Abyss von lunalinn ================================================================================ Kapitel 16: Burden ------------------ Hawks kann sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal dermaßen wütend gewesen ist. Auf Enji. Auf Mina. Auf sich selbst. Auf seine Mutter, die an seinem Arm hängt und irgendetwas vor sich hin murmelt, das er gar nicht verstehen will. Er ist innerlich so geladen, dass er sie am liebsten anschreien würde. Zwar weiß er selbst, dass das nichts bringt, aber er hat das Gefühl, dass er platzen wird, wenn er seinem Ärger nicht irgendwie Luft machen kann. Doch er reißt sich weiterhin zusammen und setzt sie auf dem Bett ab, wo sie sich zusammenrollt und die Augen schließt. Hoffentlich bleibt sie dort liegen und schläft still ihren Rausch aus, bis sie einigermaßen klar ist. Was eigentlich nur bedeutet, dass sie für ein paar Stunden ausnüchtert, nach Hause findet und dort wieder trinkt. Sie wird sich vor den Fernseher setzen und die Welt um sich herum ausblenden. Hawks fragt sich, wann sie wohl das letzte Mal etwas gegessen hat, denn sie ist schon wieder dünner geworden. Er hasst es, dass es ihm auffällt. Schließlich hat sie auch nie darauf geachtet, ob er genug zu essen bekommt. Er fühlt wieder die Wut in sich, doch anstatt etwas Unüberlegtes zu tun, nimmt er die Decke und zieht sie ihr bis unter das Kinn. Er ist ein besserer Mensch. Das muss er sich nur oft genug sagen. Dass er besser ist als seine Eltern und dass die beiden krank sind. Still bleibt er auf dem Bett sitzen und sieht zu seiner Mutter herunter, die dort liegt und schnaufend atmet. Wie oft hat er das als Kind erlebt? Es lässt ihn nicht so kalt, wie er es gern hätte, sodass sich ein Kloß in seinem Hals bildet. Alles in ihm schreit danach, aus dieser Situation zu flüchten. Er weiß jedoch, dass er das nicht kann. Schon gar nicht, wenn Mina und Enji draußen stehen, um ihn mit Fragen zu löchern, warum da eine betrunkene Frau in der Wohnung gelegen hat. Vielleicht ahnen sie schon, dass sie seine Mutter ist. Hawks schließt für einen Moment die Augen, versucht, sich innerlich zu beruhigen, doch es fällt ihm schwer. Das ist genau das, was er immer vermeiden wollte. Nun hat er keine Wahl mehr. Er kann das nicht so stehen lassen. Eigentlich kann er Enji nicht mal böse sein, schließlich hat er sich ja wirklich nicht mehr gemeldet, was in ihrer aktuellen Situation sicher einen komischen Eindruck hinterlassen hat. Wie Schluss machen, ohne richtigen Schlussstrich. Gut, Hawks hätte so etwas nicht getan, ohne darüber zu reden, aber vermutlich hat Enji deswegen Mina mit ins Boot geholt und als sie ihn ebenfalls nicht erreicht hat…ja, verdammt, er versteht die Beweggründe. Das heißt aber nicht, dass es das besser macht. Er fährt sich mit den Händen durch das Gesicht, atmet tief durch, während er überlegt, wie er das gleich am besten erklären kann. Lügen wird ihn nicht weiterbringen. Dieses Mal nicht. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen. Das Schlimmste daran ist, dass er nicht sagen kann, wie es danach weitergehen soll. Hawks sieht wieder zu seiner Mutter, die anscheinend endlich tief und fest schläft – und heute hoffentlich nicht mehr aufsteht. Unter keinen Umständen soll sie auch nur ein Wort mit einem der beiden reden. Hawks steht langsam auf, denn er befürchtet, dass er hier schon zu lange sitzt und sich versteckt. Wenigstens sind sie ihm nicht gefolgt. Er stellt noch den Papierkorb neben das Bett, falls sie sich übergeben sollte, und schaltet dann das Licht aus, ehe er sein Zimmer verlässt und die Tür schließt. Kurz verweilt er dort, ehe er in Richtung Wohnzimmer geht – wo er direkt auf Enjis breiten Rücken schaut. „…was tust du da?“, fragt er verwirrt, woraufhin sich der Hüne mit finsterem Blick zu ihm umdreht, während er weiter auf dem Boden kniet. „Die Scherben aufsammeln.“ Er hebt das türkisfarbene Kehrset hoch, sodass er es sehen kann. Die pinken Scherben leuchten auf dem Plastik noch mehr als ohnehin schon. Minas Geschmack ist auffällig. Apropos… „Wo ist Mina?“ Enji wendet ihm wieder den Rücken zu und fährt fort, die Scherben aufzufegen. „Hat sich von ihrem Freund abholen lassen. Ich soll dir sagen, dass zwischen euch alles gut ist und sie immer für dich da ist.“ Ja. Das klingt nach Mina. Sie ist nicht der Typ, der jemandem etwas nachträgt. Vermutlich macht sie sich auch jetzt noch einfach nur Sorgen um ihn, anstatt mit Vorwürfen zu kommen. Nun, ist das gut oder schlecht, dass er es jetzt nur noch mit Enji zu tun hat? Er weiß es nicht. „Du musst das nicht machen“, meint er ernst. „Ich weiß.“ „Lass es einfach liegen. Ich fege das gleich auf.“ Dass Enji nicht reagiert, sondern weiterfegt, weckt wieder die Wut in ihm – auch wenn es lächerlich ist. Es sind nur Scherben. Er will nur helfen. Dennoch…keiner hat ihn darum gebeten. „Enji! Lass die Scheiße einfach liegen, verdammt!“, zischt er und es tut so gut, etwas Dampf abzulassen. Der Ältere fegt die letzten Scherben auf und erhebt sich dann, wobei seine türkisfarbenen Augen so ruhig sind, dass es ihn gleich noch zorniger macht. Er möchte ihn anschreien und rauswerfen. Weil er das weder tun sollte, noch tun kann, ballt er die Hände zu seinen Seiten zu Fäusten und funkelt ihn böse an. „Sonst was?“ Hat er nicht gesagt. Hat er gerade wirklich…Hawks merkt, wie seine Beherrschung langsam flöten geht. Will er ihn provozieren? Bevor er weiß, was er darauf erwidern soll, holt er aus und schlägt ihm das bescheuerte Kehrset aus der Hand. Scheinbar hat Enji nicht damit gerechnet, denn er sieht ihn nur perplex an, während sich die Scherben wieder auf dem Laminat verteilen. Den Schmerz, der durch seinen rechten Unterarm pulsiert, ignoriert Hawks dabei. „Ich habe dir gesagt, du sollst es liegen lassen“, wiederholt er sich mit kalter Wut. Da blitzt etwas in Enjis Blick auf, das Hawks schon einmal gesehen hat. Er weiß, dass sich der andere nur schwer zurückhalten kann, wenn er zornig ist. Hawks ertappt sich bei dem Gedanken, dass er sich fast schon wünscht, dass er handgreiflich wird . Auch wenn das das Ende wäre. Dann wäre einfach Schluss und er müsste nichts erzählen. Er weiß gerade nicht, wofür er sich mehr schämt; für seine Eltern oder die eigene Feigheit. „Hawks“, hört er den anderen gezwungen beherrscht sagen. „Du beruhigst dich jetzt, bevor wir beide etwas tun, das wir bereuen.“ „Und was wäre das?