Advanced Attraction von Varlet ================================================================================ Kapitel 9: Gebrochenes Herz --------------------------- Jodie spürte, das sich einiges verändert hatte. Seitdem sie nach London gekommen war, lernte sie das Leben auf eine andere Art und Weise kennen. Eine Art und Weise die sie vorher nicht kannte. Das erste Mal musste sie für sich selbst sorgen – auch wenn sie den Rückhalt ihrer Familie hatte und wusste, dass ihre Eltern ihr aushelfen würden. Um Liam nicht zu verlieren, war sie sogar in eine eigene Wohnung gezogen und hatte sich mit den Nachbarn getroffen. Immer wenn sie sich einsam fühlte und ihr Freund in den Vorlesungen oder in der Arbeit war, unternahm sie oftmals etwas mit Elena und den anderen. Dennoch konnte sie nicht aufhören an ihn zu denken und sich zu fragen, ob sie sich ihr Leben so vorstellte. Zwar hatte Jodie gemerkt, dass auch Liam immer häufiger an eine Veränderung dachte, aber sie wollte ihn nicht zu früh dazu drängen. Sie hatte gewusst, dass es derzeit nicht allzu gut bei ihnen lief und gingen sie die nächsten Schritte zu schnell an, konnte es übel enden. Nach ihrem ersten richtigen Streit fühlte sich Jodie schlecht. Der Zorn und die Wut die sie verspürte und die sie von Liam wahrnahm, gaben ihr den Rest. Sie konnte nicht mehr aufhören zu weinen und war froh, als sie sich wieder vertrugen. Nicht nur Liam, auch sie gab sich mehr Mühe in der Beziehung und langsam hatte sie wieder das Gefühl, dass es besser wurde. Sie waren auf einem guten Weg. Um ihren Alltagsproblemen zu entfliehen, hatte sie Elenas Idee angenommen und einen Wochenendtrip nach Oxford gebucht. Jetzt musste sie nur Liam damit überraschen. Als Jodie die Boutique betrat, wunderte sie sich, dass ihr Freund nicht hinter dem Kassentisch saß. Da er allerdings auch einer anderen Tätigkeit nachgehen konnte, entschied sie sich zu warten und sah sich die Kleidungsstücke an. Selbst als sie Minuten später die ersten Stöhn-Geräusche hörte, brachte sie diese mit der Arbeit – und dem Schleppen von Kisten oder ähnlichem – in Verbindung. Doch je lauter und intensiver es wurde und auch noch eine zweite Stimme dazu kam, desto mehr überkam sie ein mulmiges Gefühl. Ihre Beine bewegten sich automatisch in Richtung der Umkleidekabinen. Ihr Herz schlug schneller. Einerseits wollte sie sich davon überzeugen, dass es nicht Liam war, andererseits wollte sie vor dem Wissen weglaufen. Jodie zitterte wie Espenlaub und traute sich nicht, sich bemerkbar zu machen. Sie presste die Lippen aufeinander und verbot sich die Tränen. Es gab noch einen kleinen Hauch einer Chance, dass es nicht Liam war. Vielleicht hatte sie sich vertan und er arbeitete heute gar nicht oder er hatte spontan mit einem Kollegen die Schicht getauscht. „Das…das darf nicht wieder passieren…“ „Mhm? Warum nicht?“, fragte die Frau. „Dir gefällt es doch auch“, hörte Jodie. „Ich…ich habe…eine Freundin…“ Sie erkannte Liams Stimme. „Das hat dich sonst auch nicht gestört“, entgegnete sie. „Na gut, wie du willst.“ Liam trat aus der Umkleidekabine. Als er Jodie sah, weiteten sich seine Augen. Sie starrte ihn schockiert an. Ihr Herz brach. Nun gab es keinen Zweifel mehr. „Jo…Jodie…“ Liam machte einen Schritt nach vorne. „Jodie…“ Nein…nein…nein… schrie sie in Gedanken. Das durfte nicht die Wahrheit sein. