Besser, ihr rennt! von ReptarCrane ================================================================================ Prolog: -------- Der Raum war leer.  Er wusste es, wusste, dass niemand hier war, und trotzdem hatte er das Gefühl, dass irgendwo in den Ecken, die das spärliche Licht der Deckenlampe nicht erreichen konnte, etwas lauerte. Etwas, das ihn beobachtete. Ihn anstarrte.  Eine Art Bogey-Man, unsichtbar in den Schatten verborgen, aber mit langen Krallen, die töten würden, sobald er es darauf anlegte.  Das war Schwachsinn, das wusste er.  Es gab Dinge, vor denen er sich in Acht nehmen musste, sicher, aber eine Kreatur aus Geschichten, vor denen Kinder sich fürchteten und die angeblich in Schränken und unter Betten lauerten, gehörte ganz sicher nicht dazu.  Die Welt war beängstigend genug ohne solche Fantasiegestalten.  Und trotzdem hatte er das deutliche Gefühl, beobachtet zu werden.  Auf einer rationalen Ebene war er sich darüber im Klaren, dass das nichts weiter war als Einbildung; die gottverdammte Paranoia, die in all der Zeit ein Teil von ihm geworden war, ein notwendiger Part seines Verstandes, um am Leben zu bleiben und Schmerzen zu vermeiden.  Meistens war die Paranoia hilfreich. Hier und jetzt jedoch war sie das genaue Gegenteil. Sie lähmte ihn. Hielt ihn zurück, und wenn sie ihre eisigen Klauen noch länger und fester um ihn schließen würde, dann würde diese Gelegenheit verstreichen, und er wusste nicht, wann und ob er das nächste Mal eine bekommen würde.  Und wenn schon, was soll‘s, wisperte eine Stimme in seinem Kopf, ließ ihn zusammenzucken und einen weiteren Blick über seine Schulter werfen.  Er hasste diese Stimme. Sie war feige, gleichzeitig gehässig, wenn es nach ihr ginge, dann würde er für immer hierbleiben; sein Leben weiterhin an diesem Ort verschwenden, sofern man das, was er hier Tag für Tag und Nacht für Nacht tat, überhaupt als ‚Leben‘ bezeichnen konnte.  Seine Finger krallten sich um den Träger des Rucksacks, der auf seinem Rücken ruhte. Er hasste die Stimme, denn er war nur zu oft gewillt, auf sie zu hören.  Sein Blick wanderte zu der Wanduhr, die über der Tür hing, und deren großer Zeiger gerade einen weiteren Schritt vorwärts machte.  Klick.  Das siebenunddreißigste Klick, das er hörte. Siebenunddreißig Minuten, die er bereits hier saß, abwechselnd zwischen der Uhr, der Tür, dem Fenster und den finsteren Ecken hin und herblickte, sich jedes Mal aufs Neue versprechend, dass er sich beim nächsten Klick ganz sicher bewegen würde. Dieses Mal. Dieses Mal ganz bestimmt.  Du wirst noch in drei Stunden hier sitzen, spottete die Stimme.  Er wollte sie anschreien, aber das wäre dumm gewesen, auch wenn momentan niemand hier war, der ihn hätte hören können, hätte ihn der Klang seiner eigenen Stimme erstarren lassen, und dann würde es noch schwerer werden, sich dazu zu bringen, endlich aufzustehen...  Noch schwerer? Oh, das macht keinen Unterschied! Du wirst es nicht tun, und das weißt du auch!  „Sei still...“ Jetzt sprach er doch, wenn die Worte auch kaum mehr waren als ein Flüstern.  Die Stimme lachte bloß ein heiseres Lachen.  Er hätte gerne geglaubt, dass es lediglich diese Stimme war, die Schuld daran hatte, dass er noch immer hier saß, zusammengekauert in dem alten Ledersessel, der neben dem abgewetzten Couchtisch das einzige Mobiliar dieses Raumes darstellte. Er wollte glauben, dass er ohne die herablassenden Kommentare schon längst fort wäre, auf dem Weg zum Busbahnhof, um sich dort eine Karte nach Marple Springs oder Red Creek oder am besten gleich über die Grenze nach Colorado zu kaufen, dass er in einer halben Stunde bereits mit seinem einzigen Gepäckstück auf dem Schoß in einer Sitzreihe Platz nehmen würde, den Blick aus dem Fenster auf die Umgebung richten , zusehen, wie Häuser und Straßen und Felder an ihm vorbeizogen, und er mehr und mehr Distanz zwischen sich und diesen Ort hier brachte…  Er wollte gerne glauben, dass er es tun konnte. Doch je länger er hier saß, dem Klicken der Uhr lauschte, die Finger in den Griff des Rucksackes krallte, desto mehr erschienen ihm die Worte der Stimme in seinem Kopf wie die unumstößliche Wahrheit.  