On The Grid von lady_j ================================================================================ Kapitel 1: Friday. Practice. ---------------------------- „Das Auto zickt.“ „Deine Mutter zickt. Fahr.“ „Ich würde ja gern, aber was auch immer du mit der Konfiguration angestellt hast, es ist scheiße!“ „Definiere scheiße.“ „Die Bremsen reagieren zu spät, und irgendwas ist mit der Balance nicht in Ordnung.“ „Copy. Deine Bremsen sind heiß gelaufen.“ „Deine Mutter ist heiß gelaufen!“ „Fahr einfach, Boris.“ „Du mich auch, Yura.“ Freitag. Practice. Singapur war eines von Boris’ Lieblingsrennen. Vielleicht lag es daran, dass es nachts stattfand. Die erleuchtete Strecke und die glitzernde Stadt zu beiden Seiten erinnerten ihn immer an sein altes Leben, als er in von Yuriy hochgetunten japanischen Flitzern durch Moskau gejagt war als gäbe es kein Morgen. Zugegeben, den hatte es auch nicht gegeben, nicht für ihn, und so war es ihm auch egal gewesen, als die Polizei ihn doch noch erwischte. Er hatte sich auf eine mehrjährige Haft eingestellt - vor allem aber auf Yuriys Wut angesichts des Urteils - doch dann war alles anders gekommen. Ralf Jürgens, von dem er bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal gehört hatte, war aufgetaucht, hatte mir sehr viel Geld gewedelt und ihn binnen Wochen in ein vollkommen neues Leben verpflanzt. Seitdem war er Rennfahrer für Team Grypholion. Die Off-Season verbrachte er in seiner Wohnung in Monaco, was nur einen kurzen Flug von der Zentrale in Süddeutschland entfernt war. Oder er ging Snowboarden in den Alpen. Oder Surfen in Australien. Oder Skydiving in den Staaten. Nur Russland mied er wie die Pest. Wenn er aus dem Urlaub kam, hatten Yuriy und die anderen den Wagen für die nächste Saison konzipiert, der dann konstruiert und auf Herz und Nieren geprüft wurde. Bis das vorsaisonale Testen begann und Boris endlich wieder ans Steuer durfte. Dann die Rennen. Die Podien. Der Geruch von brennendem Gummi. Die nicht enden wollenden Schübe puren Adrenalins. Champagner, der auf seiner Haut trocknete. Die Partys. Er hatte nie damit gerechnet, jemals so ein Leben führen zu können, aber so was es nun seit drei Jahren. Das war schon eine gute Zeit in diesem schnelllebigen Sport, zumal er immer noch für Grypholion fuhr. Es war nicht so, dass er keine anderen Angebote bekam. Doch sein Wille, das Team zu verlassen, war eher gering. Außerdem wollte er weiter mit Yuriy zusammenarbeiten. Er war der einzige, der ihm von seinem alten Leben geblieben war, und so sollte es auch bleiben. „Kuznetsov.“ Boris wandte den Blick von der Strecke ab und sah Ralf Jürgens auf sich zukommen. Ralf kam vielleicht in Sachen Statur und Schulterbreite nicht an Boris heran, doch er war trotzdem ein beeindruckender Mann, einer von denen, die Einfluss einfach ausstrahlten, egal, ob sie nun einen maßgeschneiderten Anzug trugen oder, wie Ralf jetzt, ein violettes Polohemd, das gespickt war mit den Logos ihrer Sponsoren. Boris, das sollte erwähnt werden, verabscheute die Saisonfarbe, obwohl ihm alle versicherten, dass sie seine Augen wunderbar zur Geltung brachte. „Ich wusste, dass ich dich hier finde“, sagte Ralf, als er bei ihm angekommen war. Sie standen etwas erhöht auf einem der Podien, wo sich bis vor ein paar Stunden noch die Schaulustigen getummelt hatten, um das freie Training zu beobachten. Die Rennstrecke verlief hier in einer kurzen Geraden direkt an der Marina Bay. Links reckten sich die drei Türme des SkyParks in den dunklen Himmel. „Brooklyn hat erzählt, es gab Probleme beim Training heute?