Critical Hit! von Platan (14. Virtuelles Schneegestöber) ================================================================================ Prolog: Critical Hit! --------------------- Liebe Feria,   ich hoffe, du schmeißt diesen Brief nicht gleich in den Müll, sondern liest ihn dir durch. Es gibt da nämlich etwas, das ich dir schon seit einer Weile sagen möchte. Da ich aber nicht gut darin bin, so etwas hübsch zu verpacken, werde ich einfach direkt sein: Du bist richtig süß, ich mag dich. Hättest du Lust, dich mal mit mir zu treffen? Lass uns bitte heute noch reden, nach der Schule. Ich werde auf dem Pausenhof in der Raucherecke auf dich warten.   Ralph   [LEFT]Der erste Liebesbrief, den ich je von einem Jungen bekam, war für mich wie ein Wunder. Völlig unscheinbar hatte er auf meinem Tisch gelegen, als ich von der letzten Pause zurück in die Klasse gekommen war. Anfangs dachte ich, dass ich bestimmt träumen musste, so unwirklich kam mir das vor. Das Herzrasen und diese Hitze, die mir beim Anblick des Namens Ralph ins Gesicht stieg, fühlten sich aber viel zu real an.[/LEFT] [LEFT]Ralph, der Junge, für den ich schon seit einer halben Ewigkeit schwärme, hatte mir einen solchen Brief geschrieben. In seiner ordentlichen Schrift, sogar mit einem Herzchen auf dem Umschlag.[/LEFT] [LEFT]Ich hatte mich kein bisschen auf die letzten beiden Unterrichtsstunden konzentrieren können, weil ich die ganze Zeit darüber nachdenken musste, ob dieser Brief wirklich an mich gerichtet sein sollte. Vielleicht hatte Ralph sich nur vertan und aus Versehen meinen Namen in die Begrüßung geschrieben. Mir wollte kein Grund einfallen, weshalb er ernsthaft mich mögen könnte. In unserer Klasse gab es eine Menge schönere, klügere und bessere Mädchen als mich. Verglichen mit denen war ich pummelig, schlecht in der Schule und gänzlich untalentiert.[/LEFT] [LEFT]Was, wenn es gar kein Liebesbrief war, sondern er etwas ganz anderes meinte? Ja, das käme schon eher hin, obwohl der Inhalt eindeutig klang. Egal, was am Ende zutraf, natürlich wollte ich Ralph nicht versetzen. In den letzten paar Minuten vor dem erlösenden Gong der Schulglocke stieg meine Nervosität ins Unermessliche. Ich war so hibbelig, dass unser Lehrer sich dazu genötigt fühlte, mich zwei Mal zurechtzuweisen. Aber ich konnte es nicht ändern, ich war eben zu aufgeregt.[/LEFT] [LEFT]Als diese unerträglich lange Mathestunde – mein absolutes Hassfach – dann endlich vorbei war, packte ich meine Sachen so hastig ein, dass sicher das eine oder andere Heft dabei zerknautscht wurde. Wie egal mir das war. Mir war es zu wichtig, Ralph nicht lange warten zu lassen. Deshalb stürmte ich regelrecht aus dem Klassenzimmer, die Treppen hinunter und auf den Pausenhof hinaus – Mann, wäre mein Sportlehrer überrascht gewesen, wie schnell ich sein konnte, wenn ich wollte.[/LEFT] [LEFT]Kaum stand ich draußen, verlangsamte sich mein Schritttempo, bis ich irgendwann doch stehenblieb. An der frischen Luft gefror mein Atem, was im Dezember normal war. In nur drei Tagen fingen unsere Weihnachtsferien an. Bedeutete das etwa, Ralph hatte all seinen Mut zusammengenommen, mir vorher noch diesen Brief zu schreiben? Bei diesem Gedanken fing mein Gesicht gleich wieder zu glühen an. Was sollte ich denn sagen, sobald ich vor Ralph stand?[/LEFT] [LEFT]Zu blöd, mir wollte nichts einfallen. Nichts, was gut klang. Dabei hatte ich schon etliche Filme und Manga über die Liebe gesehen und gelesen. Alles umsonst, als hätte mein Gehirn nichts davon wirklich gespeichert – wahrscheinlich stimmte das sogar, meistens fand ich andere Geschichten spannender und interessanter als Romantik.[/LEFT] [LEFT]Ich schüttelte den Kopf und klatschte mir mit den Händen gegen die Wangen, die sich tatsächlich heiß anfühlten. „Konzentration, Feria!“[/LEFT] [LEFT]Sonst blamierte ich mich noch vor Ralph. Also atmete ich tief durch und versuchte mich zu beruhigen. Immerhin war ich kein kleines Kind mehr, sondern dreizehn Jahre alt. Höchste Zeit, erwachsener zu werden! Genau, ich konnte alles schaffen. Mit diesem Entschluss setzte ich meinen Weg fort, Richtung Raucherecke – ein recht unromantischer Ort, wie mir bewusst wurde.[/LEFT] [LEFT]Dummerweise lungerten dort gerade mehrere ältere Schüler herum, die gemeinsam die Regeln brachen und heimlich Zigaretten konsumierten. Schlagartig verkroch sich mein Mut wieder in die hinterste Ecke meines Inneren. Als sich die ersten Blicke auf mich richteten wie das Visier eines Jagdgewehrs auf Beute, wollte ich mich instinktiv abwenden und weitergehen, doch da ertönte plötzlich Ralphs Stimme aus der Mitte der Raucher.[/LEFT] [LEFT]„Feria! Cool, du bist echt gekommen.“[/LEFT] [LEFT]Cool, Ja, das traf es recht gut, so steif wie mein Körper vor Verlegenheit wurde. Ralph war bereits im Stimmbruch gewesen, was ihn wesentlich reifer wirken ließ. Irgendwie war er das auch. Selbst von der Größe her übertraf er schon viele von den anderen Jungs, auch Lehrer waren deswegen manchmal verwirrt – sie fragten ihn wohl oft, ob er nicht in eine höhere Klasse gehörte und er sich nur verlaufen habe.[/LEFT] [LEFT]In Wahrheit war Ralph aber nur etwa zwei Monate älter als ich. Wir waren Klassenkameraden, mehr nicht. Nicht mal Freunde. Klar, ich war heimlich in ihn verliebt, doch das war alles. Eine einseitige Schwärmerei, das dachte ich jedenfalls immer. Bis heute.[/LEFT] [LEFT]Problemlos drängte Ralph sich zwischen den Rauchern nach vorne und lächelte mich an. „Ich hatte nicht mal Zeit, mir eine Zigarette anzumachen. Hast du dich für mich so beeilt?“[/LEFT] [LEFT]Wie betäubt stand ich da. Sein dunkelblondes Haar, die blauen Augen, sein moderner Kleidungsstil und dann noch obendrauf dieses Lächeln, das tatsächlich an mich gerichtet war, raubten mir nahezu den Verstand. Dennoch bemühte ich mich, zumindest ein paar Worte zustande zu bringen.[/LEFT] [LEFT]„Äh, ja. Ich dachte … ich wollte dich nicht warten lassen.“[/LEFT] [LEFT]„Wie lieb von dir“, sagte Ralph schmunzelnd – ich wäre am liebsten vor Glück ohnmächtig geworden.[/LEFT] [LEFT]Plötzlich griff er nach meiner Schulter und schob mich ein Stück von den neugierigen Gaffern weg. „Gehen wir besser woanders hin, wo wir unter uns sind. Ich weiß auch schon den perfekten Ort.“[/LEFT] [LEFT]Während ich dahinzuschmelzen drohte, weil mich Ralph berührte, kramte er aus seiner Hosentasche einen Schlüssel hervor, den er mir stolz präsentierte. Offenbar erwartete er eine Reaktion von mir, aber ich konnte ihn nur ratlos anstarren, denn meine Stimme hätte vor Aufregung sicher sowieso versagt.[/LEFT] [LEFT]„Komm einfach mit, ich zeig's dir.“[/LEFT] [LEFT]Mit diesen Worten zog er mich mit sich, ich folgte ihm willig. Unterwegs betete ich darum, dass ich nicht zusammenbrach, so weich fühlten sich meine Knie an. Bis zu diesem Tag hatte ich immer gedacht, die Frauen in romantischen Geschichten übertrieben nur maßlos, wenn sie erklärten, wie sich das Gefühl der Liebe auf den Körper auswirkte. Nun erfuhr ich am eigenen Leib, dass sich all das als wahr herausstellte.[/LEFT] [LEFT]Ralph sagte nichts mehr, sondern führte mich zurück ins Schulgebäude und einige Gänge entlang, bis wir vor einer Tür stehenblieben. Da es kein Schild mit einer Aufschrift gab, die erklärt hätte, was für ein Raum sich dahinter verbarg, sah ich Ralph fragend an.[/LEFT] [LEFT]„Hier lagert die Kunst-AG ihre Sachen“, erklärte er. „Ich wurde heute gebeten, für den Unterricht etwas von hier zu besorgen, aber Frau Druhm hat vergessen mir den Schlüssel wieder abzunehmen. Sie ist eben wirklich dumm, unsere Druhm.“[/LEFT] [LEFT]Offenbar sollte das ein Wortwitz sein, darum versuchte ich möglichst natürlich zu lachen. Frau Druhm kannte ich nicht, meine Kunststunden wurden von einem anderen Lehrer abgehalten. Aufmerksam wanderte Ralphs Blick einmal in beide Richtungen des Ganges, in dem wir uns befanden, bevor er rasch mit dem Schlüssel aufschloss und mit mir in den Raum verschwand.[/LEFT] [LEFT]Er hatte recht, es handelte sich offensichtlich um einen Lagerraum für den Kunstunterricht. Regale reihten sich an den Wänden entlang, bis zur Decke hinauf. Sie waren vollgestopft mit allerhand Dingen wie Pinsel, Leinwänden, Tonfiguren und vielem mehr. Eigentlich traf eher die Bezeichnung Kammer zu, denn wir hatten nicht sonderlich viel Platz hier drin. Wir konnten uns beide je einen Schritt in jede Richtung bewegen, mehr Spielraum gab es nicht.[/LEFT] [LEFT]Alleine, mit Ralph, so nah. Hätte mir jemand beim Frühstück weismachen wollen, mein Tag würde genau so ablaufen, wäre ich in lautes Gelächter ausgebrochen, wobei der Tisch in der Milch meines Müslis gebadet worden wäre. Ein Teil von mir wartete immer noch darauf, jede Sekunde mitten im Unterricht aufzuwachen, weil ich eingeschlafen war – das kam davon, wenn man zu lange in die Nacht hinein Videospiele zockte.[/LEFT] [LEFT]„Sorry, das ist dir wohl etwas peinlich“, entschuldigte Ralph sich.[/LEFT] [LEFT]Erschrocken sah ich ihn an. „Was?“[/LEFT] [LEFT]„Na ja, du starrst nur schweigend auf den Boden.“[/LEFT] [LEFT]Wirklich? Das war mir gar nicht aufgefallen. Ob ich ihn daran erinnern sollte, dass er mir etwas sagen wollte, nicht umgekehrt? Nein, das käme irgendwie grob rüber. Ich wusste halt nach wie vor nicht, was ich tun sollte, geschweige denn worüber wir reden könnten.[/LEFT] [LEFT]„Warte, ich hab 'ne Idee.“[/LEFT] [LEFT]Ralph holte ein Feuerzeug hervor und griff nach einer von mehreren Kerzen, die in den Regalen standen. Vermutlich waren die mal von irgendwelchen Schülern im Unterricht gemacht worden. Vorsichtig fing er damit an eine nach der anderen anzuzünden. Bald waren wir umgeben von flackernden Lichtern, richtig romantisch.[/LEFT] [LEFT]Jetzt fehlten mir erst recht die Worte.[/LEFT] [LEFT]„Und, wie ist es jetzt?“, fragte er, unglaublich selbstbewusst.[/LEFT] [LEFT]Ich schluckte meine Nervosität runter. „Schön.“[/LEFT] [LEFT]Schön, aber auch … seltsam. Ja, etwas an dieser ganzen Sache war mir unangenehm. Mit so etwas hatte ich keine Erfahrung. Sonst ignorierten Jungs mich in der Regel, es sei denn, wir quatschten über die neuesten Videospiele oder nützliche Bugs und so einen Kram. Was wollte Ralph von mir? War es wirklich das, wonach der Brief geklungen hatte?[/LEFT] [LEFT]„Also, du … du wolltest reden?“, brachte ich mühevoll hervor.[/LEFT] [LEFT]Lachend legte Ralph eine Hand in den Nacken. „Ja, genau. Ich bin aber etwas ungeschickt, wenn es um dieses Thema geht. Du weißt schon ...“[/LEFT] [LEFT]Hilfesuchend sah ich mich um. Ihm jetzt in die Augen zu schauen hätte mich nur noch mehr verunsichert. Hoffentlich wirkte ich dadurch nicht zu abweisend. Dafür verfielen wir aber nun in Schweigen, was das Ganze auch nur schlimmer machte. Wieso musste ich mich auch so blöd anstellen?[/LEFT] [LEFT]„Kannst du die Augen zumachen?“, bat Ralph mich, wie aus heiterem Himmel.[/LEFT] [LEFT]Ich hielt den Atem an und lenkte den Blick wieder zu ihm. Sein Gesichtsausdruck war ernst, also war es wohl kein Scherz. Mir drohte mein Herz aus der Brust zu springen.[/LEFT] [LEFT]Etwas daran war mir furchtbar peinlich, weshalb ich es erst nicht tun wollte, aber so eine Chance bekäme ich garantiert niemals wieder. Daher überwand ich meine Scham und tat, worum Ralph mich bat. Mit geschlossenen Augen stand ich dann da, wartend. Auf meinen ersten Kuss, was mein erster Gedanke war. Womöglich wollte Ralph mir aber nur etwas zeigen und mich überraschen oder so, also machte ich mir lieber keine falschen Hoffnungen.[/LEFT] [LEFT]Umso erstaunter war ich, als ich dann plötzlich doch etwas auf meinen Lippen spürte. Etwas, das kühl und feucht war. Ich konnte nicht genau benennen, woran es lag, doch alles daran fühlte sich falsch an, dabei hatte ich keinen Vergleich, dank dem ich das erkennen könnte. Ein Knoten bildete sich in meinem Magen, eine böse Vorahnung.[/LEFT] [LEFT]Als ich ein leises, ersticktes Lachen hörte, öffnete ich die Augen sofort wieder. Zu meinem Entsetzen befanden sich hinter Ralph nun einige der anderen Jungs aus der Raucherecke und quetschten sich zusammen durch den Türrahmen, starrten mich grinsend an. Erst da bemerkte ich, dass mir Ralph eine riesige Kröte vor das Gesicht hielt.[/LEFT] [LEFT]Heiser schrie ich auf und sprang zurück, prallte gegen das Regal hinter mir. Augenblicklich fingen die Jungs an voller Schadenfreude zu lachen, Ralph eingeschlossen.[/LEFT] [LEFT]„Reingelegt!“, rief er amüsiert. Nun fielen mir auch die frechen Züge in seiner Mimik auf. „Zu dumm, du hast leider keinen Prinzen erwischt.“[/LEFT] [LEFT]Unruhig paddelte die Kröte in seinen Händen mit ihren Vorder- und Hinterbeinen.[/LEFT] [LEFT]Einer der Jungs hinter ihm kommentierte das belustigt: „Kein Wunder, nicht mal diese Viecher wollen so 'ne fette Kuh haben.“[/LEFT] [LEFT]„Das ist echt zum Schießen!“[/LEFT] [LEFT]„Die hat ihm das voll abgekauft.“[/LEFT] [LEFT]„Wie dumm kann man denn auch sein?“[/LEFT] [LEFT]Mir wurde schlecht. Tränen schossen mir in die Augen. Nicht aus Wut, sondern weil ich mich so gedemütigt fühlte. Raus. Ich wollte nur noch schnell hier raus, doch Ralph stellte sich mir in den Weg.[/LEFT] [LEFT]„Du willst schon gehen? Angeblich stehst du doch total auf mich. Dann tu brav das, was ich dir sage, und verabschiede dich erst mal von unseren Zuschauern.“[/LEFT] [LEFT]„W-wie bitte?“, stotterte ich.[/LEFT] [LEFT]„Na, du wirst ein YouTube Star werden. Fettes Mädchen hofft auf ein Weihnachtswunder. Das Ding wird viral durch die Decke gehen. Vielleicht darfst du in Zukunft öfter mit mir abhängen, sobald du berühmt bist, für noch mehr Videos. Wäre das nicht der Hammer?“[/LEFT] [LEFT]Schockiert drehte ich mich von einer Seite zur anderen. Hatte er mich etwa gefilmt? War hier irgendwo eine Kamera versteckt? Ein Handy? Falls Ja, dann sah man das nicht auf Anhieb. Ich hatte absolut nichts gemerkt. Es stimmte, ich war wirklich dumm.[/LEFT] [LEFT]„Alter, ihr Ärmel brennt!“, schrie einer der Jungs, mit einem Hauch von Panik in der Stimme.[/LEFT] [LEFT]Das färbte auch auf mich ab. Leider erkannte ich schnell, dass es stimmte. Nur flüchtig erspähte ich die kleine Flamme, die hinter meiner rechten Schulter hervorlugte. Sicher war ich zu nahe an eine der Kerzen im Regal hinter mir gekommen. Kreischend drehte ich mich erneut im Kreis und versuchte nach dem Feuer zu schlagen, kam aber nicht richtig dran.[/LEFT] [LEFT]„Helft mir!“, bettelte ich verzweifelt.[/LEFT] [LEFT]„Ralph, nun mach schon, das ist jetzt nicht mehr witzig.“[/LEFT] [LEFT]„Jaja, nur einen Moment noch“, meinte Ralph, der das Ganze weiter beobachtete. „Das wird erstklassiges Filmmaterial.“[/LEFT] [LEFT]Eine wilde Diskussion entstand, von der ich nichts mehr mitbekam. Allmählich spürte ich die Hitze deutlich auf der Haut. In meiner Verzweiflung warf ich mich auf den Boden und versuchte so das Feuer zu löschen. Schluchzend rief ich immer wieder nach Hilfe, aber es dauerte ewig, bis endlich irgendjemand etwas unternahm. Ein Lehrer war auf mein Schreien aufmerksam geworden und eilte mir zu Hilfe.[/LEFT] [LEFT]Danach war ich dermaßen fertig, dass ich auch von den folgenden Geschehnissen nicht mehr viel wahrnahm. Eines war sicher: Nicht nur mein Herz war kritisch getroffen und gebrochen worden, sondern vor allem mein Bild von der Liebe.[/LEFT] [LEFT]Nach diesem Tag sollte Weihnachten zu der Zeit des Jahres werden, die mich jedes Mal schmerzlich an diesen Vorfall erinnerte – ich begann dieses Fest der Liebe abgrundtief zu hassen.