“, erwidert er herausfordernd. Seine ganzen aufgestauten Gefühle sind nur schwer zu bändigen. Er weiß, wie falsch es ist, sie an Enji auszulassen. Leider ist niemand sonst da – seine Mutter zählt nicht. Er bleibt vor Enji stehen, weicht seinem wütenden Blick nicht aus, sondern wartet. Er nimmt sehr wohl wahr, wie der Hüne vor ihm mühsam ein- und ausatmet. Seine Zündschnur ist kurz. Anstatt ihn jedoch am Kragen zu packen, atmet er ein weiteres Mal tief aus, ehe er sich einfach umdreht. Nicht das, womit Hawks gerechnet hat. „Krieg dich in den Griff“, hört er ihn sagen und spannt sich an. „Dann reden wir. Oder auch nicht. Ich kann dich nicht zwingen.“ Hawks schluckt hart, weil die Worte ihm bewusst machen, wie irrational und…dumm er sich gerade verhält. Das ist gar nicht seine Art…oder? Manchmal weiß Hawks das selbst nicht. „Du solltest jedoch wissen, dass ich nicht darüber urteilen werde.“ Das ist einfach zu viel. Hawks kann ihn nur weiter anstarren und es will ihm nicht recht gelingen, den Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken. Irgendwie kommt alles zusammen und er weiß nicht mehr, wie er den Kopf über Wasser halten soll. Mit plötzlicher Resignation wird ihm bewusst, dass es keinen Sinn mehr macht, sich hinter der Wut zu verstecken. Seine geballten Fäuste öffnen sich und er lässt die Schultern sinken. Es ist vorbei. Eigentlich sollte er froh sein, dass Enji so viel Beherrschung zeigt. Dass er sich erwachsen verhält und nicht auf seine Provokation eingeht. Unweigerlich fragt sich Hawks, ob Enji es geschafft hat, bis heute keinen Tropfen Alkohol mehr anzurühren. „Ich habe mich im Griff“, murmelt er erschöpft. „Sorry. Ich…es war ein langer Tag.“ Vermutlich hat Enji vorgehabt, den Raum zu verlassen, um ihm einen Moment zu geben, um sich zu sammeln. Bei seinen Worten dreht er sich allerdings wieder zu ihm um, mustert ihn kurz. Komischerweise ist Hawks‘ ganze Ablehnung und Wut in einer Sekunde komplett verschwunden und er wünscht sich, dass Enji seine muskulösen Arme um ihn schlingt. Er will die Nase in seiner breiten Brust vergraben und sich dem Gefühl hingeben, dass alles in Ordnung ist. Überwinden kann er sich dazu nicht. Obwohl er sonst derjenige ist, der keine Hemmungen kennt, kann er nur da stehen und vor sich hin blicken. Die pure Erleichterung überkommt ihn, als Enji genau das tut, was er sich von ihm wünscht. Er sinkt gegen den massigen Körper des anderen, als er die Finger in seinem Nacken spürt, die andere Hand legt er an seine Hüfte. Hawks kippt bloß gegen ihn, ohne einen Funken Spannung im Körper. Es ist wirklich ein langer Tag gewesen und er ist müde. Müde und verletzt. Hawks ist dankbar dafür, dass Enji nichts sagt. Vielleicht versteht er ihn doch besser, als er gedacht hat. Die dicken Finger kraulen seinen Nacken, was in ihm Geborgenheit auslöst. Sicherheit. Trost. Er schließt seine Augen und genießt es für ein paar Sekunden. Lächeln kann er wohl heute nicht mehr für ihn. „Geh duschen.“ Hawks hebt blinzelnd die Lider und sieht zu ihm hoch, ohne sich zu lösen. „Willst du mir damit sagen, dass ich müffel?“ Enji knurrt genervt. „Um den Kopf freizukriegen. Ich räume hier auf. Willst du Tee?“ Der Vorschlag ist so zuvorkommend, dass Hawks erst nach einer Weile des Zögerns nickt. Als er ihm sagen will, wo der Tee ist, winkt Enji bloß ab. „Ich finde den schon.