On The Grid von lady_j ================================================================================ Kapitel 1: Friday. Practice. ---------------------------- „Das Auto zickt.“ „Deine Mutter zickt. Fahr.“ „Ich würde ja gern, aber was auch immer du mit der Konfiguration angestellt hast, es ist scheiße!“ „Definiere scheiße.“ „Die Bremsen reagieren zu spät, und irgendwas ist mit der Balance nicht in Ordnung.“ „Copy. Deine Bremsen sind heiß gelaufen.“ „Deine Mutter ist heiß gelaufen!“ „Fahr einfach, Boris.“ „Du mich auch, Yura.“ Freitag. Practice. Singapur war eines von Boris’ Lieblingsrennen. Vielleicht lag es daran, dass es nachts stattfand. Die erleuchtete Strecke und die glitzernde Stadt zu beiden Seiten erinnerten ihn immer an sein altes Leben, als er in von Yuriy hochgetunten japanischen Flitzern durch Moskau gejagt war als gäbe es kein Morgen. Zugegeben, den hatte es auch nicht gegeben, nicht für ihn, und so war es ihm auch egal gewesen, als die Polizei ihn doch noch erwischte. Er hatte sich auf eine mehrjährige Haft eingestellt - vor allem aber auf Yuriys Wut angesichts des Urteils - doch dann war alles anders gekommen. Ralf Jürgens, von dem er bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal gehört hatte, war aufgetaucht, hatte mir sehr viel Geld gewedelt und ihn binnen Wochen in ein vollkommen neues Leben verpflanzt. Seitdem war er Rennfahrer für Team Grypholion. Die Off-Season verbrachte er in seiner Wohnung in Monaco, was nur einen kurzen Flug von der Zentrale in Süddeutschland entfernt war. Oder er ging Snowboarden in den Alpen. Oder Surfen in Australien. Oder Skydiving in den Staaten. Nur Russland mied er wie die Pest. Wenn er aus dem Urlaub kam, hatten Yuriy und die anderen den Wagen für die nächste Saison konzipiert, der dann konstruiert und auf Herz und Nieren geprüft wurde. Bis das vorsaisonale Testen begann und Boris endlich wieder ans Steuer durfte. Dann die Rennen. Die Podien. Der Geruch von brennendem Gummi. Die nicht enden wollenden Schübe puren Adrenalins. Champagner, der auf seiner Haut trocknete. Die Partys. Er hatte nie damit gerechnet, jemals so ein Leben führen zu können, aber so was es nun seit drei Jahren. Das war schon eine gute Zeit in diesem schnelllebigen Sport, zumal er immer noch für Grypholion fuhr. Es war nicht so, dass er keine anderen Angebote bekam. Doch sein Wille, das Team zu verlassen, war eher gering. Außerdem wollte er weiter mit Yuriy zusammenarbeiten. Er war der einzige, der ihm von seinem alten Leben geblieben war, und so sollte es auch bleiben. „Kuznetsov.“ Boris wandte den Blick von der Strecke ab und sah Ralf Jürgens auf sich zukommen. Ralf kam vielleicht in Sachen Statur und Schulterbreite nicht an Boris heran, doch er war trotzdem ein beeindruckender Mann, einer von denen, die Einfluss einfach ausstrahlten, egal, ob sie nun einen maßgeschneiderten Anzug trugen oder, wie Ralf jetzt, ein violettes Polohemd, das gespickt war mit den Logos ihrer Sponsoren. Boris, das sollte erwähnt werden, verabscheute die Saisonfarbe, obwohl ihm alle versicherten, dass sie seine Augen wunderbar zur Geltung brachte. „Ich wusste, dass ich dich hier finde“, sagte Ralf, als er bei ihm angekommen war. Sie standen etwas erhöht auf einem der Podien, wo sich bis vor ein paar Stunden noch die Schaulustigen getummelt hatten, um das freie Training zu beobachten. Die Rennstrecke verlief hier in einer kurzen Geraden direkt an der Marina Bay. Links reckten sich die drei Türme des SkyParks in den dunklen Himmel. „Brooklyn hat erzählt, es gab Probleme beim Training heute?“ Boris verdrehte die Augen. „Ich habe mich nur mit Yuriy unterhalten“, sagte er. „Das ist bei uns so. Grundsätzlich ist mit der Karre alles in Ordnung, keine Sorge.“ Endlich wandte er den Blick von der Strecke ab und sah Ralf an. Lehnte sich mit der Schulter gegen den Maschendrahtzaun, der den Zuschauerbereich abtrennte. „Aber deswegen bist du nicht extra hierhergekommen, um allein mit mir zu reden, oder?“ Ralf schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und grinste freudlos. „Natürlich nicht“, entgegnete er. „Mir ist klargeworden, dass ich dir ein Headsup geben muss, was unseren neuen Sponsor betrifft.“ Nun wurde Boris hellhörig. Ralf und Brooklyn hatten das ganze letzte Jahr über nach einem weiteren Sponsor für das Team gesucht, sich dabei aber extrem bedeckt gehalten. Es hieß, Ralf habe einige seiner persönlichen Verbindungen genutzt und einen „alten Freund“ aus Japan an Bord geholt. „Gibt es Probleme?“, fragte er. „Ganz im Gegenteil“, sagte Ralf. „Wir können jetzt öffentlich verkünden, wer es ist. Das wird nicht ganz unkontrovers, aber wir denken, dass wir das gut auffangen können. Nein, ich spreche von Takao.“ Takao Kinomiya war der zweite Fahrer in ihrem Team. Es war Takaos erste Saison; letztes Jahr hatte Brooklyn überraschend Miguel Lavalier abgesägt und Takao aus der F2 geholt. Es hieß, Brooklyn habe auf ausdrückliche Anweisung Ralfs gehandelt, um zukünftige Sponsoren zu bezirzen. Ralf wollte unbedingt einen japanischen Fahrer für Grypholion, und jetzt wurde auch langsam klar, warum. Miguel jedenfalls war tödlich beleidigt gewesen und zu ihren ärgsten Konkurrenten gewechselt: Salamalyon. Boris tat es um ihn nicht leid. Sie waren niemals wirklich gut miteinander ausgekommen. Mit Takao war es leichter. Er würde nicht behaupten, dass sie Freunde waren, aber zumindest musste Boris nicht fürchten, dass Takao ihm während eines Rennens ins Heck fuhr. In diesem Moment wusste Boris in keinster Weise, wohin dieses Gespräch führen würde. Er machte eine auffordernde Geste. „Schieß los.