[/LEFT] Kapitel 1: Event-Quest ---------------------- Drei Jahre später ...   In auffällig goldenen Lettern huschte ein Wort über den Bildschirm: Kritisch! Nur eine Sekunde später leitete ein letztes bestialisches Brüllen die Animation ein, in der sich unser Gegner mit spektakulären Lichteffekten und passender Untermalung von Sounds vor den Augen aller Anwesenden, sowohl Spielern als auch NPCs, in glühende Funken auflöste und verschwand. Der Kampf war vorbei und der Sieg gehörte unserer Gruppe aus knapp zwanzig Helden, die sich gemeinsam dieser Herausforderung gestellt hatten – obwohl wir insgesamt sogar noch zu wenig gewesen waren. Eigentlich sollte ich mich darüber freuen, aber ich war frustriert. Wir hatten eine halbe Stunde Zeit und vor allem viele Nerven investiert, nur um diesen gewaltigen Drachen zu erledigen. Der Dungeon an sich hatte sogar noch länger gedauert. Es kam mir wie ein schlechter Scherz vor, dass er sich nun einfach in Luft aufgelöst hatte, statt das Ganze mit einer anständigen Filmsequenz abzuschließen. In diesem Augenblick erinnerte ich mich wieder daran, warum ich MMORPGs normalerweise nicht zu meinen Favoriten zählte. Während ich diesen Gedanken nachging, rauschte ein „gz“ oder „gg“ nach dem anderen durch das Chatfenster. Auch ich schickte eines dieser Kürzel ab, um allen für das gute Spiel und die Zusammenarbeit zu danken. Das geschah inzwischen derart natürlich nebenbei, dass es sicher längst nicht mehr jeder ehrlich meinte. Man machte eben mit und schwamm mit der Welle, dachte aber nicht weiter darüber nach. Ein zufriedenes Lächeln huschte über meine Lippen, als ich dafür gelobt wurde, wie viel Schaden ich ausgeteilt hatte. An vorderster Front fühlte ich mich halt besonders wohl. Feinde mit Skills und Angriffen regelrecht zu überschütten machte mir verdammt viel Spaß, außerdem konnte man dadurch auch stets eine Menge Frust und Anspannung abbauen. Kurz darauf begann dann schon die hitzige Diskussion darüber, wer die legendäre Platten-Rüstung, die als Belohnung nur von einem Spieler ergattert werden konnte, bekommen sollte. Zum Glück musste ich mich daran nicht beteiligen, denn ich war eine Assassine. Meine Klasse trug Leder, alles darüber hinaus konnte ich eh nicht gebrauchen – und ich würde bestimmt keinen auf Troll machen und mitwürfeln, nur um meine Mitspieler zu verärgern. Daher entfernte ich mich mit meiner Spielfigur von der Gruppe, ging mit ihr zum Rand der Karte und ließ sie sich mit Hilfe eines Emote-Befehls auf eine der wenigen Bänke, die man noch benutzen konnte, setzen. Momentan befand ich mich in einer Kathedrale, die von den Horden aus Monstern und dem Drachen, dem Endboss, arg in Mitleidenschaft gezogen worden war. Es gab nicht mal mehr ein Dach, dafür lag der Blick auf einen Sternenhimmel frei, der wahrlich nur in einer Fantasy-Welt existieren konnte. Das Farbenspiel aus dunkelblau, violett und rot war faszinierend und die Sterne funkelten wie bunte Edelsteine. Ich verlor mich in diesem Anblick. „Na, träumst du wieder vor dich hin?“, fragte mich eine vertraute Stimme neckisch. Seit ich an diesem Tag angefangen hatte zu zocken, befand ich mich mit meinen beiden engsten Freundinnen in einem Sprach-Chat, weshalb wir uns ganz normal unterhalten konnten und uns nicht in Textform anflüstern oder in den Gruppen-Chat schreiben mussten – das hätte ich sonst sowieso nicht mitgekriegt. Eine Menschen-Magierin gesellte sich gerade zu mir, in einem rötlich schimmernden Gewand aus Stoff, das mit goldenen Details wie Bändern und Mustern verziert war. Der unterste Teil des Rocks stand in Flammen, was ein dekorativer Teil der Ausrüstung war. Die stolze Trägerin hieß Aurora und lächelte mich, wie üblich, vergnügt an. Ihr langes, rosafarbenes Haar fiel wie ein Schleier über ihren Rücken und rundete das Gesamtbild ab. Aurora hatte ihren Charakter auf Schwarze Magie spezialisiert, also strebte sie den Weg einer Hexe an. Vom Schaden her waren ihre Zaubersprüche nicht zu verachten. Leider wussten das nur wenige zu schätzen, weil die meisten genervt davon waren, dass Aurora dazu neigte ihre Angriffe mit selbst ausgedachten Sprüchen zu untermalen und das Ganze theatralisch zu inszenieren, jedes Mal. Rollenspieler waren eben bei der eingefleischten Competitive-Community recht verhasst und wurden stets ins Lächerliche gezogen. Ein ewiger, stiller und unnötiger Krieg zwischen zwei Fronten, denen bloß unterschiedliche Dinge beim Spielen wichtig waren. Traurig, da sie nicht wussten, was ihnen entging. Mit Aurora im Team kam nämlich nie Langeweile auf. Irgendwie fand sie immer einen Weg für Unterhaltung zu sorgen, selbst wenn es mal nicht so gut lief. Eine geborene Entertainerin. Für diesen Raid hatte sie sich aber ganz schön zurückgehalten, was mir schnell aufgefallen war. „Ich bin nur froh, dass es endlich vorbei ist“, erwiderte ich, wobei ich absichtlich übertrieben schwer seufzte. „Raids sind mir einfach viel zu anstrengend. Ich bin zwar awesome als Damage Dealer, der ganze Stress zahlt sich jedoch dafür oft nicht aus.“ „Aber nur bei Raids bekommt man die beste Ausrüstung, wie dieses epische Gewand Brennende Jungfrau.“ Summend drehte Aurora sich im Kreis, beide Arme ausgebreitet, als wollte sie wie eine zarte Elfe davonfliegen. Eines konnte ich nicht bestreiten: Ein bisschen neidisch auf diese Ausrüstung war ich schon, aber ich hätte viel lieber etwas, das zur Hälfte aus Wasser bestand, statt aus Feuer – zum Glück war das hier nicht die Realität, denn dieses Element machte mir mehr Angst als eine riesige Spinne mit dicken Beinen. In meinen Augen blieben Raids trotzdem furchtbar stressig. Machte man nur einen Fehler, war die Gefahr groß, von seinen Mitspielern dumm angemacht zu werden, weil jeder andere natürlich der absolute Profi war und immer alles richtig machte – lächerlich. Und am Ende war die Wahrscheinlichkeit auch noch groß, komplett leer auszugehen, sollte kein Loot erscheinen, den man gebrauchen konnte. So wie dieses Mal. Jeder Raid gab mir dasselbe Gefühl wie bei einer Klausur, die über deine Note auf dem nächsten Zeugnis entscheiden könnte. Für Aurora ließ ich mich aber stets erneut auf diesen Stress ein, weil sie es öde fand, wenn sie beim Raid niemanden hatte, mit dem sie Insider-Witze austauschen und nebenbei quatschen konnte. Außerdem gab es nur in Raids diese großen Massen an Mobs zu vermöbeln, der Spaß war es dann doch irgendwie wert. „Mich macht der Name immer noch fertig, oh holde Jungfrau“, kommentierte ich. „Hexen wurden halt verbrannt, sowohl in der Realität als auch in der Fiktion. Die Welt kommt mit unserer Awesomeness nun mal nicht zurecht.“ Lachend lehnte ich mich auf meinem Bürostuhl zurück. „Das stimmt. Normale Menschen werden niemals erfassen können, wie großartig du bist~. Was gut ist, denn dann habe ich dich umso mehr für mich.“ Quietschend stürzte Aurora sich auf mich, um mich zu umarmen – wir liebten es, dass es dieses besondere Emote in diesem Spiel gab. Räuspernd meldete sich daraufhin ihre Schwester, Asterea, zu Wort, die ebenfalls im Sprach-Chat war, jedoch nicht beim Raid mitgewirkt hatte – dafür war ihr Level noch zu niedrig. „Hey, hey, hey! Was höre ich da? Da wird doch gerade ohne mich geknuddelt, oder?!“ „Awww, bist du einsam, Asti?“, hauchte Aurora. „Eifersüchtig?“, fügte ich noch hinzu. „Und wie! Alleine macht das Questen überhaupt keinen Spaß. Erst recht nicht, wenn man die ganze Zeit nur Zeug sammeln soll. Vorhin musste ich hundert Augen von Dunkelebern und Flatterseuchen besorgen, danach sollte ich die Köpfe von Menschen im Nachbarsdorf sammeln. Diese NPCs hier ticken nicht ganz richtig.“ Ihre Worte ließen mich amüsiert schmunzeln. „Ich hab dir doch gesagt, du solltest dir ein anderes Gebiet zum Questen aussuchen. Warum gehst du auch ausgerechnet zu den Untoten?“ „Weil Asti insgeheim auf dieses düstere Zeug steht~“, meinte Auroa überzeugt. Asterea spielte zwar auch eine Magierin, doch hatte sie den Weg der Heilerin, also einer Priesterin, gewählt, deswegen dürfte sie es alleine wirklich ziemlich schwer haben. Erst recht in dem Gebiet, in dem sie sich gerade aufhielt. Dafür könnte sie sich später aber vor lauter Anfragen von anderen Spielern kaum retten, sobald der erste Dungeon für sie offen stand. „Dann spielen wir doch nächstes Mal lieber direkt Dead by Daylight. Etwas Multiplayer-Horror könnte ich auch wieder mal vertragen“, schlug ich vor. „Halloween war dieses Jahr wieder viel zu schnell vorbei.“ Ablehnend schüttelte Auroras Charakter heftig den Kopf. „Leute, wir haben Dezember! Das Fest der Liebe liegt doch jetzt in der Luft~.“ Großartig. Die Zeit des Jahres, auf die ich inzwischen getrost verzichten konnte. Dummerweise blühte Aurora bei so etwas total auf, völlig egal um welches Fest es sich handelte. Sie war sozusagen recht leicht Feuer und Flamme für besondere Ereignisse. Ich blieb da eher zurückhaltend. „Bis Weihnachten sind es noch ein paar Tage.“ „Du sagst es“, mischte Asterea sich wieder ein, „darum müssen wir so langsam mal einen Freund für dich finden, mit dem du dann vor dem Kamin kuscheln kannst.“ Zu schade, dass sie nicht sehen konnten, wie ich vor dem Bildschirm mit den Augen rollte. „Nicht das Thema schon wieder.“ „Oh doch, genau das“, quiekte Aurora verzückt. „Wir haben unsere Mission Liebe für Feria noch nicht aufgegeben.“ Dem stimmte Asterea enthusiastisch zu. Daraufhin nahm ich meine übliche Abwehrreaktion ein: „Das Leben ist auch ohne Liebe lebenswert. Warum tun immer alle so, als müsste man als Frau ständig nur an Hochzeit und so denken? Ich denke lieber an die nächsten geilen Spieletitel.“ Das war auch der einzige Grund, warum ich Weihnachten trotz allem noch halbwegs ertragen konnte: Geschenke. Mit Glück bekam ich von meinen Eltern das eine oder andere Spiel von meiner Wunschliste, dann hätte ich für Dates ohnehin keine Zeit. Betrübt ließ die Magierin vor mir den Kopf hängen. „Owww, dabei wollen wir doch nur dein Bestes.“ „Keine Sorge, Rora, notfalls zwingen wir sie einfach zu einer Dreierbeziehung mit uns“, verkündete Asterea. „Und was ist mit deinem Freund, Richard?“, hakte ich nach. „Der muss natürlich mitmachen, ist doch klar~.“ „Wow, armer Kerl.“ „Nah, in Wahrheit ist er ganz verrückt nach mir.“ Das mit der Dreierbeziehung würde ich den beiden sogar glatt zutrauen. Sollte das helfen, damit sie keine weiteren Versuche mehr starteten mich zu verkuppeln, wäre mir das nur recht. Ein gemeinsames Leben mit Aurora und Asterea wäre zwar anstrengend, aber spaßig und erfüllend. Was wollte man mehr? Vielleicht sollte ich ihnen endlich erzählen, warum ich gar nicht so interessiert daran war, einen Freund zu finden. Allein bei dem Gedanken schnürte sich mir aber schon der Hals zu. Nein, ich wollte das alles niemals erneut nach oben holen. Es wäre mir auch viel zu peinlich, weil ich wusste, wie dumm ich damals gewesen war, auf Ralph hereinzufallen. Begeistert klatschte Aurora in die Hände. „Okay, davor steht aber unser kleines Vor-Weihnachtsfest an. Das hast du hoffentlich nicht vergessen, Feri.“ Wie könnte ich? Sie hatten mich schon vor Wochen dazu eingeladen. Einer aus ihrem Freundeskreis veranstaltete eine kleine Party, zu der sie mich mitnehmen wollten. Laut ihnen kamen nur Leute dorthin, die sie kannten und die alle großartig waren – das hatte Aurora mir jedenfalls versichert. Jeder durfte Freunde mitbringen, solange man dafür garantieren konnte, dass keiner Unsinn anstellen würde. Selbst wenn die beiden mich nicht alleine auf dieser Party sitzenlassen würden, käme ich mir dort sicher fehl am Platz vor. Mir lagen solche Ansammlungen von Menschen nicht, obwohl ich mich ganz gut anpassen konnte. Früher war das mal anders. Seit diesem einem Vorfall hatte sich einiges geändert … Obendrein fand diese sogenannte Party auch noch an dem Datum statt, an dem ich vor drei Jahren so hinterhältig verarscht worden war. Schicksalhaft, was? Von wegen, das war einfach nur ein gewaltiger Zufall. Einer von der lästigen Sorte. „Nein, aber das würde ich gerne“, gab ich grummelnd zurück. „Muss ich wirklich mitkommen?“ „Keine Diskussion, du bist längst eingeplant!“, sagte Asterea, gespielt streng. „Wir haben schon lange nichts mehr zusammen unternommen, außerhalb der virtuellen Welt.“ „Keine Sorge, wir werden eine Menge Spaß haben“, versprach Aurora – wobei sie wieder übermäßigen Gebrauch von den Emotes des Spiels machte. „Es wird leckeres Essen geben, klasse Gesellschaft, Filme, Spiele und Essen~.“ Klang fast so, als würde sie sich besonders auf das Essen bei dieser Party freuen. Verübeln konnte ich es ihr nicht, immerhin war ich mit einem guten Buffet ebenfalls leicht zu locken. Außerdem hatte Asterea recht, meinetwegen trafen wir uns wirklich fast nur noch in irgendwelchen Spielewelten, weil ich das Gefühl hatte, dass meine Anwesenheit unter Leuten bloß eine Beleidigung für die Augen war. Da ich ihnen nie von Ralph erzählt hatte, jedenfalls nicht im Detail, konnten sie auch nicht verstehen, was mit mir los war. Trotzdem waren sie die letzten drei Jahre über verständnisvoll gewesen und hatten sich nie ernsthaft beschwert, nur ihre Sorge um mich geäußert. Also war ich es ihnen schuldig, auch mal etwas zurückzugeben. Vielleicht war ich nun alt genug, um über ein paar dämlichen Aussagen zu meinem Gewicht stehen zu können. Falls nicht, wären Aurora und Asterea bei mir. Genau, ich war auf dieser Party nicht alleine. Es konnte gar nicht so schlimm enden wie vor drei Jahren … „Okay, dann sollte das Essen besser so richtig gut sein“, betonte ich motiviert. „Denn zur Weihnachtszeit ist es vollkommen in Ordnung, wenn ich mir ganz viel davon gönne~.“ „So ist's richtig!“, lobte Aurora mich. Plötzlich erschien im Chat-Fenster in der unteren linken Ecke in roter Schrift die Warnung, dass ich in wenigen Sekunden aus dem Dungeon entfernt werden würde. Offenbar hatte der Raidleiter in der Zwischenzeit die Gruppe aufgelöst, während unserer Unterhaltung. Als einzelne Person wurde man immer automatisch aus den Dungeons entfernt, warum auch immer. „Wir haben die Abschiedsrunde verpasst“, murmelte Aurora bedrückt. „Schade, ich hatte mir schon so einen tollen Spruch zurechtgelegt.“ „Heb ihn dir für nächstes Mal auf.“ „Dann passt er aber sicher nicht mehr richtig zur Situation! Habt ihr eine Ahnung, wie schwer es ist, sich immer die richtigen Worten auszudenken? Das ist richtig harte Kopfarbeit, sage ich euch!