Fremde gehen von suugakusan ================================================================================ Die Tage am Ende des Jahres sind immer ein bisschen komisch. Das ganze Büro ist mit einer faulen entspannten Jahresabschlussstimmung durchtränkt. Leute gehen in den Ruhemodus, reden über die Pläne für Silvester und gehen in den wohlverdienten Urlaub. Zugleich müssen viele Dinge auf einmal fertig werden. Deswegen befindet man sich als Chef in einer ganz komischen Position, weil man selbst auch nicht besonders motiviert ist. Einfach alles abschließen und unbedingt an alle denken, den man gratulieren muss. Das ist schon gut genug. Von einem Abschlussmeeting ins nächste. Danach Mittagspause. Danach wiederholen. Nicht besonders spannend. Die letzten Tage dieses Jahres sind überraschenderweise weniger stressig ausgefallen als sonst. Ich konnte jeden Tag zu Hause schlafen und das gefiel mir ausgesprochen gut. Etwas mehr Zeit für die Familie zum Jahresende tut auch gut. Man kommt endlich zu den normalen Sachen wie zum Beispiel Geschenke für die Verwandtschaft auszusuchen. Einen Wermutstropfen gibt es in diesem Honigfass trotzdem. Ich weiß nämlich immer noch nicht, was ich Naruto an jenem Abend gesagt habe. Sein Verhalten hat sich seitdem marginal verändert. Man merkt es kaum, nur wenn man ganz genau darauf achtet. Er lacht öfter, ihm passieren letzter Zeit kleine Flüchtigkeitsfehler und manchmal wenn wir miteinander reden, guckt er mich für eine halbe Sekunde so richtig komisch an. Wie gesagt, man merkt es kaum. Dennoch spüre ich, dass nicht alles beim alten ist. Was sich genau geändert hat — keine Ahnung. Ich hasse es allgemein, keine Kontrolle zu haben. Andererseits muss ich vom Glück reden, dass mein Gegenüber in dieser Situation ausgerechnet Naruto ist. So ist es wahrscheinlicher, dass dieses Etwas mir nicht all zu viel schaden anrichtet. Zumindest habe ich da eine gewisse Hoffnung darauf. Dieses Gefühl, nicht zu wissen, worauf man sich einlässt, ist nicht besonders angenehm. Irgendwie kann ich die Ungewissheit im Privaten viel schlechter ab als im Geschäftlichen. Warum wohl? Kann ich nicht sagen. Tja, mal wieder was neues über sich selbst gelernt. Erstaunlich, dass das nach 42 Jahren immer noch möglich ist. Heute ist Silvester. Heute habe ich frei. Also, quasi. Mir wurde ein Bereitschaftsdienst zugeteilt. Wenn also irgendwelche Daten geklaut werden, darf ich mich darum kümmern. Naja, sowas ist in den letzten 12 Jahren nicht vorgekommen. Unsere Analysten haben breitflächig zugesichert, dass das auch zum dreizehnten Mal so kommt. Deswegen mache ich mir da keine Gedanken. Ich habe einfach keine Haltung dazu. Stattdessen beteilige ich mich an der feierlichen Hektik um den Silvester herum. Am frühen Morgen haben wir Bescherung gemacht. Dann waren wir zu viert spazieren. Das hat richtig gut getan, sowas haben wir schon seit langem nicht gemacht. Anschließend waren wir kurz was einkaufen, danach ging es ans Kochen ran. Zwischendurch haben sich Menma und Sakura ein bisschen gezofft. Er möchte unbedingt nachher zu den Freunden, aber Sakura hat eine strenge Ausgangssperre verhängt. Mittlerweile vertragen sich alle. Der Tag neigt sich langsam dem Ende. Gleich essen wir zu Abend. Unser Haus ist festlich geschmückt, wir haben alle zusammen an diesem schönen Essen gewerkelt, die Kinder necken einander ab und zu und Sakura geht dazwischen. Im Hintergrund läuft Fernseher, den niemand wirklich guckt. Da läuft ein Weihnachtsklassiker. Und im Kamin brennt ein warmes Feuer… ich halte einen Moment inne. Ja, ich fühl mich jetzt richtig wohl! „Sarada, könntest du mir noch ein bisschen Salat drauf tun?