“ Ralf schien zu überlegen, wie er am besten anfangen konnte und entschied sich wohl für den direktesten Einstieg, denn er sagte: „Der neue Sponsor ist Hiwatari Motors.“ Das war tatsächlich eine Überraschung, jedoch eine durchaus positive. „Heißt das, die beliefern uns mit Teilen?“, fragte Boris. „Yuriy wird ausrasten. Der liegt mir seit Jahren in den Ohren, dass er viel lieber was von denen in der Karre verbauen würde.“ Ralf blinzelte verwirrt, dann schüttelte er amüsiert den Kopf. „Ich vergesse immer wieder, wie wenig du über diesen Sport eigentlich weißt“, sagte er. „Hör zu. Es geht hier nicht darum, was Hiwatari uns liefern und zahlen kann und was nicht. Es gibt da noch eine andere Dimension, und das betrifft Takao.“ „Ich verstehe nicht.“ Ralf hob beschwichtigend die Hände. „Du weißt, was mit Takaos Bruder passiert ist, oder?“ Boris sah ihn an, unsicher, was er sagen sollte. Es war ein heikles Thema, über das niemand, niemand in der ganzen Szene, gerne sprach. Das hatte er sehr früh erfahren müssen. „Ich weiß, dass er tot ist“, sagte er tonlos. Erwähnte nicht die Details: Dass Hitoshi Kinomiya vor zehn Jahren in Österreich in der 33. Runde aus einer Kurve geschleudert wurde und in die Absperrung raste; dass irgendetwas seinen Wagen zerfetzte; dass elf Sekunden nach dem Aufprall alles in Flammen stand, die erst vier Minuten später gelöscht werden konnten. All diese Informationen hatte er sich selbst anlesen müssen, nachdem Takao ins Team gekommen war, denn abgesehen davon hatte es zwar seltsame Gerüchte gegeben, aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihm die Situation zu erklären. Zu wissen, was es mit alledem auf sich hatte, machte es nicht leichter, damit umzugehen. Doch Takao hatte sich als unerbittliche Frohnatur entpuppt. Ralf setzte eine Miene auf, an die Boris sich noch gut erinnerte: Zum letzten Mal hatte er diesen Ausdruck gesehen, als sie seinen Vertrag verhandelt hatten. Es war ein Pokerface, unmöglich zu sagen, was wirklich dahintersteckte. „Hiwatari Motors ist nicht zum ersten Mal in unser Geschäft involviert“, erklärte er. „Bis vor zehn Jahren waren sie Zulieferer für das japanische Team. Dann kam der Unfall von Kinomiya, und in der Folge fand man heraus, dass der Fehler, der dazu führte, dass der Wagen Feuer fing, bei einem Bauteil von Hiwatari lag. Das hatte… weitreichende Folgen für die Firma, aber auch für das Team.“ Boris runzelte die Stirn. „Und diese Leute holst du uns an Bord? Was sagt Takao dazu?“ „Eins nach dem anderen. Ich bin gut mit dem neuen Geschäftsführer von Hiwatari Motors befreundet. Ich weiß aus erster Hand, dass er seine Firma einmal komplett umstrukturiert hat. Fehler wie vor zehn Jahren wird es nicht mehr geben. - Du weißt ja selbst, welchen guten Ruf sie inzwischen haben, wenn Yuriy dir davon erzählt hat.“ Er machte eine Pause. „Ich sorge mich allerdings ein wenig um Takao. Wir setzen natürlich ein deutliches Zeichen, wenn er für das Team fährt, dass Hiwatari unterstützt. Trotzdem wird die Presse sich ordentlich das Maul zerreißen. Es wäre schön, wenn wir vor diesem Shitstorm noch einmal für richtig positive Nachrichten sorgen könnten.“ Boris verschränkte die Arme. Ihm schwante Böses. Momentan besetzte Boris den fünften Platz über alle Rennen hinweg, Takao lag allerdings aktuell auf dem zehnten und drohte, weiter abzurutschen. Bei der Constructor’s Championship standen sie immerhin auf einem soliden sechsten Platz. „Du willst, dass Takao aufs Podium kommt“, sagte Boris. Es war keine Frage. Das Siegertreppchen würde Takaos Ego stärken für die Konfrontation mit Hiwatari, und es würde die kritische Presse der kommenden Wochen abfedern. Um seinen Vertrag musste Takao nicht fürchten, der lief für noch mindestens die kommende Saison. Immerhin etwas. „Ihr dürft auf keinen Fall gegeneinander fahren“, sagte Ralf fest. „Und ich will, dass du Takao den Rücken freihältst.“ Boris spürte Wut in sich hochkochen. Er war nicht so weit in seiner Karriere als Rennfahrer gekommen, weil er Rücksicht auf andere genommen hatte. Ganz im Gegenteil. Und nichts gegen Takao, aber seine Statistiken waren nun einmal schlechter als die von Boris. Er war immer noch ein Anfänger. Auf der anderen Seite war Boris von Ralf abhängig. Zu einhundert Prozent. Sein Vertrag für die nächste Saison war bereits erneuert worden. Und leider war die Formel 1 keine One-Man-Show. Er brauchte Ralfs Geld und das Team, das ihm einen Wagen baute, der Rennen gewann. „Hör mal, ich kann ja vieles, aber ich kann Takao nicht anschieben“, setzte er an. Doch Ralf ließ ihm das nicht durchgehen. „Es geht hier um ein verflixtes Rennen, in dem ihr eure Egos mal unter Kontrolle halten sollt“, brauste er auf. „Sobald Kai mir zusagt, könnt ihr wieder fahren wie ihr wollt. Das ist nun wirklich nicht zu viel verlangt, oder?“ Boris schnalzte mit der Zunge. „Ich will einen Bonus“, sagte er. „Du kriegst einen Bonus, wenn du wieder aufs Podium kommst. Herrgott.“ „Na, der hat damit herzlich wenig zu tun.“ Boris grinste. „Ist ja gut, Chef. Du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst.“ Ralf wirkte nur halb überzeugt, doch er gab sich damit zufrieden. Ihre Wege trennten sich; Ralf zog ab, vermutlich zu seinem nächsten Termin, und Boris schlenderte zurück zu ihrer Werkstatt, um seine Sachen zu holen und sich endlich auf den Weg ins Hotel zu machen. Innerlich stellte er sich darauf ein, Yuriy, der mit Sicherheit noch arbeitete, über seine Schulter zu werfen und kurzerhand vom Renngelände zu tragen. Während er ging, zog er sein Handy aus der Tasche und suchte online nach „Kai Hiwatari“. Nach einer Sekunde tauchten auf dem Display verschiedene Artikel und Bilder auf. Er zoomte ein Bild heran und pfiff leise durch die Zähne. „Holy shit“, murmelte er. „Kai Hiwatari“, sagte Boris, die Stimme gedämpft, da sein Gesicht in der Massageliege steckte. „Ist heiß.