“ Dürfte wirklich nicht schwer sein, sie haben eine begrenzte Anzahl an Schränken und nichts zu verstecken. Er drückt das Gesicht noch mal fest gegen Enjis breite Brust, inhaliert seinen Geruch, ehe er sich löst und in Richtung Bad geht. Seine Mutter wird schon nicht so schnell aufstehen – dennoch wirft er einen schnellen Blick ins Zimmer, um sich zu vergewissern. Als alles ruhig ist, schließt er die Tür wieder und geht ins Bad. Als er eine halbe Stunde später neben Enji auf der Couch sitzt und an seinem Tee nippt, hat der andere die Scherben beseitigt. Hawks stellt die Tasse auf dem Tisch ab, ehe er sich nach hinten anlehnt und die Beine an den Körper zieht. Seine Haare sind noch feucht vom Wasser und er hat einen neuen Verband angelegt. Enjis Blick ruht auf seinem Unterarm, doch er stellt keine Fragen, bleibt still neben ihm sitzen. Hawks weiß, dass er nicht einfach weiter stumm bleiben kann, obwohl der Ältere ihn nicht drängt. Was er nicht weiß, ist, wie oder wo er anfangen soll. Noch nie hat er über solche Dinge geredet. Immer noch ist da die Angst, dass Enji ihn danach anders ansieht. Wenn er ihn bemitleidet, muss er ihm eine reinhauen, so viel ist klar. Aber er kann die Geschichte auch nicht weniger traurig erzählen, als sie es nun mal ist. Hawks atmet hörbar aus, blickt matt vor sich hin. „Komm, Großer, mach’s mir einfacher und frag, was du fragen willst“, meint er schließlich und schafft nicht mal ein aufgesetztes Lächeln, als er ihn ansieht. Enji schweigt einen langen Moment, die kräftigen Finger fest um die sicherlich heiße Tasse gelegt. „Was ist mit deinem Arm passiert?“, will er wissen und Hawks seufzt. „Ich musste eine kaputte Flasche damit abwehren, weil jemand damit nach mir geschlagen hat.“ Hawks sieht das wütende Funkeln in den türkisfarbenen Augen und auch, wenn es ihn nicht überrascht, ist diese Reaktion nett. Weil es zeigt, dass er Enji etwas bedeutet. „Wer?“, kommt die erwartete Frage. „Mein Erzeuger.“ Eigentlich hat er gedacht, dass es ihm schwerer fallen würde, es auszusprechen. Vielleicht hat er resigniert, dass sowieso alles auf den Tisch kommt. Warum herumdrucksen? Macht keinen Sinn mehr. Enji ist geduldig gewesen, aber an diesem Punkt muss Hawks ehrlich sein. Auch wenn es ihm wehtut, zu sehen, wie geschockt Enji davon ist. Er sieht es in seiner Mimik, weiß, warum es ihm nahegehen muss, das zu hören. Noch mehr als jedem anderen. Immerhin hat er zumindest eins seiner Kinder geschlagen. Wie bitter. „Das…warum?“, entkommt es ihm gepresst, woraufhin Hawks mit den Schultern zuckt. „Weil ich ihm gesagt habe, dass ich ihm von jetzt an kein Geld mehr gebe. Er war wütend und betrunken – da wird er schon mal handgreiflich. Ich bin nicht sicher, ob er wirklich vorhatte, mich damit zu verletzen, oder mir nur drohen wollte. Er hat seine Motorik nicht immer ganz im Griff. Er hat mit der Flasche herumgefuchtelt, sie gegen die Wand gehauen und dann ist es eben passiert. War aber nicht das erste Mal, dass ich was abbekommen habe.