Der Weihnachtskaktus von aceri (Ein Happy End mit Augenzwinkern) ================================================================================ Kapitel 1: Part 1 (Felix) - der Geist der Gegenwärtigen Weihnacht ----------------------------------------------------------------- Mein Kopf hält mich hartnäckig draußen und zwar die ganze Zeit über während ich die Dinge in meinem Zimmer die mich an Nino erinnern könnten oder die ihm gehören und die er hier bei mir entweder mit Absicht platziert oder vergessen hat in einen schnöden nichtssagenden Versandkarton packe und ihn zum Schluss zwar nicht zuklebe, aber ordentlich zuklappe so dass er sich nicht aus Versehen von selbst wieder öffnen und der Anblick seines Inhaltes mich nicht unvorbereitet treffen kann. Der Karton reicht gerade so. Kaum zu glauben wie viel Zeug man innerhalb von einem Jahr von einem Zimmer in ein anderes tragen kann. Ob Nino es genauso macht? Wahrscheinlich stören ihn meine Sachen in SEINEM Zimmer überhaupt nicht weil wir uns ja einvernehmlich und im Guten und ohne gebrochene Herzen voneinander getrennt haben und weil wir ja vorhaben auch weiterhin Freunde zu bleiben. Auch wenn ich nicht mehr in der Band bin. Auch wenn wir nächstes Frühjahr nicht mehr auf die gleiche Schule gehen werden. Oder nur drei Straßen voneinander entfernt wohnen werden. Ich sitze mit dem geschlossenen Karton der nicht die Überbleibsel einer Freundschaft sondern einer Beziehung (einer Beziehung die verdammt noch mal perfekt gewesen ist und die es auch immer noch sein sollte oder wäre oder nie war weil Nino mich offenbar nicht genauso heftig und unsterblich geliebt hat wie ich ihn!) auf dem Fußboden in meinem Zimmer und weiß nicht so genau wohin damit. Unters Bett? Ich kann ihn ja wohl schlecht einfach so zurückgeben. Nino verschwindet ja nicht aus meinem Leben. Nur…ich bin aus seinem Herzen verschwunden. Er aus meinem nicht. Auch wenn der Vorschlag uns zu trennen von mir kam. Ich schiebe den Karton an die Wand zwischen dem Fußende meines Bettes und meinem Schreibtisch weil er dort am wenigsten auffällt und als ich den Blick hebe sehe ich auf dem Fensterbrett neben einem zusammengerollten USB-Kabel und einem schon leicht angestaubten leeren Wasserglas etwas stehen das ich vergessen habe zu den anderen dinggewordenen Erinnerungen einer Bilderbuch-Beziehung in die Kiste zu packen. Eine Pflanze. Eine Pflanze die sich Weihnachtskaktus nennt und die ihr Überleben einzig und allein dadurch sichern konnte dass sie praktisch keine Pflege bis auf alle paar Wochen einen Schluck Wasser braucht. Vielleicht würde es nicht ganz so sehr wehtun wenn Nino sich nicht nachdem er sich von mir entliebt direkt wieder neu verliebt hätte. In eine perfektere Version von mir. In Johnny. In Johnny der eigentlich Jonathan heißt aber den niemand so nennt weil Johnny natürlich tausendmal cooler und amerikanischer klingt und weil ein Johnny als Frontmann einer Band viel viel besser passt als ein Felix. Nicht nur vom Namen her. Johnny hat sandfarbenes unperfekt perfekt gestyltes Haar was immer ein bisschen zerwuschelt aussieht (ich bin braunhaarig und meine Frisur nennt sich gekämmt) und Sommersprossen (die hab ich auch) und wunderschöne tiefsinnige haselnussbraune Augen (die hab ich auch!!) und ist fast 1,85 m groß (ich bin knappe 1,72 m) und er trägt diese viel zu großen Hoodies und viel zu engen Jeans und abgelatschte schwarze Turnschuhe (während ich anziehe was passt und keine Flecken oder Löcher hat) und dann wäre da noch die unbestreitbare Tatsache dass Johnny singen kann. Er singt wie