Reboot von MizunaStardust ================================================================================ Kapitel 5: System Overload -------------------------- 5. System Overload Als Atemu an einem Nachmittag einige Tage später nach der Arbeit die Kaibavilla betrat, trat ihm Mokuba mit ernster Miene entgegen. Sofort nahm Atemu wahr, wie gedrückt der jüngere Kaiba wirkte. „Was ist los?“, fragte der Pharao zaghaft, „ich dachte, es würde dich sicher freuen, dass dein Bruder eine erste Erinnerung zurückgewonnen hat.“ Irritiert legte er den Kopf schief. „Das tut es auch!“, beteuerte Mokuba schnell, „Ehrlich! Ich war so unglaublich erleichtert, dass Setos Erinnerungen überhaupt noch da sind. Ich hatte schon befürchtet, sie wären vielleicht für immer verloren.“ „Wieso ziehst du dann ein Gesicht wie zehn Jahre Dürre?“ „Es ist wegen Seto“, Mokuba senkte den Blick und friemelte nervös an seinen Fingernägeln herum, „seit diese Erinnerung zurückkam, fühlt er sich nicht sonderlich wohl. Dieser Moment scheint irgendwas in ihm ausgelöst zu haben. Er kommt kaum aus seinem Zimmer und hängt den ganzen Tag nur trübsinnig seinen Gedanken nach. Wenn ich ihn danach frage, was ihn genau bedrückt, kann er es mir nicht richtig erklären. Ich mache mir große Sorgen.“ „Geht er deshalb nicht an sein Telefon?“, erkundigte sich der Pharao, dem nun ein Licht aufging. Seit gestern versuchte er vergeblich , den Firmeninhaber auf seinem Smartphone zu erreichen. Deshalb war er nach der Arbeit unangekündigt hergekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Mokuba deutete seufzend auf ein Vertigo im Esszimmer, auf dem das Mobiltelefon seines Bruders lag. „Er hat es nicht mal bei sich. Vermutlich ist sogar der Akku leer.“ „Verstehe“, Atemu nickte, „denkst du, es würde helfen, wenn ich mal mit ihm spreche?“ „Schaden kann es auf keinen Fall“, nahm Mokuba das Angebot dankend an, „vorausgesetzt, er lässt sich aus seinem Zimmer locken. Ich sage ihm Bescheid, dass du da bist.“ Wenige Minuten später trat Seto ins Wohnzimmer. Er sah erschöpft aus und unter seinen Augen zeichneten sich tiefe Furchen ab. Als er Atemus Anwesenheit wahrnahm, wich er dessen Blick aus, der sanft und sorgenvoll auf ihm ruhte. „Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet hab“, murmelte der CEO, nachdem er sich neben dem Pharao auf dem Sofa nieder- und Mokuba die beiden alleingelassen hatte, „ich habe mich nicht so besonders gefühlt in den letzten Tagen.“ „Mach dir keine Gedanken darüber“, entgegnete Atemu und wandte sich ihm zu, um ihm besser ins Gesicht sehen zu können, „willst du denn überhaupt darüber sprechen? Falls nicht, ist das absolut okay. Dann komme ich ein andermal wieder.“ „Das ist es ja nicht“, Seto gab ein schweres Seufzen von sich und in seinen müden, blauen Augen flackerte Schuld und Unbehagen auf, „ich weiß nur einfach nicht, was ich dir sagen soll. Ich verstehe ja selbst nicht so richtig, wie ich mich im Moment fühle.“ „Vielleicht kann ich dir dabei helfen, es in Worte zu fassen?“, schlug der Pharao behutsam vor. „Versuchen kannst du es natürlich“, entgegnete er höflich. Atemu verspürte den Wunsch, seine Hand auf Setos zu legen, um ihm mehr Sicherheit zu geben. Aber er spürte, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war und er im Augenblick damit eine gegenteilige Wirkung erzielt hätte. Er wollte um jeden Preis vermeiden, dass Seto vollkommen dichtmachte. Im Augenblick schien dieser zumindest gewillt zu sein, seine Sorgen ihm gegenüber zu artikulieren. „Ich denke, vielleicht war der Ausgang unseres letzten Treffens etwas viel auf einmal für dich?