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Das hat dich sonst auch nicht gestört, hörte sie die fremde Stimme in ihrem Kopf. Es war also nicht das erste Mal, dass Liam mit einer anderen Frau intim wurde. Jodie wich nach hinten. Sie schüttelte den Kopf, versuchte all ihre Gedanken zu verdrängen, aber das Geschehene drängte sich immer wieder in den Vordergrund. Die junge Frau drehte sich um und lief aus dem Laden. Sie wollte nur noch weg, sich verkriechen und nicht mehr daran denken. Ihr Herz fühlte sich schwer an, es war gebrochen und Jodie kam sich im nächsten Augenblick albern vor. Hatte sie sich all die Zeit etwas vorgemacht? Hatte er sie die ganze Zeit betrogen? War das der Grund warum sie sich eine eigene Wohnung suchen sollte? Hätte sie möglicherweise nicht nach London kommen sollen? Als sie außer Atem war, blieb sie stehen und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Doch im nächsten Augenblick war ihr Gesicht wieder tränenüberflutet. Sie schluchzte und sank nach unten. Instinktiv umarmte sie sich selbst und achtete nicht auf die Menschen, die an ihr vorbei liefen. Einige starrten sie an, andere ignorierten sie. Aber einer war nicht dabei: Liam. Langsam blickte Jodie nach hinten. Er war ihr nicht nachgelaufen. Jodie schrie. Sie konnte nicht anders und brauchte ein Ventil um ihre Emotionen raus zu lassen. Trotzdem fühlte sie sich nicht besser. „Brauchen Sie Hilfe?“ Jodie sah auf. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich in der Öffentlichkeit befand und die Aufmerksamkeit auf sich zog. Die junge Frau schüttelte den Kopf, ehe sie mit zittrigen Beinen aufstand und wieder los lief. Als sie am Wohnblock ankam, versuchte sie die Tür zum Untergeschoss aufzureißen. Jodie zerrte daran, ehe sie realisierte, dass sie noch gar nicht aufgeschlossen hatte. Sie konnte kaum klar denken und lehnte ihren Kopf kurz gegen die Tür. Mit zittrigen Händen zog Jodie den Schlüssel aus ihrer Handtasche und steckte ihn in das Schloss. Ihre Sicht war verschwommen, aber das war im Augenblick egal. Jodie hatte den Schlüssel noch nicht umgedreht, da versuchte sie wieder die Tür aufzuziehen. Jodie zog, zerrte, drückte, schluchzte, zerrte erneut und irgendwann drehte sie auch den Schlüssel um, sodass die Tür aufging. Sie betrat das Erdgeschoss und ließ die Tür hinter sich zufallen. Sie drehte sich zur Seite und schlug mit der flachen Hand gegen die Wand, ließ ihren Tränen erneut freien Lauf und schrie. Danach ließ sie sich auf den Boden sinken und hämmerte mit der Faust gegen die Wand. Jodie ließ alles raus, was sie in jenem Moment fühlte. Sie fluchte und betitelte Liam mit allen möglichen Schimpfwörtern die sie kannte. Als sie dann das Schließen eines Schlosses hörte, wandte sie sich zu den Briefkästen. Als wäre nichts gewesen, sah Shuichi seine Post durch. Er blickte zu Jodie. „Ich hätte nicht gedacht, dass du so viele Schimpfwörter kennst.“ Mit einem Mal schämte sie sich und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Lass mich…in Ruhe“, schluchzte sie. Jodie stand langsam auf und ging zur Treppe. Sie bewegte sich langsam nach oben. Als sie in ihrer Etage ankam, fühlte sich Jodie wie gerädert und als wäre sie bereits Stunden unterwegs. Erschöpft steckte sie den Schlüssel – dessen Schlüsselbund sie die ganze Zeit in der Hand hielt – in das Türschloss und verharrte in dieser Position. „Scheiße“, wisperte die junge Frau. „Scheiße.“ „Kein guter Tag, was?