Zeit der Kolibris von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 4: Kapitel 4 -------------------- Erst, als Simone ihren Sohn wieder im Arm hielt und er seinen Kopf an ihrer Brust barg, beruhigte sie sich langsam. „Mama“, brachte Matthias krächzend hervor und legte die Arme um ihre Taille. Das tat er oft, wenn er Schutz und Trost suchte. Auch duckte er sich dann, machte sich klein wie ein Kind, und sie hielt ihn – so fest sie konnte. Ihr war es dabei vollkommen egal, wie sie wirkte, vor allem jetzt und hier, da sie mit Matthias im Untersuchungszimmer saß. „Ist ja gut“, flüsterte Simone und strich ihrem Sohn über den Kopf, während sie sich noch einmal versichern ließ, dass Matthias nichts habe – jedenfalls nichts Körperliches, wie Dr. Klingbeil hinzufügte. „Also nichts?“, keuchte sie. „Nichts“, wiederholte er. „Keine Epilepsie?“ „Wir haben ein EEG gemacht – das jedoch ergab nichts. Daher ist es nicht angeraten, ein MRT …“, fuhr Klingbeil fort. „Nicht angeraten?“, fauchte sie, zuckte jedoch leicht, da Matthias ein leises Jammern von sich gab. „Ist gut, ist ja gut“, flüsterte sie an ihn gewandt, sah dann wieder zu Klingbeil: „Meines Wissens aber lassen sich gewisse Dinge nicht eindeutig durch das EEG bestimmen und mein Sohn …“ Sie unterbrach sich, verengte die Augen zu Schlitzen, denn so wie jetzt, hatte man sie schon einige Male abgewimmelt. „Frau Falkenstein, bitte glauben Sie mir, dass keine Veranlassung dazu besteht, von einer Epilepsie auszugehen. Aber wenn Sie Ihrem Sohn tatsächlich eine Untersuchung im MRT zumuten möchten, dann freilich hindere ich sie nicht daran.“ „Was soll das heißen“, schnappte sie und fuhr ihrem Sohn mit der Hand über die Stirn. „Wollen Sie mir etwa unterstellen, dass ich …“ „Nein, nein“, beeilte sich Klingbeil zu versichern und hob die Hände. Sie schwieg, sah den Arzt einen Moment lang scharf an, bis der seinen Blick senkte. Dann wandte sie sich an Matthias, der nun fast auf ihr lag, den Daumen an den Lippen. „Aber woher kommen dann diese Anfälle?“, begann sie dann wieder, „woher seine Gedanken, woher diese Vehemenz?“ „Ich weiß es nicht“, gab Klingbeil zu. „Ich kann es Ihnen nicht sagen.“ „Aber das muss doch aufhören“, beharrte sie und spürte, wie sich in ihrer Kehle ein Knoten zu bilden begann. „Mama“, kam es im gleichen Augenblick von Matthias und er hob den Kopf. So als habe er verstanden, sah er sie an. Sie aber wusste, dass das ganz unmöglich war. Er suchte nur ihre Nähe und spürte, dass sie in diesem Moment nicht vollkommen bei ihm war, dass sie sich mit anderen Dingen beschäftigte. „Wann hört das auf?“, fragte sie Klingbeil hilflos. „Wann?“ „Ich weiß es nicht. Hauptsache ist doch aber, dass Matthias rein körperlich nichts fehlt.“ Er wandte sich an Matthias: „Nicht, wahr, du bist gesund.“ Dazu lächelte er. „Gesund“, kam es prompt von Matthias, der sogleich an seinem Daumen zu knabbern begann. Das tat er oft, wenn er aufgeregt war. „Gesund“, wiederholte er, dann hob er den Kopf, gab ein helles Lachen von sich, erhob sich gänzlich vom Schoß seiner Mutter und klatschte in die Hände. „Gesund, gesund“, rief er dazu. „Aber das stimmt doch überhaupt nicht“, warf Simone ein. „Mein Sohn sei gesund? Nur, weil Sie nicht wissen, was er hat, behaupten Sie nun, er sei gesund?“ „Ich behaupte es nicht, ich weiß es, Frau Falkenstein“, erwiderte Klingbeil. „Ach, Sie wissen es? Wissen Sie, von wie vielen Ärzten ich Gleiches schon hörte?“, fauchte sie. „Frau Falkenstein, ich bitte Sie“, versuchte sie der Arzt zu beruhigen, fuhr dann jedoch fort: „Was soll ich denn mehr sagen als das? Ich kann mir doch keine Krankheit aus den Fingern saugen.“ „Was? Was wollen Sie damit sagen? Dass ich …“, rief sie und sogleich gab Matthias einen unartikulierten Laut von sich. Er klang gepresst, gleichzeitig schrill. Simone wandte sich an ihren Sohn, legte ihm den Arm um die Schulter. Dieser barg sein Gesicht an ihrer Brust. „Da sehen Sie, was Sie angestellt haben“, ereiferte sie sich. „Es tut mir leid, aber vielleicht sollten Sie sich …“ „… an einen Psychologen wenden?“, schnappte sie, ihn unterbrechend, und rümpfte die Nase. Derweil strich sie Matthias über den Kopf, ohne es recht zu bemerken. Klingbeil registrierte ihre fahrigen Gesten, sagte einen Moment lang gar nichts, ehe er tief Luft holte. „Ich erahne, dass ich Ihnen damit keinen Dienst erweise, weil Sie bereits bei zahlreichen Psychologen waren und sie Ihnen nicht helfen konnten. Und deswegen wollte ich Ihnen etwas ganz anderes vorschlagen.