“, tastete sich Atemu vorsichtig an das Thema heran, „die Erinnerung und … dass wir uns so nahgekommen sind?“ Seto schwieg einen Augenblick lang. „Ja, das könnte man schon so stehenlassen“, gestand er schließlich leise, „als ich zu Hause war und alles revuepassieren lassen habe, da habe ich mich plötzlich verunsichert gefühlt. Wie im freien Fall. Ich meine, ich habe nicht die geringste Ahnung, wer ich vorher war und wer du vorher warst und wie wir normalerweise zueinanderstehen. Und dann diese Erinnerung. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Bevor sie da war, war es alles irgendwie okay, aufgeräumter. Die ganze Situation. Ich wusste zwar nicht, was in den letzten Jahren passiert ist, aber gerade deshalb war da auch nichts, das mich verwirrt hat. Aber seit diese ganzen Emotionen von damals wieder zurückgekommen sind, ist alles durcheinandergewirbelt. Es ist, als …“ „Als wäre ein Dominostein angestoßen worden und tausende andere fielen mit ihm?“ Seto blickte überrascht zu Atemu auf. „Ja. Woher weißt du das?“, fragte er verblüfft. Atemu schloss kurz die Augen und ließ sich ein wenig Zeit, seine Worte sorgsam zu wählen. Schließlich atmete er hörbar aus und sagte: „Als mein Geist damals im Milleniumspuzzle wiedererwacht ist, habe ich mich anfangs wenig dafür interessiert, wer ich eigentlich bin oder warum ich hier bin. Diese Zeit habe ich irgendwie als einfach empfunden. Ich habe überhaupt wenig nachgedacht und einfach nur im Affekt gehandelt. Aber nach und nach wurden Yugi aus verschiedenen Quellen Informationen über mich zugetragen. So habe ich dann erfahren, wer ich vor 3000 Jahren war. Und nachdem ich auch das zuerst einmal nur so hingenommen habe, konnte ich den Drang irgendwann nicht mehr ignorieren, mich selbst besser kennenlernen zu wollen. Und herauszufinden, warum ich der bin, der ich heute bin. Dann bin ich mit Téa ins Museum gegangen, habe Ishizu getroffen und hatte Visionen einzelner Schlaglichter aus meiner Vergangenheit. Ab da wurde es richtig schlimm. So wie bei dir jetzt.“ „Verstehe“, sagte Seto, „jetzt denke ich, ich hätte früher mit dir darüber sprechen sollen. Ich hatte vergessen, dass du Ähnliches durchgemacht hast. Weißt du, es fühlt sich an, wie ein einzelnes Puzzleteil mit vielen Andockpunkten an allen Seiten, das einfach niemand vervollständigen kann. Und jede dieser offenen Sollbruchstellen schmerzt und brennt unaufhörlich. Vor dieser einen Erinnerung war mir nicht so sehr bewusst, dass da etwas fehlt. Aber jetzt, wo sie da ist, merke ich erst, wie leer es drumherum ist. Falls das irgendwie für dich einen Sinn ergibt.“ Er warf dem Pharao nun einen fast flehenden Blick zu. Atemu nickte bedächtig. „Ich wusste nicht, wie ich mich dir gegenüber verhalten soll, deshalb habe ich mich nicht gemeldet“, gestand Seto schließlich kleinlaut, „irgendwie gehörst du auch zu diesen Unbekannten in meinem Leben. Ich weiß nicht so richtig, was ich mit den Gefühlen anfangen soll, die ich für dich entwickle, weil ich … da sind momentan zu viele Emotionen, die ich nicht einordnen kann und die irgendwie nicht zu mir gehören. Bei unserem letzten Treffen hat mich das alles ziemlich überrannt und ich schätze ich war einfach überfordert.