“ Eine weitere Parallele. Der Alkohol holt das Hässlichste aus den Menschen heraus, das wissen sie beide. Hawks ist innerlich wie betäubt, während sie darüber reden. Er fühlt nichts dabei. Schon als Kind hat er gelernt, sich vor diesen negativen Gefühlen zu verschließen. Das dumpfe Pochen in seiner Brust ist alles, was er sich erlaubt. Er wird hier nicht wie ein Häufchen Elend sitzen und herumheulen, wie beschissen seine Kindheit war. „Er ist Alkoholiker“, stellt Enji betroffen fest und Hawks nickt. „Schon ewig. Alle beide. Du hast sicher schon erkannt, dass die Frau von vorhin meine Mutter ist. Vermutlich hat sie Panik bekommen, als er zurückgekommen ist und ihr gesagt hat, dass der Geldhahn zugedreht ist. Wüsste nicht, wann sie mich das letzte Mal besucht hat. Na ja…Überraschung, jetzt ist sie hier. Stand vor ein paar Stunden vor meiner Tür. Sternhagelvoll. Heulend. Ist noch im Flur an der Tür zusammengebrochen und hat sich übergeben. Mehrfach. Ist nicht so, als würde ich das nicht bereits von früher kennen. Wenn sie wach wird, wird sie vermutlich wieder rumbrabbeln, dass sie mich nie auf die Welt hätte bringen sollen. Ich bin ja so undankbar, blabla…und ich schulde ihnen das Geld, weil ich ihr Leben zerstört habe. Das Übliche. Willkommen in Keigos Welt.“ Vielleicht spricht er es zu locker aus. Vielleicht wäre es Enji lieber, er würde wieder wütend sein oder sich verletzlicher zeigen. Es fällt ihm schwer, den Blick des anderen zu deuten. Etwas zwischen Fassungslosigkeit und Erkenntnis. Wenigstens kein Mitleid. „Hawks, ich…ich wusste nicht…“ „Niemand weiß das“, kommt er ihm zuvor. „Weil ich noch nie davon jemandem erzählt habe. Ja, es ist scheiße. Ja, ich hab’s nicht leicht gehabt. Trotzdem habe ich mein Leben im Griff – auch wenn du jetzt bestimmt denkst, dass es nicht so ist. Ja, ich strippe. Ja, vielleicht haben mich ein paar Komplexe dahingetrieben, aber ich habe das selbst entschieden. Ich weiß, dass ich mir immer die falschen Kerle aussuche und dass das wahrscheinlich mit meinen Vaterkomplexen zusammenhängt. Und weißt du was? Das ist mir egal. Ich bin, wie ich bin, und ich werde es schaffen, etwas aus meinem Leben zu machen! Ich werde Polizist werden und ich werde etwas bewirken, anstatt wie meine versoffenen Eltern in diesem Loch von Wohnung vor mich hinzuvegetieren, mich durchzuschnorren und alles, was schief läuft, auf andere zu schieben!“ Hawks ist erleichtert, dass seine Stimme zwar energischer wird, aber nicht bricht. Sein Herz rast bei seinen Worten und er merkt, wie etwas in ihm bröckelt. Noch nie hat er mit jemandem darüber gesprochen und obwohl er Angst hat, dass Enji nun anders mit ihm umgehen oder ihn anders ansehen wird, tut es irgendwie auch gut, es endlich mal laut auszusprechen. Enji sieht ihn immer noch mit diesem schwer definierbaren Blick an, während Hawks versucht, seine Wut zu zügeln. Schon vorhin hat er sie nicht unter Kontrolle gehabt. Er muss sich beruhigen, denn das hier zeigt nur, wie nahe es ihm geht. „Du wolltest mir nicht davon erzählen, weil du gewusst hast, dass ich die Parallelen erkenne.“ Hawks ächzt daraufhin leise. „Natürlich. Du machst dich schon fertig genug. Glaubst du, da setze ich noch einen drauf und gebe dir freiwillig das Gefühl, dass ich nur bei dir bin, weil ich in einem Teufelskreis feststecke?“ „Ist das etwa nicht so?