“ Asterea und ich mussten herzlich lachen, als Aurora anschließend einige niedliche Laute von sich gab, mit denen sie eigentlich verdeutlichen wollte, wie sehr sie nun schmollte. Eine verärgerte Aurora würde aber auch nur das Weltengefüge zerstören, sie war nun mal mehr der gut gelaunte Typ. Einige Sekunden später wurden wir aus dem Dungeon jeweils in die Städte zurück teleportiert, die wir als unsere Heimat ausgewählt hatten. In meinem Fall handelte es sich um das Geheimversteck der Assassinen, das unter einer uralten, verlassenen Ruine lag. Dieser Ort, der Schattenbau, war auch der Geburtsort aller Spieler der Rasse Untote, weshalb ich als Sirene eigentlich nicht hierher passte. Der Schattenbau war finster und wirkte wie eine dieser schäbigen Seitengassen voller Obdachlosen, nur in der Größe einer ganzen Stadt. Daher begegnete man einer Menge zwielichtigen NPCs und haufenweise zombieartige Wesen lungerten hier ebenfalls herum. Dafür traf man nur wenige Spieler in dieser Gegend, was angenehmer für die Augen war. Dieses hektische, unübersichtliche Gewusel in der Hauptstadt unserer Fraktion war kaum zu ertragen. Sicher waren sogar die NPCs froh über diesen Umstand, dass es hier ruhiger zuging und sie unter ihresgleichen blieben. Im Grunde war der Schattenbau nichts weiter als eine Kopie von Unterstadt aus World of Warcraft – dieses ganze MMORPG an sich konnte man als einen Klon davon bezeichnen, nur in einem japanisch angehauchten Anime-Stil. Glücklicherweise blieben wir noch von Gacha-Elementen verschont. Mein Taschengeld wurde eh schon für allerhand anderen Kram investiert, auf den man als Zocker und halber Otaku nicht verzichten wollte. „Hui, Post~“, hörte ich Aurora sagen – sie war bestimmt in der Hauptstadt, denn sie liebte die Spielermassen dort. Automatisch kontrollierte auch ich, ob ich eine Nachricht im Briefkasten hatte, und tatsächlich: Da war eine, wie mir das kleine Symbol an der Karte oben rechts vom Bildschirm verriet. Neugierig eilte ich mit meiner Assassine zum nächsten Briefkasten. „Virtuelles Schneegestöber“, las ich den Titel laut vor. Es handelte sich um die Eröffnung einer Questreihe, die zu einem speziellen Weihnachts-Event gehörte, die nur dieses Jahr stattfand. Sofort spürte ich dieses aufgeregte Kribbeln in mir. Ich liebte solche Events. Nicht nur, dass man bei denen einzigartige Gegenstände oder gar Ausrüstung bekommen konnte, ohne diese lästigen Raids, sie waren in der Regel auch kreativ gestaltet. Glücklicherweise stimmten Aurora und Asterea auf mein Bitten hin zu, die Questreihe zusammen zu starten. „Ich hab die Benachrichtigung schon bekommen, als ihr noch im Raid wart“, erzählte Asterea. „Wollte euch aber nicht ablenken, also hab ich nichts gesagt. Hatte das sogar schon fast wieder vergessen.“ „Also ist das Event geradezu noch frisch!“, platzte es begeistert aus mir heraus. Wir verabredeten uns an einem der Eingänge zu dem Gebiet, wo sich der NPC aufhielt, bei dem man vorsprechen musste: Das Goldmeer. Da jeder von uns woanders war, dauerte es wohl ein paar Minuten, bis wir alle am Ziel angekommen wären. Zielstrebig verließ ich den Schattenbau und beschwor an der Oberfläche mein Reittier, einen dunkelvioletten Panther. Während ich so durch die einzelnen Gebiete reiste, wurde mir wieder bewusst, was ich an MMORPGs letztendlich doch mochte, obwohl mich diese Competetive-Community und Raids so sehr störten: Diese offene Welt, in der man sich frei bewegen konnte – man fühlte sich wirklich wie ein Abenteurer, der mit seinen Freunden die Geschichten und Geheimnisse ergründete, die man überall entdecken konnte. In dieser Welt spielte es außerdem keine Rolle, wie ich in der Realität aussah. Hier kann ich einfach Ich sein. „Und deshalb spielst du eine dieser vermummten Assassinen, deren Ausrüstung immer komplett den Charakter bedeckt“, kicherte Asterea. Wenn man sie nicht näher kannte, hätte man das als Sarkasmus verstehen können, aber für sie war es tatsächlich lediglich eine Feststellung. Mir dagegen fiel etwas anderes auf: „Moment mal, hab ich etwa eben laut gedacht?“ „Aber sowas von!“, bestätigte Aurora amüsiert. Ich schnaubte verlegen. „Mist.“ „Du bist mal wieder richtig süß heute, du kleines Kastenbrot~.“   ***   Im Grunde war der Hintergrund der Questreihe dem vom vorherigen Jahr recht ähnlich. Ein NPC, der vermutlich den Geist des Winters darstellen sollte, hatte im Goldmeer, ein riesiges Wüstengebiet, eine Schneemaschine bauen wollen. Mit Hilfe dieser Technik wollte er den Einheimischen dort zeigen, wie weiße Weihnachten aussah. An sich eine echt niedliche und rührende Idee, doch natürlich war dabei einiges schiefgegangen und wir wurden darum gebeten, das ganze Chaos wieder zu beheben. Vom Level her gab es zum Glück kein Hindernis für Asterea, sonst hätte sie aber wahrscheinlich gar nicht erst eine Einladung zu dieser Questreihe bekommen. Ihr Charakter hatte sich in der kurzen Zeit, in der sie alleine spielen musste, kaum verändert. Sie trug noch zum Teil das Starter-Set für Magier, eine blau-weiße Robe. Das strahlend blonde Haar lag auch bei ihr wie ein Schleier über dem Rücken, was insgesamt eine perfekte Harmonie mit ihrem Outfit bildete. Wie Aurora gehörte Asterea ebenso der Rasse Mensch an. Gemeinsam erfüllten wir mühelos eine Aufgabe nach der anderen, erfreuten uns an einem unerwarteten Minigame und amüsierten uns über den unlustigen Humor des NPCs, genannt Charon, der dadurch zu vertuschen versuchte, was für Probleme er verursacht hatte. Wieder und wieder betonte Charon in seinen Texten, dass er nur ein kleines Märchen hatte erschaffen wollen, indem er es an einem Ort, wo es normalerweise keinen Winter gab, schneien ließ. Stets mit diesem freundlich sanften Lächeln auf den Lippen. Für einen gewöhnlichen NPC war Charon irgendwie überraschend individuell. Jedenfalls hatten wir eine wahrlich gute Zeit. Bis zu dem Zeitpunkt, als wir dazu gezwungen wurden uns zu trennen. Nach einer überraschenden Wendung hatte die Schneemaschine nämlich eine Art Dimensionsloch in das Wüstengebiet gerissen. Well, that escalated quickly. Right? Seltsamerweise konnte man den neuen Ort, zu dem diese Öffnung führen sollte, nur alleine betreten – nicht in einer Gruppe. Zumindest sagte das der rote Hinweistext im Chat-Fenster, sobald wir es versuchten. Ungläubig schwiegen wir für einen Moment. Jeder von uns versuchte erneut durch einen Klick auf den schwarzen Wirbel, um den mehrere goldene Sandkörner schwerelos in der Luft tanzten, doch irgendwie zusammen reinzukommen. Natürlich vergeblich. Als ob man eine Regelung so leicht durchbrechen könnte … „Menno!“, beschwerte Aurora sich empört. „Erst lassen sie uns alle Aufgaben in einer Gruppe machen und dann wird daraus ein Solo-Run gemacht?“ Auch Asterea seufzte enttäuscht. „Ein Schlag ins Gesicht für alle leidenschaftlichen Gruppenspieler.“ „Vielleicht ist es ja nur für einen kurzen Moment. Kann doch sein, dass sich da drin je nach Klasse das Event anpasst oder so“, vermutete ich. Nun, das änderte nichts an der Tatsache, die Gruppe erst mal auflösen zu müssen. Wir ergaben uns diesem Schicksal und folgten der Aufforderung des Spiels. Nun sollte jeder problemlos diesen mysteriösen Wirbel betreten können, in dem garantiert ein Event-Boss auf seine nächsten Opfer wartete. Leider wurden wir abermals vor den Kopf gestoßen. Aurora sprach es zuerst laut aus: „Hä? Ich komm trotzdem nicht rein.“ „Ich auch nicht“, schloss Asterea sich dem an, wobei sie ihre Spielfigur dazu brachte die Arme vor der Brust zu verschränken. Verständnislos starrte ich in den Wirbel hinein, als könnte ich darin die Antwort auf dieses Problem finden. Mir blieb es auch verwehrt, zu erkunden, was sich darin verbarg. Selbst der NPC Charon wusste nicht, was es mit diesem Dimensionsloch auf sich hatte, glaubte aber, dass sich dort der ursprüngliche Fehler finden lassen müsste, wegen dem seine Schneemaschine durchgedreht war. „Was soll's, langsam wird es sowieso Zeit für's Bett“, beschloss Asterea, sehr zu unserer Überraschung. Wild fuchtelte Auroras Spielfigur mit den Armen herum. „Wie jetzt? Du bist doch nicht etwa schon müde?“ „Das nicht, aber wir sollten trotzdem versuchen etwas zu schlafen. Es ist schon wieder ganz schön spät geworden.“ Widerwillig löste ich den Blick vom Bildschirm und stellte sofort fest, dass ich inzwischen im Dunkeln saß. Als ich angefangen hatte zu spielen, war es draußen noch hell gewesen. Ein prüfender Blick auf mein Handy bestätigte Astereas Aussage, denn wir hatten Mitternacht schon überschritten. Seltsam, dass mein älterer Bruder noch nicht gekommen war, um mit mir zu schimpfen, weil ich viel zu lange am Bildschirm hing. Er musste es aufgegeben haben – oder war noch zu beschäftigt. „Wenn wir nicht wenigstens ein bisschen schlafen, sind wir nicht fit genug für die Party morgen.“ Diese Erinnerung von Asterea ließ Aurora verstehend nicken. „Stimmt, so gesehen hast du recht.“ „Ich weiß, ich hab immer recht~.“ „Du bist ja auch die allwissende Sternendeuterin“, merkte ich an. „So ist es! Und eben diese allwissende Sternendeuterin sagt, dass wir diesen Bug als Wink des Schicksals verstehen und schlafen gehen sollten.“ „Bug?“, wiederholte ich nachdenklich. „Klar, was soll es sonst sein? Ich glaube kaum, dass die Entwickler bewusst eine Questreihe einbauen, die man gar nicht abschließen kann.“ „Armer Charon“, sagte Aurora mitfühlend. „Dann können wir ihm jetzt gar nicht helfen, sein Märchen wahr werden zu lassen.“ „Keine Sorge, wir müssen nur warten, bis sie das Problem gefixt haben“, beruhigte Asterea sie. „Tja, hast wohl wirklich recht.“ Einige Minuten lang gerieten wir nochmal in ein lockeres Gespräch darüber, ob so etwas wie Schnee für Einwohner in Wüsten überhaupt existierte oder nur ein Aberglaube war, wenn sie es doch gar nicht kannten. Nachdem wir festgestellt hatten, dass keiner von uns wusste, wie sich das mit dem Winter in Wüsten in der Realität verhielt, beschlossen wir, mal bei Gelegenheit Google danach zu befragen. Schließlich loggten Aurora und Asterea sich dann aus, nur ich blieb zurück. Seufzend drehte ich meinen Charakter nochmal zu Charon, der nur wenige Meter von dem Dimensionsloch entfernt stand und dieses wundersame Phänomen selbst interessiert zu betrachten schien. Eigentlich sah er gar nicht wie jemand aus, den man für den Geist des Winters halten könnte. Vom Äußeren her wirkte er wie ein gewöhnlicher Mensch. Normale Körpergröße, schlank, schlichte Kleidung und braunes, langes Haar, das er im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden trug. Einzig sein violettes Augenpaar hinter den Brillengläsern hatte etwas Magisches an sich. Womöglich lag es an der, für Menschen, ungewöhnlichen Augenfarbe, aber mir war so, als könnte ich darin etwas erkennen. Etwas, das lebendig war und unzählige Geheimnisse verbarg, die sich weit außerhalb des eigenen Vorstellungsvermögen bewegten. „Ich spiele wohl doch schon zu lange.“ Als würde Charon auf meine Worte reagieren, wiederholte er seinen einprogrammierten Text, der mir im Chat-Fenster angezeigt wurde und auch in Form einer Sprechblase über seinem Kopf erschien: Wirst du hineingehen? Ich bin sicher, die Lösung des Problems ist nahe. Wenn es jemand schaffen kann, dann du. Typische Standard-Texte, mit denen man die Motivation der Spieler steigern wollte. Jeder bekam gerne gesagt, dass man die einzige Person wäre, die alles wieder geradebiegen konnte. „Wenn es funktionieren würde, dann wäre ich längst drin!“ Zur Demonstration versuchte ich noch einmal, mit einem Klick in das Dimensionsloch zu steigen und atmete erstaunt ein, weil sich diesmal plötzlich doch etwas tat. Ein Zufall? Hatte ich etwa ausnahmsweise auch mal etwas Glück? Was auch immer es war, ich hätte in diesem Augenblick vor Freude ausflippen können. Da ich nicht wollte, dass mein Bruder doch noch in mein Zimmer stürmte, um meinen Computer auszuschalten und mir eine Predigt zu halten, beließ ich es lieber nur dabei, auf dem Bürostuhl auf und ab zu hüpfen. Gebannt starrte ich auf den Bildschirm und wartete darauf, was ich zu sehen bekäme, sobald die verschwommenen Wellen verschwanden, die den Ladevorgang für das neue Gebiet vertuschen sollten. Dann war es soweit! Das Bild gewann wieder an Schärfe und- „Ah!“ Erschrocken riss ich mir die Kopfhörer runter, um diesem ohrenbetäubende Rauschen zu entkommen. Offenbar hatte jemand ordentlich die Soundabmischung verhauen. Das war richtig unangenehm gewesen, schon fast wie ein Kratzen im Ohr. Nicht nur, dass der Sound viel zu laut war, ich musste auch heftig blinzeln, weil das Gebiet, in dem meine Spielfigur nun stand, strahlend weiß war. Im Kontrast zu der Dunkelheit, die mein Zimmer kontrollierte, schmerzte das richtig in den Augen. Erst einige Sekunden später erkannte ich, was für ein heftiger Schneesturm an dem Ort tobte, zu dem mein Charakter gebracht worden war. Weiße Flocken, überall. Sie wirbelten dicht an dicht herum, fast als wären sie in Panik. Durch diesen Schneesturm konnte man nichts anderes erkennen. Weder, wie groß die Umgebung war, noch ob und was sich darin befand. Selbst wenn ich blind herumlief half das nicht. Ich könnte die ganze Zeit gegen eine Alphawand steuern und es nicht mal bemerken. Vorsichtig hielt ich mir die Kopfhörer nochmal ans Ohr und verzog direkt das Gesicht. Hörte sich so an wie das Rauschen eines alten Fernsehers, wenn auf dessen Bildschirm auch nur Schnee zu sehen war. Dazwischen konnte ich aber eine Stimme ausmachen. Zwar musste ich mich konzentrieren, damit ich halbwegs etwas verstehen konnte, aber da redete eindeutig jemand. Die geheimnisvolle Stimme wiederholte ohne Pause ständig dieselbe Frage: Was bringt das Eis zum Schmelzen? Zuerst tippte ich auf Feuer, aber es tat sich nichts. Zumindest nicht, wenn ich es einfach nur in den offenen Chat dieses Gebiets schrieb. Keine Ahnung, was ich sonst tun sollte. Ausgerechnet dann, wenn es so richtig schön mystisch wurde, war ich schon direkt am Anfang mit meinem Latein am Ende. Ich zuckte zusammen, als mein Handy auf dem Schreibtisch vibrierte und meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Meine Freunde kannten mich wirklich gut, denn es war eine Nachricht von Asterea, mit der Aufforderung, endlich vom Spiel loszukommen und auch ins Bett zu gehen. Wahrscheinlich sollte ich ihrem Befehl besser Folge leisten. Im Spiel kam ich ohnehin nicht weiter und ich hatte schon einen langen Tag hinter mir, also loggte ich mich mitten in diesem Schneesturm aus. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass mein Gehirn sich weiter mit dieser Frage beschäftigte. Womit sollte man Eis sonst schmelzen können, wenn nicht mit Feuer? Vielleicht die Sonne? Eine Heizung? Magie? Etwas sagte mir, dass die Antwort nicht so simpel sein konnte, andere Möglichkeiten wollten mir aber nicht mehr einfallen. „Nichts zu machen. Ich hau mich hin.“ Kaum auszudenken, was für Strafen sich Aurora und Asterea einfallen lassen könnten, falls ich nicht ausgeschlafen genug sein sollte. Manchmal kamen sie mir wie mein Bruder vor, der mich mehr bevormundete und zu erziehen versuchte als meine Eltern. Ein Wunder, dass sie sich diese Mühe überhaupt noch machten. Ehrlich gesagt sah ich mich in der Zukunft schon als einsame Pennerin unter einer Brücke liegen. Ein Grund mehr, die Zeit zum Spielen ausgiebig zu nutzen, solange ich das noch tun konnte. Dankbar für die Pause fuhr mein Computer runter, während ich aufstand und mich dazu bereit machte ins Bett zu gehen. Nur flüchtig warf ich dabei einen Blick zum Fenster, der dann aber sofort darauf fixiert blieb. Mir entglitt ein überraschter Laut: Draußen hatte es angefangen zu schneien, trotz der sicheren Aussage der Wettervorhersagen, dieses Jahr müssten wir auf weiße Weihnachten verzichten. Was für ein unheimlicher Zufall … Kapitel 2: Real Life -------------------- [LEFT]Schnee ist großartig. Wirklich, ich vergöttere den Winter regelrecht.[/LEFT] [LEFT]Im Sommer leide ich jedes Jahr erneut fürchterlich unter der Hitze und schwitze gefühlt mehr als eine gesamte Fußballmannschaft beim Training. Da ich zudem nicht gerade die Figur für luftige Kleidung besitze, trage ich auch in den warmen Jahreszeiten weiterhin lange Hosen, egal wie heiß es werden mag. Darum sehne ich den erfrischend kühleren Herbst und besonders den Winter stets herbei.