“ Atemu biss sich auf die Unterlippe, während er Setos Worten lauschte und es ihn mehr und mehr schmerzte, ihn so zu sehen. „Bitte entschuldige. Ich hätte nachdenken sollen, bevor ich so vorschnell gehandelt habe. Ich wollte dich auf keinen Fall mit irgendwas unter Druck setzen. Ich hoffe, du weißt, dass ich nichts von dir erwarte und du dich zu nichts verpflichtet fühlen musst.“ „Danke“, sagte Seto unbehaglich, „mir wäre es tatsächlich lieber, wenn wir uns erst mal nicht mehr sehen. Ich dachte, die Treffen mit dir könnten mir dabei helfen, herauszufinden, wer ich bin. Aber jetzt habe ich den Eindruck, ich kann meine Gefühle dir gegenüber ebenfalls nicht beurteilen, wenn ich mich selbst so schlecht kenne. Und in dieser Situation so kopflos in etwas zu rennen wäre wohl auch dir gegenüber nicht fair. Das würde alles nur schlimmer machen.“ „Verstehe“, sagte Atemu und versuchte, es wirklich verständnisvoll klingen zu lassen, obwohl er innerlich kalt wurde und eine große Enttäuschung über ihn hinwegschwappte, „natürlich. Wenn du das möchtest, werden wir vorerst auf Abstand gehen.“ Als er die Kaibavilla verließ, fuhr ein frostiger Wind unter seinen Mantel. Insgeheim hatte er ja sehr genau gewusst, dass die Sache sich nicht so einfach fügen würde, wie er es sich erhofft hatte. Aber dennoch fühlte er sich vor den Kopf gestoßen. Während er selbst sich getragen und leicht gefühlt hatte von der Euphorie dieses vertrauten Moments, hatte dieser Seto scheinbar innerlich ins Chaos gestürzt. Mit unglücklichem Ausdruck blickte Mokuba der zierlichen Gestalt des Pharaos aus dem Fenster nach, als sie sich zögerlich vom Anwesen entfernte. Nach diesen ersten Treffen mit ihm hatte sein Bruder so ausgeglichen und entspannt gewirkt, fast ausgelassen. Mokuba hatte den Eindruck gewonnen, dass diese Zeit ihm sichtlich gutgetan hatte. Nun war diese Seifenblase ganz plötzlich geplatzt und auf dem ganzen Haus schien eine bedrückte Stimmung zu lasten. ~*~ „Und es ist wirklich in Ordnung für dich, wenn Atemu auch herkommt?“, fragte Mokuba seinen Bruder nun schon zum dritten Mal. „Wie schon gesagt: Natürlich ist das okay. Er gehört immerhin auch zu deinen Freunden. Und zu meinen.“ Bereits den ganzen Tag wuselte Mokuba im Haus herum. Offenbar war er sehr nervös wegen der anstehenden Silvesterparty, die er am heutigen Abend veranstaltete. Mokuba war ein Macher und ließ sich ungerne Dinge abnehmen. Deshalb hatte er außer einem Catering keinerlei Hilfe für die Planung in Anspruch genommen. Während er jetzt abstaubte und Sekt kaltstellte, lief auf dem Fernsehschirm im Wohnzimmer in gedämpftem Ton der DuelMonsters-Kanal. Gerade stellten sie dort ein Ranking mächtiger Kartenkombos vor. Seto konnte nur darüber staunen, wie stark sich das Spiel in den letzten Jahren weiterentwickelt hatte. Mit einigen Karten in seinem aktuellen Deck konnte er kaum etwas anfangen. Während der letzten vier Wochen war keine einzige Erinnerung mehr zu ihm zurückgekehrt und inzwischen hatte sich auch der starke Sturm gelegt, den diese erste in ihm ausgelöst hatte. Die Verzweiflung und der Selbstverlust, den er gefühlt hatte, waren einer dumpfen Unzufriedenheit mit seiner gesamten Situation gewichen. Der Alltag hatte ihn eingeholt und neue Aufgaben seine Aufmerksamkeit beansprucht. Immerhin konnte seine Firma nicht ewig führungslos bleiben und so hatte er sich viele Selbstverständlichkeiten vollkommen neu aneignen müssen. Seto dachte oft am Atemu. An