“, kommt es zerknirscht und mit einer Spur Sarkasmus von dem Rothaarigen. Hawks schnaubt. „Nein. Die Weichen sind vielleicht deswegen gestellt worden, keine Ahnung, ich bin kein Psychiater. Irgendwie wird das wohl zusammenhängen. Aber hey, jeder hat einen Typ. Ich stehe nun mal auf ältere Männer, die meistens schon verheiratet sind oder waren. Komplizierte Männer. Aber ich bleibe nicht bei Menschen, die mir nicht guttun. So selbstzerstörerisch bin ich nicht, klar? Also lass es. Hör auf, dich mit meinem Alten zu vergleichen. Ja, du hast Scheiße gebaut und du trinkst zu viel und zu regelmäßig. Aber du bereust. Du nutzt deine Kinder nicht aus. Du versuchst, deine Wut zu beherrschen. Du willst mit dem Trinken aufhören. Denkst du, ich hab in all den Jahren irgendwann auch nur eine ernstgemeinte Entschuldigung bekommen? Irgendeinen Ansatz, dass die zwei sich ändern wollen? Du bist nicht wie sie . Rede dir das nicht ein…und schon gar nicht, dass ich keine Wahl habe. Sonst wäre ich nie gegangen.“ Hawks erkennt, dass es in Enjis Kopf arbeitet; seine Zweifel werden nicht so einfach verschwinden. Dennoch hofft der Jüngere, dass er begreift, was er ihm sagen will. Auch wenn er ihm noch keine klare Antwort für die Zukunft geben kann, will er nicht, dass Enji das für sie beide entscheidet, indem er sich aus einem Anflug von vermeintlicher Aufopferung von ihm trennt. „Du weißt, dass ich…versuche, das Richtige zu tun“, kommt es schon beinahe gequält von dem Hünen, woraufhin Hawks nickt. „Und du denkst, das Richtige ist, mich mit meinem ganzen Ballast allein zu lassen, weil du denkst, du schadest mir?“, fragt er leise und weiß, dass er unfair spielt. „Hawks…“ „Ich habe mich noch nicht entschieden, wie es mit uns weitergeht. Ich konnte mich nicht melden, weil mein Handy heruntergefallen und mein Erzeuger draufgetreten ist. Außerdem…na ja, ich wollte drum herumkommen, dir das hier zu erklären.“ Hawks dreht den Arm mit dem Verband hin und her, lächelt schief. „Aber hey…du bist hier, weil du dir Sorgen um mich gemacht hast, nicht wahr? Du bist im Club gewesen, hast Mina um Hilfe gebeten…wäre das hier nicht so eine doofe Situation, hätte ich mich bestimmt darüber gefreut.“ Enji schnaubt leise, wendet den Blick ab. „…ich habe zuerst Aizawa gefragt“, hört er ihn brummen, woraufhin Hawks stutzt. „Echt? Wow. Wundert mich, dass er dir nicht an die Gurgel gegangen ist. Er hat euch echt fahren lassen?“ „…nach mehreren Drohungen, was passiert, wenn ich schuld an deinem Verschwinden bin oder Pinky etwas antue“, gibt der Ältere zu und zum ersten Mal an diesem Tag heben sich Hawks‘ Mundwinkel. „Klingt nach Aizawa. Jedenfalls…da siehst du es! Welcher schlechte Mensch legt sich schon meinetwegen mit Aizawa an?“ „Hawks“, dämmt Enji seinen kurzen Anflug von Hochstimmung. „Du musst mir nicht beweisen, wie gut du mit allem klarkommst, indem du…mir was vorspielst.“ Für einen Moment weiß der Blonde nicht, was er sagen soll, sieht ihn nur verwirrt an. „Die letzten Tage müssen hart für dich gewesen sein…und es muss hart gewesen sein, dir meinen ganzen…Ballast, wie du es genannt hast, anzutun, wenn du deinen eigenen hast.“ „Das ist n-“ „Lass mich ausreden“, unterbricht er ihn, bleibt jedoch ruhig dabei. „Auch wenn ich nicht weiß, ob das hier…mit uns…richtig ist – du warst für mich da, als es mir schlecht ging. Du bist immer für mich da gewesen, auch als ich mich wie ein Arschloch verhalten habe. Es tut mir leid, dass du mir nicht von deinen Problemen erzählen konntest, weil du dachtest, ich komme nicht damit klar.