“ Boris verdrehte die Augen. „Ich habe mich nur mit Yuriy unterhalten“, sagte er. „Das ist bei uns so. Grundsätzlich ist mit der Karre alles in Ordnung, keine Sorge.“ Endlich wandte er den Blick von der Strecke ab und sah Ralf an. Lehnte sich mit der Schulter gegen den Maschendrahtzaun, der den Zuschauerbereich abtrennte. „Aber deswegen bist du nicht extra hierhergekommen, um allein mit mir zu reden, oder?“ Ralf schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und grinste freudlos. „Natürlich nicht“, entgegnete er. „Mir ist klargeworden, dass ich dir ein Headsup geben muss, was unseren neuen Sponsor betrifft.“ Nun wurde Boris hellhörig. Ralf und Brooklyn hatten das ganze letzte Jahr über nach einem weiteren Sponsor für das Team gesucht, sich dabei aber extrem bedeckt gehalten. Es hieß, Ralf habe einige seiner persönlichen Verbindungen genutzt und einen „alten Freund“ aus Japan an Bord geholt. „Gibt es Probleme?“, fragte er. „Ganz im Gegenteil“, sagte Ralf. „Wir können jetzt öffentlich verkünden, wer es ist. Das wird nicht ganz unkontrovers, aber wir denken, dass wir das gut auffangen können. Nein, ich spreche von Takao.“ Takao Kinomiya war der zweite Fahrer in ihrem Team. Es war Takaos erste Saison; letztes Jahr hatte Brooklyn überraschend Miguel Lavalier abgesägt und Takao aus der F2 geholt. Es hieß, Brooklyn habe auf ausdrückliche Anweisung Ralfs gehandelt, um zukünftige Sponsoren zu bezirzen. Ralf wollte unbedingt einen japanischen Fahrer für Grypholion, und jetzt wurde auch langsam klar, warum. Miguel jedenfalls war tödlich beleidigt gewesen und zu ihren ärgsten Konkurrenten gewechselt: Salamalyon. Boris tat es um ihn nicht leid. Sie waren niemals wirklich gut miteinander ausgekommen. Mit Takao war es leichter. Er würde nicht behaupten, dass sie Freunde waren, aber zumindest musste Boris nicht fürchten, dass Takao ihm während eines Rennens ins Heck fuhr. In diesem Moment wusste Boris in keinster Weise, wohin dieses Gespräch führen würde. Er machte eine auffordernde Geste. „Schieß los.“ Ralf schien zu überlegen, wie er am besten anfangen konnte und entschied sich wohl für den direktesten Einstieg, denn er sagte: „Der neue Sponsor ist Hiwatari Motors.“ Das war tatsächlich eine Überraschung, jedoch eine durchaus positive. „Heißt das, die beliefern uns mit Teilen?“, fragte Boris. „Yuriy wird ausrasten. Der liegt mir seit Jahren in den Ohren, dass er viel lieber was von denen in der Karre verbauen würde.“ Ralf blinzelte verwirrt, dann schüttelte er amüsiert den Kopf. „Ich vergesse immer wieder, wie wenig du über diesen Sport eigentlich weißt“, sagte er. „Hör zu. Es geht hier nicht darum, was Hiwatari uns liefern und zahlen kann und was nicht. Es gibt da noch eine andere Dimension, und das betrifft Takao.“ „Ich verstehe nicht.“ Ralf hob beschwichtigend die Hände. „Du weißt, was mit Takaos Bruder passiert ist, oder?“ Boris sah ihn an, unsicher, was er sagen sollte. Es war ein heikles Thema, über das niemand, niemand in der ganzen Szene, gerne sprach. Das hatte er sehr früh erfahren müssen. „Ich weiß, dass er tot ist“, sagte er tonlos. Erwähnte nicht die Details: Dass Hitoshi Kinomiya vor zehn Jahren in Österreich in der 33. Runde aus einer Kurve geschleudert wurde und in die Absperrung raste; dass irgendetwas seinen Wagen zerfetzte; dass elf Sekunden nach dem Aufprall alles in Flammen stand, die erst vier Minuten später gelöscht werden konnten. All diese Informationen hatte er sich selbst anlesen müssen, nachdem Takao ins Team gekommen war, denn abgesehen davon hatte