Abyss von lunalinn ================================================================================ Kapitel 6: Friends ------------------ Wenn Enji ehrlich ist, hat er nicht geglaubt, sich gerade mal eine Woche später erneut im Club wiederzufinden. Er ist ein Mann mit Stolz...und den hat er am letzten Samstag offensichtlich verloren. Es macht ihn wütend, wenn er daran zurückdenkt, dass Hawks ihn wie ein Kind getröstet hat. Enji weiß nicht, wie lange er im Schoß des jüngeren Mannes gelegen und dessen Streicheleinheiten genossen hat. Er weiß nur, dass das nicht wieder passieren darf. Und dass es ihn durcheinander bringt, weil er, obwohl er das doch weiß, diese Berührungen als unglaublich angenehm empfunden hat. Er kann sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so gut geschlafen hat wie in jener Nacht. Sicher wird seine Erschöpfung nach der Panikattacke dazu beigetragen haben, doch er kann nicht leugnen, dass er sich wohl gefühlt hat. Es ist, als wäre der Ballast wenigstens für den Moment von ihm abgefallen. Er kann atmen, ohne dass sich die Schlinge zuzieht. Jedenfalls für ein paar Tage, denn danach geht das Ganze wieder von vorn los. Er fühlt sich müde und antriebslos. Albträume rauben ihm die Nächte, sorgen dafür, dass sich dunkle Ringe unter seinen Augen bilden…und er beginnt wieder zu trinken. Was neu ist, ist die Tatsache, dass er zwischendurch an Hawks denkt. An seine Berührungen. Die sanfte Stimme. Die Geborgenheit, die er ihm gegeben hat. Enji weiß, dass er nicht dorthin zurück kann. Nicht dorthin zurück sollte. Es würde nur beweisen, wie verzweifelt er ist. Das kann sein Stolz nicht ertragen. Deswegen nimmt er sich vor, dass er diesen Abend vergisst. Jedenfalls so lange, bis der Samstag da ist. Der Gedanke, den Abend allein in seiner Wohnung mit Whiskey und Fernsehen zu verbringen, sorgt dafür, dass sich die Schlinge wieder zuzieht. Ebenso wie die Nachricht seiner Tochter, dass sie alle noch etwas Zeit für sich brauchen. Sie müssen sich fangen. Enji fragt sich, ob er sich jemals fangen kann und wie es überhaupt weitergehen soll. Die Vorstellung, für immer allein zu sein, so wie er es zurzeit oft ist, lässt seinen Puls rasen. Vorher hat ihm das nichts ausgemacht, doch mittlerweile ist nichts mehr wie vorher. Am Ende geht er duschen, stutzt seinen Bart, damit er vernünftig aussieht, legt sein Aftershave auf und holt einen dunkelblauen Anzug aus dem Schrank. Keine Krawatte. Enji will gar nicht wissen, was die Mitarbeiter des Clubs über ihn denken müssen. Vermutlich halten sie ihn für so einen alten Spinner, der sich in Hawks verguckt hat und sich mehr erhofft. Er kann den Blondschopf nirgends sehen, als er seinen gewohnten Platz an der Bar einnimmt. Aizawa ist so freundlich wie immer. Er stellt ihm wortlos den gewohnten Drink hin und wendet sich direkt danach ab. Noch deutlicher kann er seine Abneigung wohl nicht zeigen. Kurz beobachtet Enji ihn, wie er mit einem Typen spricht, der seine langen blonden Haare zu einem Dutt hochgebunden hat. Der Kerl trägt Lederklamotten und eine Sonnenbrille…und Enji vermutet, dass er hier arbeitet. Seine Stimme ist unangenehm laut, selbst durch die Musik des Clubs, und er gestikuliert übertrieben. Er hört nicht, was Aizawa sagt, doch seinem genervten Ausdruck nach zu urteilen ist der Mann nicht nur zu ihm unhöflich. Enji lässt den Blick weiter schweifen, als neben ihm ein schweres Seufzen ertönt. Er runzelt die Stirn, als er neben sich einen jungen Kerl sitzen sieht, der sich an die Bar gelehnt hat und frustriert zur Bühne sieht. Dort tanzt gerade die Kleine mit den rosa Haaren, an