ihre inspirierenden Gespräche, an sein mysteriöses und doch vertrauenswürdiges Lächeln. An seine warme Haut und die sanften Lippen, die bei ihrem Kuss tausende sprühender Funken durch seinen Körper geschickt hatten. Ja, er vermisste seine Gesellschaft. Aber nun, da er ihn weggeschickt hatte, wusste er nicht, wie er den Kontakt wiederaufnehmen sollte. Und ob er das überhaupt wollte. Etwas auf dem Fernsehbildschirm zog unvermittelt seine Aufmerksamkeit auf sich. Gerade stellten sie dort fünf Karten vor, die jeweils ein Körperteil desselben Monsters zeigten. „Exodia – selten, aber heutzutage im Spiel kaum noch effektiv“, erklärte die Moderatorin dazu. „Exodia“, formte Seto das Wort mit seinen Lippen nach, „das kommt mir … irgendwie vertraut vor.“ Fünf Minuten später stürmte er in die Küche, wo Mokuba gerade Cocktailgläser bereitstellte und Crushed Ice in einen Behälter füllte. „Exodia!“, keuchte Seto atemlos, „es ist mir wieder eingefallen! Atemu hat mich damals mit Exodia geschlagen! Und danach hat er – ich weiß, es klingt absolut verrückt, aber – er hat meine Seele in tausend Teile zersplittert.“ Mokuba wandte sich langsam zu ihm um. Entgegen Setos Erwartung erklärte er ihn nicht etwa für offiziell verrückt wegen dem, was er soeben geäußert hatte. „Du hast dich also daran erinnert“, stellte er lediglich fest. „Ja, ich schätze schon. Ich erinnere mich“, wurde es Seto selbst erst richtig bewusst. „Seto, weißt du: Atemu hat das nicht aus böser Absicht getan. Er wollte dir …“ „… mir helfen, auf den richtigen Weg zurückzufinden. Ja, ich weiß doch.“ Für einen Augenblick schwiegen sie. „Und?“, wollte der ältere Kaiba schließlich wissen. „Was und?“ „Na, hat es denn funktioniert?“, fragte Seto schließlich mit einer nativen Hoffnung in seinem Ton. Mokuba wirkte nachdenklich und schien seine nächsten Worte sorgfältig abzuwägen. „Naja, ich schätze, ganz so einfach ist es dann doch nicht. Man kann Menschen nicht vollkommen neu zusammensetzen, auch wenn Atemu sicherlich etwas in dir in Bewegung gesetzt hat. Aber niemand kann sich vollkommen freimachen von dem, was ihn geprägt hat.“ „Also nicht“, murmelte Seto enttäuscht, „Mokuba, ich verstehe es einfach nicht. Wieso wollte ich keinen Kontakt zu Atemu, bevor ich mein Gedächtnis verloren habe? Wieso musste er überhaupt meine Seele zersplittern? Wie konnte es soweit kommen? Was für ein Mensch war ich vorher? Bitte, erzähl mir davon. Ich muss es einfach wissen!“ Unschlüssig blickte Mokuba ihn an und ließ sich schließlich ächzend auf einem Küchenstuhl nieder. „Bist du dir da denn sicher? Das könnte nicht gerade angenehm werden“, begann er schließlich. „Egal. Ich bin mir sicher“, entgegnete Seto entschieden, „ich bin bereit dafür. Also lass nichts aus.“ So berichtete Mokuba seinem Bruder nun zögerlich davon, wie dieser den Weißen Drachen von Yugis Großvater zerrissen und Atemu zum Duell gezwungen hatte, wie er, von Missgunst und Ehrgeiz zerfressen, den Pharao immer und immer wieder herausgefordert hatte. Wie dieser sich trotz allem im Kampf gegen Pegasus oder Dartz auch für Seto eingesetzt und ihm geholfen hatte. Und wie wenig ihm Seto diese Hilfe je gedankt hatte. Wie er stets alle seine Freundschaftsangebote ausgeschlagen und ihm die kalte Schulter gezeigt hatte. „Verstehe“, sagte Seto am Ende von Mokubas Bericht tonlos, „und obwohl ich mich an all das nicht erinnere, habe ich ihn nun schon wieder weggestoßen. Er muss sich schrecklich fühlen.