Er konnte es nicht. Er schaffte es einfach nicht.  Er zog die Beine an, legte den Kopf auf seinen Knien ab.  Einige Sekunden lang war das Bedürfnis, zu weinen, überwältigend; aber er wehrte sich dagegen, biss sich stattdessen derart fest auf die Unterlippe, dass er Blut schmeckte.  Er fühlte sich bereits armselig genug. Er musste nicht auch noch in Tränen ausbrechen.  Eine Weile lang verharrte er so, zusammengekauert, bemühte sich, seinen Atem zu beruhigen und das Chaos in seinen Gedanken zu entwirren. Dass es schwer werden würde hatte er von Anfang an gewusst, ihm war klar gewesen, dass nach all den Monaten voller Manipulation, Unterdrückung, Gewalt und Angst nicht einfach von einem Moment auf den anderen all die Blockaden in ihm zerbrechen würden, ihn freigeben würden, als wäre nie etwas gewesen.  Es gab keine physischen Fesseln, die ihn hier hielten, die ihn ans Bett oder an eine Heizung banden wie man es in unzähligen Filmen zu sehen bekam.  Aber die Fesseln in seinem Kopf waren nicht weniger effektiv.  Die Stimme sagte jetzt nichts mehr, vielleicht hielt sie es schlicht nicht mehr für notwendig, ihn noch weiter zu verunsichern. Sie sah, dass sie recht hatte. Und das genügte ihr.  Ein weiteres Klick zerschnitt die Stille des Raumes und ließ ihn innerlich zusammenzucken. Achtunddreißig.  Er war froh darum, dass die Uhr keinen Sekundenzeiger besaß, ein derart häufiges Geräusch hätte ihn vermutlich längst um den Verstand gebracht.  Andererseits... vielleicht hätte es ihm auch dabei geholfen, aus seiner Starre auszubrechen, endlich aufzustehen und durch die Tür zu gehen, die sich bloß wenige Meter entfernt von ihm befand und realistisch betrachtet das Einzige war, was zwischen ihm und der Freiheit lag.  So nah. Und gleichzeitig so fern.  Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Seine Atemzüge hatten sich verlangsamt, allgemein war er ein wenig ruhiger geworden.  Das war gut. Es war ein Anfang.  Er wartete darauf, dass die Stimme zurückkehren würde, um ihn in ihrem spöttischen Tonfall darauf hinzuweisen, dass er doch nicht albern sein sollte, dass er doch ganz genau wusste, dass das kein Anfang, sondern lediglich eine winzige Stimmungsschwankung war, die nicht, aber auch gar nichts bewirken würde.  Aber die Stimme schwieg.  Das kam dermaßen überraschend, dass er im ersten Augenblick versucht war, selbst eine sarkastische Bemerkung in Bezug auf ihren Verbleib von sich zu geben. Er unterdrückte das Bedürfnis - das wäre nicht nur albern, sondern womöglich auch kontraproduktiv – und bemühte sich stattdessen, sie wieder auf sein eigentliches Ziel zu konzentrieren.  Er musste aufstehen. Er musste zur Tür gehen und sie öffnen, musste zur Treppe und nach unten gehen, die Haustür aufschließen und dann...  Ja. Was dann?  Er hatte es genau durchdacht, eigentlich. Immer und immer wieder hatte er überlegt, wie er am besten vorgehen sollte, wenn sich ihm endlich eine Gelegenheit bieten würde, hatte Ideen gesammelt und wieder verworfen, und das was letztlich dabei herausgekommen war, war ihm logisch und sicher vorgekommen, ja, es würde funktionieren...  Jetzt aber wirkte es absolut nicht mehr sicher.  “Ich kann es wirklich nicht”, flüsterte er, und er spürte, wie sein Körper in sich zusammensackte. Es auszusprechen hatte etwas Erleichterndes an sich, aber gleichzeitig versetzte es ihm einen Stich; er wollte sich selbst schlagen dafür, dass er der feigen Stimme recht gab, nicht bloß stillschweigend, sondern es sogar sagte, es in Worte fasste und in die Welt hinausließ, wodurch es noch mehr an Wahrheit hinzugewann...  Es ging nicht. Er konnte es nicht. Er war zu schwach. Er war zu verängstigt. Zu abhängig.  Oh, jetzt hör aber auf, verdammt!  Um ein Haar hätte er leise aufgeschrien, derart unerwartet waren die Worte in seinem Kopf –ja, genau dort waren sie, sie existierten nur in seinem verdrehten Verstand, auch, wenn es sich anhörte als stünde jemand neben ihm, der mit ihm sprach – aufgetaucht.  Es war nicht dieselbe Stimme wie zuvor. Es war eine der anderen. Eine von den beiden, die in letzter Zeit immer häufiger auftauchten, und denen er sogar Namen gegeben hatte.  Die Stimme, die nicht feige war. Die wollte, dass sich etwas änderte. Und trotzdem wusste er nicht, ob es gut war, dass sie jetzt da war.  Steh auf. Sie klang kühl und schroff, wie immer. Nicht wirklich bösartig, auch, wenn sie das durchaus werden konnte. Hier und jetzt jedoch wollte sie lediglich, dass sie endlich fortkamen von hier.  Wie ferngesteuert erhob er sich aus dem Sessel. Einige Sekunden lang überlagerte Schwärze seinen Blick – verdammter Kreislauf – dann regulierte sich der Sauerstoff in seinem Gehirn, und er konnte wieder klarer sehen.  Das Gewicht des Rucksacks schien mit jedem Schritt, den er in Richtung Tür machte, schwerer zu werden.  Sein Puls beschleunigte sich, sein Herz schlug schneller. Das Ding in den finsteren Ecken, das doch eigentlich nicht da war, starrte ihn an.  Als er die Hand nach der Klinke ausstreckte, klickte die Uhr ein weiteres Mal, und unwillkürlich fiel sein Blick auf das Ziffernblatt.  Zwanzig Minuten vor elf.  Verdammt. Er hatte so viel Zeit verschwendet.  Ja, das hast du, blaffte die Stimme, die Ungeduld war ihr deutlich anzuhören. Aber darüber kannst du später jammern, jetzt sieh erst mal zu, dass du wegkommst!  “Aber wenn er früher zurückkommt?” Es war unnötig, laut zu reden, aber er tat es trotzdem. Es war schwierig, sich bloß in Gedanken zu unterhalten, wenn man das, was eigentlich bloß ein Produkt des eigenen Verstandes war, tatsächlich hörte.  Die Stimme knurrte. Das wird er schon nicht! Jetzt geh!  Er wollte ja. Er wollte so gerne gehen, die Tür öffnen und verschwinden, weit weg von hier, diesen Raum, dieses Gebäude, das alles hier niemals wiedersehen...Vergessen, was alles geschehen war.  Und trotzdem stand er einfach bloß da. Starrte die Klinke an, auf der seine Hand lag, beobachtete, wie seine Finger sich um das kühle Metall krallten.  Es war doch bloß eine winzige Bewegung. Ein kurzes Anspannen der Muskeln, um die Klinke herab- und die Tür aufzudrücken.  Sie war nicht abgeschlossen; das war sie schon lange nicht mehr gewesen. Weil es schon lange nicht mehr nötig gewesen war. Weil er nach all der Zeit dermaßen beeinflusst war, dass er sich selbst hier einschloss, sich eigene Fesseln und Barrikaden errichtete, die er nicht zu überwinden vermochte.  Fang nicht wieder damit an, zischte die Stimme.  Aber sie hatte leicht reden. Sie hatte keine Angst. Wusste wahrscheinlich überhaupt nicht, was dieses Gefühl bedeutete; sie war immer unbeeindruckt davon gewesen, was ihre Handlungen für unangenehme Folgen nach sich ziehen könnten, fürchtete sich nie vor Konsequenzen oder versteckte sich vor ihnen.  Ja, ihr machte der Gedanke daran, erwischt zu werden, nichts aus. Es war ein Risiko, das einzugehen sich lohnte, und falls es wirklich schiefging, dann war das eben so...  