“ Es folgte ein halb qualvolles, halb wohliges Ächzen, das, so hoffte Yuriy jedenfalls, auf die Hände von Julia zurückzuführen war, Boris’ Performance Coach. Sie war diejenige, die ihn mental und körperlich (aber nicht im übertragenen Sinne!) fit hielt. „Wenn du gerade unlautere Gedanken hast, muss ich leider gehen“, meinte sie, während sie sich von seinem Nacken zu den Schultern vorarbeitete. „Auf sowas habe ich keinen Bock.“ „Hey, das war lediglich eine objektive Beobachtung. Julitschka.“ Sie gab ihm einen Klaps. „Heißt das, Hiwatari sieht sich das Rennen an, oder was?“, fragte Yuriy. „Ich meine, wenn Ralf will, dass Takao aufs Podium kommt, muss es ja so sein.“ „Ihr Jungs habt echt einen Tunnelblick, oder?“ Julia warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Hiwatari ist doch längst hier. Die Gerüchteküche brodelt nicht nur, sie kocht über. Wahrscheinlich wird Ralf morgen mit ihm herumflanieren und ihn überall vorzeigen.“ „Oh, ich würde mir den Jungen auch gerne mal vorzeigen lassen, wenn ihr versteht“, sagte Boris. Aus Yuriys Kehle entwich ein verzweifelter, fast schmerzhafter Laut, dem jedoch nur Boris’ dreckiges Lachen folgte. Es war schleierhaft, wo er zwischen dem ganzen Trubel um die Rennen, den Interviews und dem nicht abreißenden Training noch Zeit fand, notgeil zu werden. Yuriy hatte herzlich wenig Interesse an Hiwatari selbst. Für ihn war der nicht mehr als ein reicher Bengel, der zufällig eine gute Firma geerbt hatte und eventuell ein bisschen Talent für Business besaß. Das Business ging Yuriy am Allerwertesten vorbei; er war nur scharf auf die Motoren. Grypholion hatte jede Saison mit Motorproblemen zu kämpfen. Jedes verdammte Jahr. Yuriy war am Ende seiner Weisheit angelangt, vermutlich war die ganze Konstruktion inzwischen so verhauen, dass sie ganz von vorne anfangen müssten. Ein Wunder eigentlich, dass sie bei der Constructor’s Championship trotzdem so gut abschnitten. Er holte aus dem Wagen, was rauszuholen ging, doch langsam kam selbst er an seine Grenzen. Ein Motor von Hiwatari würde sie sehr wahrscheinlich von diesem Leid befreien. Hiwatari Motors war eigentlich kein Hersteller für Rennwagen, auf anderen Gebieten machten sie aber exzellente Arbeit. Einen Versuch war es mindestens Wert. Und selbst wenn das mit den Teilen nichts wurde, gab es immer noch das Geld. Mit ein paar Millionen mehr in der Tasche konnte Yuriy auch größere Wunder wirken, gar kein Problem. „Was halten wir von der Sache mit Takao?“, fragte Julia weiter. Sie hatte ihre Arbeit beendet und wischte den letzten Rest Massageöl von Boris’ Rücken, damit der aufstehen und sich ein T-Shirt überziehen konnte. Julia setzte sich neben Yuriy auf das Sofa. „Ganz blöde Geschichte“, meinte Boris und kratzte sich am Kinn. „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, ehrlich gesagt.“ „Naja, grundsätzlich hat Hiwatari Junior genauso wenig damit zu tun wie Takao selbst. Vor zehn Jahren waren die beiden noch in der Schule. Aber es gibt schon ein paar böse Stimmen, die behaupten, dass Hiwatari Motors lieber die Finger von der Formel 1 lassen sollte.“ „Die lieben einfach das Drama“, urteilte Yuriy. Er stützte das Kinn in die Hand und ließ den Blick nach draußen wandern. Hinter den bodentiefen Fenstern von Boris’ Hotelzimmer vertrieb Singapur die Nachtschwärze mit Neonlicht. Rostrote Wolken hingen über der Stadt. Hoffentlich regnete es morgen nicht. „Von Hiwatari einmal abgesehen“, fuhr Boris fort. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich Takao am Sonntag den Vortritt lassen muss. Hoffentlich strengt er sich morgen bei der Qualifikation an; wenn er auf P15 landet oder noch tiefer, kann ich ihm auch nicht mehr helfen.“ Yuriy nickte versonnen. Auch er war heute beiseite genommen worden, von Brooklyn, der ihm eingeschärft hatte, dass er sein Bestes tun und Boris’ Temperament im Zaum halten sollte. Als würde ihm das mit ein paar Worten gelingen. Draußen auf der Rennstrecke war Boris nur einer Person etwas schuldig, und das war er selbst, egal, was Yuriy sagte. Er hoffte nur, dass das verdammte Auto nicht wieder zu zicken begann. Yuriy hatte immer Schiss, wenn Boris Rennen fuhr. Immer. Aber eher würde die Hölle frieren, als dass er es sich anmerken ließ. Die Tatsache, dass Boris schon seit Beginn der Saison Probleme mit den Bremsen hatte, war nicht gerade förderlich für seine Nerven. Manabu, Takaos Racing Engineer, den alle Chief nannten, konnte ihm auch nicht helfen. Takao kam sehr gut mit dem Wagen klar, sein Problem lag eher darin, dass er in den entscheidenden Momenten noch zu zaghaft war. Zaghaftigkeit war nun so gar nicht Boris’ Schwäche. Trotzdem schien es, als wäre sein Fahrstil dieses Jahr einfach nicht mit dem Wagen vereinbar, und das bereitete Yuriy schlaflose Nächte. Ein paar Stockwerke höher Blickte auch Kai Hiwatari auf die hell erleuchtete Stadt. Sein Sakko hatte er bereits ausgezogen, aber das Hemd juckte ihn am Hals, und das, obwohl er den oberen Knopf geöffnet hatte. Verdammte Flugzeugluft. Er mochte längere Reisen nicht, und doch konnte er sie nicht vermeiden. Der Raum spiegelte sich im Fensterglas. Kai konnte beobachten, wie Ralf hinter ihm ihre Gläser füllte und dann auf ihn zukam. Kurz darauf tauchte seine Hand am Rande von Kais Blickfeld auf. Nickend nahm er den Drink entgegen. „Weiß Kinomiya inzwischen von unserem Deal?