er die Worte über seine Lippen, „Mokuba geht es sichtlich besser, seit er deinen sogenannten Schutzzauber trägt.“ „Gern geschehen“, sagte Atemu freundlich, „aber da ist doch sicher noch was anderes, oder?“, hakte er dann zaghaft nach. „Ja, da ist noch was. Ich dachte bis vor ein paar Tagen, ich könnte dieses leidige, schambehaftete Kapitel in meinem Leben einfach abhaken und hinter mir lassen. Aber ich schätze, dass einiges nicht mehr so unkompliziert ist wie zuvor, nachdem du mein Leben mit deinem kleinen Zauberkunststück manipuliert hast. Du hast definitiv deine Fingerabdrücke in meinem Verstand hinterlassen, so viel steht fest.“ „Und ist das … etwas Gutes?“, wollte der Pharao nüchtern wissen. „Das wäre es vielleicht, wenn du es auf andere Weise erreicht hättest“, gab Seto zu, „jedenfalls … als ich deinen ramschigen Laden betreten habe, habe ich realisiert, dass es nicht reicht, einfach einen Strich unter die Sache zu ziehen. Ich habe damit das Thema nur beiseitegeschoben. Aber verarbeitet habe ich es nie. Tja, und nun ist alles wieder an der Oberfläche. Und was ich mehr wissen will als alles andere, ist … warum hast du es getan? Wieso wolltest du damals mein Gedächtnis löschen? Du hast mir nie eine Erklärung dafür geliefert.“ „Du hast keine verlangt, sondern mich einfach nur rausgeworfen“, lenkte Atemu sanft ein. „Aber ich verlange sie jetzt! Sag mir, was du damals von mir wolltest!“ Atemu seufzte. Dann lehnte er sich ebenfalls neben Seto über das Geländer, sodass dieser seine Nähe nicht mehr ignorieren konnte. Wie magnetisch angezogen drehte der Firmenbesitzer nun den Kopf und suchte den Blickkontakt mit dem Pharao. „Es ist nicht so leicht zu erklären“, sagte dieser schließlich. „Lass es auf einen Versuch ankommen!“, forderte ihn Seto heraus. Atemu überlegte kurz. „Ich schätze, ich war einfach neugierig“, erklärte er schließlich ernsthaft, „ich wollte wissen, wie der wahre Seto unter der Eisschicht ist. Und ob ich einen Zugang zu ihm finde, wenn der Weg erst mal freigelegt ist.“ „Das, was du kreiert und in dein Spinnennetz gelockt hast, war nicht der wahre Seto“, warf der Größere ein. „Und der Seto, der jetzt vor mir steht?“, wollte Atemu wissen. Nun drehte der Firmenchef sich vollends zu ihm um. „Heute bin ich so nah dran, wie man sein kann, schätze ich.“ Atemu lächelte leicht und bewegte seine Hand auf dem Geländer auf die von Seto zu, bis ihre kleinen Finger sich leicht berührten. „Das freut mich. Und ich würde mir wünschen, dass ich nochmal eine Chance bekomme, diesen Seto kennenzulernen. Ich gebe zu, dass ich nicht geglaubt hätte, dass dies jemals im Bereich des Möglichen liegen könnte. Aber dass du mich um ein Treffen gebeten hast, hat die naive Hoffnung in mir geweckt, dass du dieser Idee gegenüber ebenfalls nicht abgeneigt bist.“ Er versuchte, den Gesichtsausdruck des Größeren zu lesen, aber vergeblich. „Das bin ich nicht“, sagte dieser schließlich ohne Umschweife, „es ist schon verrückt: Es muss nur genügend Zeit vergehen, dann treten Handlungen manchmal hinter dem Menschen zurück, der sie ausgeführt hat. Alles relativiert sich. Ist das auch ein Schutzmechanismus des Gehirns? Oder ist das einer von deinen Zaubertricks?“ Nun musste Atemu leise kichern. „Vielleicht sollten wir es rausfinden. Hast du denn Hunger?“ „Eigentlich nicht, aber ich schätze, die Konvention verlangt es, dass ich ‚ja‘ sage und mit dir etwas essen gehe, sofern ich nicht will, dass du sofort wieder abhaust.