Ach, wirklich? So denkst du über mich? Der bittere Unterton, der plötzlich mit den Worten mitschwang, überraschte ihn. Es klang, als hätte er irgendetwas gedacht, was die Stimme beleidigt hatte, mit dem sie so nicht einverstanden war...  Ja, gut erkannt! Du glaubst wirklich, ich denke nicht an Konsequenzen? Ein heiseres Lachen, trocken und abfällig. Oh, ich bitte dich! Wie oft hab ich dir schon geholfen, das alles durchzuhalten? Ich hab genau so viel von den Schmerzen ertragen wie du, mindestens! Ohne mich hättest du längst vollkommen den Verstand verloren, also erzähl mir nicht, ich hätte keine Ahnung von alldem!  “Das habe ich nicht-”  Du hast es aber gemeint! Und du solltest wirklich wissen, dass ich alles, was ich tue, deshalb tue, weil ich dich beschützen will!  Er erwiderte nichts. Hätte nicht gewusst, was. Die Stimme hatte recht – es mochte auf den ersten Blick nicht immer so wirken, aber letztlich war es doch immer ihr Ziel, dafür zu sorgen, dass es ihm gut ging. Wobei, das war wohl ein wenig zu viel gesagt. Gut war es ihm schon lange nicht mehr gegangen, und die letzten Male, bei denen er sich so gefühlt hatte war es letztlich nicht mehr als eine Illusion gewesen. Aber es stimmte: Ohne seinen Begleiter, so boshaft und kalt er auch die meiste Zeit über war, so empathielos und egoistisch – ohne ihn wäre er schon lange zerbrochen.  Also! Gehst du jetzt endlich?  “Ich versuche es...”  Für ‘Versuche’ hast du keine Zeit mehr! Tu es einfach!  Es klang so leicht. Nein, es war so leicht. Eigentlich.  Er sah zu, wie die Klinke sich ein wenig senkte. Es war seine eigene Hand, die sie dazu brachte, doch er hatte nicht das Gefühl, wirklich die Kontrolle darüber zu haben. Es war, als gehöre sein Körper in diesem Moment nicht mehr ihm.  Das Klacken des Schließmechanismus ertönte, dann öffnete die Tür sich ein Stück und gab den Blick frei auf einen dunklen Gang, an dessen Wänden vom durch die hohen Fenster fallenden Mondlicht verursachte Schatten tanzten.  Ein Schauer lief ihm über den Rücken.  Geschafft. Er hatte es geschafft. Gut, es war nur der erste Schritt, und der Großteil des Unterfangens lag noch vor ihm, aber jetzt, wo er sich endlich dazu gebracht hatte, sich zu bewegen, zu handeln, die lähmende Furcht vor dem, was ihn erwarten konnte, zu überwinden, würde er den Rest auch noch schaffen, ganz sicher! Er würde den Gang entlang gehen und die Treppe nach unten, die Haustür aufschließen, alles wie geplant, nach draußen in die kühle Oktoberluft treten, und dann...  Dann hörte er die Schritte.  Sie waren leise, gedämpft, aber dennoch deutlich wahrnehmbar. Sie kamen von unten, aus dem Erdgeschoss. Jemand lief dort über die Dielen, brachte ab und an eine von ihnen zum Knarren, hielt dann kurz inne – Stille – und ging dann weiter.  Ihm wurde kalt. Übelkeit kroch in ihm hoch.  Geh!, zischte die Stimme, vollkommen unbeeindruckt von dem, was sich dort unten abzuspielen schien. Und dabei hatte sie eben noch behauptet, es wäre Unsinn, zu denken, sie hätte keine Ahnung von dem hier... wie konnte sie dann von ihm verlangen, weiterzugehen? Er würde der Person dort unten direkt in die Arme laufen, und es spielte keine Rolle, wer sie war, sicher war, dass sie ihn nicht gehen lassen würde; allein die Tatsache, dass dort jemand war, bedeutete, dass sein gesamter Plan gescheitert war, dass Anton geahnt hatte, was er vorhatte, und dass er bloß deshalb heute das Haus verlassen hatte, weil er ihn in eine Falle locken und hinterher dafür bestrafen wollte, und trotzdem verlangte dieses verdammte Ding in seinem Kopf von ihm, dass er weiterging, dorthin, woher die Schritte kamen, direkt in sein Verderben...  