“, fragte er. „Ja“, sagte Ralf langsam. „Ich will nicht sagen, dass er es gut aufgenommen hat, aber es hätte weitaus schlimmer kommen können.“ Kai führte das Glas zu seinem Mund, um seine Reaktion zu verbergen. Wenn Ralf behauptete, es könnte schlimmer sein, war es vermutlich schon ziemlich schlimm. Trotzdem. Es war ein genialer Schachzug, Takao ins Team zu holen, das musste er Ralf lassen. Wenn sie heil aus dem ersten Shitstorm herauskamen, würde ihnen nichts mehr im Wege stehen. Kai schwankte ständig zwischen Selbstsicherheit und purer Reue. Er hatte nie vorgehabt, wieder in den Rennsport einzusteigen. Nicht, nachdem sein Vater es so großartig vergeigt hatte. Das Thema war heikel, selbst zehn Jahre danach, und die Shareholder waren alles andere als begeistert. Doch Kai wusste auch, dass die Firma inzwischen besser war als vor zehn Jahren. Ein Fehler wie damals würde ihm nicht passieren. Und so hatte Ralf Erfolg gehabt, als er an seinen Stolz appellierte. Jetzt war er hier und es gab kein Zurück. „Was ist mit dem anderen Fahrer?“, fragte er weiter. „Kuznetsov? Der ist stark.“ Ralf nickte versonnen. „Ich bin ziemlich sicher, dass er das Zeug zum Weltmeister hat, vielleicht nicht jetzt, aber in ein paar Jahren. Die anderen sehen das auch. Ein paar Teams machen schon Stielaugen.“ „Aber?“ „Aber Kuznetsov wird Grypholion nicht so schnell verlassen. Noch denkt er, er schuldet mir etwas.“ Ralf grinste. „Und außerdem hat er seinen besten Freund mit ins Team gebracht. Die beiden sind nicht zu trennen, entweder sie gehen zusammen oder gar nicht. Ivanov zettelt gern mal eine Meuterei an, aber er ist gut - und ich konnte ihn besänftigen, als ich ihm deine Teile versprochen habe.“ Kai warf ihm einen verschmitzten Blick zu. „Ich hoffe, du redest von mechanischen Teilen.“ „Wovon sonst?“ Es war unglaublich, wie wenig Humor Ralf Jürgens besaß. Kai nippte erneut an seinem Drink, spürte das Brennen, spürte seinen Jetlag. Er sollte den anderen rauswerfen. „Das heißt, ich bin morgen den ganzen Tag bei euch“, sagte er. „Und wir lassen die Dinge einfach auf uns zukommen.“ „Du darfst dich auf viele aufgeregte Journalisten einstellen. Aber während des Qualifyings sind die alle weg. Dann musst du nur noch die Daumen drücken, dass Takao einen guten Platz macht.“ „Warum Takao? Warum nicht Kuznetsov?“ „Weil wir dieses Wochenende auf Takao setzen“, antwortete Ralf gereizt. „Glaub mir, das wird uns die ganze Sache erleichtern.“ Kai sagte nichts. Seiner Meinung nach war es etwas zu Riskant, seine ganze Hoffnung auf einen einzigen Fahrer zu setzen. Dafür war dieser Sport zu abhängig von purem Glück. Und die Autos waren zu empfindlich. Hoffentlich wusste Ralf, was er tat, sonst konnte das Wochenende ganz schnell in einem Desaster enden. „Du vertraust mir doch, oder?“, fragte Ralf. Kai wollte lachen. Ralf hatte nicht nur keinen Humor, sondern nahm sich selbst einfach viel zu ernst. Sie redeten hier schließlich von Rennsport. Dem Vergnügen derjenigen, die, wie sie, so reich waren, dass sie nicht wussten, wohin mit ihrem Geld. Niemand sonst konnte es sich leisten, jedes Jahr mehrere Städte tagelang komplett lahmzulegen, nur, um auf ihren Straßen Rennen zu fahren. Niemand sonst gab mehrere hundert Millionen im Jahr aus, um ein Team von hundert Leuten plus Equipment plus Werkzeug und die gottverdammten Autos durch die ganze Welt zu schicken. Niemand sonst setzte sich mit einem Drink auf einen sündhaft teuren Tribünenplatz und sah zu, wie zwanzig junge Menschen Woche für Woche ihr Leben riskierten. Wenn Kai so darüber nachdachte, so hatte die Formel 1 schon ein paar Parallelen zu den Hunger Games. Oh, aber sie vertrieb so schön den Stress und die Langeweile. Denn das war Fakt: Kai liebte den Sport. Das war das Erbe seines Vaters. Vielleicht wäre er, wenn die Dinge etwas anders verlaufen wären, auch Fahrer geworden. Aber das war reine Spekulation. Es gab nichts, das er in seinem jetzigen Leben vermisste, ihm reichte das Adrenalin, das er als Zuschauer spürte, vollkommen aus. Nun, vielleicht nicht gänzlich vollkommen, sonst würde er sein Vermögen vermutlich nicht in Ralfs Team versenken. Schließlich schüttelte Kai sehr leicht den Kopf und stürzte den Rest seines Drinks. „Die Gretchenfrage brauchst du mir nicht mehr stellen, Ralf“, stellte er klar. „Ich bin hier, oder? Und morgen weiß die ganze Welt, was wir ausgeheckt haben. Also, wenn du so freundlich wärst - ich würde vorher gern noch ein paar Stunden schlafen.“ Kapitel 2: Saturday. Sprint-Qualifying -------------------------------------- “Darf ich mich kurz bei euch verstecken?” Yuriy sah von seinem Tablet auf, mit dem er gerade um Boris’ Wagen Kreise zog, während ein paar andere Mechaniker die letzten Schrauben festzogen. Takao stand im Türrahmen. Wie auch alle anderen trug er bereits die Farbe der Saison: Flieder. Den Rennanzug hatte er sich halb abgestreift und um die Hüften gebunden, darunter trug er ein weißes Shirt. Das Cappi auf seinem Kopf war ebenfalls fliederfarben. Sie alle hatten sich diverse Sprüche anhören müssen, als sie sich das erste Mal in ihren Uniformen vor die Tür getraut hatten. Inzwischen hatte Boris den Spitznamen “Buff Lilac” weg, der nur noch halb im Scherz gemeint war, denn Boris räumte bei den Rennen dieses Jahr ordentlich auf. “Was ist los?”, fragte Yuriy. “Zu viele Reporter?” Er versuchte, seine Stimme nicht allzu streng klingen zu lassen. Takao war ihm ans Herz gewachsen, er wusste nicht einmal, wann das passiert war. Vielleicht