es zwar seltsame Gerüchte gegeben, aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihm die Situation zu erklären. Zu wissen, was es mit alledem auf sich hatte, machte es nicht leichter, damit umzugehen. Doch Takao hatte sich als unerbittliche Frohnatur entpuppt. Ralf setzte eine Miene auf, an die Boris sich noch gut erinnerte: Zum letzten Mal hatte er diesen Ausdruck gesehen, als sie seinen Vertrag verhandelt hatten. Es war ein Pokerface, unmöglich zu sagen, was wirklich dahintersteckte. „Hiwatari Motors ist nicht zum ersten Mal in unser Geschäft involviert“, erklärte er. „Bis vor zehn Jahren waren sie Zulieferer für das japanische Team. Dann kam der Unfall von Kinomiya, und in der Folge fand man heraus, dass der Fehler, der dazu führte, dass der Wagen Feuer fing, bei einem Bauteil von Hiwatari lag. Das hatte… weitreichende Folgen für die Firma, aber auch für das Team.“ Boris runzelte die Stirn. „Und diese Leute holst du uns an Bord? Was sagt Takao dazu?“ „Eins nach dem anderen. Ich bin gut mit dem neuen Geschäftsführer von Hiwatari Motors befreundet. Ich weiß aus erster Hand, dass er seine Firma einmal komplett umstrukturiert hat. Fehler wie vor zehn Jahren wird es nicht mehr geben. - Du weißt ja selbst, welchen guten Ruf sie inzwischen haben, wenn Yuriy dir davon erzählt hat.“ Er machte eine Pause. „Ich sorge mich allerdings ein wenig um Takao. Wir setzen natürlich ein deutliches Zeichen, wenn er für das Team fährt, dass Hiwatari unterstützt. Trotzdem wird die Presse sich ordentlich das Maul zerreißen. Es wäre schön, wenn wir vor diesem Shitstorm noch einmal für richtig positive Nachrichten sorgen könnten.“ Boris verschränkte die Arme. Ihm schwante Böses. Momentan besetzte Boris den fünften Platz über alle Rennen hinweg, Takao lag allerdings aktuell auf dem zehnten und drohte, weiter abzurutschen. Bei der Constructor’s Championship standen sie immerhin auf einem soliden sechsten Platz. „Du willst, dass Takao aufs Podium kommt“, sagte Boris. Es war keine Frage. Das Siegertreppchen würde Takaos Ego stärken für die Konfrontation mit Hiwatari, und es würde die kritische Presse der kommenden Wochen abfedern. Um seinen Vertrag musste Takao nicht fürchten, der lief für noch mindestens die kommende Saison. Immerhin etwas. „Ihr dürft auf keinen Fall gegeneinander fahren“, sagte Ralf fest. „Und ich will, dass du Takao den Rücken freihältst.“ Boris spürte Wut in sich hochkochen. Er war nicht so weit in seiner Karriere als Rennfahrer gekommen, weil er Rücksicht auf andere genommen hatte. Ganz im Gegenteil. Und nichts gegen Takao, aber seine Statistiken waren nun einmal schlechter als die von Boris. Er war immer noch ein Anfänger. Auf der anderen Seite war Boris von Ralf abhängig. Zu einhundert Prozent. Sein Vertrag für die nächste Saison war bereits erneuert worden. Und leider war die Formel 1 keine One-Man-Show. Er brauchte Ralfs Geld und das Team, das ihm einen Wagen baute, der Rennen gewann. „Hör mal, ich kann ja vieles, aber ich kann Takao nicht anschieben“, setzte er an. Doch Ralf ließ ihm das nicht durchgehen. „Es geht hier um ein verflixtes Rennen, in dem ihr eure Egos mal unter Kontrolle halten sollt“, brauste er auf. „Sobald Kai mir zusagt, könnt ihr wieder fahren wie ihr wollt. Das ist nun wirklich nicht zu viel verlangt, oder?“ Boris schnalzte mit der Zunge. „Ich will einen Bonus“, sagte er. „Du kriegst einen Bonus, wenn du wieder aufs Podium kommst. Herrgott.“ „Na, der hat damit herzlich wenig zu tun.“ Boris grinste. „Ist ja gut, Chef. Du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst.“ Ralf wirkte nur halb überzeugt, doch er gab sich damit zufrieden. Ihre Wege trennten sich; Ralf zog ab, vermutlich zu seinem nächsten Termin, und Boris schlenderte zurück zu ihrer Werkstatt, um seine Sachen zu holen und sich endlich auf den Weg ins Hotel zu machen. Innerlich stellte er sich darauf ein, Yuriy, der mit Sicherheit noch arbeitete, über seine Schulter zu werfen und kurzerhand vom Renngelände zu tragen. Während er ging, zog er sein Handy aus der Tasche und suchte online nach „Kai Hiwatari“. Nach einer Sekunde tauchten auf dem Display verschiedene Artikel und Bilder auf. Er zoomte ein Bild heran und pfiff leise durch die Zähne. „Holy shit“, murmelte er. „Kai Hiwatari“, sagte Boris, die Stimme gedämpft, da sein Gesicht in der Massageliege steckte. „Ist heiß.“ Es folgte ein halb qualvolles, halb wohliges Ächzen, das, so hoffte Yuriy jedenfalls, auf die Hände von Julia zurückzuführen war, Boris’ Performance Coach. Sie war diejenige, die ihn mental und körperlich (aber nicht im übertragenen Sinne!) fit hielt. „Wenn du gerade unlautere Gedanken hast, muss ich leider gehen“, meinte sie, während sie sich von seinem Nacken zu den Schultern vorarbeitete. „Auf sowas habe ich keinen Bock.“ „Hey, das war lediglich eine objektive Beobachtung. Julitschka.“ Sie gab ihm einen Klaps. „Heißt das, Hiwatari sieht sich das Rennen an, oder was?“, fragte Yuriy. „Ich meine, wenn Ralf will, dass Takao aufs Podium kommt, muss es ja so sein.“ „Ihr Jungs habt echt einen Tunnelblick, oder?“ Julia warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Hiwatari ist doch längst hier. Die Gerüchteküche brodelt nicht nur, sie kocht über. Wahrscheinlich wird Ralf morgen mit ihm herumflanieren und ihn überall vorzeigen.“ „Oh, ich würde mir den Jungen auch gerne mal vorzeigen lassen, wenn ihr versteht“, sagte Boris. Aus Yuriys Kehle entwich ein verzweifelter, fast schmerzhafter Laut, dem jedoch nur Boris’ dreckiges Lachen folgte. Es war schleierhaft, wo er zwischen dem ganzen Trubel um die Rennen, den Interviews und dem nicht abreißenden Training noch Zeit fand, notgeil zu werden. Yuriy hatte herzlich wenig Interesse an Hiwatari selbst. Für ihn war der nicht mehr als ein reicher Bengel, der zufällig eine gute Firma geerbt hatte und eventuell ein bisschen Talent für Business besaß. Das Business ging Yuriy am Allerwertesten vorbei; er war nur scharf auf die Motoren. Grypholion hatte jede Saison mit Motorproblemen zu kämpfen. Jedes verdammte Jahr. Yuriy war am Ende seiner Weisheit angelangt, vermutlich war die ganze Konstruktion inzwischen so verhauen, dass sie ganz von vorne anfangen müssten. Ein Wunder eigentlich, dass sie bei der Constructor’s Championship trotzdem so gut abschnitten. Er holte aus dem Wagen, was rauszuholen ging, doch langsam kam selbst er an seine Grenzen. Ein Motor von Hiwatari würde sie sehr wahrscheinlich von diesem Leid befreien. Hiwatari Motors war eigentlich kein Hersteller für Rennwagen, auf anderen Gebieten machten sie aber exzellente Arbeit. Einen Versuch war es mindestens Wert. Und selbst wenn das mit den Teilen nichts wurde, gab es immer noch das Geld. Mit ein paar Millionen mehr in der Tasche konnte Yuriy auch größere Wunder wirken, gar kein Problem. „Was halten wir von der Sache mit Takao?“, fragte Julia weiter. Sie hatte ihre Arbeit beendet und wischte den letzten Rest Massageöl von Boris’ Rücken, damit der aufstehen und sich ein T-Shirt überziehen konnte. Julia setzte sich neben Yuriy auf das Sofa. „Ganz blöde Geschichte“, meinte Boris und kratzte sich am Kinn. „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, ehrlich gesagt.