ein Engel. Oder ein Rockstar. Oder was auch immer gerade für einen unserer Songs benötigt wird und dazu spielt er Gitarre wie ein verdammtes irres Wunderkind was er allerdings nicht ist. Er ist einfach nur Johnny. Und damit eine bessere Version von mir. Vielleicht nicht die beste, aber näher dran als ich es jemals sein werde. Ich würde ihn liebend gern dafür hassen weil all das was passiert ist mir das Gefühl gibt durch ihn ersetzt worden zu sein aber das stimmt nicht; er ist nicht mein Ersatz. Er ist mein Nachfolger. Dass es für mich einen Nachfolger in der Band geben muss das ist mir von vorne herein klar gewesen, die Band muss auch ohne mich weiter gehen und ohne Leadsänger ist das eher schwierig oder genau genommen: unmöglich. Keiner von den anderen kann gut genug singen und das sag ich nicht aus Gehässigkeit sondern es ist eine Tatsache. Die wir alle kennen und akzeptieren. Aber musste Jonathan auch im gleichen Atemzug auch noch mein Nachfolger in Ninos Bett werden? Ich weiß dass sie miteinander geschlafen haben. Nino hat es angedeutet aber ich habe mich…in meinen Augen angemessen desinteressiert aber nicht beleidigt oder gekrängt gezeigt und da hat er es vorgezogen die Sache nicht weiter zu vertiefen. Ich wette sie schlafen richtig oft miteinander. Wer würde das nicht tun wenn er die Gelegenheit dazu hat? Mit der Spitze meines Zeigefingers streiche ich über ein verstaubtes Blatt des Weihnachtskaktus. Als ich ihn bekommen habe hat er gerade geblüht. Weiße und eine knallig pinke Blüte. Eigentlich will ich gar nicht daran denken aber der Anblick der ungepflegten in Vergessenheit geratenen Pflanze bohrt ein Loch in meinen Schädel und ich spüre wie ich wieder ein bisschen mehr ich selbst werde. Nicht mehr so tieftraurig und deprimiert und reizbar und ausgesperrt aus meinen eigenen Gedanken. Den Kaktus habe ich an dem Tag bekommen an dem Nino und ich uns zum ersten Mal geküsst haben. Am 16. Dezember. Auf dem Weihnachtsmarkt. Nachdem wir einen ganzen Vormittag und einen Nachmittag zusammen verbracht haben und uns in diesen wenigen Stunden irgendwie näher gekommen sind als in all den Jahren unserer Freundschaft zuvor und als wir dann beide völlig überdreht und verschwitzt und aufgeregt und high vom Adrenalinrausch nach unserem Debut-Auftritt auf dem Marktplatz inmitten der Weihnachtsmarktgäste allein hinter der Bühne inmitten von Kabelleisten und –trommeln und weggeworfenen Gebrannte-Mandel-Tütchen standen da… Kapitel 2: Part 2 (Felix) - der Geist der Vergangenen Weihnacht --------------------------------------------------------------- Der Tag unseres Auftrittes ist klar und frostig und der Himmel bedeckt von hell bis dunkelgrauen Schneewolken und ganz ehrlich? Ich hoffe das es schneit wenn wir auf der Bühne stehen. Einfach so, fürs Feeling, auch wenn wir keine typischen Weihnachtslieder spielen werden. Im Moment gibt es allerdings keine einzige Schneeflocke weit und breit auch wenn es dafür längst kalt genug ist. Keine Ahnung was mir eher absterben wird, meine Nase oder meine Füße in den coolen aber leider für diese Temperaturen viel zu gut belüfteten Chucks. Mit Winterstiefeln aufzutreten ist keine Option. Keine jedenfalls die ich ernsthaft in Erwägung ziehe. Meine Coolnis ist mir wichtig. Ich will sie der gesamten Menschheit unter die Nase reiben. Oder, für den Anfang, wenigstens den Besuchern des Weihnachtsmarktes die "Cooking Thunder" und ich heute am späten Nachmittag unterhalten werden. Nino strahlt mir ins Gesicht wie tausend Weihnachtssterne und ich kann nicht anders als zurück zu strahlen