hatte sich der Beschützerinstinkt, den er für Boris entwickelt hatte, einfach übertragen. Das war nicht besser geworden, als er herausgefunden hatte, welches Erbe Takao hier antrat. Takao zog sich in eine Ecke zurück, um sie nicht bei der Arbeit zu stören. Draußen war es tatsächlich lauter als sonst. Eine Menge Presseleute hatten sich vor ihrer Garage gesammelt, um erst die Fahrer und dann Hiwatari abzufangen. “Ich wusste ja, dass es schlimm wird”, sagte er. “Ralf hat mich vorgewarnt. Aber es ist trotzdem heftig.” Yuriy brummte und beugte sich vor, um etwas im Cockpit zu überprüfen. “Was ist schlimmer? Hiwatari oder die Erinnerung an deinen Bruder?” “Kai ist in Ordnung”, sagte Takao. “Ich durfte es niemandem sagen, aber Ralf hat uns schon vor ein paar Wochen bekannt gemacht. Er ist… nett.” Das war nun nicht unbedingt ein Wort, das Yuriy benutzt hätte, um ihn zu beschreiben. Natürlich hatte er ihren neuen Sponsor recherchiert, und soweit er es beurteilen konnte war Kai Hiwatari ein ziemlich rücksichtsloser Geldhai. Er hatte allerdings auch ein undankbares Erbe angetreten, als er die Firma übernommen hatte, denn sein Vater hatte sie ihm in einem desaströsen Zustand hinterlassen. Unterm Strich stand er wahrscheinlich auf einer Stufe mit Ralf. Genau wie Ralf würde Yuriy Hiwatari kaum einmal Rede und Antwort stehen müssen, denn das war Brooklyns Aufgabe. Er musste sich zwingen, seine Gedanken wieder auf das Wesentliche zu lenken. “Also denkst du an Hitoshi”, sagte er. Takao ließ den Kopf hängen. “Ich hasse diese Fragen”, erklärte er. “Ständig werde ich gefragt, ob ich vorhabe, in seine Fußstapfen zu treten. Ob ich ihn übertreffen will. Ob ich… nicht Angst habe, Rennen zu fahren, nachdem…” Er stöhnte. “Ich meine, sie sehen doch, dass ich fahre! Was soll ich machen, das Auto neben der Strecke abstellen und weinen?” Yuriy schnaubte amüsiert. Der Check war beendet, die Mechaniker verließen einer nach dem anderen den Raum. Vielleicht spürten sie, dass Takao ein wenig Abstand brauchte. Yuriy tat so, als hätte er eine Unebenheit an der Front des Wagens entdeckt und ging in die Hocke. Nun war der Jüngere halb vom Cockpit verdeckt. “Natürlich habe ich Schiss”, sagte Takao in den Raum hinein. “Ich will nicht so enden wie Hitoshi. Aber ich kann auch nicht aufhören.” Das waren Worte, die Yuriy schon genau so von Boris gehört hatte. Und von jedem anderen Fahrer. Schwer zu sagen, welche Motivationen dahinter standen. Yuriy verstand höchstens einen Bruchteil davon, aber es reichte aus, um Boris jede Saison aufs Neue um die Welt zu folgen, in dem ständigen Wunsch, er möge die Rennen heil überstehen. Und jetzt machte er sich auch noch um Takao Sorgen. “Hör mal, Kleiner”, sagte er. “Niemand kann dir vorschreiben, wie du deinen Bruder in Ehren halten sollst. Und genauso wenig kann jemand für dich Entscheidungen treffen.” “Ich weiß.” “Ja, aber ich glaube, du musst es wieder mal hören. Es ist scheiße, dass das alles dank Hiwatari jetzt wieder hochkocht. Aber in deinem Leben entscheidest du, und du schuldest niemandem eine Erklärung für deine Entscheidungen. Erst recht nicht irgendwelchen Boulevardblättern, in denen du neben einem Artikel über die gescheiterte Ehe irgendeines C-Promi-Pärchens erscheinst!” Von der anderen Seite des Raumes erklang ein beinahe erleichtertes Lachen. Yuriy stand auf, gerade noch rechtzeitig, um Takaos Lächeln zu sehen, bevor es zu dem Grinsen schrumpfte, das er sich für die Kameras antrainiert hatte. “Versuch, den Kopf frei zu bekommen”, riet Yuriy ihm. “Schließlich musst du in einer halben Stunde auf der Strecke sein.” Takao machte einen Schritt auf ihn zu; es wirkte fast, als wolle er zu ihm kommen und ihn umarmen. Stattdessen nahm er in einer verlegenen Geste die Mütze vom Kopf und fuhr sich durch das zerzauste Haar. “Danke, Yuriy”, sagte er. “Wirklich.” Yuriy wedelte ungeduldig mit dem Tablet. “Ja, ja”, brummte er. “Jetzt mach, dass du wegkommst. Und wenn du Boris siehst, sag ihm, er soll seinen Arsch hierher bewegen, sonst kann er was erleben!” “Radio check. Boris, kannst du mich hören?” “Laut und deutlich”, entgegnete Boris. Sein rasender Puls beruhigte sich ein wenig, sobald er Yuriys Stimme an seinem Ohr vernahm. Egal wie chaotisch ein Rennen verlief, Yuriys Tonfall blieb immer sachlich, ein Gegenpol zu seinem Temperament. Ohne ihn hätte er sich wohl schon mehrmals in ausufernde, und vor allem teure, Karambolagen manövriert. Er stand heute auf Position sechs. Das war ziemlich gut. Zu gut für den Plan, den Ralf ausgeheckt hatte, denn Takao war auf den neunten Platz zurückgefallen. Er musste sich also ganz schön ins Zeug legen, um sich vorzuarbeiten. Glücklicherweise war dies hier nur das Qualifizerungsrennen, mit dem bestimmt wurde, aus welchen Positionen sie morgen starten würden. Es war ein neues Format, in dem sie über wenige Runden gegeneinander fahren würden, anstatt nur die beste Rundenzeit zu ermitteln. Das kam Boris, der am besten performte, wenn er seine Gegner sehen konnte, gelegen. “Hast du Hiwatari vorhin gesehen?”, fragte Boris aufgeräumt, während er beobachtete, wie zwei seiner Teammitglieder an seinem Wagen vorbeihuschten und letzte Vorbereitungen trafen. “Der sieht in echt noch besser aus als im Internet. Ich schwöre, wenn Ralf will, dass ich gewinne, muss er nur Hiwatari mit der Zielflagge hinstellen…” “Boris, du weißt, dass alle dich hören können, oder?” Boris lachte. Der einzige, der vielleicht mithörte, war Brooklyn, und mit dem durfte Yuriy sich herumschlagen. “Nichts gönnst du mir”, seufzte er. Auf der anderen Seite blieb