Zeit der Kolibris von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 8: Kapitel 8 -------------------- „Also dann – ich will nicht weiter stören“, ließ sich Krumbiegel vernehmen, sah kurz zu Matthias, hob die Hand, wollte ihm durchs Haar streichen, ließ es jedoch und nickte dann Simone zu. Diese schnappte Matthias Hand, drückte sie, denn sie spürte seinen Wiederstand, sich der Situation zu ergeben. Sie aber hielt ihn fest, so fest sie konnte, und wollte ihn auch mit der anderen Hand packen, um seinem Toben und Trotzen etwas entgegensetzen zu können. Doch vergebens. Wie sollte sie ihn jetzt nur beruhigen, wie ihm begreiflich machen, ja ihn überzeugen von dem, was richtig für sie beide war, wenn er doch so stark dagegenhielt – gleichsam wie ein Hund. Simone schrack bei diesem Gedanken zusammen, sah auf, fand Krumbiegels Blick auf sich gerichtet. Prüfend war er, wie sie fand.   „Ich denke, es ist wirklich besser, wenn Sie jetzt gehen“, presste sie hervor. Er nickte, jedoch nicht ohne sich noch einmal an Matthias zu wenden. „Auf Wiedersehen, Matthias“, sagte er ruhig und lächelte, geradezu freundlich durch seine runden Brillengläser hindurch, die seine Augen größer erscheinen ließen. All das nahm Simone in diesem Bruchteil einer Sekunde wahr, wunderte sich. Auch, dass er braune Augen hatte, war in ihr Bewusstsein getreten – gerade als sein Blick den ihren noch einmal streifte. Dann drehte sich Krumbiegel um, ging. Aber als er sich schon einige Schritte entfernt hatte, riss sich Matthias mit solch einem Ruck von seiner Mutter los, dass sie, den Schmerz in der Schulter kaum spürend, zurücktaumelte und gar zu fallen drohte, während er hinter dem Regisseur herlief, „Heine, Heine“, rufend.   Indes rieb sie sich die pochende Brust und begriff erst jetzt, dass er sie wohl auch weggestoßen haben musste, um von ihr loszukommen. Sie schnappte nach Luft und presste die Augen zu, um sie sogleich wieder zu öffnen. „Matthias“, rief sie, doch er hörte nicht und noch einmal: „Matthias“, doch ihre Stimme gehorchte ihr nicht, brach, ging über in ein Wimmern, dass sie sich zwar verbieten konnte, jedoch wurde sie nicht Herr darüber. Sie räusperte sich, tat einige Schritte auf die sich ihr bietende Szene zu, blieb wieder stehen – irritiert – denn plötzlich begann auch Krumbiegel zu rennen und es schien ihr so, als wolle er Matthias entkommen. Wieder hörte sie seine brüchige Stimme, die, so vermutete Simone, von Tränen und der Erschöpfung des schnellen Laufs getragen war.   „Niheine … Film … Film“, rief er. „Niheine … hier, aba sofot.“   Und just in dem Moment sah sich Krumbiegel kurz um, breitete dann die Arme aus und rannte weiter. Simone stutzte und verstand erst, als Matthias es schon begriffen hatte und es dem Regisseur gleichtat.   „Fliegzeug“, rief ihr Sohn. „Heine … Fliegzeug“, und wedelte mit den Armen in der Luft herum. Krumbiegel verlangsamte seine Schritte, drehte eine Kurve. Matthias folgte ihm, wenn auch langsamer werdend. Sehr viel langsamer. Doch wieder krächzte er: „Fliegzeug.“   „Ja“, kam es da kollernd, aber ebenso heißer von Krumbiegel. Auch er was langsamer geworden, hielt jedoch die Arme ausgebreitet. Und Matthias tat es ihm gleich. „Ja“, rief er und machte einige Sprünge. „Fliegzeug …“   Kann nicht anders, schoss es Simone durch den Kopf, wischte den Gedanken jedoch sofort wieder weg.     „Mir ist durchaus bewusst …“, setzte sie später, als sie alle drei in einem der vielen Lokale in Lehde saßen, an. Im Garten, da die Sonne so sommerlich warm schien. Simone und Krumbiegel je einen Kaffee vor sich, Matthias Brause und Plinsen, die er mit großem Appetit verzehrte. Diesmal hatte er sich jedoch geweigerte, sie sich von seiner Mutter in kleine Häppchen schneiden zu lassen.   „Allein“, hatte er gesagt und sie hatte ihn, wenn auch widerwillig, gelassen, nur, um nun immer wieder zu ihm hinüber zu blicken – er hatte darauf bestanden, neben Krumbiegel zu sitzen – und das Chaos, das er auf seinem Teller anrichtete, zu begutachten. Er fetzte die Plinsen mehr als dass er sie entzweischnitt und stopfte sich viel zu große Happen in den Mund. Das Apfelmus quoll ihm aus den Mundwinkeln.   „Bitte verzeihen Sie“, hatte sie soeben noch sagen wollen, sich dann jedoch zurückgenommen. Wenn es Krumbiegel anekelte, neben ihrem Sohn zu sitzen – was durchaus verständlich wäre –, könnte er ja gehen. So dachte sie. Doch er blieb, sah nur einige Male amüsiert zu Matthias. „Schmeckt’s?“, fragte er mit rauer Stimme und erhielt dafür ein ebenso kollerndes und schmatzendes Nicken.   „Mund zu beim Essen“, rief Simone, doch Matthias schien sich daran nicht zu stören. Er aß einfach weiter und sie versuchte, von der vorherigen Situation noch immer überfordert, sich darüber klar zu werden, was genau eigentlich geschehen war, warum sie nun hier saß – mit diesem Krumbiegel. Wie er es letztlich geschafft hatte, dieser aufdringliche Kerl, mochte er nun Regisseur sein oder nicht, sie hierherzubekommen.   „Mir ist durchaus bewusst, was Sie mit Ihrer Rumrennerei bezweckt haben“, setzte sie wieder an und erntete dafür ein belustigtes Lächeln. „Nur der Grund dafür ist Ihnen nicht klar?“   „Nur der Grund dafür ist Ihnen nicht klar?“   Sie schwieg, wollte ihn kommen lassen. Und so neigte er sich plötzlich über den Tisch, sah sie einen Moment lang an, sagte dann leise, fast verschwörerisch: „Aber, wenn ich Ihnen das sage und es Matthias hört, möchte er bei dem, was ich vorhabe, mitmachen und was dann?“   Wieder sah Krumbiegel sie an, wohl um ihre Reaktion abzuwarten. Doch die blieb aus und so fuhr er schließlich fort: „Und dabei habe ich mich ja noch gar nicht entschieden, ob er mitmachen kann. Also werde ich wohl noch nichts sagen …“   „Jetzt hören Sie aber mal mit den Kindereien auf“, unterbrach ihn Simone scharf. „Ich weiß doch, was Sie im Schilde führen!“   Krumbiegels Augenbauen zuckten kurz noch, dann gebot er ihr mit einer eindeutigen Handbewegung zu schweigen, doch sie, nun wieder voll der Wut darüber, dass sie der Wiesenszene nachgegeben hatte, schnaubte: „Bei mir liegt ja wohl die Entscheidung darüber!“   „Eben deswegen …“, fuhr Krumbiegel leise fort.   „Hören Sie“, ergriff Simone wieder das Wort, „ich weiß um ihr Projekt aus dem Krankenhaus …“   „Also haben Sie es nicht aus der Zeitung erfahren?“   Sie schüttelte den Kopf. „Klingbeil.“ Sie räusperte sich als sie den ausmerksamen Blick Krumbiegels auf sich gerichtet wusste: „Herr Dr. Klingbeil nannte Sie mir – gestern. Gab mir auch Ihre Telefonnummer.“   „Und, werden Sie mich irgendwann einmal anrufen?“, platzte es aus Krumbiegel heraus – stimmlich leicht knarrend, wie Simone fand, aber nicht desto weniger lachend.   „Das geht ja wohl alles ein wenig zu schnell“, erwiderte sie knapp.   „Pardon.