Schwachsinn. Dort unten ist niemand!  “Was?” Wieder einmal ließ der Klang seiner eigenen Stimme ihn zusammenzucken. Unwillkürlich biss er sich auf die Unterlippe, und die zerrissene Haut, die gerade aufgehört hatte, zu bluten, platzte wieder auf.  Erneut, der Geschmack nach Metall im Mund. Schnell wischte er sich mit einer Hand über den Mund und betrachtete das Blut an den Fingern.  Die Schritte waren verstummt. Jetzt herrschte Stille, abgesehen vom Heulen des Windes, der um das Haus fegte und irgendwo einen losen Fensterladen zum Klappern brachte.  Geh endlich! Es ist niemand da, da sind keine Schritte, das bildest du dir ein!  Dieses Mal schaffte er es endlich, bloß in Gedanken zu antworten. ‘Woher willst du das wissen? Ich hab sie doch gehört!’  Du hörst mich auch! Und?   Das war ein gutes Argument. Er hörte die Stimme oft; diese und andere, und trotzdem war er nicht der Meinung, dass sie wirklich existierten, auch wenn der Unterschied zu Geräuschen physischen Ursprungs oft schwierig zu erkennen war...  Ich würde nicht sagen, dass wir nicht existieren, aber lassen wir das. Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Geh jetzt endlich da runter und-  Die Schritte waren wieder da. Einige Sekunden lang schienen sie leiser zu werden, sich zu entfernen, dann wurde das Geräusch von schweren Schuhen auf den Dielenbrettern lauter.  Sie kamen näher. Sie kamen auf die Treppe zu.  Instinktiv wich er zurück. Das unnachgiebige Holz der Tür drückte sich in seinen Rücken - Wann, bitteschön, hatte er die Tür hinter sich geschlossen? -, vermittelte ihm das Gefühl, gefangen zu sein, in der Falle zu sitzen wie ein Kaninchen, das in eine Schlangengrube gefallen war.  Das Adrenalin, das bereits seit Stunden in erhöhter Konzentration durch seinen Körper floss, erreichte nun ein neues Level, fest presste er seine Hand auf seinen Mund um sicherzustellen, dass ihm nicht noch einmal ungewollt Worte oder sogar ein Schrei entweichen würden.  Seine Eingeweide fühlten sich an, als hocke etwas darin, was mit scharfen Krallen um sich schlug. Schmerzen durchzuckten ihn, brachten ihn dazu sich vorzubeugen und sich zusammenzukrümmen, einen Augenblick lang war das Gefühl, sich auf der Stelle übergeben zu müssen, überwältigend...  Die Stimme sagte wieder etwas, aber er konnte sie nicht mehr verstehen. Hörte stattdessen unnatürlich deutlich, wie die unterste Treppenstufe knarrte – sie knarrte immer, außer, man trat ganz rechts außen, so nah an der Kante, dass man fast abrutschte, und auch dann knarrte sie nur dann nicht, wenn man nicht mehr als hundertzwanzig Pfund wog -, begleitet von dem Geräusch schwerer Stufe auf ächzendem Holz...  Das bildest zu dir ein, hatte die Stimme gesagt. Da unten ist niemand.  Womöglich hatte sie recht. Es war nicht einmal unwahrscheinlich, dass dem so war, dass diese Schritte nichts weiter waren als ein Produkt seiner Vorstellungskraft, das Ergebnis seiner angespannten Nerven, möglicherweise sogar ein weiterer Versuch des gebrochenen Teils seiner Psyche, der ihn um jeden Preis davon abhalten wollte, sein Vorhaben durchzuziehen und endlich von hier zu verschwinden...  Vielleicht. Vielleicht war es nichts als Einbildung.  Aber vielleicht kam da auch wirklich jemand die Treppe hoch, kam direkt auf ihn zu, vielleicht würde in wenigen Augenblicken eine Person vor ihm stehen, ihn mit einem grauenhaften Spott in den Augen mustern, bevor sie ihn packen und zurück in das kahle Zimmer schleppen würde, wo er eingeschlossen werden und warten würde, vielleicht sogar hören könnte, wie die Person ihr Handy nahm und Anton anrief, um ihm mitzuteilen, dass er recht gehabt hatte mit seinem Verdacht, dass ‘das Miststück wirklich versucht hatte, zu fliehen’...  