“ „Dann ist die Sache also beschlossen“, grinste der Pharao. Drei Stunden später fanden sie sich im letzten Glimmen der Abenddämmerung an derselben Stelle am Ufer wieder. Mit dem Unterschied, dass sie nun wussten, was im Leben des jeweils anderen vorging. Dieses Wissen hatte viele Mysterien entzaubert, aber der Zauber des lauen Sommerabends schaffte es, diese Tatsache geschickt zu übertünchen. „Wie sieht es aus?“, fragte Atemu leise, „war das der Schlussstrich, den du gebraucht hast?" Eine kühle Brise segelte über sie hinweg und eine Gruppe schwatzender Jugendlicher streunte vorbei. Seto antwortete erst, als ihre Stimmen verhallt waren. „Nein, ich denke nicht“, sagte er. „Tut mir leid“, entgegnete Atemu. „Aber ich“, fuhr Seto fort, „glaube immer weniger, dass das, was ich brauche … oder will, ein Schlussstrich ist.“ Der Pharao sah ihn unverwandt an. Seto wollte nicht, dass er damit aufhörte. Ihre Gesichter näherten sich einander an, kaum merklich. Als der letzte orangene Schimmer auf dem Wasser erlosch, vereinten sich zwei Silhouetten zu einem innigen Kuss. Und da war nichts mehr außer diesem überwältigenden Gefühl und dem Glimmen von Atemus violettem Augen. ~*~ Widerwillig nahm Seto den Hörer ab, als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. „Ja, Nabuki, was gibt’s denn?“ „Zigfried von Schroeder wartet hier im Vorzimmer, Mr. Kaiba“, informierte ihn sein Sekretär, „er möchte mit Ihnen sprechen. Soll ich ihn reinlassen?“ Seto seufzte. Eigentlich hatte er noch einige wichtige Mails zu schreiben, doch das konnte er wohl knicken. Wenn Zigfried sich bei ihm ankündigte, ließ er sich so schnell nicht wieder abfertigen. „Ja, schon gut, lassen Sie ihn rein“, brummte er in den Hörer. Es dauerte keine Minute, bis sich die Tür zu seinem Büro schwungvoll öffnete und ein völlig ausgeruhter und Lebensfreude versprühender Zigfried eintrat. Gekleidet war er heute in Tannengrün mit einer sonnengelben Schleife.“ Einen wunderschönen guten Tag, mein lieber Seto!“, grüßte er fröhlich, zog sich dynamisch einen Stuhl an Setos Schreibtisch heran und ließ sich elegant darauf nieder. „Hallo … schätze ich?“, sagte Seto, „was verschafft mir heute die Ehre?“ „Seto, Seto, Seto“, Zigfried hob tadelnd einen Zeigefinger, „weißt du denn gar nicht, was für ein Tag heute ist?“ „Doch“, gab der Besitzer der KaibaCorp. zu, „heute ist der erste Prozesstag gegen Mokubas Entführer. Das heißt, dass die Sache bald ein Ende nimmt – und mit meinen guten Verbindungen zur Polizei und zur Staatsanwaltschaft bin ich mir sicher, dass keiner der Typen davonkommen wird!“, erklärte er mit grimmiger Genugtuung. „Korrekt“, stimmte ihm Zigfried zu, „aber das war nicht die Antwort, die ich im Sinn hatte.“ „Nicht?“, Seto sah ihn verwirrt an. Dann plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Zigfried seufzte und stützte das Kinn in seine Handfläche. „Dachte ich es mir doch, dass du es vergessen hast“, gestand er lächelnd, „nun ja, da ich keine losen Enden mag, sollten wir die Sache trotzdem ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Darf ich demnach davon ausgehen, dass unsere Abmachung von vor einem Monat zu meinen Ungunsten ausgegangen ist?“ Ein wenig betroffen sah Seto ihn an, aber nach außen hin musste es wohl vielmehr gleichgültig wirken. „Zigfried, das hat nichts mit dir zu tun. Das musst du mir glauben. Es ist vielmehr so, dass …“ Wie sollte er seinem stilbewussten Freund das erklären? Es war ja nicht so, dass er sich aktiv gegen Zigfried entschieden hatte. Tatsächlich konnte er sich durchaus vorstellen, eine Partnerschaft mit Zigfried einzugehen und zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass diese Gefühle besser oder gar gesünder für ihn waren als alles, was er jemals Atemu gegenüber hätte empfinden können. Und trotzdem war das, was er für den ehemaligen Pharao fühlte, schlichtweg so viel stärker. So stark, dass es keinen Platz für etwas anderes ließ. Überwältigend. So viel älter und fester verankert. Ja, so einnehmend, dass er Zigfried und ihre Abmachung vollkommen verdrängt hatte. „Schon gut, du musst mir nichts erklären“, sagte Zigfried und erhob sich gefasst, „ich weiß ganz genau, wenn ich verloren habe, und das letzte, was ich bin, ist ein schlechter Verlierer. Ich trete in Würde ab.