“ „So ganz kann man das ja nun nicht vergleichen“, wandte der Jüngere ein. „Vielleicht nicht“, seufzte Seto, „aber das Ergebnis bleibt dasselbe. Ich verstehe einfach nicht, wie ich zu einem solchen Menschen werden konnte. Mokuba. Ich denke, wenn ich das höre, dann – dann will ich meine Erinnerungen gar nicht zurück!“ „Seto“, Mokuba sah etwas hilflos zu seinem Bruder auf, „Bitte sag sowas nicht. Du warst nie ein schlechter Mensch. Und zu mir warst du immer … anders. Irgendwie echt. Ich hatte dich zu jeder Zeit gern. Und ich denke, das trifft auf Atemu ebenfalls zu.“ Seto schwieg. Schließlich fragte er leise. „Denkst du denn, Atemu würde nach alldem noch Zeit mit mir verbringen wollen?“ Nun grinste ihn der jüngere breit an. „Da bin ich mir ziemlich sicher!“ ~*~ Das gesamte Kaiba-Anwesen erhellte förmlich die kalte Silvesternacht, als Atemu, Joey, Tristan, Yugi, Téa, Duke und Ryou zusammen mit Mokubas Freunden aus der Schule dort eintrafen. Denn überall in den Bäumen und Sträuchern, über dem Eingang und an der Brüstung, die die Terrasse umrandete, waren warmweiße Lichterketten angebracht. „Wow, Kaiba hat sicherlich einen höheren Stromverbrauch als ganz Domino City zusammen“, kommentierte Tristan diesen Ausnahmezustand amüsiert. „Die Credits hierfür gegen komplett an Mokuba“, erklärte Seto ihm, als er der Gruppe die Tür öffnete, „außerdem produzieren wir unseren eigenen Strom mit Photovoltaik auf dem Dach.“ „Vielen herzlichen Dank für die Einladung!“, sagte Téa, die sehr adrett aussah in einem enganliegenden nachtblauen Paillettenkleid und mit hochgesteckten Haaren. „Gerne, aber wie schon gesagt: Das alles geht auf Mokubas Kappe“, lächelte Seto freundlich. „Urg“, Joey umfasste seine Oberarme, als friere er, während er ins Haus stiefelte „da krieg ich ne waschechte Gänsehaut. Einem lächelnden Kaiba will ich ja nicht mal in der Geisterbahn begegnen! Das ist einfach nur falsch!“ „Entschuldige ihn bitte“, schmunzelte Yugi, „sehr schön habt ihr es hier!“ „Schon gut, ich hätte mein früheres Ich auch nicht gemocht“, seufzte Seto und sein Blick schweifte automatisch zu Atemu, der gerade eintrat und sich angeregt mit Duke Devlin unterhielt. Über einer schwarzen Hose trug der Pharao ein weinrotes Shirt aus leicht glänzendem Stoff unter einer schwarzen Jeansjacke. Seinen Hals zierte ein schöner, graziler Ankh-Anhänger. „Danke für die Einladung, Mokuba!“, sagte er höflich, „hallo Seto.“ Im Wohnzimmer war ein Büffet mit allerlei Salaten und Fingerfood aufgebaut. Es gab Toshikoshi-Soba und andere traditionelle Gerichte in handlichen Schälchen sowie einige moderne oder westliche Spezialitäten. Der Abend war kurzweilig und zum ersten Mal in seinem Leben unterhielt Seto sich mit Tristan über Automechanik, mit Duke übers Geschäft und mit Téa über ihr neues Leben in New York. Später wurde die Stimmung ausgelassener und Téa zog einen hochroten Yugi auf die Beine und auf einen freien Platz, den bereits einige von Mokubas jüngeren Freunden zur Tanzfläche umfunktioniert hatten. Zu vorgerückter Stunde trat Seto schließlich zu Joey, wobei dieser vor Schreck und Überforderung den Faden seiner soeben begonnenen Anekdote verlor und erstarrte. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass wir uns in der Vergangenheit … vielleicht etwas auf dem falschen Fuß erwischt haben“, begann Seto und Tristan und Duke kicherten hinter vorgehaltener Hand ob diesem starken Euphemismus. „Ich dachte“, fuhr Seto fort, unbeeindruckt von der Stille, die sich inzwischen über die Gruppe gelegt hatte, „vielleicht fangen wir einfach nochmal neu an, so zum Jahreswechsel. Das wäre doch eine gute Gelegenheit. Na, was denkst du?“ „Ich denke … dass ich jetzt eine Gänsehaut habe und irgendwie das Gefühl nicht loswerde, dass du mich auslachst, wenn ich dein Angebot jetzt annehme.“ Seto schwieg geflissentlich zu dieser Bemerkung und sah Joey lediglich weiterhin mit erwartungsvollem Blick entgegen. „Also –“, fuhr dieser fort, „hach, was solls! Wie kann ich dir das abschlagen. Dein neues Ich gefällt mir echt nicht schlecht, Alter. Das muss ich zugeben. Und eigentlich ist es auch zu verlockend, damit zu prahlen, mit Seto Kaiba befreundet zu sein.“ Er grinste zu seinem ehemaligen Erzrivalen hinüber und hielt ihm schließlich auffordernd die Hand hin, um mit ihm einzuschlagen. „Das letzte war natürlich nur ein Witz“, grinste er und seine braunen Augen blitzten. Seto schlug ein und der gesamte Raum brach in begeisterten Applaus und Johlen aus. Später hatte Mokuba Bleigießen organisiert und Joey, Tristan und Duke verbrachten einen Großteil des Abends damit, die erkalteten Bleigebilde der jeweils anderen auf besonders kreative und sadistische Art und Weise zu deuten. „Ey, Yugi! Tristan hört nicht auf zu sagen, dass mein Bleiklumpen die Form vom Sensenmann hat!“, beschwerte sich Joey empört. „Und du behauptest, meiner wäre eine Vier!“ „Leute!“, mischte sich Téa in den Zwist ein, „könnt ihr nicht mal was Positiveres in eure Vorhersagen für das kommende Jahr deuten? Wir sind doch hier nicht beim – oh, Joeys Klumpen sieht wirklich aus wie der Sensenmann. Tatsache.“ „Ist aber etwas deformiert. Könnte also auch Slenderman sein“, überlegte Duke. „Heyyy! Fallt ihr mir etwa auch noch in den Rücken?!“, entrüstete sich Joey lautstark. So verging die Zeit zum magischen Countdown geradezu im Flug. Atemu schien ein anregendes Gespräch mehr zu schätzen als das ausgelassene Feiern, und es schien ihm wenig auszumachen, wenn er ab und zu für sich war. Da sein Palast geräumig gewesen war und man einander dort gut aus dem Weg hatte gehen können, empfand er so viele Menschen auf engem Raum mehr als gewöhnungsbedürftig. Dass rings um ihn herum Leute standen, die einander zuprosteten, laut auflachten oder Herzlichkeiten austauschten, fand er eher alarmierend als warmherzig. Deshalb hatte er sich um kurz nach 12 etwas von den Jubelrufen und euphorischen Beglückwünschungen zum neuen Jahr zurückgezogen und hielt sich alleine auf der ausladenden Terrasse auf, die ebenfalls ringsum von Lichtern gesäumt wurde. Auf den darauf befindlichen Gartentischen waren geschmackvoll Kerzen platziert worden. Er musste nicht hinsehen, als sich die Tür, die er nur angelehnt hatte, ein zweites Mal öffnete. Er wusste auch so, dass Seto zu ihm getreten war. „Wusstest du“, sagte der Pharao sanft, „dass in meiner Kultur das neue Jahr im Sommer begann? Ich glaube, ich werde mich nie richtig daran gewöhnen, dass es hier so kalt ist bei einer Neujahrsfeier.“ „Tja, ich schätze, du hast dir den falschen Kontitent ausgesucht, um wiederzuerwachen?“, scherzte Seto, „Atemu, bist du böse auf mich?“, wollte er dann vorsichtig wissen. „Nein, überhaupt nicht.