obwohl meine Zehen und Ohrenspitzen inzwischen wehtun vor Kälte und ich nicht weiß wie ich die nächsten Stunden Aufenthalt unter freiem Himmel überleben soll. Die Antwort auf diese Frage ist dann plötzlich ganz einfach: ich überlebe die Zeit bis zu unserem Auftritt von der ich dachte sie würde eine unerträglich eisige Unendlichkeit dauern mit zwei Tassen Glühwein, einer Tasse heißen Kakaos, einer Tüte gebrannter Sonnenblumenkerne und damit jede Bude mindestens dreimal im Vorbeigehen und zweimal genauer in Augenschein genommen zu haben. Da das Gedränge zum Nachmittag hin immer dichter wird müssen Nino und ich nah beieinander bleiben um nicht aus Versehen getrennt zu werden und irgendwann hakt er sich plötzlich und ohne Vorwarnung oder nachträglicher Erklärung bei mir unter und da wir beide nur die Art von Jacken tragen die zwar geil aussehen aber den winterlichen Temperaturen überhaupt nichts entgegen zu setzen haben (also viel zu dünn sind) kann ich die Wärme und die Präsenz seines Oberarmes und seines Unterarmes direkt an meinem spüren und in meinem Bauch und in meiner Brust breitet sich ein aufgeregtes Kribbeln aus das sich genauso anfühlt wie das welches ich beim Gedanken daran empfinde dass wir in weniger als einer halben Stunde vor einem Haufen unbekannter Menschen die unser erstes (und hoffentlich nicht allzu anspruchsvolles) Publikum sein werden. Eine Mischung aus Adrenalin und Vorfreude. In meinen Jackentaschen balle ich meine Hände zu Fäusten. Es gibt Dinge die man wissen sollte. Oder besser gesagt, zwei Dinge: Nino ist schwul. Ich ich bin auch schwul. Und wir sind beide noch nicht geoutet. Weder vor unserer Familie noch…voreinander. Es ist mehr so wie ein offenes Geheimnis was wir uns gegenseitig aber nicht verraten weil wir die Konsequenzen von so einer Offenbarung nicht einschätzen können und ich für meinen Teil fürchte sie auch ein bisschen. Ja, vielleicht nicht nur ein bisschen. Ich fürchte um unsere Freundschaft wenn Nino zwar auch schwul aber gleichzeitig nicht an mir interessiert ist. Denn genau das wär dann mein zweites Geständnis. Hey mein schwuler bester Freund seit Kindergartenzeiten, ich bin genauso schwul wie du und seit ich das vor mir selbst zugegeben kann bin ich wahnsinnig verknallt in dich. Geht’s dir genauso? Wollte ich die Antwort auf diese Frage wissen? Nein! Und Ja! Ja natürlich wollte ich die Antwort wissen! Aber bitte nur dann wenn sie positiv ausfiel. Mehr als dieser eine bescheidene Wunsch würde auch nicht auf meinem Wunschzettel stehen, ich verspreche es. Mit dem Rest der Band treffen wir uns auf dem Parkplatz direkt neben dem Weihnachtsmarkt. Der ist irre voll aber der große schwarze Bus von VW nicht zu übersehen da er etwas rechtswidrig über den Bordstein gefahren ist und jetzt dort parkt wo normalerweise Blumenkübel hingehören würden um genau das zu verhindern. Aber Olivers und Karis Eltern werden sowieso nicht zum Auftritt bleiben also ist die Chance auf einen Strafzettel eher gering weil sie sofort wieder abfahren werden sobald sie die Instrumente und ihre Kinder ausgeladen haben. Zwei E-Gitarren (meine und Ninos) und einen E-Bass (Olivers). Karis Schlagzeug steht bereits seit dem Vormittag auf der Bühne. Um die Technik müssen wir uns glücklicherweise nicht kümmern, das machen die Veranstalter. Die stellen auch die Mikros und die Verstärker; ist wahrscheinlich praktischer so weil außer uns noch zwei weitere Bands und eine Tanzgruppe auftreten werden. Aber wir, wir sind die ersten. Nino macht sich von mir los um unsere beiden Bandkollegen und seine Gitarre zu begrüßen und auch ich schließe Kari und Oliver nacheinander in die Arme und nehme von ihrem Vater im Anschluss einen der Koffer entgegen. Ist zwar der seines Sohnes aber was ich zur Bühne schleppe ist eigentlich egal, Hauptsache wir bringen alles heil nach oben. „Ich bin so aufgeregt ich bin so aufgeregt! Oh Gott ich glaube ich muss noch mal auf die Toilette! Gibt’s hier eine Toilette?