Critical Hit! von Platan (14. Virtuelles Schneegestöber) ================================================================================ Kapitel 1: Event-Quest ---------------------- Drei Jahre später ...   In auffällig goldenen Lettern huschte ein Wort über den Bildschirm: Kritisch! Nur eine Sekunde später leitete ein letztes bestialisches Brüllen die Animation ein, in der sich unser Gegner mit spektakulären Lichteffekten und passender Untermalung von Sounds vor den Augen aller Anwesenden, sowohl Spielern als auch NPCs, in glühende Funken auflöste und verschwand. Der Kampf war vorbei und der Sieg gehörte unserer Gruppe aus knapp zwanzig Helden, die sich gemeinsam dieser Herausforderung gestellt hatten – obwohl wir insgesamt sogar noch zu wenig gewesen waren. Eigentlich sollte ich mich darüber freuen, aber ich war frustriert. Wir hatten eine halbe Stunde Zeit und vor allem viele Nerven investiert, nur um diesen gewaltigen Drachen zu erledigen. Der Dungeon an sich hatte sogar noch länger gedauert. Es kam mir wie ein schlechter Scherz vor, dass er sich nun einfach in Luft aufgelöst hatte, statt das Ganze mit einer anständigen Filmsequenz abzuschließen. In diesem Augenblick erinnerte ich mich wieder daran, warum ich MMORPGs normalerweise nicht zu meinen Favoriten zählte. Während ich diesen Gedanken nachging, rauschte ein „gz“ oder „gg“ nach dem anderen durch das Chatfenster. Auch ich schickte eines dieser Kürzel ab, um allen für das gute Spiel und die Zusammenarbeit zu danken. Das geschah inzwischen derart natürlich nebenbei, dass es sicher längst nicht mehr jeder ehrlich meinte. Man machte eben mit und schwamm mit der Welle, dachte aber nicht weiter darüber nach. Ein zufriedenes Lächeln huschte über meine Lippen, als ich dafür gelobt wurde, wie viel Schaden ich ausgeteilt hatte. An vorderster Front fühlte ich mich halt besonders wohl. Feinde mit Skills und Angriffen regelrecht zu überschütten machte mir verdammt viel Spaß, außerdem konnte man dadurch auch stets eine Menge Frust und Anspannung abbauen. Kurz darauf begann dann schon die hitzige Diskussion darüber, wer die legendäre Platten-Rüstung, die als Belohnung nur von einem Spieler ergattert werden konnte, bekommen sollte. Zum Glück musste ich mich daran nicht beteiligen, denn ich war eine Assassine. Meine Klasse trug Leder, alles darüber hinaus konnte ich eh nicht gebrauchen – und ich würde bestimmt keinen auf Troll machen und mitwürfeln, nur um meine Mitspieler zu verärgern. Daher entfernte ich mich mit meiner Spielfigur von der Gruppe, ging mit ihr zum Rand der Karte und ließ sie sich mit Hilfe eines Emote-Befehls auf eine der wenigen Bänke, die man noch benutzen konnte, setzen. Momentan befand ich mich in einer Kathedrale, die von den Horden aus Monstern und dem Drachen, dem Endboss, arg in Mitleidenschaft gezogen worden war. Es gab nicht mal mehr ein Dach, dafür lag der Blick auf einen Sternenhimmel frei, der wahrlich nur in einer Fantasy-Welt existieren konnte. Das Farbenspiel aus dunkelblau, violett und rot war faszinierend und die Sterne funkelten wie bunte Edelsteine. Ich verlor mich in diesem Anblick. „Na, träumst du wieder vor dich hin?“, fragte mich eine vertraute Stimme neckisch. Seit ich an diesem Tag angefangen hatte zu zocken, befand ich mich mit meinen beiden engsten Freundinnen in einem Sprach-Chat, weshalb wir uns ganz normal unterhalten konnten und uns nicht in Textform anflüstern oder in den Gruppen-Chat schreiben mussten – das hätte ich sonst sowieso nicht mitgekriegt. Eine Menschen-Magierin gesellte sich gerade zu mir, in einem rötlich schimmernden Gewand aus Stoff, das mit goldenen Details wie Bändern und Mustern verziert war. Der unterste Teil des Rocks stand in Flammen, was ein dekorativer Teil der Ausrüstung war. Die stolze Trägerin hieß Aurora und lächelte mich, wie üblich, vergnügt an. Ihr langes, rosafarbenes Haar fiel wie ein Schleier über ihren Rücken und rundete das Gesamtbild ab. Aurora hatte ihren Charakter auf Schwarze Magie spezialisiert, also strebte sie den Weg einer Hexe an. Vom Schaden her waren ihre Zaubersprüche nicht zu