“ „Und was bitteschön?“ „Nun, ich weiß nicht, inwieweit es Ihnen überhaupt hilft, aber mir kam da gerade ein Gedanke“, fuhr der Arzt fort. „Und was für einer?“ „Nun, ich habe Kontakt zu einem Filmemacher, der gerade an einem Projekt arbeitet, das sich jungen Erwachsenen zuwendet, die wie Matthias sind. Er möchte einen Film über diese Menschen machen, ihre Lebenswelt nachzeichnen.“ „Spinnen Sie?“, kam es prompt von Simone. „Denken Sie etwa, ein Filmemacher könnte mir helfen?“ Klingbeil zuckte mit den Schultern. „Bei der Familie meines Bruders war er bereits. Er ist ein schon etwas älterer Regisseur, der sehr viel Erfahrung und auch Empathie zeigt.“ „Na und?“, schnappte Simone. „Was geht das mich an?“ „Im Zuge seiner Recherchen spricht er auch mit den Eltern.“ „Was? Das wird ja immer besser. Jetzt servieren Sie mir einen Filmemacher als Therapeuten?“, kollerte Simone und fuhr ihrem Sohn so heftig durchs Haar, dass dieser einen unartikulierten Laut von sich gab. Sofort neigte sie sich zu ihm hinab. „Ist ja gut“, sagte sie leise, sah dann wieder auf, und fing Klingbeils Blick auf. „Was starren Sie so?“ Klingbeil schüttelte den Kopf. „Ich möchte Ihnen den Filmemacher nicht als Therapeuten servieren, doch weiß ich von meinem Bruder, dass es ihm und seiner Frau guttat …“ „Aber mir wird es nicht guttun“, unterbrach ihn Simone barsch, wollte aufstehen, doch wurde sie sich sogleich ihres Sohnes bewusst, der wieder an ihr lehnte. „Aber wenn Sie doch allein sind“, insistierte der Arzt, „dann kann ein Gespräch guttun.“ „Aber doch nicht mit einem dahergelaufenen Regisseur.“ Simone tippte sich an die Stirn und lachte gequält. Dann gab sie Matthias ein Zeichen, dass sie sich erheben wolle. Nur widerwillig richtete der sich auf. „Film“, sagte er. „Ja, richtig Film“, kam es von Klingbeil. Er deutete auf Matthias. „Weißt du, was das ist, ein Film?“ „Jetzt hören Sie doch endlich damit auf“, rief Simone spitz und funkelte den Arzt an. „Ich höre schon auf“, wandte er sich an sie, „aber was, wenn Matthias diese Idee gutfindet?“ „Mumpitz“, kam es von ihr, dann nahm sie die Hand ihres Sohnes, entschlossen, das Zimmer zu verlassen, doch in dem Moment trat ihr Klingbeil in den Weg. „Frau Falkenstein, ich weiß, dass Sie verzweifelt sind, weiß auch, dass es so wirkt, als habe niemand ein Ohr für Sie. Niemand versteht Sie, alle sind Ihnen fremd. Sie allein mit ihrem Schicksal. Und gerade aus diesem Grunde habe ich Ihnen diesen Vorschlag gemacht. Aber das hätte ich gewiss nicht getan, wenn ich von diesem Regisseur nicht vollkommen überzeugt wäre. In Ihrem Fall halte diese Idee zumindest für bedenkenswert. Der Regisseur möchte gerade Behinderten und ihren Angehörigen eine Stimme verleihen, also die Möglichkeit geben, sich zu äußern. Wie weit Sie dabei gehen, wäre doch Ihnen überlassen … Und wenn Sie das nicht überzeugt, dann schauen Sie sich wenigstens seine Filmographie an. Er heißt Heiner Krumbiegel, wenn der Ihnen etwas sagt. Er war damals, als die Mauer noch stand, einer der bekanntesten …“ „Dafür hatte ich keine Zeit“, unterbrach Simone ihn. „Aber dann lassen Sie mich Ihnen wenigstens seine Nummer aufschreiben …“ „Mumpitz“, erwiderte Sie und wandte sich zum Gehen. „Film“, kam es da von Matthias. „Film.“ „Warten Sie doch“, rief Klingbeil hinter ihr her. „So warten Sie!“ Sie aber war schon zur Tür hinaus, an der Hand ihren Sohn, der sich umsah und noch einmal „Film“ sagte. Sie zog ihn weiter, doch sogleich hörte sie, wie jemand hinter ihr hergerannt kam. „Frau Falkenstein, so nehmen Sie wenigstens die Nummer mit. Ich bitte Sie. Ich weiß um Ihre Verbitterung.“ „Bitterung“, wiederholte Matthias und dann sagte er noch einmal: „Film.“ „Ja, Film“, wandte sich Klingbeil an Matthias, dann lächelte er müde. „Hier, die Nummer, gib Sie deiner Mutter“, fuhr er fort und drückte Matthias den Zettel in die Hand. „Gib ihn deiner Mutter.“ „Mama“, rief er. „Mama, Film.“ Am Abend hatte sich Matthias wieder beruhigt – zumindest sprach er nicht mehr von den Erlebnissen des Tages, sondern schmiegte sich, im Bett neben Simone sitzend, an sie, gähnte und patschte auf das kleine blaue Buch – Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren. „Vorlesen“, murmelte er und rieb seinen Kopf an Simones Schulter.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)