es stumm, doch er konnte sich vorstellen, wie Yuriy dramatisch die Augen verdrehte. Boris hatte gerade ein Interview gegeben, als Hiwatari auf das Gelände kam. Eigentlich stand er ja nicht auf Typen in Anzügen, aber verdammt, sein Anblick hatte ihm sofort die Worte auf seiner Zunge durcheinandergebracht. Zum Glück hatte Brooklyn ihn kurz darauf von den Reportern weggezogen, damit er ihren neuen Sponsor auch persönlich kennenlernen konnte. Leider hatte Hiwatari auf ihn genauso unterkühlt reagiert wie auf alle anderen, und das, obwohl Boris seinen ganzen Charme spielen ließ. Sie hatten einen Moment lang Smalltalk gehalten, der sich jedoch nur um die Rennwagen und die Strecke drehte, egal, wie viele zweideutige Anspielungen Boris machte. Davon ließ er sich jedoch nicht die Laune verderben; Boris war kein Kind von Traurigkeit, schon gar nicht an einem Grand-Prix-Wochenende. Wenn Hiwatari nicht von seinem Astralkörper in dem engen Funktionsshirt überzeugt werden konnte, dann doch sicher von der Eleganz, mit der er bei knapp 300 Sachen über den Asphalt schoss. “Eine Minute bis zum Start”, sagte Yuriy. Alle, die nicht in einem Cockpit saßen, machten, dass sie von der Strecke kamen. Um Boris herum brandete der Lärm auf, die Fahrer ließen probeweise ihre Motoren aufheulen. Er bewegte die Finger, suchte nach dem perfekten Griff am Steuer. Atmete einmal tief durch. Die Geräusche verstummten, schwer zu sagen, ob es wirklich still wurde oder er sie nur ausblendete. Über der Startlinie hingen die roten Signale in einer Reihe. Eines nach dem anderen leuchtete auf. Boris wagte nicht, zu blinzeln. Die Signale erloschen. Dies war das Startzeichen. Mit einem Mal wurde es wieder laut. Die Rennwagen erwachten zum Leben und schossen davon. Boris’ Augen suchten sofort nach einer Lücke im Gedränge, um noch vor der ersten Kurve ein paar Plätze gut zu machen. Es war egal, wer genau vor ihm war, in diesen Momenten sah er keine Unterschiede; das da waren einfach nur andere Autos, die er überholen musste. Er puschte den Wagen auf fast dreihundert Sachen, bevor die Strecke in eine S-Kurve überging und er stark abbremsen musste. Hätte man Boris mitten in der Nacht geweckt, in ein Auto gesetzt und auf die Strecke geschickt, er hätte sie ohne Fehler gemeistert. Wahrscheinlich könnte er sogar blind fahren, er musste nur den Namen des jeweiligen Grand Prix wissen. Die Abläufe - beschleunigen, kuppeln, bremsen - und die Entfernungen hatten sich in unzähligen Rennen und Simulationen in sein Gedächtnis gebrannt. Das Feld ging auseinander, das Gedränge entzerrte sich. “Boris, du bist auf P4, Takao ist auf P6 und zwischen euch ist Lavalier”, sagte Yuriy. “Mit dem Wagen ist soweit alles in Ordnung, du kannst also loslegen.” Das brauchte er ihm nicht zweimal sagen. Es war nicht angenehm, Miguel im Nacken zu haben, aber mit dem durfte Takao sich herumschlagen. Boris wollte sich lieber darum kümmern, ein paar weitere Plätze gutzumachen. Yuriy gab ihm den Abstand zum nächsten Fahrer durch, dann ging er zum Angriff über. Für einige Runden konnte Boris sich voll und ganz auf diese Aufgabe konzentrieren. Was auch immer hinter ihm passierte, Yuriy sorgte dafür, dass er davon nichts mitbekam. Sie waren ein eingespieltes Team. Yuriy wusste genau, welche Informationen Boris brauchte und welche ihn nur ablenken würden. Umso ungewöhnlicher war, was an diesem Tag passierte. Boris hatte den Abstand zu seinem Vordermann verringern können und suchte nach einem Weg, ihn zu überholen, als Yuriy etwas sagte, das ihn vollkommen unvorbereitet traf: “Takao hat Schwierigkeiten mit Lavalier.” “Und?”, fragte Boris gereizt. “Kannst du ihn ausbremsen?” Das war keine Frage, die von Yuriy selbst kam. Garantiert nicht. Brooklyn musste irgendetwas aushecken. Vermutlich wollte er, dass die beiden Grypholion-Wagen morgen nebeneinander starteten. Dafür musste Takao aber Miguel überholen. Oder gleich Miguel und Boris selbst. “Ist das wirklich wichtiger als mein P3?”, fragte Boris, die Augen immer noch auf das Heck des Autos vor ihm fixiert. Es entstand eine kurze Pause. “Ja”, sagte Yuriy. “Sag Brooklyn, dass er mir etwas schuldig ist”, entgegnete Boris, bevor er seine Konzentration auf das richtete, was hinter ihm geschah. Miguel durfte nicht an ihm vorbeiziehen, so viel war klar. Boris musste seine Position verteidigen. Dadurch würden sie wahrscheinlich etwas langsamer werden, was Takao die Gelegenheit gab, an ihnen vorbeizuziehen. Wenn er seine Chance klug nutzte. Er sah Miguel wie einen Schlieren hinter sich. Es war ein altbekannter Kampf zwischen ihnen, den sie bereits ausgetragen hatten, als sie noch beide für Grypholion gefahren waren. Wann immer Miguel glaubte, eine Lücke entdeckt zu haben, durch die er schlüpfen konnte, wich Boris zur Seite aus und stellte sich ihm in den Weg. Allerdings war das Rennen bald vorbei, und Takao war noch immer hinter ihnen. “Boris, das ist der Moment”, sagte Yuriy auf einmal. “Du musst Takao durchlassen.” “Copy”, sagte Boris und biss die Zähne zusammen. Lange würde er das Spiel nicht mehr durchhalten können. Das war sein letzter Gedanke, bevor alles schief ging. Als Takao zum Angriff überging, machte Miguel einen unvorhergesehenen Move. Die drei Wagen waren nur wenige Meter voneinander entfernt, Boris und Miguel sogar noch dichter. Boris wusste nicht, was genau passierte. Es gab einen Ruck, seine Sicht verschwamm und er hatte gerade genug Zeit, um festzustellen, dass er von der Fahrbahn abgekommen war, bevor er mit voller Wucht die Absperrung rammte. Er musste einen kurzen Aussetzer gehabt haben. Als