“ „Ich hoffe, diese Sache steht nicht zwischen uns?“, fragte Seto skeptisch. „Keine Sorge“, sagte Zigfried, während er zur Tür trat, „ich halte mich an unsere Abmachung. Alles bleibt ganz genau so wie bisher.“ Und wie Zigfried es sagte, hatte Seto nicht den geringsten Zweifel daran. Mit einem flüchtigen Winken und einem Augenzwinkern verließ Zigfried Setos Büro mit denselben beschwingten Schritten, mit denen er gekommen war. ~*~ Zigfried von Schroeder rümpfte die Nase, als er den kleinen Laden betrat, und achtete penibel darauf, nicht auch nur das Geringste zu berühren. Der junge Mann mit dem fahlen Gesicht, der ihm die Tür geöffnet hatte, obwohl das Schild daran bereit auf „geschlossen“ gedreht gewesen war, beachtete seine Allüren nicht im Geringsten. Unbeeindruckt führte er ihn in ein verdunkeltes Hinterzimmer. „Hier können wir also ungestört sprechen?“, erkundigte sich Zigfried in geschäftlichem Tonfall. „Ja, davon gehe ich aus“, entgegnete der Weißhaarige Verkäufer. „Sie sind also Bakura, nehme ich an?“, fragte Zigfried weiter. „Wie er leibt und lebt“, der Mund des Ringgeists verzog sich zu einem schäbigen Grinsen. „Verstehe. Interessantes Styling. Verwegen. Unverkennbar. Das muss ich zugeben“, verlieh der Besitzer der Schroeder-Corp. seinen Gedanken Ausdruck. „Hören Sie, ich hab nicht ewig Zeit, also wenn Sie zur Sache kommen könnten“, Bakura lehnte sich lässig gegen einen hohen Turm aus Kisten, die an der Wand standen. „was genau wollen Sie von mir?“ Offenbar handelte es sich bei dem Raum um eine Art Lager, jedoch standen auch einige okkulte Gegenstände herum, wie eine Skeletthand oder eine Kugel, deren Oberfläche sich mit jeder Sekunde leicht zu verändern schien. An der Wand hing eine schwarze Kutte, die sich leicht wie in einer sanften Brise zu bewegen schien und die Zigfried beim Eintreten einen kleinen Schrecken versetzt hatte und ihm auch jetzt noch einen eiskalten Schauer den Rücken hinunterjagte. An Atmosphäre fehlte es diesem kleinen Laden nicht, das musste er neidlos anerkennen. Eine ausgezeichnete Geschäftsidee. „Nun ja, ich bin ein guter Freund von Seto Kaiba“, beschloss er, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Bakuras Augen leuchteten kurz auf, als ihn scheinbar eine Erkenntnis traf. „Aha, so ist das. Wie gut?“, fragte er lauernd. „Gut genug, dass ich mir einige Sorgen um ihn mache“, antwortete Zigfried wenig konkret. „Verstehe“, grübelte der Ringgeist, „wenn ich einen Schuss ins Blaue wagen dürfte, würde ich demnach vermuten, Sie sind hergekommen, um etwas von mir zu kaufen. Vielleicht … etwas, das dafür sorgt, dass Sie Kaiba nicht mehr teilen müssen?“ Zigfried musterte ihn interessiert. Schließlich sagte er. „Interessanter Gedanke. Aber Sie liegen vollkommen falsch. Ich weiß durchaus, mit was Sie hier hinter verschlossenen Türen handeln. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich sie heute aufsuche. Ich habe kein Interesse daran, die Leben der Menschen in meinem Umfeld auf solche Weise zu manipulieren. Derartiges ist so ganz und gar nicht mein Stil.“ „So?“ Nun zeigte Bakura sich ehrlich überrascht. Fast glaubte Zigfried, eine Spur von Enttäuschung in seinen Zügen zu erkennen. „Aber was könnten Sie dann von mir wollen?