“ Jodie zuckte zusammen. „Lass mich…in Ruhe…“, wiederholte sie. Shuichi, der mittlerweile ebenfalls auf ihrer Etage angekommen war, beobachtete sie einen Augenblick. Eigentlich wollte er einfach weiter gehen, entschied sich aber, dass das Trauerspiel ein Ende haben musste. Er ging zu ihr und legte seine Hand auf ihre, dann schob er den Schlüssel ordentlich ins Schloss, drehte zweimal um und öffnete ihre Wohnungstür. Jodie sagte nichts. Sie zog den Schlüssel langsam raus und betrat ihre Wohnung. Nur langsam schlüpfte sie aus ihren Schuhen, ließ die Handtasche auf den Boden fallen und ging ins Wohnzimmer. Sie sah sich um, wurde aber direkt von den Erinnerungen an Liam übermahnt. Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Jodie ließ sich auf das Sofa fallen und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sie schluchzte und weinte. Akai wusste, dass es das Beste wäre, die Tür einfach zuzuziehen und zu gehen, als wäre nichts passiert. Stattdessen seufzte er und ging rein. Er zog seine Schuhe aus und folgte dem Weinen. Mehrere Minuten lang beobachtete er seine Nachbarin. „Soll ich dir einen Tee kochen?“ „Nein.“ „Kaffee?“ „Nein.“ „Willst du Süßigkeiten? Schokolade? Eis?“ „Nein“, keifte Jodie. „Geh…weg…“ Und dann realisierte sie erst, dass ihr der Japaner in die Wohnung gefolgt war. Jodie sah nach oben und wischte sich das Gesicht abermals trocken. „Was…was machst…wie bist du…?“ „Du standest aufgelöst vor deiner Wohnungstür und bist einfach reingegangen, ohne die Tür zu schließen. Eigentlich wollte ich dich alleine lassen, aber deiner Reaktion nach zu urteilen, könnte es sein, dass du etwas tust, was du bereust.“ „Aha…“ „Im Erdgeschoss hast du ziemlich geflucht, deswegen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass etwas Vorgefallen sein muss.“ „Glückwunsch, Sherlock“, gab Jodie von sich. „Lass mich bitte alleine…ich…“, sie sah auf den Boden. Akai zuckte mit den Schultern. „Wie du willst. Ich dränge mich nicht auf.“ Er drehte sich um und ging zum Flur. „Du solltest mit Elena darüber reden. Sie kann dir sicher dabei helfen, das Ende deiner Beziehung zu betrauern.“ Jodie blickte ihn schockiert an. „Woher…?“ „Woher ich das weiß?“, wollte Akai wissen. „Ich beobachte die Menschen in meiner Umgebung sehr genau. Bei euch war mir von Anfang an klar, dass es nicht mehr lange geht. Man hat ihm angemerkt, dass er mit deiner Selbstständigkeit nicht klar kam, auch wenn es sein eigener Vorschlag war.“ Elenas Anwesenheit in dem Wohnkomplex war Fluch und Segen zugleich. Sie erfuhr nicht nur viel, manchmal erzählte sie auch gewisse Dinge weiter, besonders dann wenn sie sich Sorgen machte. „Wir…wir haben nicht Schluss gemacht“, wisperte Jodie leise und starrte den Boden an. „Mhm?“ Hatte er sich wirklich getäuscht? Akai verengte die Augen. „Er hat…er hat mich betrogen.“ „Oh.“ „Was hab…ich denn falsch gemacht?“, schluchzte Jodie. „Ich bin…wegen ihm nach London gezogen und…als er wollte, dass wir getrennt…wohnen, habe ich das auch gemacht. Ich hab mir…Arbeit gesucht und ich…verbringe meine Freizeit nicht nur mit ihm. Ich klebe nicht wie eine Klette an ihm…ich hab doch alles getan…was er wollte…also warum? Warum tut…er mir das an?“ Shuichi mochte Liam seit ihrer ersten Begegnung nicht. Irgendwas störte ihn an dem jungen Mann und bei jeder Begegnung mit ihm, war er genervt. Liam hatte zu großen Einfluss auf Jodie. Was er sagte, tat sie. Er stieß sie immer weiter von sich, aber dennoch suchte Jodie die Schuld bei sich. „Was hat er dir darauf geantwortet?