“ Nun wandte der Pharao sich zu ihm um und sein warmer Blick schien Seto förmlich aufzufangen. Langsam, aber entschieden schüttelte er den Kopf, „ich wollte lediglich dir die Entscheidung überlassen, ob du heute Zeit mit mir verbringen möchtest. Ich weiß ja, dass die Einladung von Mokuba kam und ich wollte dir meine Gesellschaft nicht aufdrängen. Deshalb habe ich etwas Abstand gehalten.“ „Es ist Mokubas Feier, das stimmt. Aber ich freue mich sehr, dass du hier bist. Ich … muss gestehen, du hast mir gefehlt in den letzten Wochen. Und ich habe meine vorschnelle Entscheidung mittlerweile sehr bereut.“ Nun musterte Atemu ihn aufmerksam. „Aber wieso denn das? Ich konnte wirklich gut nachvollziehen, wie du dich gefühlt hast.“ „Ich war in dem Moment einfach überfordert mit allem. Aber ich kann in meinem Leben ja auch nicht einfach den Pauseknopf drücken, bis meine Erinnerungen zurückkommen. Und auch wenn das schneller als erwartet passieren sollte – vielleicht ist das Ganze eine gute Gelegenheit, unter mein bisheriges Leben einen klaren Strich zu ziehen und ein paar Dinge zu ändern. Einen Reboot zu wagen, sozusagen. Ja, vielleicht ist es sogar genau die Chance, die ich vorher nie gehabt hätte. Was ich damit eigentlich nur sagen will – egal ob mit oder ohne Erinnerungen: Ich fände es schön, wenn du ein Teil dieses neuen Lebens wärst.“ Bei Setos Worten spürte Atemu, wie eine Anspannung von ihm abfiel. Er war jemand, dem es nur sehr schwerfiel, anderen zu zeigen, wenn ihn etwas bewegte. Nicht immer trug er sein Herz auf der Zunge. Doch es beeindruckte ihn zutiefst, wie Seto die Karten vor ihm so offenlegte. Einen so persönlichen und aufrichtigen Monolog hätte nie den Mund des alten Seto Kaiba verlassen. Langsam schritt er auf den Firmeninhaber zu, während sich ein glückliches Lächeln auf seine Lippen legte. „Wenn du das so sagst, dann lasse ich das gerne so stehen. Ich kann dir zwar nicht versprechen, dass ich dieses neue Leben gegenüber dem vorherigen bereichern kann, aber ich kann es zumindest versuchen.“ „Und wenn nicht, kann ich es ohnehin nicht beurteilen. Ich habe ja nicht den Vergleich“, schmunzelte Seto. Schließlich fügte er leiser hinzu: „ein glückliches neues Jahr, Atemu.“ „Das wünsche ich dir ebenfalls, Seto.“ Sie waren einander nun so nah, dass Atemu Setos ganz eigenen, unaufdringlichen und irgendwie aufgeräumten Geruch wahrnahm. Wie von selbst fanden sich jetzt ihre Hände. Schließlich legte Seto einen Arm um den ehemaligen Pharao und dieser ließ sich in die vertraute Geste fallen. So standen sie da und waren ganz für sich, während von drinnen fröhliche Stimmen zu ihnen drangen. Ihrer beider Atem war als Nebel in der Luft sichtbar, aber von innen heraus fühlte Atemu sich angenehm warm. Er dachte nicht daran, was das neue Jahr bringen würde, sondern blieb ganz im Moment verhaftet und ließ sich von der verklärten Schönheit des verträumten Lichtermeers einhüllen. ~*~ „Sie sehen sehr glücklich aus“, sagte Yugi zu Ryou, dessen Blick daraufhin dem Kleineren nach draußen folgte, wo zwei Silhouetten friedlich aneinandergeschmiegt dastanden und in sich zu ruhen scheinen. „Ja“, nickte Ryou, „vielleicht hätten wir ihm nicht so sehr ins Gewissen reden sollen. Vielleicht hat ihm das alles ja tatsächlich geholfen.“ Yugi blieb skeptisch. „Ich wünsche es ihm sehr. Und noch sieht es aus, als würde nichts zwischen ihnen stehen. Aber ich fürchte, spätestens wenn Kaiba alles erfährt, wird es ein böses Erwachen geben.“ „Ich hoffe, du irrst dich“, sagte Ryou leise. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)