“ „Naja, grundsätzlich hat Hiwatari Junior genauso wenig damit zu tun wie Takao selbst. Vor zehn Jahren waren die beiden noch in der Schule. Aber es gibt schon ein paar böse Stimmen, die behaupten, dass Hiwatari Motors lieber die Finger von der Formel 1 lassen sollte.“ „Die lieben einfach das Drama“, urteilte Yuriy. Er stützte das Kinn in die Hand und ließ den Blick nach draußen wandern. Hinter den bodentiefen Fenstern von Boris’ Hotelzimmer vertrieb Singapur die Nachtschwärze mit Neonlicht. Rostrote Wolken hingen über der Stadt. Hoffentlich regnete es morgen nicht. „Von Hiwatari einmal abgesehen“, fuhr Boris fort. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich Takao am Sonntag den Vortritt lassen muss. Hoffentlich strengt er sich morgen bei der Qualifikation an; wenn er auf P15 landet oder noch tiefer, kann ich ihm auch nicht mehr helfen.“ Yuriy nickte versonnen. Auch er war heute beiseite genommen worden, von Brooklyn, der ihm eingeschärft hatte, dass er sein Bestes tun und Boris’ Temperament im Zaum halten sollte. Als würde ihm das mit ein paar Worten gelingen. Draußen auf der Rennstrecke war Boris nur einer Person etwas schuldig, und das war er selbst, egal, was Yuriy sagte. Er hoffte nur, dass das verdammte Auto nicht wieder zu zicken begann. Yuriy hatte immer Schiss, wenn Boris Rennen fuhr. Immer. Aber eher würde die Hölle frieren, als dass er es sich anmerken ließ. Die Tatsache, dass Boris schon seit Beginn der Saison Probleme mit den Bremsen hatte, war nicht gerade förderlich für seine Nerven. Manabu, Takaos Racing Engineer, den alle Chief nannten, konnte ihm auch nicht helfen. Takao kam sehr gut mit dem Wagen klar, sein Problem lag eher darin, dass er in den entscheidenden Momenten noch zu zaghaft war. Zaghaftigkeit war nun so gar nicht Boris’ Schwäche. Trotzdem schien es, als wäre sein Fahrstil dieses Jahr einfach nicht mit dem Wagen vereinbar, und das bereitete Yuriy schlaflose Nächte. Ein paar Stockwerke höher Blickte auch Kai Hiwatari auf die hell erleuchtete Stadt. Sein Sakko hatte er bereits ausgezogen, aber das Hemd juckte ihn am Hals, und das, obwohl er den oberen Knopf geöffnet hatte. Verdammte Flugzeugluft. Er mochte längere Reisen nicht, und doch konnte er sie nicht vermeiden. Der Raum spiegelte sich im Fensterglas. Kai konnte beobachten, wie Ralf hinter ihm ihre Gläser füllte und dann auf ihn zukam. Kurz darauf tauchte seine Hand am Rande von Kais Blickfeld auf. Nickend nahm er den Drink entgegen. „Weiß Kinomiya inzwischen von unserem Deal?“, fragte er. „Ja“, sagte Ralf langsam. „Ich will nicht sagen, dass er es gut aufgenommen hat, aber es hätte weitaus schlimmer kommen können.“ Kai führte das Glas zu seinem Mund, um seine Reaktion zu verbergen. Wenn Ralf behauptete, es könnte schlimmer sein, war es vermutlich schon ziemlich schlimm. Trotzdem. Es war ein genialer Schachzug, Takao ins Team zu holen, das musste er Ralf lassen. Wenn sie heil aus dem ersten Shitstorm herauskamen, würde ihnen nichts mehr im Wege stehen. Kai schwankte ständig zwischen Selbstsicherheit und purer Reue. Er hatte nie vorgehabt, wieder in den Rennsport einzusteigen. Nicht, nachdem sein Vater es so großartig vergeigt hatte. Das Thema war heikel, selbst zehn Jahre danach, und die Shareholder waren alles andere als begeistert. Doch Kai wusste auch, dass die Firma inzwischen besser war als vor zehn Jahren. Ein Fehler wie damals würde ihm nicht passieren. Und so hatte Ralf Erfolg gehabt, als er an seinen Stolz appellierte. Jetzt war er hier und es gab kein Zurück. „Was ist mit dem anderen Fahrer?