die er sich noch von seinem ersten Besuch erinnert. Sie trägt nur noch einen knappen, pinken String und ein gleichfarbiges Bustier, während sie ihren Hintern an der Stange reibt und sich gleich darauf an dieser emporschwingt. Enji wendet sich ab, bevor er noch mehr von ihr sieht. Schon wieder fühlt er sich wie ein Perverser. Der Typ neben ihm ist rothaarig wie er selbst, trägt einen gleichfarbigen Kapuzenpulli über seiner weiten Jeans und ist vermutlich noch nicht lange volljährig. So zusammengesunken, wie er dort hockt, scheint er nicht wirklich Spaß an der Show zu haben. Da sind sie ja schon zwei. „Jo, Kirishima-kun!“, wird der junge Mann mit den breiten Schultern plötzlich angesprochen. Enji erkennt die Dame mit den silbernen Haaren wieder, die ihn schon ein paar Mal zu bezirzen versucht hat. Miruko oder wie sie heißt. Diese hat einen muskulösen Unterarm auf dem Tresen abgestützt und grinst ihn breit an. Heute trägt sie einen Body aus Netzstoff, der nicht viel Fantasie übrig lässt, und darunter schwarze Unterwäsche. Die Hasenohren sind natürlich wieder dabei. „Eh, guten Abend, Miruko-san“, erwidert der junge Mann die Begrüßung ein wenig verlegen. „Wartest du auf Pinky?“, hakt sie grinsend nach und wackelt mit den Brauen. „Keine Sorge, die nächste große Männerrunde hat mich gebucht. Denke nicht, dass sie heute allzu lange macht.“ „Ach, schon in Ordnung“, wiegelt Kirishima ab. „Ich warte so lange, wie es eben dauert. Sie hat gemeint, dass ich sie nicht abholen muss, aber na ja, es ist nicht gerade männlich, seine Freundin allein nach Hause gehen zu lassen.“ Miruko schmunzelt. „Du bist süß“, kommentiert sie seine Worte. „Auch wenn du hoffentlich weißt, dass sie Schläge und Tritte drauf hat, die die meisten Kerle ins Koma schicken können?“ „Keine Sorge, das ist mir bewusst“, gibt der junge Mann freundlich zurück. „Es geht eher ums Prinzip. Ich möchte einfach, dass sie weiß, dass ich da bin.“ „Aww, du bist wirklich ein Süßer!“, entfährt es ihr verzückt und sie wuschelt ihm durch die roten Haare, was er schief lächelnd über sich ergehen lässt. „Pinky hat Glück mit dir! So wie ein gewisser Jemand Glück mit mir haben könnte, aber heute bin ich leider ausgebucht, Endeavor-san.“ Enji verschluckt sich beinahe an seinem Whiskey, wirft dem dreisten Weibsstück einen bösen Blick zu, den sie mit funkelnden, roten Augen erwidert. Anscheinend hat sie noch nicht aufgegeben. „Ein Jammer“, brummt er trocken und sie lacht auf. „Ja, das glaube ich dir sofort. Falls du unser Vögelchen suchst, der ist gerade im Separee. Sein anderer Verehrer hat ihn gebucht – aber sorge dich nicht, der hat nicht so viel Moos. Wird also keine lange Sache werden.“ Sie zwinkert ihm zu, ehe sie ihre langen, silbernen Haare über die Schulter wirft, Kirishima noch mal auf die Schulter klopft und sich dann vermutlich frisch machen geht. Anstrengende Frau. Zu allem Überfluss starrt ihn dieser junge Kerl neben ihm jetzt auch noch an. Großartig. Für Enjis Geschmack dauert es zu lange, denn während Pinky nach ihrem Auftritt von der Bühne springt und Kirishima überschwänglich begrüßt, ist von Hawks nichts zu sehen. Sein anderer Verehrer, hat Miruko gesagt. Muss er sich Sorgen machen? Nein. Geht ihn ja auch nichts an. Hawks gehört ihm nicht und er will keinen falschen Eindruck erwecken, indem er die Leute hier nervt. Er wird schon noch kommen. Hofft Enji jedenfalls, denn ansonsten weiß er nicht, weswegen er hier ist. Mit jemand anderem ins Separee zu gehen, ist für ihn keine Option. Eher wird er wieder verschwinden und diesen Abend als Fehler abstempeln. Wo ist eigentlich Aizawa, wenn