[/LEFT] [LEFT]Blöd nur, wenn man Eltern hatte, die einen dazu zwangen warm verpackt zur Schule zu gehen, aus Angst, ihr Kind könnte sich sonst erkälten. Also schwitzte ich meistens sogar im Winter, so wie an diesem Tag. Der überraschende Schneefall in der Nacht hatte nämlich die Stadt weiß eingekleidet und meinen Eltern einen Anlass dazu gegeben mir meine dicke Winterjacke aufzudrängen. Schwitzen und doppelt so fett aussehen, als ich ohnehin schon war. Hurra. Es war ein Trauerspiel.[/LEFT] Wenigstens war die Schule schnell vorbei gewesen. Kurz vor den Weihnachtsferien tat sich im Unterricht nicht mehr viel, wir hatten sämtlichen Klassenarbeiten bereits hinter uns. Ich machte mir nichts vor, bestimmt würde ich nur schlechte Noten wiederbekommen. Statt zu lernen, hatte ich meistens vor dem Computer oder der Konsole gehangen. Dieses Real Life war einfach nicht meins, wir konnten uns gegenseitig nicht leiden. Direkt nach Schulschluss hatten uns die Eltern von Aurora und Asterea – es waren ihre richtigen Namen, all mein Neid – mit dem Auto abgeholt, um uns geradewegs zu der kleinen Party, dem Vor-Weihnachtsfest, zu fahren. Am Ziel angekommen, musste ich feststellen, dass meine Freundinnen mir das eine oder andere Detail bezüglich unserer Verabredung verschwiegen hatten, entweder bewusst oder aus Vergesslichkeit. Hätte ich ihnen mal bloß nicht blind vertraut und vorher mehr Fragen gestellt, spätestens dann, als wir die Stadt verlassen hatten und ein gutes Stück weiter in die Pampa gefahren waren. Ich kannte zig Horrorfilme, die genau so anfingen! Nun stand ich hier, mit offenem Mund und absolut sprachlos, vor einer Villa, die ich persönlich schon eher als ein kleines Schloss bezeichnet hätte. Solche eindrucksvollen Bauten kannte ich bisher nur aus Filmen und Videospielen, daher konnte ich meinen Augen kaum trauen. Träumte ich etwa noch? Nein, so viel Glück hatte ich garantiert nicht. Das war real – und deswegen war es keine Überraschung, dass es mir irgendwie nicht gefiel. [LEFT]Bereits das große, goldene Tor und die prunkvolle Auffahrt mit weiten Wiesenflächen, deren Grashalme jemand akribisch gleichmäßig geschnitten hatte, waren die ersten Anzeichen dafür gewesen, dass dieses Grundstück einer Person mit unglaublich viel Schotter gehören musste. Als wir mit dem Auto schließlich auch noch an einem Brunnen vorbeigefahren waren, dessen Größe locker mit dem auf dem Marktplatz in der Innenstadt mithalten konnte, war mein Gehirn mit der Verarbeitung der Eindrücke kaum noch hinterher gekommen.[/LEFT] [LEFT]Die strahlend weiße Fassade des Gebäudes leuchtete erhaben im Schein der untergehenden Sonne, wirkte vor dem abendlich malerischen Himmel wie eine göttliche Erscheinung. Einst altmodische Elemente waren geschickt mit dem modernen Baustil unserer heutigen Zeit kombiniert worden, es war mit Worten schwer zu beschreiben. Es gab reichlich großflächige Fenster, deren Vielzahl ein Gefühl von Offenheit vermittelten, obwohl die meisten von innen mit schweren Vorhängen verdeckt waren.[/LEFT] [LEFT]Hinter mir hörte ich gedämpft die Stimmen von Aurora und Asterea, vermischt mit dem Geräusch eines leise brummenden Motors, während ich mit den Augen versuchte alles zu erfassen. Sie bedankten sich gerade noch bei ihren Eltern dafür, dass sie uns hierher gefahren hatten, und versprachen, sich anständig zu benehmen.[/LEFT] [LEFT]Ich wette, mein Bruder wäre durchgedreht, hätte er gewusst, wo ich an diesem Abend die letzten Stunden des Tages verbringen würde – sofern das hier kein Scherz war und wir uns nicht nur hoffnungslos verfahren hatten. Da sich meine Freundinnen aber völlig entspannt verhielten und der Wagen wenige Augenblicke später ohne uns – aber mit meiner Winterjacke, die ich absichtlich vergessen hatte – wieder davon fuhr, musste das tatsächlich die richtige Location für die Vor-Weihnachtsfeier sein. Die angeblich kleine Party.[/LEFT] [LEFT]Wie realistisch ich das Verhaltenstraining vor mir sehen konnte, wäre mein Bruder vorher genau über alles informiert worden. Außerdem hätte er mich dann auch niemals in dem Aufzug gehen lassen, in dem ich nun vor diesem Traumschlösschen stand. Für ihn war es ungeheuer wichtig, stets einen guten Eindruck zu hinterlassen und alles perfekt zu machen. Deshalb hatten wir leider nicht das beste Verhältnis.[/LEFT] [LEFT]Eines musste ich dennoch zugeben: Angemessenere Kleidung hätte nicht geschadet. Wie sehr ich in diesem Moment wünschte, nicht so offensichtlich nerdig angezogen zu sein. In meinem schwarzen Shirt mit dem Logo von einem meiner Lieblingsspiele und der gemütlichen Stoffhose sowie den abgetragenen Turnschuhen kam ich mir an diesem Ort wie eine schäbige Kakerlake vor. Wäre ich nicht so unsportlich, hätte ich spontan die Flucht ergriffen.[/LEFT] [LEFT]Laut Aurora gab es keinen Dresscode, jeder durfte also ruhig das tragen, was einem selbst gefiel. Wahrscheinlich waren die beiden aus dem Grund auch nur in lockerer Alltagskleidung gekommen, aber sie hatten halt von Natur aus den weiblicheren Kleidungsstil als ich. Also sahen sie nicht mal ansatzweise so dämlich aus, wie es bei mir der Fall war.[/LEFT] [LEFT]Am allerschlimmsten waren aber meine blau gefärbten Haare. Okay, eigentlich mochte ich sie, aber nerdiger ging es mal echt gar nicht mehr. In der Schule kannte man mich inzwischen so, da war es nicht mehr allzu schlimm – ich wurde nicht mal wirklich gemobbt, da ich viel mit Aurora und Asterea zusammen abhing. Nur sobald ich alleine unterwegs war, wurde es manchmal schlimm ...[/LEFT] [LEFT]Deshalb fürchtete ich ein wenig den Tag, an dem wir alle unseren Abschluss hatten und jeder seinen eigenen Weg gehen würde. Ohne die Sicherheit meiner Freunde wäre ich aufgeschmissen. Genau wie damals, als sie beide krank gewesen waren und Ralph diese Chance dazu genutzt hatte, mich reinzulegen.[/LEFT] [LEFT]Plötzlich schlang Aurora von hinten die Arme um meine Hüfte – oder eher um das, was davon noch halbwegs erkennbar war.[/LEFT] [LEFT]„Ich freue mich so, dass du dabei bist~“, sagte sie vergnügt. „Und? Wie findest du es? Ist ganz schön prunkvoll, was?“[/LEFT] [LEFT]„Ja“, stimmte ich zu, mit gebrochener Stimme. „Das … hättet ihr mir nicht mal vorher sagen können?“[/LEFT] [LEFT]Asterea lächelte entschuldigend und hob die Hände. „Wir sind auch zum ersten Mal hier. Wir wussten nicht, dass es so prunkvoll-prunkvoll ist.“[/LEFT] [LEFT]In der Realität sah man ihnen sofort an, dass sie Geschwister waren. Nun, bei eineiigen Zwillingen war das vermutlich zu erwarten. Anders als in der Spielewelt gestern hatte Aurora wie Asterea ebenso blonde Haare, nur waren sie bei beiden etwas kürzer als die von ihren Charakteren. Solche ellenlange Schleier benötigten nur eine viel zu aufwendige Pflege.[/LEFT] [LEFT]Ein besonderes Merkmal an Aurora und Asterea war, dass sie unterschiedliche Augenfarben hatten. Bei Asterea waren sie blau, die von Aurora honigbraun. So konnte man sie notfalls doch unterscheiden, wenn man sie nicht gut genug kannte. Ich war mir nur nicht sicher, ob man dann tatsächlich noch davon reden konnte, dass sie eineiige Zwillinge waren. Sie selbst behaupteten aber immer, es wäre schon richtig so.[/LEFT] [LEFT]„Also heißt das, wir gehen da echt rein?“[/LEFT] [LEFT]„Das ist der Plan~“, bestätigte Asterea, die an diesem Tag genauso munter war wie Aurora – sonst ist sie meistens etwas ruhiger.[/LEFT] [LEFT]Anscheinend sprach mein Gesichtsausdruck Bände, denn Asterea zog besorgt die Augenbrauen zusammen und beugte sich vor, um mich genauer mustern zu können.[/LEFT] [LEFT]„Hey, alles okay? Mach dir keine Sorgen. Ich weiß, von außen wirkt es abschreckend, aber das wird keine stocksteife Feier in gehobener Gesellschaft, sondern ein gemütliches Treffen unter Freunden – mit guter Verpflegung.“[/LEFT] [LEFT]„Wem gehört das hier alles überhaupt?“, hakte ich interessiert nach.[/LEFT] [LEFT]Aurora war diejenige, die antwortete, wobei sie mich weiterhin knuddelte: „Der Familie Caulfield!“[/LEFT] [LEFT]Caulfield? Richtig, ich erinnerte ich mich. Den Namen hatte ich auf einem Schild am Eingangstor gelesen.[/LEFT] [LEFT]„Astis Lover Richard gehört zum Freundeskreis von Frediano Caulfield, dem jüngsten Sohn der Familie.“[/LEFT] [LEFT]„Genau. Ardy hat uns eingeladen und wir dann dich.“[/LEFT] [LEFT]Nachdenklich verzog ich das Gesicht. „Ist es dann wirklich in Ordnung, dass ich hier bin? Ich kenne ja nicht mal Richard so richtig.“[/LEFT] [LEFT]„Glaub mir, wir hätten dich nicht eingeladen, wenn das unangebracht wäre“, versicherte Asterea mir, wobei sie ihre Aussage mit einem Nicken unterstrich. „Es wurde ausdrücklich darum gebeten, diese Feier mit Leben zu füllen. Und das tun wir.“[/LEFT] [LEFT]„Außerdem kommen auch jede Menge Singles zur Party“, fügte Aurora hinzu, wobei sie mir zuzwinkerte. „Da muss doch ein wenig Auswahl zur Verfügung stehen.“[/LEFT] [LEFT]„Ich bin nur euch zuliebe mitgekommen“, wehrte ich direkt ab. „Und wegen dem Essen.“[/LEFT] [LEFT]Genauso plötzlich, wie sie damit angefangen hatte, beendete Aurora ihre Knuddel-Attacke und trat stattdessen neben mich, um meine Hand zu nehmen. „Gut, dann schauen wir mal rein. Falls es dir dann doch nicht gefällt und du dich unwohl fühlst, können wir jederzeit wieder nach Hause fahren.“[/LEFT] [LEFT]„Das stimmt, Ardy ist nämlich schon da. Er kann uns fahren, wann immer wir wollen.“[/LEFT] [LEFT]Wie lieb sie sich um mich bemühten. Trotzdem konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, wie eine unerwünschte Ratte zu sein, die nur gekommen war, um sich noch mehr Fett anzufressen. Mir war schon jetzt zu unwohl dabei. Obendrein wusste ich nicht mal, wer die Caulfields überhaupt waren. Einfach nur eine reiche Familie oder hatten sie irgendwelchen wichtigen Einfluss auf die Stadt?[/LEFT] [LEFT]„Außerdem darf man sich doch nicht die Gelegenheit entgehen lassen, mal bei den Caulfields zu Gast zu sein, Feri!“, betonte Aurora, sichtlich aufgeregt.[/LEFT] [LEFT]Darauf brachte ich nur ein gequältes Lächeln zustande. Offensichtlich mangelte es mir wirklich an Bildung, zumindest was solche Dinge anging. Dafür wusste ich oft alles Wissenswerte über alle möglichen Videospielwelten – das half mir in diesem Fall nur nicht weiter.[/LEFT] [LEFT]„Kommt, gehen wir. Es wird alles besser, wenn wir erst mal richtig angekommen sind.“[/LEFT] [LEFT]Motiviert griff Asterea auf der anderen Seite nach meiner Hand und ging voraus, was Aurora und mich dazu brachte, ihr zu folgen. Innerlich suchte ich bereits insgeheim nach einer guten Ausrede dafür, diesen Ort frühzeitig wieder verlassen zu können. Daher bekam ich es nur flüchtig mit, dass wir außen um das Haus herum gingen, den ersten Hinweisschildern für Gäste folgend.[/LEFT] [LEFT]Im nächsten Augenblick türmte sich dann auch schon eine gigantische Tanne vor uns auf, festlich geschmückt und in bunten Farben leuchtend. Sofort war ich hin und weg von dem Anblick. Wann hatte ich zuletzt so einen schönen Weihnachtsbaum gesehen? Bestimmt noch nie, jedenfalls nicht im Real Life. Der Baum war fast so hoch wie die Villa selbst![/LEFT] [LEFT]„Wow, wie schön~!“, platzte es begeistert aus mir heraus.[/LEFT] [LEFT]Ohne mir dessen richtig bewusst zu sein, zog ich Aurora und Asterea hinter mir her, dichter zum Baum. Aus der Nähe war das Ganze noch imposanter. Selbst wenn man den Kopf in den Nacken legte, konnte man vom Fuß der Tanne aus nicht die Spitze sehen.[/LEFT] [LEFT]Meine Augen leuchteten regelrecht. „Wie groß der ist! Wahnsinn!“[/LEFT] [LEFT]An den Zweigen hingen rote Kugeln, durchsichtig wie Glas, sie reflektierten die farbenfrohe Pracht der Lichterkette. Ich konnte auch Engelchen aus Porzellan entdecken, künstliche Zuckerstangen, Nussknacker, Schlitten und haufenweise andere Details, allesamt Symbole für Weihnachten und den Winter an sich. Sobald man glaubte, alles gesehen zu haben, erhaschte man den Blick auf eine weitere Dekoration. Durch die Größe des Baumes wirkte es nicht überfüllt, sondern wie ein Buch, das, Seite für Seite, eine andere Geschichte erzählte.[/LEFT] [LEFT]„Fehlt nur noch ein Hubschrauber mit einer Ladung Lametta, was?“[/LEFT] [LEFT]„Ja, Lametta wäre cool~“, bestätigte ich fasziniert – und musste sofort schmunzeln, als ich mir das als weihnachtlichen Cheat in einem GTA-Spiel vorstellte.[/LEFT] [LEFT]Moment. Das mit dem Lametta war weder von Aurora noch von Asterea gekommen, dafür hatte die Stimme zu männlich geklungen. Bevor ich den Blick vom Weihnachtsbaum lösen und mich umschauen konnte, begrüßte Asterea den – für mich – Fremden bereits fröhlich.[/LEFT] [LEFT]„Hallo, Faren~.“[/LEFT] [LEFT]„Faren, altes Haus!“, schloss Aurora sich an. „Wie hast du es denn auf die Party geschafft?“[/LEFT] [LEFT]Der Befragte lachte amüsiert. „Ach, ich hab Al so lange genervt, bis er mich widerwillig eingeladen hat. Seine Bedingung war aber, dass ich ihn auf der Party nicht nerve.“[/LEFT] [LEFT]„Owww, du Armer. Das ist hart, besonders für dich.“[/LEFT] [LEFT]Rasch lenkte ich den Blick zu dem Typen namens Faren, den Aurora und Asterea zu kennen schienen. Er war etwa in unserem Alter, groß, schlank und … gutaussehend. Ein Fakt, der dafür sorgte, dass die Nervosität sich direkt wie ein Kloß in meinem Hals festsetzte. Nicht, weil ich so angetan von ihm war, sondern weil ich sofort Angst bekam. Davor, dass ich in seinen Augen nichts weiter als Biomüll war. Eine Ansammlung von Fett eben.[/LEFT] [LEFT]Faren hatte braunes, schulterlanges Haar, das er zu einem hohen Zopf zusammengebunden hatte – eine Frisur, die im Bereich Anime geradezu beliebt für Playboys war. Ehe ich mehr Details aufnehmen konnte, senkte ich lieber nervös den Kopf, als er sich auf einmal mir zuwandte.[/LEFT] [LEFT]„Hey, wir kennen uns noch nicht“, stellte er fest, wobei er kontaktfreudig und neugierig klang – wie ungewohnt sich das für mich anfühlte. „Ah, du musst Feria sein, richtig?“[/LEFT] [LEFT]Erschrocken riss ich den Kopf wieder hoch und starrte ihm ungewollt ins Gesicht. Ein ungezwungenes, freundliches Lächeln lag auf seinen Lippen. Etwas in seine braunen Augen flackerte lebhaft. Der Kinnbart rundete des Gesamtbild eines Anime-Schönlings geradezu perfekt ab. Das genaue Gegenteil von mir.[/LEFT] [LEFT]Ich blickte unbeholfen zur Seite. „Äh, Ja. Aber woher ...“[/LEFT] [LEFT]„Oh, wir haben ihm von dir erzählt“, gestand Asterea ungeniert.[/LEFT] [LEFT]Bestimmt hatte sie sich dabei nichts Böses gedacht, immerhin kannte ich sie, aber irgendwie kamen doch negative Stimmungen in mir hoch. Warum sollte sie anderen von mir erzählen? Dazu gab es überhaupt keinen Grund.[/LEFT] [LEFT]„Natürlich nur Gutes~“, ergänzte Aurora.[/LEFT] [LEFT]Als ob. Fast hätte ich das laut ausgesprochen. Nicht mal eine Sekunde später tat mir das schon leid. Ich verstand selbst nicht, warum ich innerlich so reagierte. Meine Freundinnen würden sicher nicht schlecht über mich reden – dabei hätten sie genug Gründe dazu. Mist, ich wurde diese Unsicherheit nicht los.[/LEFT] [LEFT]„Ein Horror-Fan!“, brach es aus Faren heraus, was mich schlagartig aus meinem dunklen Gedankenkreis riss. „Das Spiel habe ich auch gezockt, alle Teile. Die Reihe ist ein Klassiker!“[/LEFT] [LEFT]Irritiert blinzelnd sah ich ihn nochmal an, an seinem Gesichtsausdruck hatte sich aber nichts verändert. Dann fiel es mir ein: Mein Shirt! Er sprach von meinem Oberteil, mit dem Logo meines Lieblingsspiels aus dem Bereich Horror: Silent Hill.[/LEFT] [LEFT]Ich wusste nicht, warum, aber ich lachte erleichtert auf. „Du bist also auch ein Zocker?“[/LEFT] [LEFT]„Mit Herzblut und auf Lebenszeit. Ich meine, dass ich einen Freund namens Albert habe, ist nicht durch Zufall so gekommen.