“ Ich reiche den Teller meiner Tochter. Sie füllt ihn und gibt ihn mir zurück. „Naja, auf jeden Fall mach ich ab dem neuen Jahr bei diesem Physik-Projekt mit“, erzählt sie weiter. „Wie heißt das Ding nochmal, was ihr bauen wollt?“, frage ich kurz nach. „Rastertunnelmikroskop.“ „Und was ist da der Unterschied zum normalen Mikroskop, den wir aus dem Biounterricht kennen?“ „Wir wollten, dass man ihn am Computer anschließen kann und dass die Bilder gleich am PC gespeichert werden können.“ „Ha, interessant“, erwidere ich nur. „Streber!“ Menma mischt sich ein. „Menma!“, und wird sofort von Sakura abgeschritten. „Hättest du sowas mal auch gemacht! Du solltest eigentlich deine Schwester zum Vorbild nehmen!“ „Bla-bla-bla! Physik ist für Nerds! SPORT!!! Mir ist eh das Sportstipendium zugesichert, von daher brauch ich nichts von einem… ähm… Etwas-Tunnel-Mikroskop oder so zu verstehen!“ „Übrigens, was macht deine Bewerbung?“, richte ich die Frage an meinen Sohn. „Nichts, ich hab noch genug Zeit.“ „Hast du dich ordentlich darüber informiert?“ „Brauch ich nicht. Da, wo ich hinmöchte, sind die Fristen nicht so straff.“ „Hmmm, wenn du es so sagst…“, murmelte ich nachdenklich. „Die achten auch auf den Schnitt, du Blödmann!“ Sarada übernimmt das Gespräch. Und natürlich muss sie ihren Bruder blöd nennen. Naja, eigentlich darf sie sich das erlauben. Sarada ist weit erfolgreicher im akademischen Sinne als Menma. Geistig ist sie ebenfalls deutlich reifer, obwohl sie die jüngere ist. „Aber die Auswahlprüfung ist entscheidender!“, kontert er. Tja, was kann man sonst dazu sagen… „Das heißt trotzdem nicht, dass du jetzt überhaupt nicht mehr lernen musst! Wäre echt witzig, wenn ausgerechnet du am Schnitt scheiterst!“ „Menma, hör deiner Schwester zu.“ Ich steige wieder ins Gespräch ein. „Wenn deine Bewerbung wirklich nur am Schnitt scheitert, wäre es echt bitter, oder?“ „Ihr alle so Schnitt-Lernen-Scheitern… ein Schritt in die falsche Richtung und man wird sofort erschossen!“, regt sich mein Sohn auf. „Wie soll man dann überhaupt Spaß am Leben haben, ha? Sarada, erklär‘s mir!“ „Das ist die Kunst des Lebens“, merke ich leise an. Niemand scheint die Anmerkung mitbekommen zu haben. „Lernen muss nicht unbedingt langweilig sein, man findet immer etwas, wofür man sich begeistert.“ „Und ich begeistere mich für Videospiele! Was machst du dann?!“ „Kannst ja lernen, wie man sowas programmiert zum Beispiel.“ „Ne, dafür bin ich zu blöd!“ „Okay, da geb ich dir vollkommen recht!“ Während sich meine Kinder über Gott und die Welt streiten, konsumiere ich stumm den Salat. Der schmeckt übrigens richtig gut. Ich muss immer wieder erstaunt feststellen, dass sie eigentlich keine Kinder mehr sind. Ich vergesse das gern. Jedoch haben sie schon ihre eigene kleine Weltanschauung, ihre eigenen Wünsche und Träume. Beide haben eine Idee, wie das Leben zu funktionieren hat, und lustigerweise glauben beide, dass seine oder ihre Idee komplett richtig ist. Wer kennt das nicht? In der Oberschule meinte ich auch, das Leben komplett verstanden zu haben. Später hat sich rausgestellt, dass dieses Verständnis komplett falsch war. Und wo treibt das Leben sie als Nächstes hin? Bei Menma ist diese Frage ziemlich aktuell. Im nächsten Jahr geht er auf die Uni. Das bedeutet Veränderungen für ihn. Aber auch für uns. Mein Handy vibriert plötzlich. Ich hebe es hoch und sehe auf dem Display: „Senju, Hashirama“. Ich seufze. Wenn der Präsident mich am Silvester um 20:30 anruft, kann