“, fragte er weiter. „Kuznetsov? Der ist stark.“ Ralf nickte versonnen. „Ich bin ziemlich sicher, dass er das Zeug zum Weltmeister hat, vielleicht nicht jetzt, aber in ein paar Jahren. Die anderen sehen das auch. Ein paar Teams machen schon Stielaugen.“ „Aber?“ „Aber Kuznetsov wird Grypholion nicht so schnell verlassen. Noch denkt er, er schuldet mir etwas.“ Ralf grinste. „Und außerdem hat er seinen besten Freund mit ins Team gebracht. Die beiden sind nicht zu trennen, entweder sie gehen zusammen oder gar nicht. Ivanov zettelt gern mal eine Meuterei an, aber er ist gut - und ich konnte ihn besänftigen, als ich ihm deine Teile versprochen habe.“ Kai warf ihm einen verschmitzten Blick zu. „Ich hoffe, du redest von mechanischen Teilen.“ „Wovon sonst?“ Es war unglaublich, wie wenig Humor Ralf Jürgens besaß. Kai nippte erneut an seinem Drink, spürte das Brennen, spürte seinen Jetlag. Er sollte den anderen rauswerfen. „Das heißt, ich bin morgen den ganzen Tag bei euch“, sagte er. „Und wir lassen die Dinge einfach auf uns zukommen.“ „Du darfst dich auf viele aufgeregte Journalisten einstellen. Aber während des Qualifyings sind die alle weg. Dann musst du nur noch die Daumen drücken, dass Takao einen guten Platz macht.“ „Warum Takao? Warum nicht Kuznetsov?“ „Weil wir dieses Wochenende auf Takao setzen“, antwortete Ralf gereizt. „Glaub mir, das wird uns die ganze Sache erleichtern.“ Kai sagte nichts. Seiner Meinung nach war es etwas zu Riskant, seine ganze Hoffnung auf einen einzigen Fahrer zu setzen. Dafür war dieser Sport zu abhängig von purem Glück. Und die Autos waren zu empfindlich. Hoffentlich wusste Ralf, was er tat, sonst konnte das Wochenende ganz schnell in einem Desaster enden. „Du vertraust mir doch, oder?“, fragte Ralf. Kai wollte lachen. Ralf hatte nicht nur keinen Humor, sondern nahm sich selbst einfach viel zu ernst. Sie redeten hier schließlich von Rennsport. Dem Vergnügen derjenigen, die, wie sie, so reich waren, dass sie nicht wussten, wohin mit ihrem Geld. Niemand sonst konnte es sich leisten, jedes Jahr mehrere Städte tagelang komplett lahmzulegen, nur, um auf ihren Straßen Rennen zu fahren. Niemand sonst gab mehrere hundert Millionen im Jahr aus, um ein Team von hundert Leuten plus Equipment plus Werkzeug und die gottverdammten Autos durch die ganze Welt zu schicken. Niemand sonst setzte sich mit einem Drink auf einen sündhaft teuren Tribünenplatz und sah zu, wie zwanzig junge Menschen Woche für Woche ihr Leben riskierten. Wenn Kai so darüber nachdachte, so hatte die Formel 1 schon ein paar Parallelen zu den Hunger Games. Oh, aber sie vertrieb so schön den Stress und die Langeweile. Denn das war Fakt: Kai liebte den Sport. Das war das Erbe seines Vaters. Vielleicht wäre er, wenn die Dinge etwas anders verlaufen wären, auch Fahrer geworden. Aber das war reine Spekulation. Es gab nichts, das er in seinem jetzigen Leben vermisste, ihm reichte das Adrenalin, das er als Zuschauer spürte, vollkommen aus. Nun, vielleicht nicht gänzlich vollkommen, sonst würde er sein Vermögen vermutlich nicht in Ralfs Team versenken. Schließlich schüttelte Kai sehr leicht den Kopf und stürzte den Rest seines Drinks. „Die Gretchenfrage brauchst du mir nicht mehr stellen, Ralf“, stellte er klar. „Ich bin hier, oder? Und morgen weiß die ganze Welt, was wir ausgeheckt haben. Also, wenn du so freundlich wärst - ich würde vorher gern noch ein paar Stunden schlafen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)