“[/LEFT] [LEFT]Verstehend beugte ich mich etwas vor. „Wesker!“[/LEFT] [LEFT]Unglaublich, also war er tatsächlich ein Zocker. Das hätte ich niemals gedacht, nicht bei jemandem wie ihm. Normalerweise interessierten sich solche Schönlinge doch für andere Dinge, wie … keine Ahnung, jedenfalls nicht für nerdiges Zeug. Ihnen standen doch ganz andere Türen offen.[/LEFT] [LEFT]„Genau! Zumindest war das damals der Grund, weshalb ich ihn angesprochen habe.“ Mit zwei Fingern tippte er sich zum Gruß an die Stirn. „Gestatten, mein Name ist Faren. Freut mich, dich kennenzulernen~.“[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] *** [LEFT] [/LEFT] [LEFT]Aurora und Asterea hatten recht behalten: Die Party war alles andere als steif und fand auch nicht in gehobener Gesellschaft statt. Tatsächlich entdeckte ich nur junge Leute, allesamt normal und eher gemütlich gekleidet. Einige waren wohl ein paar Jahre älter, aber nicht über 25. In gewisser Weise waren wir also trotzdem die Küken im Stall.[/LEFT] [LEFT]Faren hatte nach seiner Begrüßung stolz hinzugefügt, dieses Jahr endlich volljährig geworden zu sein und im selben Atemzug darüber geklagt, dass er diesen Abend keinen Alkohol trinken durfte, weil er später noch mit dem Auto wieder nach Hause fahren musste. Irgendwie verwirrte es mich, wie offen er mit uns darüber sprach. Da er aber Aurora und Asterea kannte, musste dieses Verhalten damit zu tun haben. Aus seiner Sicht waren wir keine Fremden, auch wenn ich dabei war. Extrovertierte Menschen waren … so anders als ich.[/LEFT] [LEFT]Der Weg zur Party hatte um das Haus herum geführt, weil man die Gäste mit dem Anblick des Weihnachtsbaumes in die richtige Stimmung versetzen wollte, wie ich später mitbekam. Wahrscheinlich wollte man aber einfach nur vermeiden, dass zu viele Personen unbeaufsichtigt von der Eingangshalle aus in den privaten Räumen herumliefen. Das Fest fand nämlich in einem großen Speisesaal statt, der direkt zum Garten hinaus führte.[/LEFT] [LEFT]Raucher konnten also nicht nur problemlos jederzeit kurz nach draußen gehen, neu eintreffende Gäste hatte man sofort im Blick und sie sahen ebenfalls auf Anhieb, dass sie am richtigen Ort waren – der Speisesaal besaß eine riesige Glasfront. Zu meiner Verwunderung hatte man offenbar auch auf Wachpersonal oder andere Aufsichtspersonen verzichtet. Entweder wollte jemand sichergehen, dass sich die Leute nicht unwohl fühlten oder es war schlicht nicht bedacht worden, wie schnell die Dinge auf so einer Feier mal eskalieren konnten.[/LEFT] [LEFT]Egal, das war nicht mein Problem. Mich interessierte vielmehr das gewaltige Buffet, an dem sich jeder selbst bedienen konnte. Es war … göttlich. Wie ein wahr gewordener Traum! Man durfte so viel nehmen wie man wollte – gut, das war ja das besondere an Buffets, aber ich war froh mir dessen sicher sein zu können. Ich musste im Paradies gelandet sein.[/LEFT] [LEFT]Es gab so viel Auswahl, von deftig bis süß war für jeden Geschmack etwas dabei. Für die Vorspeisen waren verschiedene Salate in lächerlich großen Schüsseln aufgefahren worden, sogar ein Nudelsalat, der direkt aus der Werbung zu kommen schien. Daneben gab es für die anspruchsvolleren Gäste hauchdünnes Carpaccio aus Rindfleisch – und für die Vegetarier daneben noch eine Gurken-Version – sowie Austern und verschiedene Quiches. Das aufgeschnittene Gemüse, das an diversen Stellen aufgebaut war, kam mir da schon eher vertraut vor. Der Hauptgang bestand aus den unterschiedlichsten Gerichten verschiedener Länder: Fleischspieße teilten sich einen Tisch mit Lasagne und anderen italienischen Pastagerichten, daneben gab es gebratene Nudeln und gebratenen Reis, woanders stellten die Gäste sich einen eigenen Taco zusammen, nicht weit entfernt von einem Tisch, an dem ein Koch sorgfältig und mit voller Hingabe Scheiben Roastbeef abschnitt und diese mit einem distanzierten Lächeln den Wartenden reichte. Sogar Fisch wurde angeboten, nicht nur in Form von Sushi oder Sashimi, sondern auch als gebratenes Filet oder – ganz nach Hausmannskost – im Teigmantel. Irgendwo entdeckte ich sogar Garnelen. Für Vegetarier gab es Alternativen in Form verschiedener Gemüse- und Nudelaufläufe, Gratins, Knödel und fleischloses Curry. Zuguterletzt gab es noch Kühltheken bestückt mit kunstvoll arrangierten Torten – fast zu schade zum Anschneiden –, köstlich aussehenden Kuchen, Pudding in seiner klassischen Form und frittiert, und natürlich verschiedene Eissorten, die man in kleinen Schüsseln oder in der Waffel nehmen konnte, außerdem noch diverse aufgeschnittene Obstsorten, die kunstvoll arrangiert worden waren, falls jemand einen leichten Nachtisch wollte.[/LEFT] [LEFT]Da zweifelte ich glatt daran, dass mein Magen genug Platz für all diese Köstlichkeiten bieten konnte. Wie viel Kapazität ich wirklich besaß, würde ich jedoch einfach herausfinden müssen. Eine Herausforderung, der ich mich mit Vergnügen stellen wollte! Dann wäre ich zwar tatsächlich nur wie eine gefräßige Ratte, aber glücklich und satt.[/LEFT] [LEFT]Durch meine Begeisterung hatte ich vorerst erfolgreich die fremden Menschen um mich herum verdrängt und mich großzügig mit Essen eingedeckt. Natürlich leisteten Aurora und Asterea mir Gesellschaft, sie hatten sich ebenso reichlich von der Verpflegung gegönnt.[/LEFT] [LEFT]So saßen wir gemeinsam an einem der Tische und ließen es erst mal gemütlich angehen. Eine Live-Band spielte im Hintergrund weihnachtliche Musik, zu der einige tanzten. Andere amüsierten sich mit den bereitgestellten Gesellschaftsspielen. Insgesamt war das Bild erstaunlich gewöhnlich, trotz des aufwendigen, abwechslungsreichen Buffets.[/LEFT] [LEFT]Im Gegensatz zum Weihnachtsbaum draußen war der Speisesaal dezenter dekoriert, aber stimmig. Auf den einzelnen Tischen, die an der Wand gegenüber von der Glasfront standen, standen nur jeweils eine Kerze in einem bunten Glas. Meine erste Handlung, als wir uns hingesetzt hatten, war gewesen, das Feuer an unserem Platz auszupusten. Ich wollte nie wieder in Flammen stehen, das konnte viel zu leicht passieren.[/LEFT] [LEFT]„Ich fasse es nicht, dass du dann echt ohne uns da reingegangen bist. Wollten wir nicht alles gemeinsam erleben?“, beschwerte Aurora sich, wobei sie mich schmollend mit dem Zeigefinger in Seite pikste.[/LEFT] [LEFT]Gerade hatte ich ihnen davon erzählt, dass ich gestern doch noch in das Dimensionsloch gehen konnte, warum auch immer. Sie waren neugierig gewesen, aber gaben sich nun gekränkt, nur um mich zu ärgern. Sicher waren sie hauptsächlich neidisch, weil sie es selbst gerne gesehen hätten.[/LEFT] [LEFT]Asterea schob sich einen Mini-Windbeutel in den Mund und schnaubte. „Dapfü hadsche da och nisch pfiel geschehn. Gerchde Schdrapfe.“[/LEFT] [LEFT]„Was heißt hier gerechte Strafe?“, wiederholte ich, da ich sie trotz ihres vollen Mundes problemlos verstanden hatte. „Ich kann doch nix dafür, dass es plötzlich funktioniert hat. Vielleicht lag der Fehler vorher an eurem schlechten Karma.“[/LEFT] [LEFT]„Sagte die hinterhältige Assassine“, schmunzelte Aurora und streckte mir ihre Zunge entgegen.[/LEFT] [LEFT]Derweil schluckte Asterea den zerkauten Windbeutel herunter. „Das Gerücht stimmt eben. Ferias Klasse hat unverschämt viel Glück. Außer diesem Schneesturm und der seltsamen Stimme war da sonst also wirklich nichts?“[/LEFT] [LEFT]„Nope.“ Seufzend spießte ich mit der Gabel einige Pommes auf. „Zu blöd. Ich wollte mal eine der ersten sein, die diese Event-Quest abschließen. Das sind doch die einzigen Erfolge meines Lebens, auf die ich stolz sein kann!“[/LEFT] [LEFT]„Du bist schon gut genug in Dead by Daylight, reicht das nicht?“[/LEFT] [LEFT]Aurora nickte heftig. „Ich werde immer zuerst gekillt. Das ist frustrierend.“[/LEFT] [LEFT]„Hey, endlich mal ein Thema, bei dem ich mitreden kann! Darf ich mich zu euch setzen?“[/LEFT] [LEFT]Es war Faren, der auf einmal bei uns am Tisch stand und sich auf den letzten freien Stuhl fallen ließ, ohne eine Antwort abzuwarten. Erwartungsvoll wanderte sein Blick zwischen uns allen hin und her. Nach wie vor blendete er einen quasi mit seinem strahlenden Lächeln. Offenbar war Faren von Natur aus ein ziemlich gut gelaunter Typ, ähnlich wie Aurora.[/LEFT] [LEFT]„Ihr habt doch vorhin von einer Event-Quest gesprochen“, griff er das Thema nochmal auf. „Die mit der Schneemaschine? Daran habe ich mich gestern auch versucht.“[/LEFT] [LEFT]Ich blinzelte überrascht. „Was, Legend of Heroes zockst du auch?“[/LEFT] [LEFT]„Klar~. Ich mag den Anime-Stil“, erklärte Faren motiviert. „Ich bin ohne Probleme in das Gebiet mit dem Schneesturm gekommen, aber da war Ende.“[/LEFT] [LEFT]„Hast du auch diese Stimme gehört?“[/LEFT] [LEFT]„Jap.“[/LEFT] [LEFT]„Also wusstest du die Antwort nicht?“[/LEFT] [LEFT]„Ich dachte an Feuer, das war aber wohl falsch.“[/LEFT] [LEFT]Ihm war es also genauso ergangen wie mir. Seltsam, was konnte es mit dieser Frage auf sich haben? Musste man sie überhaupt beantworten? Vielleicht erwartete das Spiel etwas anderes von einem. Irgendeine bestimmte Handlung. „Apropos Feuer, ich pirsche mich mal eben an meinen heißen Ardy ran“, kündigte Asterea an, die dabei aufstand und verspielt zwinkerte. „Er soll ja nicht denken, dass er vor mir sicher ist, bloß weil ich mit Freundinnen hier bin. Ihr entschuldigt mich kurz, ja?“[/LEFT] [LEFT]Dass sie zwischendurch auch mal zu ihrem Freund Richard wollte, konnte ich durchaus nachvollziehen. Anscheinend hing er mit seinen Freunden in einer anderen, ruhigeren Ecke des Speisesaals ab. Da ich inzwischen nicht mehr so nervös war und mich sogar eigentlich ganz wohl fühlte, wollte ich sie nicht von ihrem Vorhaben abhalten.[/LEFT] [LEFT]„Nur zu, schnapp ihn dir“, ermutigte ich sie. „Zeig ihm, wer die Hosen anhat!“[/LEFT] [LEFT]„Darauf kannst du wetten~. Bis gleich.“[/LEFT] [LEFT]Summend ging sie mit federnden Schritten davon. Sie war so hoffnungslos verliebt in diesen Richard. Wie mochte das wohl sein, wenn Liebe erwidert wurde? Wenn Asterea nur etwas mehr auf den Rippen hätte, würde Richard sie dann verlassen? Schließlich war das doch bei jedem der Hauptgrund dafür, warum man sich verliebte: Das Aussehen. Bei meiner Schwärmerei für Ralph damals war das nicht anders gewesen.[/LEFT] [LEFT]„Weißt du, was ich gesagt habe, als ich diesen Weihnachtsbaum da draußen gesehen habe?“ Farens Stimme zog mich aus meinen Gedanken und brachte mich dazu, ihn irritiert anzuschauen, woraufhin er verheißungsvoll weitersprach: „So ein riesiges Ding habe ich auch dabei~. Sogar das ganze Jahr über.“[/LEFT] [LEFT]Erst saß ich nur da und starrte ihn schweigend an, für etwa eine Sekunde, dann fiel der Groschen bei mir. Augenblicklich brach ich in schallendes Gelächter aus und hielt mir dabei meinen vollen Bauch.[/LEFT] [LEFT]„Dein Ernst? Das ist so dämlich!“, prustete ich, mit Lachtränen in den Augen.[/LEFT] [LEFT]Sichtlich zufrieden grinste Faren breit. „Aber du lachst~. Normalerweise kassiere ich für solche Sprüche nur tadelnde und genervte Blicke.“[/LEFT] [LEFT]„Ich kann nicht anders! Das ist voll mein Humor.“[/LEFT] [LEFT]„Also mir war das zu viel Humor“, kritisierte Aurora, schmunzelte dabei aber selbst. „Das muss ich erst mal dringend verdauen, auf dem Klo. Wenn ich das finde. Bin gleich zurück.“[/LEFT] [LEFT]Mit diesen Worten erhob sie sich von ihrem Platz und schritt ebenfalls davon, beinahe hüpfend. Für jemanden, der angeblich mal musste, ungewöhnlich bewegungsfreudig. Bald war sie im Getümmel verschwunden.[/LEFT] [LEFT]Unsicher sah Faren mich an. „Sorry, hab ich sie jetzt verjagt?“[/LEFT] [LEFT]„Nee, die fand den Witz sicher genauso lustig wie ich“, beruhigte ich ihn.[/LEFT] [LEFT]„Wieso Witz?“[/LEFT] [LEFT]„Hör auf, sonst muss ich gleich auch dringend auf's Klo vor Lachen.“[/LEFT] [LEFT]Ich wischte mir die Lachtränen aus dem Gesicht und holte tief Luft, um mich zu fangen. Anschließend verwickelte Faren mich in ein Gespräch über Videospiele, mein Spezialgebiet. Dabei vergaß ich sogar mein Misstrauen ihm gegenüber. Mir war vollkommen klar, dass er kein romantisches Interesse an mir hatte. In seinen Augen musste ich wie eine Art Kumpel sein, mit dem man über ein gemeinsames Hobby labern konnte. Dieser Gedanke machte es für mich leichter, mich auf ihn einzulassen, statt zu befürchten, er könnte etwas Gemeines planen.[/LEFT] [LEFT]Deshalb tat es mir fast leid, weil Aurora und Asterea mich wahrscheinlich absichtlich mit Faren alleine gelassen hatten, in der Hoffnung, da könnte sich etwas zwischen uns entwickeln. Wann sahen sie es endlich sein? Für mich war Liebe nur eine oberflächliche Lüge. Etwas, mit dem ich nichts zu tun haben wollte.[/LEFT] [LEFT]Als Faren schließlich fragte, welches Videospiel mein ungeschlagener Favorit war, hielt ich kurz inne und dachte über eine Antwort nach. Diese Gelegenheit nutzte ich auch dazu, weiter die Pommes auf meinem Teller zu verspeisen, die schon kalt geworden waren. Gar nicht so leicht, sich auf ein einziges Spiel zu beschränken, bei dieser Frage. Dafür gab es zu viele Titel, von denen ich begeistert war.[/LEFT] [LEFT]„Grandia“, antwortete ich schließlich überzeugt. „Grandia hat alles, was ich an Videospielen liebe. Eine spannende Story und sympathische, liebenswerte Charaktere. Es hat Humor, Drama, Fantasy und … wie voll ich sagen, einfach eine Menge Gefühl. Das Spiel hat mich auf so vielen Ebenen derart berührt, es ist ein wichtiger Teil meines Lebens.“[/LEFT] [LEFT]Kaum hatte ich das alles gesagt, war es mir schon peinlich. Hätte ich einfach nur den Titel gesagt, mehr wäre überhaupt nicht nötig gewesen. Jetzt klang ich wie ein verzweifeltes Opfer der Sucht, dem außer Videospielen nichts anderes im Leben geblieben war. Na ja, so falsch war dieses Bild nicht mal, aber das sollte ich nicht jedem offenbaren. Noch mehr Angriffsfläche für Spott konnte ich kaum bieten.[/LEFT] [LEFT]„Es hat quasi deine Realität beeinflusst“, fasste Faren zusammen. „Das kann ich gut nachvollziehen. Gerade das ist die Magie an Videospielen, nicht wahr? Man wird Teil von etwas, das einen bewegt.“[/LEFT] [LEFT]Ich hielt unbewusst die Luft an und sah ihn mit großen Augen an. Hatte er das gerade wirklich gesagt oder war das meine Einbildung gewesen? Zum ersten Mal fühlte ich mich richtig … verstanden. Für Aurora und Asterea waren Videopiele sicher nur ein unterhaltsamer Zeitvertreib, eine Art etwas mit Freunden zu unternehmen. Mehr nicht.[/LEFT] [LEFT]Faren lachte, um die peinliche Stille zu vertreiben, die sich zwischen uns entwickelt hatte, wofür ich sehr dankbar war. „Du hast die Romantik vergessen.“[/LEFT] [LEFT]„Hä?“[/LEFT] [LEFT]„Bei Grandia. Es hatte auch eine Menge Romantik.“[/LEFT] [LEFT]„Ja, stimmt“, sagte ich zögernd – klischeebehaftete Romantik, die mit einer übergewichtigen Feena sicher nicht so schön funktioniert hätte.[/LEFT] [LEFT]Ich mochte sie trotzdem, Feena war cool. Könnte ich es mir aussuchen, wäre ich wahnsinnig gerne mehr wie sie. Mutig, stark und vor allem hübsch.[/LEFT] [LEFT]„Mein Lieblingsspiel ist übrigens Silent Hill: Downpour“, sprach Faren weiter. „Murphys Beweggründe und vor allem seine Schuldgefühle für das, was seinem Sohn passiert ist, haben mich ganz schön getroffen.“[/LEFT] [LEFT]Kam mir so vor, als gäbe es da eine Verbindung zu Farens Vergangenheit. Wäre es unpassend, danach zu fragen? Immerhin kannten wir uns gar nicht, wir hatten uns erst vor knapp einer Stunde kennengelernt. Oder ein paar mehr. Vermutlich würde er sich nicht mal mit mir unterhalten, wenn jemand anderes oder etwas da wäre, das sein Interesse mehr zu wecken vermochte.