man einen Drink braucht? Dieser scheint seinen Gedanken erraten zu haben, denn im selben Moment füllt er ihm still nach, woraufhin Enji ein knappes „Danke“ brummt. Aizawa mustert ihn ein paar Sekunden aus seinen dunklen Augen und Enji wird das Gefühl nicht los, das er etwas sagen will. Dass er es nicht tut, liegt vielleicht an den neuen Kunden, die soeben nicht gerade leise den Club betreten. Es sind allesamt Männer in Anzügen und mindestens in seinem Alter. Die Art und Weise, wie sie sich geben, lässt vermuten, dass sie Geld haben. Anscheinend ist das die sogenannte Männerrunde, die Miruko erwähnt hat, denn diese geht auf die Neuankömmlinge zu und geleitet sie mit einem verführerischen Lächeln zu einer der Sitzecken. Bereits jetzt führen sie sich wie Idioten auf, indem sie dämlich grinsen und sie angaffen wie ein Stück Fleisch. Na ja, sie wird schon damit fertig werden, so schlagfertig, wie sie ist. In der Sekunde, als er sich abwenden will, fällt ihm ein blonder, zerzauster Schopf auf. Hellblaue Augen erwidern seinen Blick, weiten sich…und auch Enji fühlt sich, als würde ihn jemand mit kaltem Wasser übergießen. Scheiße. Das ist jetzt nicht wahr. Er weiß, dass er nicht einfach hinausstürmen kann. Das würde der andere nicht zulassen…und auf eine peinliche Szene kann Enji verzichten. Er hatte in letzter Zeit genügend davon. Der Blondschopf gibt seinen Was-auch-immer-sie-sind ein Zeichen, dass er sich einen Drink holen wird. Dann kommt er geradewegs auf die Bar…und damit auch auf Enji zu. Mist. Er kann diesmal nicht ausweichen. „Enji?“ Finster blickt der Angesprochene ihn an, auch weil er einfach seinen Namen nennt. Hoffentlich hat ihn niemand gehört. „Toshinori.“ Sein Freund und Rivale aus Jugendzeiten lächelt ihn schief an, wobei die Falten in seinem Gesicht mehr hervortreten. Er sieht trotz seiner Beschwerden immer noch gut aus, hochgewachsen und er hat bloß ein wenig an Masse verloren. Seine goldenen Zeiten gehören allerdings der Vergangenheit an. „Ich habe versucht, dich zu erreichen…dass ich dich an so einem Ort treffe, habe ich zwar nicht erwartet, aber es ist schön, dich zu sehen“, gibt Toshinori ehrlich zurück und setzt sich ungefragt zu ihm. Kirishima und seine Freundin sind mittlerweile verschwunden. „Gleichfalls“, brummt Enji schroff zurück. „Seit wann treibst du dich in solchen Etablissements herum?“ Es sollte ihm vermutlich unangenehmer sein, als es das ist, aber er sagt sich, dass sie beide im selben Boot sitzen. Angriff ist die beste Verteidigung. „Oh, na ja, das…also, es war nicht geplant. Ich habe erst soeben erfahren, wo wir unser…eh…Meeting abhalten. Die Herren sind Kollegen von mir“, erklärt sich Toshinori und reibt sich dabei den breiten Nacken. „Ah ja…“ Enji glaubt es ihm, obwohl er absichtlich Skepsis in seinen Tonfall legt. Wenn er eins über den anderen weiß, dann dass er absolut ehrlich ist. Diese Gutmenschentour hat ihn schon damals immer zur Weißglut getrieben. Anhand der tiefen, dunklen Augenringe und der verhärmten Züge erkennt Enji, dass er wahrscheinlich immer noch so ein Workaholic wie er selbst ist. Sie sind wie Tag und Nacht und dennoch ähneln sie sich in einigen Dingen fast schon zu sehr. „Sieh an, noch so ein aufgepumpter Typ. Hoffe, du benimmst dich besser als dein Freund...oder die Kerle dahinten, die dich im Schlepptau hatten. Was darf ich ausschenken?