“ ruft Kari aufgeregt während sie wie verrückt auf und ab hüpft und hin und her rennt und in einer Hand ihre Drumsticks und in der anderen ihr Handy hält. Sie sieht unglaublich niedlich aus in ihrer dicken schwarzen geblümten Winterjacke mit dem neonpinken Fellkragen und den hohen schwarzen Stiefeln aus denen glitzerbestrumpfte Beine ragen die erst sehr weit oben unter einem grünkarierten dicken Flanellrock verschwinden. Über ihren leicht gelockten dunkelbraunen Haaren trägt sie weiße plüschige Ohrenschützer. „Da hinten sind die öffentlichen.“ gibt ihr Zwillingsbruder unbeeindruckt zur Antwort. Oliver ist all das was Kari zu wenig ist: ruhig, besonnen, überhaupt kein bisschen ausgeflippt und unser Fels in der Brandung wenn wir anderen anfangen vollkommen abzudrehen. Ich mag ihn, aber ehrlich wirklich nicht so auf…die Art. Eher so als wäre er ebenfalls mein Bruder. Mein braungelockter hochgewachsener heute in einen modisch eng geschnittenen dunkelgrauen Mantel gekleideter einen olivgrünen (haha) Strickschalt tragender Bruder mit den unglaublich größten dunkelbraunen Augen die ich je gesehen habe. Das er noch Single ist ist für mich eines der größten ungelösten Mysterien überhaupt. Immer wieder huscht mein Blick zu Nino hinüber; während wir uns mit unseren Gitarrenkoffern im Arm einen Weg durch die dichtgedrängten Leiber der Weihnachtsmarktbesucher bis zur Bühne bahnen; während wir unsere Instrumente stimmen, jeder an seinem Platz; beim Soundcheck; während wir unsere Setlist auf den Boden direkt vor unsere Füße kleben die eigentlich gar nicht nötig ist weil wir eh nur drei Songs spielen und man schon echt ein Goldfisch sein müsste wenn man sich deren Reihenfolge nicht merken kann aber so fühlt es sich einfach viel professioneller an und auch dann noch als die Stehplätze vorne und die Bierbänke weiter hinten sich mit mäßig bis ehrlich neugierig erwartungsvollem Publikum füllen und schließlich gibt Kari uns mit ihren Drumsticks das Zeichen das Zeichen das alles bedeutet und… Wir verspielen uns nicht so oft wie befürchtet aber öfter als mir lieb gewesen wäre aber als Band sind wir eben genauso herrlich unperfekt wie als Menschen und das rede ich mir die ganze Zeit über ein; solange bis wir die Bühne wieder verlassen und unsere Gitarren ablegen und uns gegenseitig jubelnd und kichernd und bis zum Rand voll mit Adrenalin in die Arme fallen. Sogar Oliver. Er riecht schwach nach Zigarettenrauch und Pfefferminz. Ein heimlicher Raucher. „Ich habe noch etwas für euch.“ unterbricht er unseren fast schon beschwippst zu nennenden Freudentaumel und winkt uns in eine Ecke der Bühne in der irgendein bestimmt ganz wichtiges Gerümpel und ein einsamer Holzstuhl der aussieht wie die auf denen man in der Schule sitzt stehen. „Weihnachtsgeschenke? Alter es ist erst der 16. falls du das verpennt hast.“ zieht Nino ihn auf aber ich höre das er sich ebenfalls freut weil Oliver an so etwas banal schönes gedacht hat. Ausgerechnet Oliver. „Ich habe es nicht verpennt und es ist auch kein richtiges Weihnachtsgeschenk.“ Er schiebt den Stuhl beiseite und beugt sich über einen der nicht angeschlossenen Ersatzverstärker. "Nur eine kleine Aufmerksamkeit.