“ Jodie schüttelte den Kopf. „Er hat…es mir nicht gesagt. Ich war in der Boutique, wo er arbeitet. Ich hab die Beiden gehört und als…er aus der Kabine kam…dann bin ich weggelaufen und…“ …und er ist dir nicht hinterher, dachte der Japaner. Jodie war jung und er wollte nicht zu harsch klingen, vor allem weil er nicht wusste, ob sie ihm nicht doch noch eine zweite Chance geben wollte. „Auch wenn es kitschig klingt, aber die Zeit heilt alle Wunden. Und wenn er dir so viel bedeutet, solltest du überlegen, ob du ihm verzeihen kannst.“ „Ich weiß es nicht“, wisperte Jodie leise. Sie schloss die Augen. „Es war…wohl nicht das erste Mal…und ich…weiß nicht, wie lange es ging. Außer ihm hab ich hier…doch sonst keinen…was soll ich denn machen? Ich weiß…nicht einmal, was ich mit…meinem Leben anfangen soll…das ist nicht fair…was soll ich denn machen?“ Sie vergrub ihr Gesicht erneut in ihren Händen. Akai seufzte leise auf. „Herrgott nochmal, hör auf dich über einen Mann zu definieren. Du bist wegen ihm nach London gekommen und jetzt? Du sagst, du hast hier niemanden? Was ist mit Elena? Ist sie nicht mittlerweile eine Freundin von dir? Außerdem bist du nicht die Einzige, die in ein fremdes Land zieht und neu anfängt und du bist auch nicht der einzige Mensch bei dem es schief geht. Willst du Liam ewig als Ausrede vorschieben, um aufzuzeigen, wie schief dein Leben lief? Du bist kein kleines Kind mehr!“ Seine Worte trafen sie, aber er hatte auch recht. Irgendwie. Sie sah wieder auf. „Wenn du mich fragst, hast du jetzt drei Optionen. Entweder du entscheidest dich ihm zu verzeihen und ihm eine zweite Chance zu geben, aber mecker dann nicht rum, wenn es wieder schief geht. Du beendest die Beziehung und zeigst ihm, dass du hier auch ganz gut ohne ihn klar kommst. Oder du fliegst wieder nach Hause zu Mommy und Daddy. Denk darüber nach.“ Ihre Optionen zu hören, machte ihr irgendwie Mut. Und trotzdem wusste sie nicht, was sie tun sollte. Liebte Liam sie überhaupt noch? Und konnte sie ihm verzeihen oder würde diese Affäre auf ewig als schwarzer Schatten über ihnen liegen? „Ich…“, murmelte sie. „Ich weiß…nicht…ich will ihn nicht sehen…jetzt nicht…aber…“ Akai nickte verstehend. „Keiner hat gesagt, dass du dich sofort entscheiden musst. Aber egal was du auch tust, du solltest endlich damit anfangen dein Leben zu leben. Überleg dir, was du in der Zukunft machen willst und warte nicht darauf, dass dir irgendwer die Entscheidung abnimmt. Du sagst, du weißt nicht, was du tun sollst. Wie wäre es, wenn du alle deine Optionen prüfst. Und nicht immer darauf wartest, dass dir die anderen sagen, was gut für dich ist.“ „Wie?“ Der Student beobachtete sie. War sie tatsächlich so blauäugig nach London gekommen? „Hast du mal aufgeschrieben, für was du dich interessierst und welche Studiengänge oder Jobs für dich interessant wären?“ „Nein…glaub nicht…“ „Dann solltest du das langsam mal machen. Du wirst nicht ewig von deinem Gehalt in der Buchhandlung leben können. Du bist eine erwachsene Frau und in einigen Jahren, vielleicht sogar in einigen Monaten, wirst du nicht mehr mit Samthandschuhen angefasst werden. Mach erst einmal die Liste und am besten ohne zu viel zu überlegen und danach sehen wir weiter.“ Shuichi blickte sie an. „Und melde dich bei Elena. Im Vergleich zu mir, weiß sie wie man jemanden tröstet“, fügte er hinzu und ging. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)