“ „Nun, um ehrlich zu sein … ich interessiere mich dafür, was für ein Mensch dieser Atemu ist, mit dem Seto in den letzten Wochen so viel Zeit verbringt. Ich hatte gehofft, Sie könnten etwas Licht für mich ins Dunkel bringen.“ Eine Art Schleier legte sich jetzt über die Züge des zwielichtigen Händlers. Als er Zigfried wieder ansah, war die Härte aus seinem Gesicht gewichen. „Atemu ist … schwer in Worte zu fassen. Aber … wer ihn Teil seines Lebens nennen darf, kann sich sehr glücklich schätzen“, sagte er schließlich überraschend bestimmt. Nun war es Zigfried, der Bakura interessiert beäugte. „Ich verstehe“, sagte er schließlich, „dann wünsche ich mir für uns beide, dass sich die Dinge wie durch ein Wunder regeln. Andernfalls …“ Er brachte den Gedanken nicht zu Ende, sondern drehte sich auf dem Absatz um und verließ den düsteren Raum. Für einige Augenblicke war lediglich das leise Klackern seiner Absätze und schließlich die Glocke über der Ladentür zu vernehmen. Dann war Bakura wieder alleine. Nun war es also soweit. Die Dinge kehrten wieder zu dem zurück, wie sie sein sollten. Wie sie immer schon gewesen waren. Seit er seine Familie und alles, was ihm lieb und teuer war durch die Erschaffung der Milleniumsgegenstände verloren hatte, hatte er lernen müssen, dass er zu den Menschen gehörte, mit denen es das Leben nie gut meinte. Es war ein höheres Prinzip, das er nie durchbrechen konnte. Er hätte es wissen müssen. Alles, was ihm jemals gehört hatte, hatte er sich unrechtmäßig nehmen müssen. Und daran würde sich auch in dieser Zeit nichts ändern. So war nun mal der Lauf der Dinge. ~*~ „Gehst du schon wieder?“, fragte Bakura, als Atemu zerstreut seine Geldbörse und Schlüssel zusammensammelte. „Ja, tut mir leid. Ich bin in ein paar Stunden wieder da.“ „Mhmh“, entgegnete der Ringgeist gleichgültig, „was ist mit deinen Bestellungen für morgen?“ „Arg … vergessen. Könntest du du die vielleicht nochmal für mich mit übernehmen, Bakura? Nur heute?“ „Aha. Du meinst so wie gestern und vorgestern? Klar doch, was auch sonst“, erwiderte Bakura mit hochgezogener Braue. „Danke, du bist der Beste!“, lächelte der Pharao und ignorierte den Sarkasmus des Diebes geflissentlich, „also dann, ich bin spät dran! Bis spä … oh, was machst du da?“ Der Pharao stockte und blickte dem Ringgeist neugierig über die Schulter, „ist das etwa … ein Erinnerungszauber?“ Interessiert beobachtete er Bakura dabei, wie er konzentriert eine einzige schwarze Tablette mit seiner Magie präparierte. „Ganz recht. Der erste, den ich seit damals wirke. Ich bin wohl etwas eingerostet. Jedenfalls ist es schon mein dritter Versuch, aber diesmal scheint es geklappt zu haben.“ „Aber warum nur die eine?“, wollte Atemu wissen und deutete auf die einsame Pille. „Ach das … die Bedürfnisse des Anwenders sind sehr spezifisch. Deshalb wird es ein schwacher Zauber, der lediglich sehr aktuelle Erinnerungen löschen soll.“ „Verstehe“, nickte Atemu, „wie weit zurück etwa?“ Bakura wiegte ab, „Hm … etwa einen Monat, vielleicht etwas länger.“ „Sehr spannend. Du hast mir nie gezeigt, wie man diese Art von Magie herstellt“, warf Atemu ein. „Sie steht ja auch auf deiner persönlichen Banlist“, grinste der Ringgeist, „aber wenn es dich interessiert, können wir eine weitere zur Probe herstellen.“ Atemu schien mit sich zu hadern. „Jetzt gleich? Weißt du, ich bin eigentlich mit Seto verabredet …“ „Das musst du wissen“, Bakura zuckte gleichgültig mit den Schultern und wandte sich wieder der Tablette zu. „Ach, was solls. Also schön, ich rufe ihn an und sage ihm, dass ich heute nicht mehr vorbeikomme. Ich bin ohnehin viel zu spät dran“, entschied der Pharao schließlich, „warte ganz kurz, okay?