“ Ja, das klingt schon eher nach Oliver. Nacheinander fördert er drei kleine mit winter-weihnachtlichem Glitzerstaub bestreute Blumentöpfe zu Tage; einen dunkelblauen, einen grünen, und einen pflaumenfarbenen. Und in jedem von ihnen steckt eine seltsame grüne nach einer Mischung aus Busch und Kaktus aussehende Pflanze mit gelben und roten und weißen und pinken Blüten. „Was ist das? Schenkst du uns Blumen?“ Nino tritt vor und nimmt einen der Töpfe in die Hand um das ungewöhnliche Gewächs darin genauer zu betrachten. An seinen Fingern klebt Glitzerstaub. „Das sind Weihnachtskakteen. Sie blühen nur im Winter, das ist etwas ganz außergewöhnliches.“ erklärt Oliver mit einer Nachsicht die eher zu einem Elternteil in den Vierzigern passt als zu dem Bassisten einer doch ganz passablen Rockband und jetzt wandert sein Blick zu mir. Er lächelt. „Nimm dir auch einen.“ Mit der Hand die nicht den Hals meiner Gitarre hält greife ich nach dem pflaumenfarbenen Topf und ich gebe es zu, die Geste ist wirklich niedlich, vor allem für jemanden wie Oliver. Auch wenn ich Pflanzen und Blumen eigentlich nicht mag weil ich mit denen noch schlechter kann als mit Haustieren; die melden sich wenigstens wenn sie Hunger haben oder Wasser brauchen. Ich gebe dem Weihnachtskaktus nicht allzu große Chancen meine Pflege zu überleben. Oder besser gesagt, den Mangel daran. „Ich will den!“ ruft Kari und streckt Nino die Hand in einer auffordernden Geste entgegen. Natürlich, der Kaktus den er hält hat die meisten pinken Blüten. „Dann nimm den, mir ist es egal welchen ich bekomme. Hier. Und danke Oliver, das ist echt nett von dir. Also für den Kaktus.“ Während Kari liebevoll die pinkfarbenen erstaunlich zart aussehenden Blüten mit einer Fingerspitze streichelt und Nino sich den Glitzer an seiner Jacke abwischt (keine gute Idee) trete ich auf Oliver zu und umarme ihn zum zweiten Mal an diesem Abend. „Danke, echt. Dass du an sowas gedacht hast.“ Ganz kurz spüre ich seine Hände auf meinem Rücken und an der Bewegung seiner Wange an meiner dass er lächelt, dann zupft Nino mich am Ärmel und deutet, nachdem ich Oliver losgelassen habe, mit einem Kopfnicken in die Richtung in die irgendwo der Parkplatz liegen muss. Ich sehe auf was er uns aufmerksam machen will. Karis und Olivers Eltern sind hier um uns mit unserem Equipment zu helfen; sie drängen sich durch die Weihnachtsmarktbesucher und winken uns zu. „Na dann mal los!“ Nino klatscht in die Hände aber er macht keine Anstalten irgendetwas in die Hand zu nehmen außer den Kaktus den er eh schon hält und irgendwas in seinen Augen die mich mustern, diesen krass grünen Augen, bringt mich dazu mich ebenfalls nur an dem unerwarteten Vorweihnachtsgeschenk und meiner Gitarre festzuhalten und obwohl meine Finger inzwischen zu Eiszapfen erstarrt sind kann ich nichts anderen tun als Nino anzusehen. Da ist es wieder, das Kribbeln. Das Vorfreudekribbeln. Oliver packt seinen Bass ein und trägt ihn in Richtung seiner Eltern, in der anderen Hand hat er Karis Drumsticks weil sie offenbar beide Hände benötigt um ihren Weihnachtskaktus unbeschadet durch die Menschenmenge zu bekommen und als ich meinen Blick von ihren wippenden Ohrenschützern und dem knallig pinken Kapuzensaum löse steht Nino plötzlich so dicht vor mir dass ich seinen glühwein- und kakaogeschwängerten Atem riechen und auf meiner halb abgefrorenen Nasenspitze spüren kann und dann…bekomme ich noch ein Vorweihnachtsgeschenk, eines das ich mir mehr als alles andere gewünscht habe und das das einzige auf meinem Wunschzettel gewesen ist und das meinen Herzschlag in die Höhe treibt und meine Knie weich werden lässt und mir mehr Adrenalin durch die Adern pumpt als jeder Auftritt es je schaffen könnte. „Na endlich.