“ Die Worte kommen dem Barkeeper zwar monoton über die Lippen, eine Frechheit ist es aber trotzdem. Kann man den Kerl irgendwo anschwärzen? Schließlich sind sie beide immer noch Gäste, die er respektvoll zu behandeln hat. Auch wenn Toshinoris Kollegen wirklich anstrengend zu sein scheinen. „Aufge…oh nein, da täuschen Sie sich“, erwidert Toshinori mit einem sanften Lächeln. „Wissen Sie, früher war das vielleicht so, aber nun, das Alter macht vor keinem Halt. Wenn Sie wüssten, wie viele Gebrechen ich verbergen muss, hätten Sie wohl eher Mitleid mit mir. Oh, und ich hätte gern ein stilles Wasser. Danke.“ Nicht nur Enji blickt den Blonden perplex an, auch Aizawa ist scheinbar zu verdutzt, um etwas zu erwidern. Gewissermaßen erfreut es Enji, trotzdem er diese falsche Bescheidenheit zum Kotzen findet. Das hat er schon immer. „Wasser?“, wiederholt der Dunkelhaarige schließlich ungläubig. „Das ist ein Club. Mit einer Bar.“ „Das ist mir bewusst, allerdings muss ich einige Medikamente zu mir nehmen, die sich nicht gut mit Alkohol vertragen. Unter uns gesagt, bin ich auch nicht sehr trinkfest, von daher würde ich meinen Mitmenschen am Ende bloß zur Last fallen und das möchte ich vermeiden, wie Sie sicher verstehen.“ Toshinoris Ton ist freundlich wie eh und je, doch Enji kann sich vorstellen, dass sich Aizawa gerade wie ein Stück Scheiße fühlen muss. „Verstehe“, kommt es knapp von ihm, ehe er ein Glas mit Wasser füllt. „Keine Sorge, es ist nichts Ernstes. Die üblichen Leiden eines Leistungssportlers. Schmerzende Knochen, alte Verletzungen und dergleichen“, wiegelt der Blonde ab und nimmt das Glas entgegen. „Vielen Dank.“ „…hm.“ Aizawa weicht seinem Blick nun aus, scheint es vermeiden zu wollen, das Gespräch fortzuführen. Nun, dass Toshinoris bescheuerte Freundlichkeit einem den letzten Nerv rauben kann, weiß er selbst aus eigener Erfahrung. Danach wendet sich Toshinori wieder ihm zu – worauf Enji eigentlich ganz gut verzichten kann. Er will sich nicht mit dem anderen Mann unterhalten, denn er weiß, was dieser ansprechen wird. „Wie geht es dir?“, fragt er tatsächlich und senkt dabei die Stimme. So als wäre er ein rohes Ei. Enji hasst es. „Gut“, knurrt er gereizt und nimmt einen Schluck von seinem Drink. Toshinori nickt verstehend, obwohl er rein gar nichts versteht. Er steckt nicht in seiner Haut…und Enji will sein Mitleid nicht. Auch weil er es nicht verdient. „Hör zu, ich will mich nicht aufdrängen, aber ich hoffe, du weißt, dass du auf mich zählen kannst. Nach dem, was passiert ist, ist es keine Schande, Hilfe anzunehmen.“ Enjis Kiefer malmt, doch er reißt sich zusammen, will nicht wieder aus der Haut fahren. Es ist nett gemeint, das ist ihm bewusst. Nur sind es die falschen Worte. Von der falschen Person. „Wie ich sagte, es geht mir gut. Ich brauche deine Hilfe nicht“, erwidert er steif, ehe er das Thema wechselt. „Und übrigens…was fällt dir ein, einem Fremden meine Adresse weiterzugeben?!“ Toshinori stutzt, aber wenigstens verlässt das Mitleid seinen Blick. „Oh…nun, Hawks-kun hat mir erklärt, dass ihr euch in einer Bar kennengelernt habt. Er wollte dich wiedersehen, aber da du dein Handy verloren hast…ich dachte, ich tue dir einen Gefallen. Es muss dir nicht unangenehm sein, Enji. Es ist in Ordnung, wenn du ein bisschen…Ablenkung suchst. Das ist nur menschlich. Ich weiß, dass das mit Rei hart ist und das mit-“ „Einen Scheiß weißt du“, knirscht Enji aggressiv und umklammert fest sein Glas. Toshinori verstummt sofort, erkennt wohl, dass er eine Grenze überschritten hat. Er sieht das Zucken in seiner Hand und ist froh, dass er es bleiben lässt. Ihn nicht anfasst. „Gibt es ein Problem?“ Aizawa ist wieder da. Irgendwie scheint der Typ Ärger zu riechen, denn er taucht bei jeder Kleinigkeit auf. Toshinori lächelt ihn an, scheint von dem vorigen Verhalten des Barkeepers nicht beleidigt zu sein. „Es ist alles gut. Nur könnte mein Freund hier vielleicht noch einmal nachgefüllt bekommen? Ich zahle. Und…wie war noch mal Ihr Name?