“ Tief atmet der Ältere durch, wobei Hawks ihn immer noch anstarrt. Weil er nicht weiß, wohin das hier führen wird. „…du musst keine Rücksicht auf mich nehmen…und du musst auch nicht lächeln und Witze reißen, wenn dir nicht danach ist. Ich habe verstanden, was du gesagt hast, und ich…versuche, mich zusammenzureißen. Und…egal, was aus uns wird, ich will, dass du weißt, dass ich unabhängig davon für dich da sein werde, wenn du Hilfe brauchst.“ Es ist mehr, als Hawks von dem anderen erwartet hat, wenn er ehrlich ist. Er hat eine Szene erwartet, ein endloses Hin und Her. Dass Enji ihm nicht glaubt und sich zurückziehen wird – nicht, dass er ihm vertraut und das im Gegenzug auch von ihm verlangt. Etwas in Hawks bricht bei dieser unerwarteten Wendung und er spürt, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildet, denn ja – die Tage sind hart für ihn gewesen. Auch wenn er seine Emotionen in sich verschließt, sind sie deswegen nicht einfach verschwunden oder weniger belastend. Hawks hat gedacht, er müsste sich zusammenreißen, damit Enji die Entscheidung für sie beide nicht übereilt trifft, und nun sagt er so etwas. Er weiß nicht wirklich, wie er darauf reagieren soll. Auf andere hat er sich noch nie gern verlassen, es auch immer vermieden. Kann er das überhaupt? „Wenn ich deine Mutter nach Hause fahren oder mich sonst irgendwie darum kümmern soll, sag es einfach. Wenn ich gehen oder bleiben soll – es ist deine Entscheidung.“ Hawks ist überfordert mit dieser Auswahl an nachvollziehbaren Möglichkeiten. Nicht das, womit er gerechnet hat…aber definitiv ein besserer Ausgang als erwartet. Schließlich entkommt ihm ein Laut, den er selbst nicht richtig deuten kann. Irgendwo zwischen Glucksen und Schluchzen. Wie Schluckauf. Enji zieht die Stirn in Falten, weil er wohl auch nicht weiß, was das bedeutet. Ja, von ihnen beiden ist auf jeden Fall Hawks derjenige, der seine Emotionen nicht in Schubladen packen kann. Wer hätte es gedacht… „Hawks?“ „Gib mir einen Moment, okay, Großer? Du benimmst dich gerade so reif, dass ich das erstmal verdauen muss. Ich hab mir das alles mit ein bisschen mehr Drama vorgestellt …du killst mich gerade.“ Er grinst zwar, doch es erreicht bestimmt nicht seine Augen, so zerrüttet, wie er sich innerlich fühlt. Ein leichtes Zittern befällt seinen Körper, der immer noch zusammengeknautscht ist und von seinen Armen umschlungen wird. Nein, er hat nie gelernt, sein Inneres nach außen zu kehren. Es hat aber auch nie jemanden interessiert. Er ist besser darin, den Spaßvogel zu mimen. Enji mustert ihn skeptisch, doch dann stellt er seine Tasse auf dem Tisch ab und richtet sich auf. Will er jetzt ernsthaft gehen? Hawks hat nicht gesagt, dass er gehen soll. Will er, dass Enji geht? Bevor er etwas sagen oder tun kann, nimmt Enji die knallpinke Decke von der Couch und wirft sie über Hawks. Dieser stutzt und schiebt den Kopf darunter hervor, während der Ältere die Fernbedienung nimmt und sie Hawks reicht. „Such was aus. Dann bestellen wir Essen.