“ „Alles klar, ich koche uns derweil einen Tee“, sagte Bakura. „Super!“, Atemu lächelte ihm zu und huschte dann rasch aus der Tür. Der Ringgeist erhob sich behäbig und stellte Teewasser auf. Hinter der Tür hörte er Atemus gedämpfte Stimme. Offenbar telefonierte er mit Kaiba. Als der Teekessel lautstark die erfolgreiche Verrichtung seiner Aufgabe verkündete, nahm Bakura das Wasser vom Herd und goss in zwei Tassen einige Teeblätter damit auf. Nachdem er den Kessel zurück auf den Herd gestellt hatte, wandte er sich wieder zum Esstisch um, wo noch immer die einsame Tablette lag. Er nahm sie mit Zeigefinger und Daumen auf, trug sie hinüber zur Küchenzeile und ließ sie dann mit einem geschickten Fingerschnipsen in eine der beiden Teetassen hüpfen. Sie zischte leise und das Wasser verfärbte sich in ein tiefes Schwarzviolett. Doch mit einem einzigen Pusten auf die Oberfläche des Teewassers ließ der Ringgeist die Flüssigkeit wieder zu ihrer vorherigen, leichtgrünen Erscheinung zurückkehren. In diesem Augenblick betrat Atemu beschwingt das Zimmer. „Also dann“, sagte er, „ich bin soweit! Ich bin schon echt gespannt!“ Bakura stellte ihm die Teetasse hin und nahm dann einen tiefen Schluck aus seiner eigenen. „Das bin ich auch“, entgegnete er verheißungsvoll. Atemu ließ sich auf der anderen Seite des Esstischs nieder und beugte sich leicht zu ihm vor. Gleichzeitig griff er nach seiner Teetasse und hob sie an. „Wie beginnen wir?“, fragte er. „Zuerst“, sagte Bakura und mit einer flüchtigen Bewegung seiner Hand flackerte die Lampe über ihren Köpfen und erlosch schließlich bis auf ein leichtes Glimmen. Mit einem mal war es düster im Raum. Schließlich griff der Ringgeist zu einem Feuerzeug, das auf dem Tisch lag, und entzündete eine Kerze, die er in die er zwischen ihn und Atemu stellte. Der Pharao lachte auf. „Du bist einfach unverbesserlich. Keine Magie ohne die richtige Atmosphäre.“ Bakuras rehbraune Augen glommen im Halbdunkel. „Tja, was soll ich sagen.“ Atemu hob jetzt die Tasse an seine Lippen, zögerte aber, weil sie noch immer stark dampfte. „Ist schon länger her, dass wir hier so zusammengesessen haben, oder?“, fragte er, statt zu trinken. „Das kann durchaus sein“, sagte der Ringgeist vage. Für einen Augenblick herrschte Schweigen. „Tut mir leid“, sagte Atemu mit gedämpfter Stimme, „ich weiß, in den letzten Tagen war ich viel unterwegs. Aber das wird nicht immer so bleiben, ich versprechs.“ Ihre Blicke fanden einander. Atemu nahm eine Hand von der Tasse und legte sie auf Bakuras Unterarm. Eine angenehme Wärme strömte in Bakuras Körper. Schließlich hob der ehemalige Herrscher mit der rechten Hand das Getränk erneut zum Mund. „Nicht“, sagte Bakura. Und plötzlich löste sich die Tasse aus Atemus Hand, bevor er einen Schluck nehmen konnte. Sie schwebte zur Tischmitte hin, wo sie unvermittelt zerbarst und Tee sich auf die Holzfläche ergoss, zuerst durchscheinend, dann schwarzviolett. Eine feine Staubschicht aus Magie wirbelte in die Luft und Bakura wusste, dass Atemu sie ebenso deutlich wahrnehmen konnte wie er selbst. Sie sahen sich an. Lange. Und Atemu schien zu ergründen, was geschehen war, schien Bakuras Innerstes nach außen zu drehen. Keiner von beiden sagte ein Wort. Irgendwo weit entfernt klingelte Atemus Mobiltelefon. Und Bakura wollte nicht, dass das Licht wieder anging. Wollte nichts von dem, was nach diesem Augenblick geschah. Wollte nicht die Worte hören, die als nächstes Atemus Lippen verlassen würden. Aber er konnte und wollte nichts ungeschehen machen. Egal, wie es endete. Egal was. *~ENDE~* Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)