“ Aizawa sieht ihn skeptisch an, während er blind nach der richtigen Flasche greift und Enji nachfüllt. Na seinetwegen. Er hat genügend Geld, aber wenn es Toshinori ein Bedürfnis ist… „Aizawa.“ „Yagi Toshinori. Freut mich.“ „…die meisten Kunden bevorzugen Anonymität. Sie offensichtlich nicht“, kommt es trocken von Aizawa. „Keine Sorge um Ihren Ruf? So als Leistungssportler?“ Toshinori lächelt ihn immer noch an, lässt sich kein bisschen provozieren. „Nun, da meine Tage als Quarterback gezählt sind und ich beim Football inzwischen nur noch als Manager agiere, halten sich meine Sorgen in Grenzen. Aber danke, dass Sie sich um mich solche Gedanken machen.“ Toshinori spielt vielleicht nicht mehr, aber er ist nach wie vor ein Gewinner. Aizawa ist abermals sprachlos, starrt ihn einfach nur an und vermutlich ärgert er sich über sich selbst. „Abgesehen davon habe ich nicht vor, unangenehm aufzufallen. Die Tänzer und Tänzerinnen haben meinen Respekt für Ihre Leistung. Es muss ein hartes Training nötig sein, um seinen Körper so gut unter Kontrolle zu haben. Das ist beeindruckend.“ Aizawa sieht ihn immer noch an, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. Es lenkt Enji ein wenig davon ab, dass Hawks weiterhin verschwunden bleibt. Wobei er nicht weiß, ob er ihn gerade jetzt sehen will, wo Toshinori neben ihm sitzt. „Ist das so?“, kommt es abschätzend von Aizawa. „Verstehen Sie mich nicht falsch. Die jungen Frauen und Männer sind sehr attraktiv. Ich lege darauf nur nicht so viel Wert wie meine geschätzten Kollegen.“ Enji fragt sich, ob Aizawa schon gemerkt hat, dass Miruko für jemanden wie Toshinori keinen Reiz hat. Der Blonde hat es in den letzten Jahren geschafft, sein Privatleben weitgehend vor der Öffentlichkeit zu verbergen. So wie seinen langjährigen Partner, David Shield. Enji weiß nichts Genaues über die Trennung der beiden, es ist ihm aber auch ziemlich egal. Über die Sache ist inzwischen Gras gewachsen, die beiden verstehen sich immer noch gut. Als Freunde. Enji fragt sich unweigerlich, ob Rei und er das ebenfalls irgendwie schaffen können. Wenn sie sich gefasst hat und ihm verzeihen kann. Falls sie das jemals tut. „Aha.“ Aizawa jedenfalls fühlt sich unter dem intensiven Blick des anderen Mannes anscheinend unwohl, denn er wendet sich mit diesem knappen Wort ab und widmet sich dem nächsten Kunden. Die steile Falte, die sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet hat, lässt darauf schließen, dass er sich insgeheim ärgert. Toshinori dagegen schmunzelt in sich hinein, ehe er noch einen Schluck Wasser zu sich nimmt. „Bin da~!“, wird er von der Seite angezwitschert und schon schlingt sich ein Arm um seine Schultern. Toshinori, der wohl soeben noch etwas sagen wollte, blinzelt irritiert, während Enji spürt, wie ihm die Scham heiß werden lässt. „Tut mir wirklich leid, dass ich dich hab warten lassen, Endeavor-san, aber das hat dann doch länger gedauert, als ich dachte. Sonst ist das eher ‘ne schnelle Nummer, aber na ja…zu trinken hast du schon? Sehr gut! Oh, hi, ich bin übrigens Hawks, freut mich!“ Damit strahlt Hawks Toshinori an, welcher etwas überfahren von dem Redeschwall wirkt. Hinter seiner Stirn muss es rattern, so wie er den Jüngeren mustert und dann Enji ansieht. Es ist unangenehm, denn er hat wieder das Gefühl, als würde er sich rechtfertigen müssen. Schließlich legt sich aber ein freundliches Lächeln auf Toshinoris Lippen. „Yagi Toshinori. Wir haben telefoniert“, klärt er ihn auf und Hawks‘ Augen weiten sich. „Oh! Du bist das! Krass, ich hab irgendwie ein ganz anderes Bild von dir gehabt. Bist du zufällig hier oder wegen ihm?