[/LEFT] [LEFT]Wieder holte Faren mich ins Hier und Jetzt zurück, diesmal indem er laut klatschte. „Hast du gesehen, dass die da hinten Twister aufgebaut haben? Wollen wir eine Runde mitspielen?“[/LEFT] [LEFT]„Du bist etwas lebensmüde, was?“, konterte ich trocken.[/LEFT] [LEFT]„Hm? Wieso?“[/LEFT] [LEFT]„Wenn du mit mir Twister spielst, wirst du am Ende unter mir begraben werden.“[/LEFT] [LEFT]Bei meinem Gewicht wäre das sicherlich nicht angenehm, so viel war sicher. Allein bei dem Gedanken an die ganzen peinlichen Posen, in die man bei Twister manchmal geriet, wehrte sich alles in mir dagegen, an diesem Spiel teilzunehmen. Dabei würde ich mich nur zur Lachnummer machen.[/LEFT] [LEFT]„Oh, ich glaube, das kann ich locker toppen. Du würdest eher unter mir begraben werden“, widersprach Faren, mit einem seltsam überschäumenden Selbstbewusstsein. Er schob seine Brust vor und schnaubte. „Weißt du, je größer das Ding, desto höher das Gewicht. Und bei mir wäre das eine Menge Gewicht, wie wir wissen.“[/LEFT] [LEFT]Grinsend deutete er Richtung Weihnachtsbaum, von dem durch die Glasfront nur der untere Teil zu sehen zu war. Diesmal zündete der Witz sofort, ich fing erneut an laut loszulachen.[/LEFT] [LEFT]„Alter, was stimmt denn nicht mit dir?“ Mühevoll schnappte ich nach Luft. „Du bist so bescheuert.“[/LEFT] [LEFT]„Ich wollte nur, dass du nochmal lachst. Du sahst gerade so aus, als würdest du wieder von düsteren Gedanken heimgesucht werden.“[/LEFT] [LEFT]Ich verstummte. Hieß das, diese dummen Witze hatte er für mich gemacht? Damit ich mich nicht zu sehr in meiner negativen Gedankenwelt verlor? Unmöglich, woran sollte er das denn merken? So aufmerksam konnte er gar nicht sein. Oder?[/LEFT] [LEFT]„Überrascht?“ Gemütlich stützte Faren sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab und bettete sein Gesicht in den Händen. „In jedem kann eben viel mehr stecken, als man denkt.“[/LEFT] [LEFT]Bevor er weitersprach, schloss Faren die Augen und stieß einen dramatisch-theatralisch Laut aus: „Eitel und überheblich. Eingebildet und oberflächlich. Klingt doch eher nach einem bösen Zwilling von mir, findest du nicht?“[/LEFT] [LEFT]Verstehe. Auch Faren hatte mit Vorurteilen zu kämpfen, nicht nur ich. Sofort bereute ich es, ihn am Anfang auch direkt in eine Schublade gesteckt zu haben. Eigentlich schien er ein echt netter Kerl zu sein. Deswegen wollten Aurora und Asterea mich wohl unbedingt mitnehmen, um meine Sicht auf die Dinge etwas zu verbessern – abgesehen von ihrer Hoffnung, einen Traummann für mich zu finden. Immerhin waren die beiden auch schlank, schön und beliebt, aber keine Arschlöcher, sondern meine besten Freundinnen.[/LEFT] [LEFT]Natürlich würde sich nicht von heute auf morgen alles verändern, aber ich würde auf jeden Fall darüber nachdenken.[/LEFT] [LEFT]„Stimmt.“ Ich lächelte herzlich. „Du bist mehr der versaute Zwilling.“[/LEFT] [LEFT]„Tja, diesen Stempel hab ich wohl verdient. Aber das ist ja nicht die einzige Eigenart an mir.“[/LEFT] [LEFT]„Ja, Faren ist nämlich verrückt-versaut“, offenbarte Aurora, die plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte. „Ihr versteht euch blendend, hm? Soll ich wieder gehen?“[/LEFT] [LEFT]„Pflanz dich gefälligst wieder hin“, befahl ich. „Wir können uns auch zu dritt blendend verstehen.“[/LEFT] [LEFT]„Da hat sie recht~.“[/LEFT] [LEFT]„Na gut, dann bleibe ich, wenn ihr so sehr darauf besteht. Ich bin eben unentbehrlich~.“[/LEFT] [LEFT]Kopfschüttelnd boxte ich Aurora halbherzig gegen die Schulter. Unseren darauf folgenden Dialog nutzte Faren dazu, sich etwas zu essen zu holen. Als er mit einem riesigen Berg auf dem Teller zurückkam, unterhielten wir uns weiter entspannt. Der restliche Abend verlief von da an unfassbar harmonisch. Ich ließ mich sogar zum Karaoke überreden – und hatte dabei wahnsinnig viel Spaß, denn Faren traf keinen einzigen Ton richtig.[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] *** [LEFT] [/LEFT] [LEFT]Einige Stunden später war dann der Zeitpunkt gekommen, an dem wir Abschied nehmen mussten. Richard war müde und froh darum, endlich von hier verschwinden zu können – offenbar mochte er solche Ansammlungen von Menschen nicht, was mir sehr sympathisch war. Während Aurora und Asterea also noch ein letztes Mal gemeinsam, eben wie richtige Mädchen, das Klo aufsuchten, war Richard losgezogen, um sich bei Frediano zu verabschieden. Bis zum Schluss hatte ich diesen geheimnisvollen Sohn der Familie Caulfield nicht getroffen.[/LEFT] [LEFT]Dafür war Faren den ganzen Abend über bei uns gewesen. An das Versprechen, diesen Albert nicht zu nerven, hatte er sich gehalten. Irgendwie war ich froh, dass es so gekommen war. Diesen Tag würde ich in guter Erinnerung behalten. Beinahe schade, dass wir gleich wirklich nach Hause fahren wollten.[/LEFT] [LEFT]Faren war so nett, mit mir draußen zu warten, bis alle ihr jeweiliges Geschäft erledigt hatten. Erst da fiel mir auf, dass er auch keine Jacke dabei hatte. Er trug eine ärmellose Weste, die ein rotes Karomuster besaß, über einem weißen Oberteil und einer einfachen Jeans, dazu farbenfrohe Sneaker. Mein Wissen über Mode hielt sich in Grenzen, doch es wirkte nicht so, als käme seine Kleidung von irgendwelchen berühmten Marken. Anfangs hätte ich geschworen, Faren wäre jemand, dem genau so etwas wichtig war.[/LEFT] [LEFT]Im Dunkeln sah der Turm von einem Weihnachtsbaum noch schöner aus. Die Lichterkette tauchte die Umgebung in warme, bunte Farben. Ich konnte nicht anders, diesen Anblick musste nochmal auf mich wirken lassen.[/LEFT] [LEFT]„Der Vorschlag, eine bunte Lichterkette zu nehmen, kam von mir“, berichtete Faren, der neben mir stand und ebenfalls nach oben sah. „Bin erstaunt, dass Al das echt weitergetragen hat.“[/LEFT] [LEFT]„Gute Entscheidung, ich mag bunte Lichterketten~.“[/LEFT] [LEFT]Inzwischen würde mich interessieren, wie genau Faren, Albert und Frediano verbunden waren. Eigentlich hatte ich mich schon damit abgefunden, dass ich das niemals erfahren würde. Dafür müsste ich Faren fragen, ob wir Kontaktdaten austauschen wollten, für weitere Treffen oder zum Quatschen, was ich mich nicht traute. Vielleicht könnte ich ihm aber wenigstens meinen Spielernamen und den Server sagen, auf dem ich Legend of Heroes zockte?[/LEFT] [LEFT]„Ich würde dich gerne etwas fragen“, begann Faren, bevor ich noch etwas sagen konnte.[/LEFT] [LEFT]Weiße Wölkchen stiegen von unseren Mündern aus empor gen Himmel, erreichten diesen jedoch nicht mal ansatzweise. Sie lösten sich einfach auf. Abends konnte es doch erschreckend kalt sein, eine dicke Winterjacke kam mir noch nie so verlockend vor wie jetzt. Ich rieb mir die Arme, während ich mich Faren zuwandte und ihn abwartend ansah.[/LEFT] [LEFT]Lächelnd erwiderte er meinen Blick. „Also, ich fand den Abend echt lustig. Vor allem hat mir die Zeit mit dir gefallen. Wie soll ich sagen, du bist richtig süß.“[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] Du bist richtig süß, ich mag dich. Hättest du Lust, dich mal mit mir zu treffen? [LEFT] [/LEFT] [LEFT]Es war, als würde etwas in mir zerbrechen. Wie Säure fraß sich die Kälte in meinen Körper hinein, umklammerte mein Herz und ließ es erstarren. Schlagartig sah ich ihn vor mir, den Brief von Ralph. Jede einzelne Zeile, besonders den Teil darüber, wie süß er mich angeblich fand. Mein Magen verkrampfte sich. Innerhalb von Sekunden wurde mir speiübel.[/LEFT] [LEFT]Das ist nicht wahr, dachte ich panisch. Bitte nicht.[/LEFT] [LEFT]Von dem, was in mir vorging, bekam Faren nichts mit, weil er den Blick zurück zum Baum gelenkt hatte und eine Hand in den Nacken legte. Verlegenheit konnte man ihm nicht nachsagen, im Gegenteil, er wirkte ziemlich souverän.[/LEFT] [LEFT]„Falls du Lust hast und meine dummen Jokes dich nicht insgeheim verschreckt haben, würdest du dann mit mir ausgehen?“, bat Faren mich.[/LEFT] [LEFT]Automatisch wich ich einige Schritte zurück, der Schnee knirschte klagend unter meinen Schuhsohlen. Jede einzelne Faser meines Körpers schrie geradezu danach wegzulaufen, solange ich noch konnte. Seinen Lügen nicht zu lauschen und nicht ein zweites Mal auf dieses Spiel hereinzufallen. Endlich machte es Sinn, Farens gesamtes Verhalten. Für ihn war es nur ein Zeitvertreib. Ein Spaß, mir dabei zuzusehen, wie ich ihm auf den Leim ging.[/LEFT] [LEFT]Nicht dieses Mal.[/LEFT] [LEFT]Den Gefallen tat ich ihm nicht.[/LEFT] [LEFT]Mit zittriger Stimme murmelte ich etwas vor mich hin, ohne selbst zu wissen, was es war. Irritiert wandte Faren sich mir zu und fragte, ob alles in Ordnung sei. Er griff nach meiner Schulter und beugte sich ein Stück in meine Richtung, um mir ins Gesicht zu schauen. Wie viel Mühe er sich gab. Nicht zu fassen.[/LEFT] [LEFT]Auf meine Kosten.[/LEFT] [LEFT]Die alte Brandnarbe an der Schulter, wo er mich berührte, fing plötzlich an zu glühen. Zumindest fühlte es sich so an. Genauso schmerzvoll wie damals, als stünde sie in Flammen. Gewaltsam riss ich mich los und schleuderte ihm meine Hand entgegen. Ein lautes Klatschen zerriss die Atmosphäre, die eben noch so friedlich gewesen war.[/LEFT] [LEFT]„Vergiss es!“, schluchzte ich wütend, ohne Faren eines Blickes zu würdigen. „Verarschen kann ich mich alleine!“[/LEFT] [LEFT]Ich fuhr herum und rannte los. Weg von Faren, irgendwohin. Unzählige Tränen verschleierten meine Sicht, aber ich blieb in Bewegung. Rannte unbeirrt weiter. Hinter mir rief jemand meinen Namen. Wer es war, wusste ich nicht. Aurora, Asterea oder Faren. Egal. Sollte ich stehenbleiben, würde ich nur endgültig zusammenbrechen.[/LEFT] [LEFT]Nichts hatte sich verändert.[/LEFT] [LEFT]Ich war genauso dumm wie vor drei Jahren. Wie sehr ich wünschte, ich wäre zu Hause geblieben. Das Real Life hatte mir wieder schmerzlich bewiesen, wie grausam es sein konnte.[/LEFT] Kapitel 3: Game Over? --------------------- [LEFT]Ich brummte wehleidig, als mein Handy mich mit dem Laut eines Chocobos aufweckte. Durch die Vibration wurde, zusätzlich zum Signalton, auch noch ein klapperndes Geräusch verursacht, da es auf dem Nachttisch lag. Blind tastete ich nach dem Ruhestörer, um nachzusehen, wer mir geschrieben hatte.[/LEFT] [LEFT]Die neueste Nachricht war von Asterea, aber es gab noch einige mehr, unter anderem auch von Aurora. Den Großteil davon hatte ich noch nicht gelesen. Trotzdem konnte ich mir schon gut vorstellen, wie der Inhalt aussah. Bestimmt machten sie sich Sorgen, gerade weil sie nicht wussten was eigentlich los war. Mal wieder.[/LEFT] [LEFT]Gestern, nach der Party, war ich einfach weggerannt, ohne darüber nachzudenken. Irgendwann hatte ich mir dann ein Taxi gerufen und meine Freunde nur kurz via Textnachricht darüber informiert, damit sie mich nicht umsonst suchen mussten. Durch Gespräche mit ihnen wäre, zu dem Zeitpunkt, alles nur noch schlimmer geworden. Meine Gefühle waren so sehr außer Kontrolle geraten, dass ich wahrscheinlich eh nur am laufenden Band geheult hätte.[/LEFT] [LEFT]Glücklicherweise hatten meine Eltern und Cowen, mein Bruder, mich vorerst in Ruhe gelassen, obwohl letzterer ziemlich sauer auf mich gewesen war. Das Geld für die Taxifahrt hatte nämlich mein Vater zahlen müssen, denn ich war blank. Wie immer.[/LEFT] [LEFT]Erschöpft richtete ich mich im Bett auf und rieb mir die Augen. Obwohl ich genug geschlafen hatte, fühlte ich mich schlaff, als hätte mich Mr. X aus Resident Evil ewig durch die Gegend gejagt. Kam sicher daher, dass ich gestern noch so unnormal viel hatte weinen müssen.[/LEFT] [LEFT]Laut Uhrzeit war bald schon wieder Abend. Es war Samstag, also hatte ich keinen Schultag verpennt – nicht, dass es kurz vor den Ferien allzu tragisch gewesen wäre. Andernfalls hätte Cowen aber morgens bei mir im Zimmer gestanden und mich aus dem Bett gezerrt, egal wie es mir ging. Manchmal wünschte ich mir, er würde mich komplett ignorieren.[/LEFT] [LEFT]Mit einem unguten Gefühl fing ich an, mir die ganzen Nachrichten anzuschauen, die ich verpasst hatte, beginnend mit der ältesten. Genau wie erwartet: Verwirrte und besorgte Reaktionen. Fragen darüber, was los sei und wieso ich so plötzlich verschwunden war. Aurora schien anfangs geglaubt zu haben, sie hätte etwas Dummes gesagt oder getan, weshalb ich doch lieber alleine nach Hause gefahren war. Asterea dagegen hatte vermutet, dass Richards Anwesenheit mich verschreckt haben könnte, weil ich ihn noch nicht so gut kannte.[/LEFT] [LEFT]Bei den neuesten Nachrichten verkrampfte sich mehr und mehr mein Magen. Offenbar hatten die beiden mit Faren gesprochen. Er musste auf sie zugegangen sein und ihnen alles erzählt haben, jedenfalls klang es danach. Zuletzt hatte Asterea mir folgendes geschrieben:[/LEFT] [LEFT]Hey, Liebes. Schläfst du noch? Bitte melde dich, sobald du wach bist. :<[/LEFT] [LEFT]Wir wissen zwar nicht, warum du Faren gegenüber gestern so reagiert hast, aber es hat sicher etwas mit dem zu tun, was vor 3 Jahren passiert ist, richtig?[/LEFT] [LEFT]Ich schluckte schwer. Wussten sie etwa doch von der Geschichte mit Ralph? Nicht mal mein Vater kannte die genauen Details, nur das, was der Lehrer damals mitbekommen und demnach weitergegeben hatte. Also könnte er Aurora und Asterea höchstens verraten haben, dass ich mal von einem Jungen gemobbt worden war. Oder sie besaßen nur ein feines Gespür.[/LEFT] [LEFT]Es tut uns wirklich leid, dass dich etwas so zu quälen scheint. :([/LEFT] [LEFT]Wir wollten dich nie bedrängen, aber du kannst jederzeit mit uns reden. Immer. Wir sind für dich da, okay?[/LEFT] [LEFT]Was Faren angeht: Auch er macht sich Sorgen um dich.[/LEFT] [LEFT]Abrupt hielt ich inne. Lüge, sagte mir mein Innerstes. Das konnte überhaupt nicht sein. Oder? Im Kopf ging ich nochmal den Moment mit Faren durch, der mit einer Ohrfeige meinerseits beendet worden war. Der Schmerz in meiner Brust war echt gewesen, keine Frage. Aus Angst, nochmal so etwas wie mit Ralph erleben zu müssen, hatte ich abwehrend reagiert. Regelrecht hysterisch. Vielleicht war es aber doch zu viel des Guten gewesen …[/LEFT] [LEFT]Ich soll dir von ihm ausrichten, dass er dich nicht verletzen wollte und er gerne die Chance hätte, noch einmal mit dir zu reden. Faren hat das, was er zu dir gesagt hat, ernst gemeint.[/LEFT] [LEFT]Du hast das Wort von Aurora und mir, dass du ihm vertrauen kannst. Er ist echt ein guter Kerl. Wenn du die Sache mit ihm klärst, wird alles gut. Ganz bestimmt. =D[/LEFT] [LEFT]Am Ende der Nachricht hatte sie mir Farens Handynummer hinterlassen. Zweifelnd las ich mir den Text noch einige Male durch, nur um sicherzugehen. Tatsächlich, der Inhalt blieb derselbe. Im Namen von Faren hatte Asterea mich um eine zweite Chance gebeten. Sie versicherte mir, er würde es ernst mit mir meinen.[/LEFT] [LEFT]Solche Mühe machte man sich für gewöhnlich nicht, sollte es nur ein böser Scherz sein.[/LEFT] [LEFT]Mein Herz schlug ein wenig schneller.[/LEFT] [LEFT]Gemischte Gefühle kamen in mir hoch. Dachte ich an gestern zurück, fielen mir im Grunde nur gute Dinge im Zusammenhang mit Faren ein. Ich hatte es genossen, mit ihm zu quatschen und herumzualbern, ganz ohne Nervosität. Seine Gesellschaft hatte mir gefallen. Allein ich war schuld daran, dass es dann so tragisch geendet hatte. Womöglich war ich …[/LEFT] [LEFT]„Oh Gott!“ Stöhnend vergrub ich das Gesicht in meinen Händen. „Ich bin ein kompletter Vollidiot.