“   „Und außerdem kenne ich Sie ja gar nicht. Außer, dass Sie hier und da mal ein paar Serien gedreht haben …“   „Im Grunde nicht nur hier und da“, unterbrach er sie, „in letzter Zeit …“ Er kollerte wieder leise, doch sie winkte ab. „Und dass Sie damit nicht sonderlich zufrieden sind …“, fuhr sie fort, „wobei ich mich frage, warum das so ist. Machen Sie nicht gern Filme und Serien für die Allgemeinheit? Ist es, weil Sie meinen, die eigenen, zu hochgehaltenen Fähigkeiten hier vermeintlich nicht zum Einsatz bringen zu können …“   Simone unterbrach sich, sah Krumbiegel in die Augen, der jedoch ganz ruhig, ja geradezu statuengleich vor ihr saß. Sie hatte ihn provozieren wollen und schickte dem, da außer einem Lächeln keine Reaktion von ihm kam, noch ein: „So ist es doch bei den meisten“, hinterher.   Doch erntete sie dafür nur ein schulterzuckendes, wieder leicht kollerndes und angerautes: „Das sind sehr viele Gedanken auf einmal, Frau Falkenstein.“   „Wunderbar pariert!“, konterte sie, nahm einen Schluck Kaffee, fuhr dann fort: „Und jetzt versuchen Sie sich, nach Fähre, Traumschiff, Polizei und Arztpraxis an Stoffen, die das Leben schreibt?“ Auch sie kollerte leise – von dem Wunsch getragen, ihn nachzuahmen. Doch wiederum schien er sich nicht von ihr provozieren zu lassen und so fiel die gedeihliche Stimmung schlagartig von ihr ab und sie lehnte sich, noch ehe sie es bewusst hätte verhindern können, zurück und schob ihre Kaffeetasse umher.   „Ich würde mich Ihnen gern vorstellen, Frau Falkenstein“, setzte Krumbiegel an, gerade so, als existierten Simones Einwürfe nicht, die sich dadurch wie das bockige Aufbäumen eines kleinen Kindes ausnahmen.   „Verzeihen Sie“, warf sie ein, ohne ihn jedoch anzusehen.   „… ob wir das heute jedoch schaffen …“   Sie sah ihn einen Moment lang an, öffnete dann den Mund spie ihm entgegen: „Himmel, Sie könnten wenigstens so tun, als nähmen Sie meine Entschuldigung an“, nur, um gleich darauf zurückzuzucken und auf ihre Tasse hinabzusehen.   „Was sollt’ ich da verzeihen“, ließ sich Krumbiegel nach einer kleinen Weile vernehmen und räusperte sich anschließend, „Sie kennen mich ja nicht. Aber um mit Letzterem zu beginnen: Ja, Sie haben recht, nach langer Zeit ist es mir wieder möglich, einen Film zu drehen, der mir persönlich am Herzen liegt. Einen Film über Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen – noch immer, wie ich finde …“   „Früher war das schlimmer“, warf sie ein, noch immer unfähig, den Blick zu heben.   „Deswegen sagte ich ja noch immer, denn das Problem ist ja nicht behoben. Freilich – nun weiß ich nicht, aus welchem Kontext heraus Sie sprechen …“   „Ich komme aus der ehemaligen DDR“, erwiderte sie und zwang sich nun doch aufzusehen.   „Dann wissen Sie ja, wie es da war.“ Und mit Blick auf Matthias: „Und vielleicht sogar ganz persönlich.“   „Die ersten Jahre schon“, gab Simone knapp zur Antwort.   „Auch das interessiert mich!“   „Aber das wissen Sie doch.“   „Ja, aber nicht von Ihnen, Frau Falkenstein. Nicht von Ihnen“, kam’s prompt von ihm und er deutete auf Simone, zog dann den Finger zurück, begann seine Jackentaschen abzuklopfen, nach etwas suchend, und brachte schließlich eine Zigarette ans Tageslicht, die er sich umgehend in den Mundwinkel schob. „Ich schätze mal“, sagte er – und die Zigarette begann zu wippen –: „dass Sie Nichtraucherin sind?“   Sie nickte, sah ihn irritiert an – schon darauf gefasst, ihn bitten zu müssen, die Zigarette nicht anzuzünden.   „Dann entschuldigen Sie mich für einen Moment. Ich muss mal …“ Er grinste und wackelte dabei mit dem Kopf. „Aber nicht weglaufen“, schob er grinsend hinterher. „Sie bekommen ja noch das Geld für die ausgefallene Bootstour von mir.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)