er wieder zu sich kam, stand sein Wagen schon still und Yuriy hatte sicher nicht zum ersten Mal “Boris, bist du okay?” gefragt. Seine Stimme schwankte ein ganz kleines bisschen. “Ich bin okay”, ächzte Boris und meinte, seinen Freund aufatmen zu hören. Vielleicht war es aber auch nur eines der vielen Geräusche, die gerade in seinem Kopf durcheinanderfielen. Endlich konnte er sich wieder bewegen und kletterte aus dem Auto. Das Rettungsteam war schon fast bei ihm. Erst jetzt, da er außerhalb des Cockpits stand, konnte er den Schaden betrachten. Ihm wurde schlecht: Sein Wagen hatte weitaus mehr als ein paar Kratzer abbekommen. “Scheiße, Yura”, stammelte er. “Ihr werdet eine Nachtschicht schieben müssen.” Von dem anderen kam keine Antwort. Auf dem Weg zurück ins Fahrerlager dachte Boris nicht an seine Verletzungen. Ihm war nicht viel passiert bis auf ein paar Prellungen. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal ein Schleudertrauma. Die Ärzte jedenfalls hatten nichts gefunden. Nein, Boris dachte an den Wagen und an seinen verlorenen Startplatz. Das war doch alles scheiße. Er hatte versucht, von Yuriy zu erfahren, ob wenigstens Takao eine gute Position gewonnen hatte, aber der andere war verstummt. Boris schwante, warum, und Schuldgefühle wuschen in Wellen über ihn hinweg. Sehr langsam lief er zu der kleinen Tribüne, auf der Brooklyn, Yuriy, Kyoujyu und ein paar andere saßen, um von dort aus die Autos und das Rennen zu überwachen. Brooklyn drehte sich als erster zu ihm um. “Sorry”, sagte Boris. “Ich habe das nicht kommen sehen.” “Takao ist immerhin auf P4”, entgegnete Brooklyn. “Er konnte Miguel überholen. Gut gemacht.” Boris nickte nur und kam etwas näher. Seine Augen waren auf Yuriy gerichtet, der sich ihm sehr langsam zuwandte. Stumm sahen sie sich an. Viel mehr war auch nicht nötig, um ihm zu vermitteln, was er wissen musste. Als ihre Karriere bei Grypholion begann, hatten sie sich eine ganze Nacht lang selbst gefeiert, waren doch alle ihre Probleme mit einem Schlag gelöst. Doch während Boris mit jedem Glas immer lebenslustiger geworden war, hatte Yuriy sich immer mehr zurückgezogen. Bis Boris ihn zur Rede stellte. Und Yuriy, sein Freund, sein Bruder, seine Familie, hatte ihn aus seinen sonst so kalten Augen angesehen und gesagt: “Wenn du auf der Strecke stirbst, dann habe ich alles verloren.” Natürlich hatte Boris ihm geschworen, das nicht zu tun. Fakt war aber: Dass es passierte, lag durchaus im Bereich des Möglichen. Und heute war er einmal mehr daran erinnert worden. “Es tut mir leid”, flüsterte er auf Russisch. Yuriys Gesicht verzog sich für den Bruchteil einer Sekunde in unendlichem Schmerz und Erleichterung, dann fing er sich wieder und schüttelte nur den Kopf. Als Yuriy den Wagen sah, wollte er weinen. Der Anblick des zerbeulten Haufens aus Kunststoff, Aluminium und viel zu viel Elektrizität führte ihm vor Augen, wie viel Glück Boris heute gehabt hatte. Wie viel Glück alle Fahrer hatten, sobald sie sich auf die Strecke wagten. Menschen sollte nicht so schnell sein, dachte er nicht zum ersten Mal in seinem Leben. Und dann machte er sich an die Arbeit, damit sein bester Freund in nicht einmal 24 Stunden erneut sein Leben aufs Spiel setzen konnte. Die Nacht war weit fortgeschritten, als er das Team ins Hotel schickte. Sie hatten den Großteil der Reparaturen, besonders die der schweren Teile, ausgeführt. Es blieben noch ein paar Details, um die Yuriy sich allein kümmern wollte, bevor in ein paar Stunden das Training begann. Er würde heute nicht schlafen. Als er unter dem Wagen auf dem Rollbrett lag, musste er seinen ganzen Willen aufbringen, um nicht einfach die Augen zu schließen. Mit einem frustrierten Seufzen rieb er sich die Nasenwurzel. Irgendwas stimmte nicht an den Bauteilen, die er vor sich hatte. Hatte er aus lauter Erschöpfung einen Fehler gemacht? In diesem Moment hörte er, wie jemand durch die Garage lief. Leichte, sichere Schritte. Definitiv nicht Boris. Aber auch sonst niemand, den er kannte. Er legte den Kopf in den Nacken und sah ein paar Beine, gekleidet in dunkle Jeans, auf der anderen Seite des Wagens. “Kann ich helfen?”, fragte er in den Raum hinein. “Brooklyn sagte mir, dass Sie noch hier sind, Ivanov.” Yuriy runzelte die Stirn. Der letzte, den er um diese Zeit hier erwartet hatte, war Kai Hiwatari. Er stieß sich ab und rollte unter dem Wagen hervor, gerade rechtzeitig, damit sich sein Blick mit dem Hiwataris treffen konnte, der inzwischen zu ihm herumgekommen war. “Sie werden verstehen, dass ich gerade beschäftigt bin”, sagte er. “Ich wollte mir ein Bild von dem Schaden machen”, entgegnete Hiwatari unbeeindruckt. Mit einem schwerfälligen Ächzen kam Yuriy auf die Beine. Er machte sich nicht die Mühe, Hiwataris Hand zu schütteln. An seinen Fingern klebte sowieso noch etwas Öl. Kurz musterten sie sich, beide mit einer Miene, die es unmöglich machte, zu schätzen, was der andere dachte. Yuriy erinnerte sich daran, wie Boris von Hiwatari geschwärmt hatte. Zugegeben, die ganzen Lobpreisungen kamen nicht von ungefähr. Yuriy interessierte sich vielleicht nicht sonderlich für Menschen, war aber nicht blind. Hiwatari besaß augenscheinlich die gleichen Qualitäten, die er auch an Rennwagen schätzte: Er war elegant, gepflegt und schnell. Hiwatari nickte in Richtung des aufgebockten Autos. “Das war nicht ohne, oder? Der Unfall sah schlimm aus. Ein Wunder eigentlich, dass sowohl Lavalier als auch Takao ins Ziel gekommen sind”, sagte er. “Wissen Sie, was genau passiert ist?” Yuriy versuchte, die Übelkeit zu unterdrücken, die ihn immer