All diese Überlegungen liefen in Höchstgeschwindigkeit in seinem Kopf ab. Er merkte gar nicht, wie er sich umdrehte, die Türklinke herabdrückte und die Tür ein Stück öffnete, sich durch den entstandenen Spalt zurück ins Zimmer schob und sie so leise wir möglich wieder hinter sich zuzog.  Nun durch das Holz gedämpft näherten sich die Schritte weiter. Wieder ein Knarren – unverkennbar die drittletzte Stufe vor dem oberen Treppenabsatz. Er kannte all diese Geräusche nach all der Zeit ganz genau.  Mit schnellen Schritten durchquerte er den Raum. Kniete sich unter dem Fenster auf den Boden, tastete über die Dielenbretter, dabei weiterhin lauschend – die Schritte waren wieder verstummt.  Aber er wusste, dass dort draußen jemand war. Er spürte es, wie eine bedrohliche Aura die durch die Tür und die Wände drang, ihre langen Finger nach ihm ausstreckte, ihn mit durchdringendem Blick anstarrend, obwohl es eigentlich keine Augen gab, die starren konnten...   Er fand das richtige Brett und drückte es nach eben.  Der Hohlraum kam zum Vorschein, ein finsteres Loch unterhalb des Bodens, im ersten Moment unendlich scheinend bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und er den Boden unter dem Boden erkennen konnte.  Er zog sich den Rucksack vom Rücken und schob ihn unter die Bretter.  Draußen begannen die Schritte erneut. Noch näher nun, furchtbar nahe. Direkt vor der Tür.  Seine Finger zitterten, als er das leere Brett wieder zurück an seinen Platz drückte. Schnell stand er auf, ging zurück zum Sessel und ließ sich hineinfallen, den Blick ununterbrochen auf die Tür geheftet.  Die Schritte entfernten und näherten sich. Entfernten und näherten sich. Nah. Fern.  Regungslos verharrte er in seinem Sessel. Die Beine wieder angezogen, die Arme darum geschlungen, weiterhin die Tür nicht aus den Augen lassend.  Sie öffnete sich nicht. Niemand kam herein, und nach drei Klicks der Wanduhr hörten die Schritte wieder auf, waren für einige Sekunden nicht mehr zu hören, und bewegten sich dann unverkennbar wieder die Treppe nach unten. Die Stufen knarrten.  Er bewegte sich noch immer nicht.  Er wusste nicht, was das dort draußen gewesen war – jemand, der abgestellt worden war um aufzupassen, dass er keinen Versuch unternahm, von hier zu verschwinden, oder lediglich ein Produkt seines verwirrten Verstandes?  Die Stimme hatte sehr überzeugt geklungen bei ihrer Aussage, es habe sich um letzteres gehandelt... und ja, wahrscheinlich hatte sie recht damit gehabt.  Wahrscheinlich hatte er sich von etwas aufhalten lassen, das nicht mehr gewesen war als eine Einbildung. Fesseln und Barrieren, die er sich selbst auferlegte. Weil er den Einfluss und die Kontrolle, die Anton über ihn ausübte, einfach nicht durchbrechen konnte.  Das Adrenalin, das seinen Körper durchflutet und ihn angespannt und wachsam gemacht hatte, ebbte ab. Mit einem Mal fühlte er sich unglaublich müde. Seine verkrampften Muskeln lockerten sich ein wenig, er hatte einfach eine Kraft mehr, ebenso wenig wie dafür, seine Augen offen und seinen Blick klar zu halten...  Er schlief ein, bevor er überhaupt wirklich registriert hatte, wie müde er war. Es war ein tiefer schlaf, in den er fiel, und er war durchzogen mit wirren Traumfetzen, die nach dem Aufwachen verblassen und lediglich ein ungutes Gefühl zurücklassen würden das darauf schließen ließ, dass es sich dabei keinesfalls um angenehme Träume gehandelt hatte...  Als würde er bloß aus seinen Alpträumen erwachen, um sich in einem anderen, längeren Alptraum wiederzufinden, der sich ‘sein Leben’ nannte.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)