es bestimmt nichts gutes heißen. Der Name auf dem Display verhext mich. Ich muss ran… aber dann endet meine familiäre Ruhe… dann muss ich zur Arbeit. Oh man, dieser Gedanke ist schon ziemlich abstoßend. Ich gucke immer noch wie hypnotisiert auf mein Handy. Die Kinder streiten sich immer noch im Hintergrund, aber ich höre nicht mehr zu. Sakura hat alles mitbekommen. Sie analysiert mich kurz und ihr Blick wird streng. Ja, sie weiß definitiv, was Sache ist. Na gut, ich muss mich wohl mit meinem Chef unterhalten. Ich gehe ran. Wir haben tatsächlich ein Security Breach. Es geht um den wichtigsten Kunden. Jemand muss sich schnellstmöglich darum kümmern. Und weil ich die Bereitschaft hab und die Abteilung eh leite und blablabla… und es tut ihm ausgesprochen leid… und ich hab alles sofort ohne diesen Wortsalat verstanden. Richtig toll. Tja, von wegen es kommt auch zum 13. Mal auch so. Scheißanalysten. Ich stehe auf und gehe aufs Balkon im zweiten Stock. Erstmal frische Luft schnappen. Und dann eine rauchen. Sakura folgt mir. Sie sieht nicht gerade belustigst aus. Verdammt… ich habe ihr einen Feiertag versprochen, an dem ich wirklich zuhause bin. Das Versprechen ist gebrochen und sie weiß es. Okay, das wird jetzt richtig hässlich. „Nein, oder?“ exhaliert sie angespannt. Dabei entsteht eine Dampfwolke vor ihrem Gesicht. Draußen ist es ziemlich kalt. „Doch“, wispere ich leise. Dabei sehe ich, wie die Welt in ihren Augen zusammenbricht. „Kann das nicht jemand anders übernehmen?!“ Sie hört sich verzweifelt an. „Ich habe Bereitschaft, also…“ „Warum bist du überhaupt dafür zuständig?!“ Jetzt wird sie langsam wütend. „Weil ich der Abteilungsleiter bin.“ „Okay, aber warum kann nicht jemand anders diese verdammte Bereitschaft machen?!“ „Ich kann diese Pflicht nicht einfach so weiterschieben…“ „Achso! Und deine Familie muss schon wieder eins zurückstecken, ja?! Jede Familienfeier endet so! Jeder einzige!“ So, jetzt habe ich ihren Feiertag ruiniert. „Das stimmt nicht…“ „Oh, komm mir jetzt nicht damit an! Weißt du noch…“ Sie zählt jetzt tatsächlich die letzten Feiertage auf, die ich verpasst habe. Gut. Dabei vergisst sie, dass mir das auch überhaupt keinen Spaß macht. Aber das haben wir alles schon durch. Im Endeffekt kann ich die Situation eh nicht schön reden. Es ist Kacke. Ist halt so. Na gut, lass sie reden. Bevor sie den Dampf nicht abgelassen hat, beruhigt sie sich so oder so nicht. Ich mache die Zigarette aus und gehe ins Schlafzimmer. Sie regt sich immer noch furchtbar auf. Ich höre nicht mehr zu. In solchen Momenten kapsele ich mich ab. So ist es einfacher, schätze ich. Anstatt bewusst zu handeln führe ich maschinell ein Notfallprogramm durch. Schritt 1: in den Schrank greifen und die erstbesten Klamotten ausfischen. Schritt 2: mich anziehen. Sakura hat aufgehört sich laut aufzuregen. Stattdessen versucht sie mich mit ihrem Blick zu vernichten. Früher hatte ich echte Angst davor. Mittlerweile kann ich es ziemlich gut abschütteln. Schritt 3: Taxi rufen. Schritt 4: warten. Unterpunkt 4.1: mich bei Sakura erneut entschuldigen. „Es tut mir wirklich leid.“ Sie lässt den Satz unkommentiert und rollt nur genervt die Augen. Für eine Sekunde werde ich etwas menschlicher und sage ihr: „Ich mach’s wieder gut, okay?“ Dabei meine ich es so. Leider hält dieser Zustand nicht all zu lange an. Zurück zum Programm. Unterpunkt 4.2: mich von den Kindern verabschieden. Schritt 5: runtergehen. Schritt 6: ins Auto steigen. Hier endet das Programm. Und ich atme tief durch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)