“ sagt Nino als sich unsere Lippen voneinander lösen. „Na endlich.“ wiederhole ich, und wir strahlen beide wie Kinder denen ihr allergrößter Weihnachtswunsch erfüllt worden ist. Kapitel 3: Part 3 (Nino) - der Geist der Gegenwärtigen Weihnacht ---------------------------------------------------------------- Mein Kopf hält mich draußen und zwar die ganze Zeit über, während seine Finger sich unter mein Shirt schieben und ich die Augen schließe. Wie konnte sich etwas Richtiges, nur so falsch anfühlen? Ich öffne die Augen, sehe in ein Gesicht voller Sommersprossen und komme mir wie ein Verräter vor. Ein Verräter an Johnny. Er sieht mich an, seufzt dann ergeben und die warme Hand verschwindet. „Sag doch einfach, wenn du nicht willst.“ Murrt er leise und setzt sich auf. Stille breitet sich zwischen uns aus, es könnte einfacher sein, wenn Johnny nicht so verständnisvoll wäre, denke ich und setze mich neben ihn. „Ich kann heute einfach nicht, ich will ja, aber...“ der Bruch in meiner Stimme, lässt ihn aufhorchen und seine Hand wandert zu meiner. „Lassen wir es.“ Sagt er nur und steht auf. Seine Aussage ist so ungenau, dass in mir die Angst hochsteigt, er habe soeben Schluss gemacht. Ich blicke zu ihm hin, wie er an der Tür steht, mit der Jacke in der Hand und dabei aussieht, als sei er eine missglückte Karikatur von Felix, als er versucht hat sich zu trennen, als sei es das Einfachste der Welt. Ich nicke und frage nicht nach. Er geht und erklärt sich auch nicht. Der Karton reicht gerade so. Ob Felix es genauso macht? Mein Zimmer sieht plötzlich sehr unpersönlich aus, beinahe so, als wäre ich umgezogen und nicht Felix. Seine Sachen schiebe ich unter das Bett, in der Hoffnung, sie schneller zu finden, falls er doch noch mal vorbeikommt und ich ein paar aufstellen kann. Ihn stören meine Sachen bestimmt nicht, warum auch, schließlich wollte er sich trennen. Jeder sollte Entscheidungentreffen, ich habe meine auf dem Weihnachtsmarkt getroffen und er seine jetzt. Das ist komplett in Ordnung, wiederhole ich immer wieder und komme mir wie ein Verräter vor. Ein Verräter an Felix. Eine Pflanze. Sie steht auf dem Fensterbrett und scheint sehnsüchtig hinaus zu schauen, drei Straßen weiter, wo eine zweite steht. Der Weihnachtskaktus hat sich erstaunlich gut gehalten. Ich streiche sanft über seine staubigen Blätter und frage mich, wie lange er noch lebt und ob ich Felix einen zweiten schenken soll, aber das ist lächerlich und kindisch. Mein Blick wandert weiter, vom Schreibtisch, über das Bett zum Regal und stockt. Dort neben ein paar Büchern aus der Schule steht ein kleines schmales Buch. Ich hebe es an, drehe es um und lächle. Ich wollte es Felix eigentlich noch ausleihen, schließlich hatte ich wochenlang davon geschwärmt. Vielleicht könnte ich es als Vorwand für ein weiteres Treffen benutzen, aber wozu, dann würden wir wieder nur reden, dieses belanglose Reden, obwohl man eigentlich etwas zu sagen hat. Der Gedanke, bohrt ein Loch in meinen Schädel und ich spüre, wie ich wieder ein bisschen mehr ich selbst werde. Ich könnte es ihm schreiben, ganz altmodisch und romantisch. Irgendwie fruchtbar kitschig, doch das Lächeln des Jungen im Spiegel, lässt mich Mut fassen, ich nicke ihm zu und komme mir wie ein Verräter vor. Für Felix, den Jungen, den ich zum ersten Mal geküsst habe. Du warst mein erster Freund und es war die schönste Zeit meines Lebens, denn ich habe sie