“ Noch immer hat Hawks den Arm um ihn geschlungen, will wohl auch nicht so bald loslassen. „Meine Kollegen haben hier ein Meeting angesetzt – zu dem ich auch bald zurück sollte. Also nein, es war Zufall. Enji und ich kennen uns von früher zu Schulzeiten.“ „Also seid ihr Freunde?“, hakt Hawks nach und Toshinori zögert, wirft ihm einen Blick zu. Freunde. Sind sie das noch? Enji schweigt, denn irgendwie erscheint ihm jede Antwort falsch. Er nimmt seinen Drink und trinkt einen Schluck, um dem Gespräch zu entgehen. „Nun, wie gesagt, ich sollte zurück“, gibt Toshinori ausweichend zur Antwort und lächelt erneut. „Hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Hawks-kun. Und Enji? Ruf mich gern an, wenn du Zeit für eine Tasse Kaffee hast.“ Dabei ist sein Blick so eindringlich, dass selbst Hawks nicht entgehen kann, dass sich der blonde Hüne um ihn sorgt. Enji nickt knapp, auch wenn er weiß, dass er nicht anrufen wird. Er erkennt den guten Willen hinter dem Angebot und dass Toshinori ihm bloß helfen will, seine Last zu schultern. Die Sache ist, dass Enji nicht das Bedürfnis verspürt, mit irgendjemandem darüber zu reden. Dass Toshinori seine Frau und Kinder kennt, macht es nicht einfacher. Enji bezweifelt ohnehin, dass er die ganze Geschichte kennt. Vielleicht würde er dann von sich aus den Kontakt komplett abbrechen. „Ist er das?“ Hawks löst den Arm von seinen Schultern und nimmt neben ihm auf dem Barhocker Platz, stützt dabei den Unterarm auf dem Tresen ab. Er trägt wieder seine Polizei-Uniform, abgesehen von der Mütze. Seine bernsteinfarbenen Augen ruhen auf ihm, während Enji seine Stimme wiederzufinden versucht. „Ist er was?“, brummt er und kippt den letzten Schluck Whiskey herunter. „Der Kerl, der dich darauf gebracht hat, dass du nicht so hetero bist, wie du gedacht hast.“ Wenigstens spricht Hawks leise, sodass es nicht gleich jeder im Umkreis mitbekommt. Enji presst kurz die Lippen zusammen, weil er eigentlich nicht darüber reden will. Andererseits ist das besser, als über seine Familie zu sprechen. Also nickt er. „Lange her“, erwidert er, ohne Hawks anzusehen. „Wir…es war, bevor ich meine Frau kennengelernt habe. Wie gesagt, zu Schulzeiten und…es hielt nur eine Weile. Wir hatten unterschiedliche Ziele und Ambitionen. Er wollte ins Ausland, ich konnte hier nicht weg. Das war miteinander nicht vereinbar.“ Er zuckt mit den Schultern, weil es nun einmal der Lauf der Dinge ist, erwachsen zu werden und sich auseinanderzuleben. Das ist es nicht, was er bedauert. Nicht mehr jedenfalls. „Und du?“, fragt er beiläufig, weil er nicht länger über sich reden will. Hawks hält inne, neigt den Kopf ein wenig. „Und ich?“ „Wie hast es gemerkt?“ Anscheinend ist das ein Punkt auf Hawks‘ Liste, den er nicht so gern anspricht. Es ist wie bei dem Tattoo, da hat er ihn auch aus der Bahn geworfen. „Wenn man’s weiß, weiß man’s halt“, meint er schließlich. „Ich hab schon Mädchen geküsst, aber es ging nie darüber hinaus. Muss ebenfalls im Teenie-Alter gewesen sein, als ich den Ersten hatte. Ich hatte mit meiner Sexualität an sich nie Probleme oder Hemmungen.