“[/LEFT] [LEFT]Ich hatte dem Mann, der anscheinend doch ernsthaft an mir interessiert war, eine kräftige Backpfeife gegeben. Wegen einer Kurzschlussreaktion. Völlig zu unrecht. Er hatte mir immerhin nichts getan, um das zu verdienen.[/LEFT] [LEFT]„Scheiß Emotionen“, murmelte ich überfordert.[/LEFT] [LEFT]Was sollte ich nun tun? Zumindest eine Entschuldigung wäre fällig. Selbst wenn ich über meinen Schatten springen und mich bei Faren melden könnte, wie sollte ich ihm mein Handeln erklären? Auch die Geschichte von Ralph würde nichts an dieser peinlichen Lage ändern. Mit Sicherheit würde auch er sagen, ich hätte völlig überreagiert.[/LEFT] [LEFT]Seufzend legte ich das Handy weg und stand auf. Anschließend lief ich etwas ziellos im Zimmer herum, rang mit mir selbst um eine Entscheidung. Zwischendurch wanderte ich sogar heimlich in die Küche und besorgte mir etwas Nervennahrung. Sonst stimmte mich leckeres Essen wieder positiver, jedoch nicht an diesem Tag.[/LEFT] [LEFT]Egal, wie angestrengt ich darüber nachdachte, ich hatte nicht den nötigen Mut, mich bei Faren zu melden. Das würde in die nächste Katastrophe führen. Nicht mal eine passende Begrüßung könnte ich zustande bringen.[/LEFT] [LEFT]Irgendwann schlurfte ich gedankenverloren ins Badezimmer und machte mich frisch. Ein vergeblicher Versuch den Kopf freizubekommen. Denken brachte mich nicht weiter.[/LEFT] [LEFT]Also griff ich auf die beste Ablenkung zurück, die bei mir half: Videospiele. Während mein Computer Legend of Heroes startete, antwortete ich vorher aber noch meinen Freundinnen. So viel war ich ihnen schuldig, da ich ihnen erneut Sorgen bereitet hatte.[/LEFT] [LEFT]Nachdem ich Aurora ausreden konnte, dass sie etwas Dummes gesagt oder getan hätte und ich Asterea erklärte, auch keine Angst vor Richard zu haben oder so, konnte ich das Handy erst mal wieder weglegen. Wie ich bei Faren vorgehen sollte musste ich mir gründlich überlegen. Ein Anruf wäre zwar der anständige Weg, doch mir lag die Kommunikation in Textform mehr. Daher sollte ich darüber nachdenken, was genau ich ihm schreiben könnte.[/LEFT] [LEFT]Ich setzte mir die Kopfhörer auf und war startbereit. Kaum war ich eingeloggt, zuckte ich aber wieder erschrocken zusammen – wegen dem unverschämt lauten Sound in diesem Schneegebiet. Hastig passte ich die Lautstärke an und schüttelte den Kopf. Heutzutage sollten solche grundlegenden Dinge doch eigentlich stets professionell abgemischt sein.[/LEFT] [LEFT]Abermals rieb ich mir die Augen, diesmal allerdings wegen den weißen, grellen Schneeflocken. Sie wirbelten aufgeregt um meinen Spielcharakter herum, beinahe als freuten sie sich mich zu sehen. Beim Start des Spiels war kein neuer Patch installiert worden, daher war diese Event-Quest vermutlich nach wie vor verbuggt.[/LEFT] [LEFT]Leise drang wieder diese geheimnisvolle Stimmen an mein Ohr, kämpfte sich durch das stürmische Rauschen des Schneesturms: Was bringt das Eis zum Schmelzen?[/LEFT] [LEFT]Großartig, ich wollte mich ablenken und von der Denkerei befreien. Jetzt stand ich erneut vor dem anderen Rätsel, das mein Hirn überanstrengte. Obwohl ich es das letztes Mal schon ausprobiert hatte, tippte ich nochmal dieselbe Antwortmöglichkeit in das Chat-Fenster:[/LEFT] [LEFT]Feuer.[/LEFT] [LEFT]Nichts.[/LEFT] [LEFT]Diesmal versuchte ich es auch mit Sonne. Heizung. Magie.[/LEFT] [LEFT]Wieder nichts.[/LEFT] [LEFT]Schade, dann musste ich diese Quest erst mal verschieben. Mir war gerade nicht danach, im Internet nach der Lösung zu suchen. Das wäre ohnehin lame. Ich wollte schon gerne versuchen, von selbst darauf zu kommen, was man tun musste. Nur eben nicht heute.[/LEFT] [LEFT]Gerade wollte ich mich in meine Heimatstadt teleportieren, da erschien im Chat-Fenster plötzlich der Text von einem anderen Spieler namens Bahamut:[/LEFT] [LEFT]Hey, hier ist ja doch noch jemand![/LEFT] [LEFT]Ich dachte, in diesem Gebiet ist der Chat von anderen Spielern getrennt.[/LEFT] [LEFT]Darüber war ich ebenso irritiert. Vielleicht war dieser Ort mit dem Chat vom Gebiet Goldmeer verknüpft, aber dann wäre es hier bisher nicht so still gewesen. Für gewöhnlich gab es überall Spieler, sogar in den unbeliebtesten Gebieten. Mit dieser Event-Quest stimmte wohl eindeutig etwas nicht. Seltsam, dass die Entwickler seit gestern noch nicht daran gearbeitet hatten.[/LEFT] [LEFT]Bevor ich selbst etwas schreiben konnte, füllte bereits der fremde Spieler weiter das Chat-Fenster:[/LEFT] [LEFT]Sekunde. Dein Name … bist du zufällig Feria?[/LEFT] [LEFT]Okay, das war schräg – und unheimlich. Außer Aurora und Asterea kannte sonst niemand im Spiel meinen realen Namen. Mein Charakter hieß Zephir, was nicht mal irgendeine Ähnlichkeit zu Feria aufwies. Wer war das bitte?[/LEFT] [LEFT]Etwas in mir stellte direkt eine Vermutung auf, die mich schlagartig nervös machte. Mein Fluchtinstinkt wollte mich dazu treiben aufzuspringen und zurück ins Bett zu kriechen. Nein, das war lächerlich. Es konnte nicht sein. So große Zufälle gab es nur in der Fiktion. Also atmete ich tief durch und setzte dazu an, die Frage zu schreiben, woher er meinen Namen kannte. Meine Finger schwebten über der Tastatur, doch ich zögerte.[/LEFT] [LEFT]Sekunden verstrichen.[/LEFT] [LEFT]Im Chat-Fenster tat sich nichts.[/LEFT] [LEFT]Plötzlich folgte ich dann einem undefinierbaren Drang, seinen Namen zu schreiben: Faren?[/LEFT] [LEFT]Noch während ich die Enter-Taste betätigte, schien das Rauschen, dieser störende Wettereffekt, nachzulassen. Gleichzeitig legte sich der Schneesturm ein wenig. Das Gewimmel aus Flocken lichtete sich, wich vor etwas zurück, so als weite sich ein magischer Bannkreis aus. Dadurch wurde eine Bogen-Brücke aus hellem Gestein enthüllt, meine Assassine stand dort in der Mitte. Zusammen mit einem anderen Spieler, einem Menschen-Paladin.[/LEFT] [LEFT]Sein Charakter hatte ein recht hohes Level, jedenfalls sah seine Rüstung ziemlich hochwertig und dekorativ detailreich aus. Er strahlte diese heilige Aura aus, wie man es von Paladinen kannte. Durch die roten Haare, die goldenen Augen und dem dunklen Hautton hatte er aber gleichzeitig etwas Wildes, was nicht so recht zu seiner Klasse passen wollte.[/LEFT] [LEFT]Unbewusst drückte ich mich gegen die Rückenlehne meines Stuhls, als könnte ich so Abstand von der Situation gewinnen. Ohne eine Antwort von diesem Spieler bekommen zu haben, wusste ich schon jetzt, dass es wirklich Faren war. Irgendwie … spürte ich das.[/LEFT] [LEFT]Hey, dann bist du es tatsächlich! Muss Schicksal sein, dass wir uns ausgerechnet hier im Spiel wiedersehen. :3[/LEFT] [LEFT]Er war ganz normal. Automatisch entspannte ich mich etwas, auch wenn mir die Gesamtsituation weiterhin seltsam vorkam. Unheimlich seltsam.[/LEFT] [LEFT]Ich konnte mir denken, dass er meinen Spielernamen von Aurora und Asterea erfahren hatte. Diesen riesigen Zufall erklärte das aber nicht. Irgendwie hatte Faren recht: Wirkte vielmehr wie Schicksal.[/LEFT] [LEFT]Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl herum, unfähig, etwas zu schreiben. Das musste ich aber auch nicht, denn Faren übernahm die Kommunikation zwischen uns, indem er fleißig weiter Nachrichten ins Chat-Fenster jagte:[/LEFT] [LEFT]Bitte, logg dich nicht sofort aus! Ich würde nämlich wirklich gerne mit dir reden. :([/LEFT] [LEFT]Was gestern passiert ist, tut mir sehr leid. Ehrlich.[/LEFT] [LEFT]Per Emote verbeugte sich Farens Charakter vor meiner Assassine entschuldigend. Darauf konnte ich nur einen ratlosen Laut von mir geben. Wofür entschuldigte Faren sich? War ich nicht diejenige, die ihn um Verzeihung bitten sollte? Sogleich versuchte die Angst in mir die Herrschaft zu erringen und rüttelte die Befürchtung wach, Faren wäre eben doch nicht anders als Ralph. Hatte Faren letztendlich trotzdem irgendwelche Hintergedanken gehabt, für die er sich nun entschuldigte?[/LEFT] [LEFT]Panisch packte ich mit der Hand die Maus und öffnete das Menüfenster, mit dem Ziel mich auszuloggen. Was ich dann sah, ließ mich glauben, allmählich verrückt zu werden: Die Logout-Funktion war ausgegraut und ließ sich gerade nicht durchführen.[/LEFT] [LEFT]„Was?! Das kann doch gar nicht sein ...“[/LEFT] [LEFT]Statt mich lange über dieses verbuggte Spiel zu ärgern, streckte ich die Hand aus, um einfach den Bildschirm auszuschalten. Kurz vorher hielt ich aber inne. Sich auszuloggen hätte Faren wenigstens deutlich gemacht, dass ich nicht bereit bin ein Gespräch zu führen. Ohne jegliches Zeichen afk zu gehen wäre dagegen absolut arschig, denn er stünde dann wie ein Trottel da und würde sich nur mit sich selbst unterhalten.[/LEFT] [LEFT]Ich sollte mich nicht so anstellen.[/LEFT] [LEFT]Bemüht entschlossen rückte ich mit dem Stuhl näher zum Schreibtisch zurück und wollte ihm endlich antworten, doch da war er noch einmal schneller als ich: Falls dir das nicht zu viel ist, könnten wir dann einen gemeinsamen Sprach-Chat aufmachen? Wenn wir doch schon zu zweit hier schreiben, könnten vielleicht auch noch andere mitlesen. Und das wäre schlecht.[/LEFT] [LEFT]Ausnahmsweise versagte die Angst in mir dabei, mir weiterhin Zweifel einzureden. In diesem Fall verstand ich Faren nämlich und stimmte ihm sogar zu. Privates sollte nicht in die Öffentlichkeit getragen werden. Außerdem wäre mir das besonders bei dieser Geschichte extrem peinlich. Darum stimmte ich mit einem knappen „Ok“ zu und kümmerte mich darum, alles Notwendige in die Wege zu leiten.[/LEFT] [LEFT]Inzwischen raste mein Herz vor Aufregung. Nie hätte ich gedacht, dass es sich wirklich so anfühlen konnte, als würde es einem jede Sekunde aus der Brust springen. Wie war das damals bei Ralph gewesen? Seltsamerweise erinnerte ich mich nicht mehr genau daran, ob mein Herz vor drei Jahren genauso schnell geschlagen hatte.[/LEFT] [LEFT]Einige Minuten später war alles eingerichtet und wir konnten uns nun via Headset miteinander unterhalten. Schon unglaublich, zu was die Technik mittlerweile imstande war …[/LEFT] [LEFT]„Hey, danke“, sagte Faren erleichtert – seine Stimme klang ein wenig anders, aber noch so offenherzig wie gestern. „Ich hatte echt Sorge, du würdest vor mir weglaufen.“[/LEFT] [LEFT]„Ich … hab drüber nachgedacht“, gab ich bedrückt zu. „Sorry.“[/LEFT] [LEFT]„Nein, nein. Schon okay! Ich weiß ja, dass andere bei solchen Dingen manchmal etwas mehr Zeit brauchen. Meistens bin ich daher viel zu aufdringlich.“[/LEFT] [LEFT]Ich starrte regungslos auf den Bildschirm. Noch immer standen unsere beiden Spielcharaktere sich gegenüber, auf dieser kleinen Bogen-Brücke, die durch die Schneeflocken vom Rest der Welt abgeschnitten zu werden schien. Das Ganze fühlte sich so surreal an.[/LEFT] [LEFT]„Ehrlich gesagt, hab ich irgendwie gehofft, dich hier online zu treffen“, erklärte Faren, wobei er leise lachte. „Aber du wurdest mir vor einer Weile noch als offline angezeigt, also dachte ich, ich warte darauf, dass du anfängst zu spielen.“[/LEFT] [LEFT]„Du machst dir so viele Gedanken“, bemerkte ich. „Das mit der Ohrfeige tut mir leid. Wirklich, ich hätte das nicht tun sollen. Ich will mich da auch gar nicht rausreden.“ „So einen direkten Korb hab ich bisher noch nie bekommen. Ich hab mich ganz schön erschrocken.“ Wieder lachte er, als wollte er das Gespräch möglichst locker halten. „Aber dann habe ich mir vielmehr Sorgen um dich gemacht. Dir hätte ja sonst was passieren können, so wie du losgestürmt bist.“[/LEFT] [LEFT]Je mehr ich mit ihm sprach, desto leichter fielen mir die Worte. Dabei war ich sicher gewesen, ich bekäme keinen einzigen Ton heraus. Offenbar hatte ich mir umsonst den Kopf zerbrochen. Es musste an Farens Art liegen, dass dieses Gespräch wie von selbst lief. So natürlich.[/LEFT] [LEFT]„Auch das tut mir leid“, nuschelte ich eine weitere Entschuldigung. „Ich … ich bin einfach durchgedreht. Ein richtiger Freak eben.“[/LEFT] [LEFT]„Ach, ich habe nichts gegen Freaks~“, betonte Faren. „Im Gegenteil. Gewöhnliche und perfekte Menschen sind doch stinklangweilig.“[/LEFT] [LEFT]Nun konnte ich mir selbst das Schmunzeln nicht verkneifen. „Wow, wenn das mein Bruder hören könnte, würde er direkt ausflippen und widersprechen.“[/LEFT] [LEFT]„Das sagt mir schon alles über ihn, was ich wissen muss.“[/LEFT] [LEFT]„Ja, er ist sehr … angepasst.“ Unsere Spielcharaktere lösten sich aus ihrer starren Pose und blickten sich gelangweilt um. Sobald man sich eine Weile nicht mehr bewegte, startete diese Animation automatisch. Dadurch wirkten sie amüsant desinteressiert, obwohl sie mitten in einem Käfig in Form eines Schneesturms standen.[/LEFT] [LEFT]„Vergessen wir die Spießer lieber. Was ich mich seit gestern frage“, begann Faren vorsichtig, „ist, warum du so reagiert hast. Es war nicht meine Absicht gewesen, dich irgendwie zu verletzen oder so, aber genau so hast du ausgesehen. Als hätte ich dir ein Messer ins Herz gerammt.“[/LEFT] [LEFT]Betrübt sank ich auf meinem Stuhl ein Stück tiefer. „Das hatte nicht wirklich etwas mit dir zu tun. Mir ist nur mal etwas passiert, das mich ziemlich … traumatisiert hat.“[/LEFT] [LEFT]Jetzt, als ich es selbst aussprach, wurde ich mir dessen erst richtig bewusst. Traumatisiert, das traf es genau. All die Jahre hatte ich nie mit einer Menschenseele darüber gesprochen. Weder mit meinen Freunden, noch mit meinen Eltern. Ich hatte versucht, dieses Ereignis zu verdrängen, weil es so weh tat. Vielleicht war das falsch gewesen.[/LEFT] [LEFT]Irgendwem hätte ich mich doch anvertrauen sollen, um das zumindest ein wenig zu verarbeiten.[/LEFT] [LEFT]„Verstehe, du brauchst nicht ins Detail zu gehen“, beruhigte Faren mich, seine Stimme klang unbeschreiblich sanft. „Dein Schlag hat ordentlich gesessen. Das genügt mir vollkommen, um zu wissen, dass dich jemand mal furchtbar verletzt haben muss. Meine Worte haben dich wohl an dieses traumatische Ereignis erinnert.“[/LEFT] [LEFT]„Du bist überhaupt nicht sauer?“, stellte ich erstaunt fest. „Nicht mal ein bisschen? Ich hab dir völlig grundlos eine gescheuert.“[/LEFT] [LEFT]„Grundlos war das nicht. Du hast doch gesagt, dass dich mal etwas schwer traumatisiert hat.“[/LEFT] [LEFT]„Aber damit hattest du doch nichts zu tun.“[/LEFT] [LEFT]„Ich hab dieses Ereignis wieder wachgerüttelt“, hielt Faren nochmal fest. „Und du hast dich selbst schützen wollen. Dein Verhalten ist für mich sehr nachvollziehbar.“[/LEFT] [LEFT]Wie konnte er nur so unglaublich verständnisvoll und einfühlsam sein? Mir kamen fast wieder die Tränen, weil seine Empathie mich derart berührte. Viele andere hätten mich für verrückt erklärt und schlimmstenfalls auch noch Schmerzensgeld verlangt. Aber Faren war so … lieb.[/LEFT] [LEFT]„Ich weiß, wie das mit traumatischen Erlebnissen ist. Glaub mir, ich bin da auch vorbelastet“, verriet er, zwar gefasst, jedoch mit einem Hauch von Schmerz in der Stimme. Diese Stimmung änderte sich aber innerhalb einer Sekunde wieder. „In erster Linie bin ich froh, dass es nicht an meiner Wortwahl lag oder so. Gerade auf mein kommunikatives Können bin ich nämlich eigentlich recht stolz~. Ich heiße nicht umsonst CherryPlayboy auf Twitter.“[/LEFT] [LEFT]Nun klang er so herzlich und aufgeschlossen, wie ich ihn kennengelernt hatte. Dieser Themenwechsel hellte die Gesamtstimmung merklich auf, mir lag ein Lächeln auf den Lippen. Auch der allerletzte Funken Angst in mir war zurück in die Dunkelheit vertrieben worden. Wärme erfüllte mein Herz. Wie befreit ich mich fühlte.[/LEFT] [LEFT]„Für einen Playboy hast du dich aber ganz schön zurückgehalten“, merkte ich an.