dann übermannte, wenn die Bilder des heutigen Rennens wieder in ihm aufstiegen. “Miguel und Boris haben sich… touchiert”, erklärte er. “Bei den Geschwindigkeiten, die während eines Rennens erreicht werden, reicht das schon aus. Boris hat sowieso ein paar Schwierigkeiten mit dem Wagen in dieser Saison. Das war nicht gerade förderlich.” “Was für Schwierigkeiten?”, fragte Hiwatari. Seine Stimme hatte einen schärferen Ton angenommen, der Yuriy überraschte. Normalerweise waren Sponsoren mehr als froh, die technischen Details den Ingenieuren zu überlassen. Mit einem Fachgespräch hatte er nicht gerechnet. Allerdings war Hiwatari ein Hersteller von Autoteilen und schien darüber hinaus ein echtes Interesse an diesem Team zu haben. Also erklärte Yuriy ihm das Problem mit den Bremsen. Und dem Rest der Konfiguration. Irgendwann fing er an, langsam um das Auto herumzugehen, um hier und da auf verschiedene Bauteile zu deuten und Details zu erläutern. Hiwatari folgte ihm auf dem Fuße, sagte wenig, nickte aber verstehend und stellte dann und wann pointierte Rückfragen. Yuriy hatte nicht das Gefühl, sich bei seinem Geldgeber für etwas rechtfertigen zu müssen. Im Gegenteil, es war beinahe wie ein Gespräch unter Kollegen. Und grundsätzlich gab es auch wenig zu beanstanden. Das Team hatte exzellente Arbeit geleistet. Der Wagen lief gut, nur leider passte er eben nicht ganz zu Boris. “Ich denke, ich kann noch ein bisschen mehr rausholen”, sagte er irgendwann. “Aber dieses Jahr ist wirklich ungünstig. Für die nächste Saison müssen ein paar Dinge grundlegend neu betrachtet werden.” Hiwatari nickte. “Sie sollten Kontakt zu meinen Ingenieuren bei Hiwatari Motors aufnehmen”, sagte er. “Wir haben eine neue Abteilung gegründet, um die Zusammenarbeit mit Grypholion zu stärken. Mein Assistent wird Ihnen die Daten geben. Sagen Sie denen, was Sie brauchen.” Trotz aller Vorbehalten kam Yuriy nicht umhin, eine beinahe kindliche Aufregung zu verspüren. Bedeutete das, er hatte so etwas wie einen Freifahrtsschein? Bei Hiwatari Motors? Oh, die nächste Saison würde großartig werden. Doch er würde sich hüten, Hiwatari irgendetwas davon zu zeigen. So käuflich war er nicht. “Warum machen Sie das?”, fragte er stattdessen. “Nur, um Ihren Ruf in der F1 wiederherzustellen? Es würde reichen, wenn Sie uns einen Motor und ein paar Millionen zuwerfen.” Hiwatari war gänzlich unbeeindruckt von dieser Provokation. Er lächelte sogar etwas süffisant, was ihn wirken ließ wie jemand, der bereit war, sich in einen Kampf zu stürzen, von dem er wusste, dass er ihn nicht verlieren konnte. “Ich bin nicht so nobel, wie Sie denken, Ivanov”, antwortete er. “Es geht mir eigentlich nicht um den Ruf. Das ist wahrscheinlich nur, was Ralf denkt. Ich hätte mein eigenes Team haben können, wissen Sie.” “Schön zu hören, dass Sie keine finanziellen Sorgen haben”, meinte Yuriy mit unverhohlenem Sarkasmus. “Ich will sagen, ich bin ein Spieler”, sagte Hiwatari, der für Yuriys Bemerkung nicht mehr als ein Schmunzeln übrig hatte. “Ich mag es, mir zu überlegen, auf welches Pferd ich setze. Welcher Einsatz das beste Ergebnis bringt. Meine Freundschaft zu Ralf ist bei Weitem nicht der einzige Grund, aus dem ich bei Grypholion eingestiegen bin. Auch nicht Takao, obwohl es eine großartige Idee war, ihn ins Team zu holen.” Er sah Yuriy an, und obwohl dieser ein ganzes Stück größer war als Hiwatari, fühlte er sich festgehalten. Als steckte er zwischen den Zähnen eines Raubtieres, das sich nur noch nicht entschieden hatte, ob es zubeißen sollte oder nicht. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass Hiwataris Augen nicht schwarz waren, sondern in einer helleren, seltsam rötlichen Farbe schimmerten. Es war alles sehr aufregend. “Ein weiterer Grund, aus dem ich hier bin, ist Kuznetsov”, fuhr Hiwatari fort. “Ich beobachte ihn seit einiger Zeit. Er ist ein exzellenter Fahrer. Vielleicht sogar der beste, den es gerade in der Formel 1 gibt. Mit dem richtigen Wagen kann er Weltmeister werden, keine Frage. Und damit kommen wir zu meinem letzten Grund.” Jetzt wandte er sich vollständig von dem Rennauto vor ihnen ab und Yuriy zu. “Ich beobachte nicht nur Kuznetsov, sondern auch Sie. Denn Sie bauen verdammt gute Autos, Ivanov. Mit den richtigen Mitteln können Sie ein paar Wunder wirken, da bin ich ganz sicher. Und diese Mittel bekommen Sie von mir.” Er zögerte vielleicht eine Sekunde, dann hielt er Yuriy die Hand hin. “Was sagen Sie?” Was sollte Yuriy schon sagen? Das hier mochte sich anfühlen, wie einen Pakt mit dem Teufel einzugehen, aber davor schreckte er nicht zurück. Er steckte schon viel zu tief in dieser ganzen Sache drin. Nicht nur dank Boris, sondern auch wegen seines eigenen Ehrgeizes. Er sagte nichts, sondern ergriff wortlos die dargebotene Hand, die rauer war, als er erwartet hatte und sofort einen selbstsicheren Druck ausübte. Verdammt, am Ende begann dieser Hiwatari auch noch, ihm zu gefallen. “Wie lange brauchen Sie noch hierfür?”, fragte dieser, sobald sie sich losgelassen hatten, und deutete auf das Auto. Yuriy hob die Schultern. “Zwei, drei Stunden. Ich muss noch ein paar Messungen machen und Kabel verzwirbeln. Details.” “Kann ich Ihnen behilflich sein?” “Sie? Wollen sich unter den Wagen legen?” Hiwatari hob die Schultern und zog sein Jackett aus. “Ich habe einen Abschluss in Engineering”, sagte er. “Und in meiner Freizeit liege ich regelmäßig unter Autos. Haben Sie noch einen von diesen Anzügen?” Er deutete auf Yuriys fliederfarbenen Overall. “Dann können wir schon loslegen.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)