“ Stimmt ja, wegen des ganzen Stresses hat er heute nur gefrühstückt. Sonst passiert ihm das nicht, aber heute ist auch ein nervenaufreibender Tag gewesen. Er lächelt schief, hat nicht vor, Enji jetzt rauszuschmeißen. Genau genommen kann er seine Gefühle gerade nicht sortieren, aber er will auch nicht damit allein sein. „Und wenn sie wach wird?“, fragt er dennoch und sieht ihn an. „Dann isst sie mit uns. Oder ich fahre sie doch nach Hause. Irgendetwas fällt uns schon ein.“ Hawks seufzt leise, hofft, dass das nicht passieren wird – also, dass sie überhaupt vor dem Morgen wach wird. Aber gut, immerhin scheint es Enji nicht viel auszumachen. Ist ja auch nicht seine Mutter, für die er sich schämen muss. Er nickt jedoch nur und kuschelt sich mehr in die Decke hinein, während er durch die Filme zappt. Natürlich einen Superheldenstreifen. „…hast du’s eigentlich geschafft?“ Enji sieht ihn fragend an, hat sich wieder neben ihn gesetzt – in höflichem Abstand. „Nicht zu trinken.“ Hawks weiß nicht, mit welcher Antwort er rechnen soll. Eigentlich könnte Enji ihn auch anlügen, aber er glaubt nicht, dass er das tun wird. Er war im Club – wo ihm der Alkohol halb ins Gesicht springt. Er würde es sogar verstehen, wenn der Ältere da schwach geworden ist. Nach wie vor ist es eine Sucht. Es ist hart und geht nicht von heute auf morgen, aber- „Ja. Macht mich halb wahnsinnig, aber…ja. Bisher schon. Dass ich dachte, dir hätte so ein Perverser sonst etwas angetan, hat mich ganz gut abgelenkt, schätze ich.“ Hawks stockt und dreht ihm den Kopf zu, sieht ihn ungläubig an. Er hat tatsächlich die Finger vom Alkohol gelassen? Ja, das heißt auf Dauer nichts, aber dass er überhaupt den Willen zeigt, etwas zu ändern, das ist mehr, als Hawks erwartet hat. Zumal es schön ist, zu hören, dass sich Enji solche Sorgen um ihn gemacht hat. „Wie du siehst – alles noch dran. Kein Schaden, der sich nicht beheben lässt“, meint er und lächelt ihn an. „Aber gut zu wissen. Du beeindruckst mich, Endeavor-san.“ „…nenn mich nicht mehr so.“ Hawks schmunzelt, widerspricht aber nicht, sondern öffnet seine App, um Lieferando abzuchecken. Er streckt dabei seine Beine unter der Decke aus und berührt mit seinen Füßen, die in roten Wollsocken stecken, Enjis Oberschenkel. Ein kleines bisschen Kontakt. Als sich eine von Enjis Pranken auf sein Bein legt, lässt er ihn. Fakt ist, dass sie beide ziemlich kaputte Menschen mit einer Menge Ballast sind. Aber hey, vielleicht haben sie sich gerade deswegen gefunden. Um sich gegenseitig zu helfen. Vielleicht kann das hier funktionieren, vielleicht wird es in die Brüche gehen. Vielleicht kann Hawks nicht mit Enjis Taten umgehen. Vielleicht kann Enji nicht mit seinen Komplexen zurechtkommen. Vielleicht kann Enji dem Alkohol doch nicht abschwören. Vielleicht ist Hawks nicht für Monogamie geschaffen. Vielleicht merken sie, dass das mit ihnen auf Dauer nicht gutgehen kann. Aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht bleiben sie zusammen und schaffen es, ihr Leben zu ordnen. Wohnen zusammen, leben zusammen. Merken irgendwann, dass sie nur durch ihre Probleme zusammengehalten worden sind. Vielleicht läuft es vollkommen anders. Wer weiß das schon. Hawks entschließt sich in diesem Moment dazu, es herauszufinden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)