[/LEFT] [LEFT]„Oh, ich hab nur ein ganz gutes Gespür dafür, wann ich mich besser zurückhalten sollte, um andere nicht zu verschrecken. Meistens. Das kann ich aber gerne ändern~.“[/LEFT] [LEFT]„Bei mir? Du könntest mit viel heißeren, besseren Frauen flirten.“[/LEFT] [LEFT]Warum sagte ich das ausgerechnet jetzt? Die Stimmung war gerade so gut gewesen. Mein Selbstwertgefühl war aber nun mal verkümmert und hoffnungslos verloren. In meinen Augen war es absolut verständlich, dass ich mich darüber wunderte, weshalb ein so großartiger Typ wie Faren ausgerechnet mich interessant fand. Jemand wie er könnte garantiert jede Frau rumkriegen.[/LEFT] [LEFT]„Warum also ich?“, fragte ich offen.[/LEFT] [LEFT]„Warum nicht dich?“, stellte Faren eine Gegenfrage.[/LEFT] [LEFT]„Weil ich optisch nicht gerade … den gesellschaftlichen Standards genüge.“[/LEFT] [LEFT]„Ach, papperlapapp! Ich habe meine eigene Vorstellung von Schönheit. Weißt du, du hast dich so niedlich über den riesigen Weihnachtsbaum gefreut, da ist mir richtig das Herz aufgegangen. Da musste ich dich einfach ansprechen.“[/LEFT] [LEFT]„Was? Nur, weil ich mich über den Baum gefreut habe?“, wiederholte ich ungläubig.[/LEFT] [LEFT]„Zumindest war das der Ansporn, dich anzusprechen. Okay, ein paar Dinge über dich wusste ich schon von Aurora und Asterea, aber da war mir ja noch nicht klar, dass du diese Feria bist.“[/LEFT] [LEFT]„Aber was ist so ungewöhnlich daran, sich über einen hübschen Weihnachtsbaum zu freuen?“[/LEFT] [LEFT]Das verstand ich wirklich nicht. Wenn man etwas sah, das einen überraschte und faszinierte, war es doch total natürlich, diese Gefühle auch zu zeigen. Oft war Aurora sogar wesentlich überdrehter in ihren Reaktion als ich – und viel niedlicher, wie ich fand.[/LEFT] [LEFT]„Du hattest eben dieses Strahlen in den Augen“, führte Faren weiter aus. „Ehrlich gesagt hab ich gesehen, wie verkrampft und abwesend du mit Aurora und Asterea um die Ecke kamst. Als du dann plötzlich deine Gefühle so offen gezeigt hast, da hast du mich magisch angezogen. Oh, und deine Haarfarbe, die fand ich auch ziemlich cool. Überzeugt hast du mich letztendlich aber mit etwas anderem.“[/LEFT] [LEFT]Inzwischen klebte ich beinahe am Bildschirm, völlig gebannt, dabei tat sich dort momentan gar nichts. „Mit was denn?“[/LEFT] [LEFT]„Das bleibt vorerst mein Geheimnis~. Liebe muss nicht zwingend nachvollziehbar und logisch sein.“[/LEFT] [LEFT]Sofort wurde mein Gesicht glühend heiß. Verlegen versteckte ich es in meinen Händen, dabei konnte Faren mich momentan sowieso nicht sehen, nur hören. Solch ein schwärmendes Gerede über mich war ich nicht gewohnt, nicht von wem, der ernsthaftes Interesse an mir besaß. Wenn Aurora und Asterea Dinge aufzählten, die sie an mir mochten, war das immer etwas anderes, denn meistens nickte ich die nur zweifelnd ab.[/LEFT] [LEFT]„Ich kann aber sagen, dass wir eindeutig dieselbe Wellenlänge haben~. Den ganzen Abend über entdeckte ich immer wieder neue Facetten an dir, die ich süß und liebenswert finde.“[/LEFT] [LEFT]„Okay, okay!“, unterbrach ich ihn überfordert. „Ist gut, ich hab ja verstanden.“[/LEFT] [LEFT]„Nichts ist gut, du hältst dich nämlich nicht für liebenswert. Das werde ich dir schon noch ausreden“, kündigte Faren an, scherzhaft drohend.[/LEFT] [LEFT]„Du kennst mich doch gar nicht richtig“, haspelte ich nervös. „Erst seit einem Tag!“[/LEFT] [LEFT]„Diesem Tag können wir doch viele weitere hinzufügen“, flirtete Faren weiter – jetzt wollte er es aber wirklich wissen. „Und hey, in den meisten Disney-Filmen kennen die sich oft auch erst seit einem Tag, aber es ist die wahre Liebe.“[/LEFT] [LEFT]Obwohl er mir so sehr schmeichelte, war mir das Gerede von Liebe dann doch zu viel. Von einem Tag auf den anderen konnte ich meine Meinung eben nicht einfach komplett umkrempeln. Anscheinend war aber meine Theorie, dass nur das Aussehen zählte, doch nicht richtig. Zumindest nicht bei allen Menschen. Mit einer dieser goldenen Ausnahmen unterhielt ich mich gerade.[/LEFT] [LEFT]„Ich glaube nicht an so etwas wie Liebe auf den ersten Blick“, sagte ich überzeugt, jedenfalls versuchte ich so zu klingen.[/LEFT] [LEFT]„Nicht mal an Weihnachten?“[/LEFT] [LEFT]„Erst recht nicht an Weihnachten“, beteuerte ich. „Ich kann dieses Fest nicht ausstehen.“[/LEFT] [LEFT]Bevor mir direkt wieder Ralph im Kopf herumspuken würde, warf ich irgendeine allgemeine Begründung hinterher: „Ist doch eh alles nur Kommerz.“[/LEFT] [LEFT]„Owww, das schmerzt. Mehr noch als die Ohrfeige gestern“, seufzte Faren schockiert.[/LEFT] [LEFT]„Sorry, so sehe ich das halt.“[/LEFT] [LEFT]„Aber Weihnachtsbäume magst du?“[/LEFT] [LEFT]Ertappt suchte ich nach einer Ausrede, doch mir wollte auf Anhieb keine einfallen. „Das ist etwas anderes!“[/LEFT] [LEFT]Trotzdem, Faren hatte recht. Anscheinend hasste ich Weihnachten in Wahrheit nicht so sehr, wie ich dachte. Im Prinzip richteten sich diese negativen Gefühle nicht speziell gegen das Fest an sich, sondern gegen Ralph. Meine Erinnerungen an ihn waren nur dummerweise mit dieser besinnlichen Zeit verknüpft.[/LEFT] [LEFT]„Es ist aber eh noch nicht Weihnachten, erst in zehn Tagen.“[/LEFT] [LEFT]„Also ist noch reichlich Zeit für ein Weihnachtswunder! Ich gebe nicht auf.“ Faren klang ungeheuer enthusiastisch. „Vergessen wir den schlechten Start und versuchen es nochmal.“[/LEFT] [LEFT]Mit diesen Worten bewegte sich der Paladin auf dem Bildschirm wieder und ging näher zu meiner Assassine, um vor ihr auf die Knie zu gehen. Instinktiv reagierte ich darauf, indem ich sie verlegen zur Seite schauen ließ.[/LEFT] [LEFT]„Würdest du mit mir ausgehen?“, bat Faren mich aufrichtig. „Oder anders gesagt: Willst du mal einen richtigen, anständigen Mann kennenlernen?“[/LEFT] [LEFT]In Ordnung, ich musste zugeben, das war verdammt süß. Nein, sogar romantisch. Ich musste sogar schon wieder die Tränen unterdrücken.[/LEFT] [LEFT]Sollte das nur ein langer, schöner Traum sein, wollte ich nie wieder erwachen. Innerhalb eines Tages war ich irgendwie zu einer Prinzessin geworden, die von einem herzensguten Prinzen um ein Date gebeten wurde. Seine Worten kamen tatsächlich bei meinem Herzen an. Ein simples Ja könnte niemals ausreichend ausdrücken, wie gerne ich mehr Zeit mit Faren verbringen wollte. Also …[/LEFT] [LEFT]„Critical Hit“, brachte ich leise hervor.[/LEFT] [LEFT]Erwartungsvoll harrte der Paladin in seiner knienden Position aus. „Game Over? Kann ich jetzt das New Game Plus starten?“[/LEFT] [LEFT]„Genau~“, bestätigte ich fröhlich.[/LEFT] [LEFT]„Yes!“[/LEFT] [LEFT]Farens Charakter erhob sich und breitete die Arme aus, in der Erwartung, dass ich auf eine Umarmung einging. Ich ließ ihn nicht lange warten und gab das entsprechende Emote dafür ein. Kurz darauf lagen der Paladin und die Assassine sich innig in den Armen, während ich das lächelnd beobachtete.[/LEFT] [LEFT]Ein Sonnenstrahl brach plötzlich durch das Schneegestöber hindurch und tauchte die Brücke in ein goldenes Licht. Innerhalb weniger Sekunden ließ der Sturm nun endgültig nach, die Sicht wurde vollkommen klar. Überrascht erkannte ich den Ort, an dem wir uns befanden, wieder: Eine bestimmte Ecke im Goldmeer! Also waren wir scheinbar gar nicht in einem separaten Gebiet gewesen.[/LEFT] [LEFT]Nur ein paar Meter entfernt stand die große, klobige Schneemaschine und pumpte aus einem Trichter weiße Flocken in die Luft. Sie funkelten im Sonnenlicht wie unzählige kleine Diamanten und tanzten schwerelos wie grazile Feen über uns hinweg. Wunderschön. Schnee in einer Wüste. Ein wahrlich märchenhafter Anblick.[/LEFT] [LEFT]Für einige Zeit standen unsere Charaktere nur da, Arm im Arm. Faren und ich betrachteten das Schauspiel fasziniert, ohne etwas zu sagen. Keine Ahnung, was letztendlich dazu geführt hatte, aber anscheinend war die Quest erfolgreich abgeschlossen worden. Ohne Zweifel musste wirklich ein Bug für diesen ungewöhnlichen Verlauf verantwortlich sein, doch ich fand es romantischer, es als eine Art höhere Macht zu betrachten, die Faren und mir den Weg zueinander geebnet hatte.[/LEFT] [LEFT]Mist, nun realisierte ich langsam, dass mir solch romantischer Kram eigentlich doch noch ganz gut gefiel. Wenigstens für diesen Moment wollte ich das zulassen.[/LEFT] [LEFT]„Hast du morgen Zeit?“, brach Faren dann die Stille. „In diesem sogenannten Real Life, meine ich. Das mit der ganz akzeptablen Grafik.“[/LEFT] [LEFT]„Klar“, antwortete ich freudig. „Du musst mich immerhin noch davon überzeugen, dass ich angeblich liebenswert bin.“[/LEFT] [LEFT]Außerdem wollte ich auch Faren besser kennenlernen. Laut ihm hatte ich viele Facetten, aber das war bei ihm sicherlich ähnlich. Bei ihm gab es ebenso viel zu entdecken. Egal, ob es um Dinge ging, die ihn negativ geprägt hatten oder um alltägliche Routinen. Ich wollte unbedingt mehr über ihn erfahren.[/LEFT] [LEFT]Wer weiß, vielleicht könnte dieses Gefühl tatsächlich zu einer richtigen Liebe führen.[/LEFT] [LEFT]Vielleicht konnte Faren mir beibringen, wie man richtig liebte.[/LEFT] [LEFT]Vielleicht war doch ein richtiges Weihnachtswunder möglich.[/LEFT] [LEFT]Vielleicht.[/LEFT] [LEFT]„Das bekomme ich auf jeden Fall hin~.“[/LEFT] [LEFT]„Mach dich lieber auf einiges gefasst. Bei mir zockst du im Hard Mode“, warnte ich ihn.[/LEFT] [LEFT]„Ach, ich bin trotzdem zuversichtlich. Die Mühe wird sich garantiert lohnen.“[/LEFT] Epilog: New Game+ ----------------- [LEFT]Lächelnd beobachtete der NPC Charon aus der Ferne, wie die Assassine und der Paladin zusammen den Schnee bewunderten. Bereits der Sand in diesem Gebiet funkelte in der Sonne stets wie Gold, nun schien es auch noch so, als wären die Flocken Diamanten. Das machte den Ort wahrhaftig besonders und wertvoll, zumindest wenn man das Auge dafür besaß.[/LEFT] [LEFT]Zephir und Bahamut gehörten zu den glücklichen Ausnahmen mit Fantasie im Herzen. Umso schöner, dass sie nun zueinander gefunden hatten. Charon war optimistisch, ihre Zukunft würde sicherlich genauso strahlen wie das Goldmeer mit winterlichen Flair. Er hätte zu gerne gehört, was die beiden zu seinem kleinen Märchen zu sagen hatten, das mit Hilfe der Event-Quest geschaffen worden war.[/LEFT] [LEFT]Plötzlich verdichteten sich einige Schneeflocken in seiner Nähe und tanzten anschließend vor ihm herum. Nach und nach konnte man in diesem lebhaften Wirbel die Form eines kleinen Mädchens erkennen. Das lange Haar war seitlich zu zwei Pferdeschwänzen hochgebunden und wehte wie fließendes Wasser im Wind.[/LEFT] [LEFT]„Bist du hier bald fertig?“[/LEFT] [LEFT]Ihre Stimme war bloß der Nachhall eines Echos, erreichte Charon dennoch klar und deutlich. Für Menschen musste das Mädchen, Orphne, recht monoton und emotionslos klingen. Jemand, der älter war als die Welt, für die sie zuständig war, empfand verständlicherweise nur noch selten Interesse für irgendetwas. Immerhin hatte sie alles gesehen und erlebt, es gab nichts Neues mehr.[/LEFT] [LEFT]„Ja, seit gerade eben~“, antwortete Charon vergnügt. „Wie gefällt es dir?“[/LEFT] [LEFT]Träge lenkte das Mädchen vor ihm den Blick hin und her. Obwohl sie die Schneeflocken dazu nutzte, mit Charon zu kommunizieren, wusste sie offenbar nicht, wo genau sie überhaupt war. Sie hatte schlicht die einzige Quelle genutzt, die eine Verbindung zu ihm darstellte. In diesem Fall die weißen, glitzernden Flocken. Zwar stammten diese augenscheinlich aus der Maschine, gehörten jedoch zu Charons Magie.[/LEFT] [LEFT]„Was soll das darstellen?“[/LEFT] [LEFT]„Na, Schnee in der Wüste natürlich“, erklärte er stolz. „Märchenhaft, nicht wahr?“[/LEFT] [LEFT]„Für so eine Spielerei verschwendest du wertvolle Zeit?“, sagte Orphne ruhig, obwohl man ihre Worte vorwurfsvoll auffassen könnte. „Wir haben mehr als genug in unserer Welt zu tun.“[/LEFT] [LEFT]Erklärend hob Charon einen Zeigefinger in die Luft. „Sogar wir benötigen ab und zu eine Pause. Und die habe ich sinnvoll genutzt.“[/LEFT] [LEFT]„Das liegt im Auge des Betrachters.“ Nun bekam ihre Stimme einen kaum wahrnehmbar ernsten Unterton. „Du hast hoffentlich nicht vergessen, dass wir eigentlich keinen Einfluss auf die Welt ausüben dürfen? Egal, in welcher Welt.“[/LEFT] [LEFT]„Eigentlich“, wiederholte er verspielt.[/LEFT] [LEFT]Wohlig seufzend verschränkte Charon die Arme hinter dem Rücken – eine Animation, die einem gewöhnlichen NPC, der seinem Programm folgte, normalerweise nicht möglich wäre. Seine violetten Augen schimmerten geheimnisvoll, während er den Schnee betrachtete. Schließlich landete sein Blick wieder auf den einzigen zwei Spielern, die von seiner Position aus zu sehen waren.[/LEFT] [LEFT]„Manchmal schadet es doch nicht, verlorene Seelen ein wenig Geleit zu schenken, wenn sie sich in einem Sturm verlaufen haben.“[/LEFT] [LEFT]Orphne lachte leise, eine ihrer seltenen emotionalen Regungen. „Was soll ich sagen? Das passt zu dir.“[/LEFT] [LEFT]„Eine gewisse Sternendeuterin hatte zudem aufgeschnappt, dass eine gute Freundin in der Ferne dringend Hilfe benötigt. Wie hätte ich das ignorieren können?“[/LEFT] [LEFT]Aufgeregt fing die Assassine an um den Paladin herumzulaufen. Bestimmt unterhielten sie sich gerade in einem privaten Sprach-Chat und redeten darüber, was sie als nächstes machen wollten. Da sie das erste Mal zusammen spielten, gäbe es garantiert vieles, was sie einander zeigen konnten. Allzu viel Ahnung besaß Charon über diese Videospiele leider nicht, doch es war bemerkenswert, mit wie viel Leben sogar virtuelle Welten gefüllt waren.[/LEFT] [LEFT]„Komm, gehen wir zurück“, befahl Orphne, allerdings eher mild als fordernd. „Ich bin sicher, niemand wird etwas gegen dein kleines Spiel als Schicksal einzuwenden zu haben, wenn wir uns nun zurückziehen.“[/LEFT] [LEFT]„Keine Sorge, den Rest müssen die beiden ohnehin alleine schaffen.“ Schmunzelnd griff Charon sich ans Kinn. „Sie werden ihr New Game Plus gewiss mit Erfolg meistern.“[/LEFT] [LEFT]„Eine merkwürdige Welt ist das“, urteilte Orphne, die nicht mal versuchte, diese englischen Worte nachzusprechen. „Bitte trage diese Fremdsprache nicht wieder mit zu uns. Das verwirrt nur.“[/LEFT] [LEFT]„Ich werde mich bemühen.“[/LEFT] [LEFT]„Mehr kann ich wohl nicht erwarten.“[/LEFT] [LEFT]Vielleicht bekäme Charon irgendwann die Gelegenheit, sie nochmal wiederzusehen. Irgendwann, wenn sie auf ein erfülltes Leben mit unzähligen glücklichen Erinnerungen zurückblicken und sie sein Lächeln somit erwidern könnten, beim nächsten Mal. Hoffentlich hatten sie bis dahin noch eine Menge Zeit.[/LEFT] [LEFT]„Zurück an die Arbeit~“, flötete Charon motiviert.[/LEFT] [LEFT]Wie auf Stichwort fielen die Schneeflocken, die das kleine Mädchen geformt hatten, auseinander und huschten geschwind davon. Gleichzeitig verblasste auch Charons Gestalt, bis an der Stelle, wo er eben noch gestanden hatte, ein anderer NPC zurück blieb. Nämlich ein giftgrüner Mechaniker-Goblin, der hibbelig auf der Stelle herum hüpfte und einen, für diese Rasse, typischen Namen besaß, der mit dem von Charon nichts mehr zu tun hatte.[/LEFT] [LEFT]Einige Minuten später verschwanden auch die Assassine und der Paladin aus dem Goldmeer, um zu zweit in neue Abenteuer zu starten. Zurück blieben nur die Schneeflocken, die weiterhin unermüdlich über dem Sand tanzten und ihre Freiheit in vollen Zügen auskosteten. Schon morgen könnten sie als eines von tausenden unerklärlichen Phänomenen in der Geschichte des Internets verewigt werden.[/LEFT] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)