“ Es scheint für einen Moment so, als würde Hawks noch mehr sagen wollen, doch er schließt den Mund wieder. Mit was auch immer er stattdessen Probleme gehabt hat, will er ihm nicht offenbaren. Irgendwie beruhigt es Enji, dass nicht alles in Hawks‘ Leben einfach zu sein scheint. Auch wenn es mies ist, es gibt ihm ein besseres Gefühl. „Verstehe“, brummt er und Hawks lächelt ihn an. Vielleicht, weil er erleichtert ist, dass Enji nicht nachbohrt. Na ja, sie müssen beide nur so viel preisgeben, wie sie wollen, nicht wahr? Und Enji ist sich sicher, dass er mehr Leichen im Keller hat als der jüngere Mann. Bei der Metapher wird ihm übel und er sieht sich nach Aizawa um, um sich nachschenken zu lassen. „Hey Endeavor-san.“ Enji sieht zu Hawks, welcher ihn nach einigen Sekunden erneut anspricht. „Hm?“ „Nächste Woche läuft ein Film an, den ich unbedingt sehen möchte. Meine Mitbewohnerin ist schon verplant und ich will nicht das fünfte Rad am Wagen sein. Also…hast du Lust mit mir ins Kino zu gehen? Nächsten Mittwoch wäre cool. Da hab ich weder Schule noch Schicht.“ Enji starrt ihn verwirrt an, nicht sicher, ob der andere das soeben wirklich gefragt oder er sich verhört hat. „Was?“, entkommt es ihm perplex. „Na, Kino. Du. Ich. Popcorn und Nachos.“ „Ich weiß, was Kino heißt, nur ich…warum?“ „Sage ich doch. Ich möchte den Film sehen und ich habe nicht so viele Freunde, die sich Venom 2 reinziehen wollen.“ „…ich kenne nicht mal den ersten Film“, erwidert Enji trocken, woraufhin Hawks schmunzelt. „Gibt’s auf Netflix und er wird dir gefallen. Guck ihn vorher, ja?“ Enji versteht nicht, wie er jetzt darauf kommt, mit ihm ausgehen zu wollen. Oder was er sich davon verspricht. Das ist kein Date, oder? Er kann nicht mit Hawks ausgehen. Aus mehreren Gründen. Als hätte der Blondschopf seine Gedanken erraten, lächelt er beschwichtigend. „Gleiche Regeln wie zuvor. Wir schauen bloß einen Film. Nichts weiter. Als Bekannte, hm? Ich glaube nämlich, dass das nicht nur mir guttun wird.“ Und damit hat er Recht, denn Enji verbringt seine Abende in einer Monotonie, die ihm nicht selten aufs Gemüt schlägt. Warum sonst sitzt er schon wieder im Stripclub und trinkt einen Drink nach dem anderen? Im Kino ist er ewig nicht gewesen und die ungezwungene Zeit mit Hawks ist gerade das einzig Positive in seinem Leben. Tief atmet er durch, sieht den Jüngeren dann argwöhnisch an. „Nur ein Film, den wir als…Bekannte sehen“, wiederholt er, woraufhin Hawks nickt. „Wir treffen uns da, gehen zusammen rein und genießen etwas Freizeit. Mehr nicht.“ Enji kommt der Gedanke, dass alles andere auch zu vermessen ist. Warum sollte ein gutaussehender, junger Mann wie Hawks, Stripper oder nicht, mehr von ihm wollen? Wahrscheinlich geht es auch hier darum, ihn als Kunden enger an sich zu binden. Wie gut kennt er Hawks schon? Vielleicht ist das eine neue Masche. Aber selbst wenn…ändert das etwas? Nein. Nicht für Enji. Er hat keine Erwartungen. „Von mir aus“, erwidert er knapp und Hawks freut sich sichtlich darüber. „Super! Ich schau gleich mal, wann er läuft und…oh, Aizawa! Hey! Können wir noch was zu trinken haben? Wie immer!“ Der grimmige Barkeeper löst widerwillig seinen Blick von der Ecke, in welcher Toshinori mit seinen Kollegen sitzt. Kommentarlos und scheinbar in Gedanken versunken, beginnt er, Hawks seinen Cocktail zu mixen. Scheinbar hat da jemand mehr Eindruck als gedacht hinterlassen. Auch wenn Enji nicht sicher ist, ob dieser Eindruck nicht negativ behaftet ist – und Aizawa Toshinori ins nächste Wasser spucken wird. Er verdrängt den Gedanken und sieht wieder zu Hawks, der aufgeregt auf seinem Handy herumtippt und über die noch freien Plätze plaudert. Enji fragt sich erneut, was das noch werden soll. Obwohl er so einen ungezwungenen Abend gebrauchen kann, kann er das Misstrauen darüber nicht wegwischen. Hoffentlich stellt sich seine Zusage nicht als Fehler heraus. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)