mit dir verbracht. Drei Monate später sehe ich das klar und deutlich und wünsche mir, dass die Vergangenheit wieder Gegenwart und Zukunft wird. Denk an mich, wenn du das liest und lächle dabei, so wie ich es tue, wenn ich an dich denke. Nino steht jetzt auf der letzten Seite des Buches. Kapitel 4: Part 4 (Felix) - der Geist der...Gegenwärtigen und Zukünftigen Weihnacht und...das Ende -------------------------------------------------------------------------------------------------- Es ist nicht der sechzehnte sondern der vierzehnte an dem wir noch einmal nur sechs Wochen vor meinem geplanten Umzug als ehemalige Besetzung der Band zusammen kommen; kein Johnny, nur Felix. Nicht als Gitarrist und Sänger sondern als Mitglied von so etwas wie einer kleinen Abschiedsfeier die wir in einem Café mit Blick auf die Passage feiern auf der in einer Woche der Weihnachtsmarkt stattfinden wird. Diesmal ohne mich. Denke ich. Und ich weiß nicht ob die Tatsache dass Nino und ich uns im Guten getrennt haben die Sache einfacher macht denn für mich ist es alles andere als leicht so zu tun als FIELE mir unser Getrenntsein leicht. Ihm tut das offenbar schon. Aber er ist ja auch nicht mehr getrennt sondern vergeben. Da die Zeitspanne in der unser Beisammensein irgendwie komisch war längst vorbei ist (sie dauerte etwa zwei Wochen ab dem Zeitpunkt an dem Nino und ich uns IM GUTEN! getrennt hatten) gibt es zwischen Kari und Oliver und meinem Ex (oh Gott) und mir weder betretenes Schweigen noch unsicheres Gekicher während wir an unseren Cappuccinos und Kakaos mit Minz-Aroma nippen; und als wir nach fast zwei Stunden raus auf die winterkalte windige bereits durch hübsche LED-Girlanden erhellte spätnachmittagliche Straße treten hält Nino mich plötzlich zurück. Irgendwie wirkt er jetzt so betreten und unsicher wie Oliver und Kari in diesen zwei ätzenden ewigen Wochen in denen wir den Übergang von festem Freund zu wieder bestem Freund vollzogen haben und dann…lässt Nino seinen abgeschabten durchgewetzten Rucksack zu Boden gleiten und wühlt mit gesenktem Kopf darin herum und dann… „Hier. Das Buch wollte ich dir doch Mal ausleihen und ich habs immer vergessen und naja, heute hab ich dran gedacht. Hier.“ Er reicht mir mit einem unsicheren betretenen Lächeln ein schmales Taschenbuch. Ich nehme es mit klammen Fingern entgegen. Ich würde ihn gern küssen. Aber stattdessen bedanke ich mich artig und umarme ihn rein freundschaftlich und trage das Buch bis nach Hause in der Hand obwohl ich das Gefühl habe die Kälte würde mir die Finger abfressen. Vielleicht werde ich es tatsächlich lesen. Irgendwann. Wenn sein Anblick mich nicht mehr an Nino erinnert und an die Tatsache dass wir als ich nach dem Buch fragte noch zusammen gewesen sind und an eine gemeinsame Zukunft geglaubt haben. In meinem Zimmer lege ich es oben auf die anderen Bücher in meinem Bücherschrank. So mache ich es mit jeder noch nicht gelesenen Lektüre. Und da liegt es heute noch. Ein weiteres Jahr später. Ein Jahr das Nino mit Johnny und ich…zur Hälfte mit Oliver verbracht habe der mir kurz nach meinem Aus- und Umzug vollkommen überraschend und unromantisch bei einem Besuch in dem WG-Zimmer in dem ich jetzt wohne seine Liebe gestanden hat und der jetzt nur eine Stadt weiter seine Ausbildung macht und…vielleicht werden wir zusammen ziehen. Ein weiteres Jahr später. Und dann stehen auf unserem gemeinsamen Fensterbrett nicht mehr nur ein verstaubter und trotz chronischer Vernachlässigung blühender Weihnachtskaktus sondern: zwei. Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)