verachten. Leider wussten das nur wenige zu schätzen, weil die meisten genervt davon waren, dass Aurora dazu neigte ihre Angriffe mit selbst ausgedachten Sprüchen zu untermalen und das Ganze theatralisch zu inszenieren, jedes Mal. Rollenspieler waren eben bei der eingefleischten Competitive-Community recht verhasst und wurden stets ins Lächerliche gezogen. Ein ewiger, stiller und unnötiger Krieg zwischen zwei Fronten, denen bloß unterschiedliche Dinge beim Spielen wichtig waren. Traurig, da sie nicht wussten, was ihnen entging. Mit Aurora im Team kam nämlich nie Langeweile auf. Irgendwie fand sie immer einen Weg für Unterhaltung zu sorgen, selbst wenn es mal nicht so gut lief. Eine geborene Entertainerin. Für diesen Raid hatte sie sich aber ganz schön zurückgehalten, was mir schnell aufgefallen war. „Ich bin nur froh, dass es endlich vorbei ist“, erwiderte ich, wobei ich absichtlich übertrieben schwer seufzte. „Raids sind mir einfach viel zu anstrengend. Ich bin zwar awesome als Damage Dealer, der ganze Stress zahlt sich jedoch dafür oft nicht aus.“ „Aber nur bei Raids bekommt man die beste Ausrüstung, wie dieses epische Gewand Brennende Jungfrau.“ Summend drehte Aurora sich im Kreis, beide Arme ausgebreitet, als wollte sie wie eine zarte Elfe davonfliegen. Eines konnte ich nicht bestreiten: Ein bisschen neidisch auf diese Ausrüstung war ich schon, aber ich hätte viel lieber etwas, das zur Hälfte aus Wasser bestand, statt aus Feuer – zum Glück war das hier nicht die Realität, denn dieses Element machte mir mehr Angst als eine riesige Spinne mit dicken Beinen. In meinen Augen blieben Raids trotzdem furchtbar stressig. Machte man nur einen Fehler, war die Gefahr groß, von seinen Mitspielern dumm angemacht zu werden, weil jeder andere natürlich der absolute Profi war und immer alles richtig machte – lächerlich. Und am Ende war die Wahrscheinlichkeit auch noch groß, komplett leer auszugehen, sollte kein Loot erscheinen, den man gebrauchen konnte. So wie dieses Mal. Jeder Raid gab mir dasselbe Gefühl wie bei einer Klausur, die über deine Note auf dem nächsten Zeugnis entscheiden könnte. Für Aurora ließ ich mich aber stets erneut auf diesen Stress ein, weil sie es öde fand, wenn sie beim Raid niemanden hatte, mit dem sie Insider-Witze austauschen und nebenbei quatschen konnte. Außerdem gab es nur in Raids diese großen Massen an Mobs zu vermöbeln, der Spaß war es dann doch irgendwie wert. „Mich macht der Name immer noch fertig, oh holde Jungfrau“, kommentierte ich. „Hexen wurden halt verbrannt, sowohl in der Realität als auch in der Fiktion. Die Welt kommt mit unserer Awesomeness nun mal nicht zurecht.“ Lachend lehnte ich mich auf meinem Bürostuhl zurück. „Das stimmt. Normale Menschen werden niemals erfassen können, wie großartig du bist~. Was gut ist, denn dann habe ich dich umso mehr für mich.“ Quietschend stürzte Aurora sich auf mich, um mich zu umarmen – wir liebten es, dass es dieses besondere Emote in diesem Spiel gab. Räuspernd meldete sich daraufhin ihre Schwester, Asterea, zu Wort, die ebenfalls im Sprach-Chat war, jedoch nicht beim Raid mitgewirkt hatte – dafür war ihr Level noch zu niedrig. „Hey, hey, hey! Was höre ich da? Da wird doch gerade ohne mich geknuddelt, oder?!“ „Awww, bist du einsam, Asti?“, hauchte Aurora. „Eifersüchtig?“, fügte ich noch hinzu. „Und wie! Alleine macht das Questen überhaupt keinen Spaß. Erst recht nicht, wenn man die ganze Zeit nur Zeug sammeln soll. Vorhin musste ich hundert Augen von Dunkelebern und Flatterseuchen besorgen, danach sollte ich die Köpfe von Menschen im Nachbarsdorf sammeln. Diese NPCs hier ticken nicht ganz richtig.“ Ihre Worte ließen mich amüsiert schmunzeln. „Ich hab dir doch gesagt, du solltest dir ein anderes Gebiet zum Questen aussuchen. Warum gehst du auch ausgerechnet zu den Untoten?“ „Weil Asti insgeheim auf dieses düstere Zeug steht~“, meinte Auroa überzeugt. Asterea spielte zwar auch eine Magierin, doch hatte sie den Weg der Heilerin, also einer Priesterin, gewählt, deswegen dürfte sie es alleine wirklich ziemlich schwer haben. Erst recht in dem Gebiet, in dem sie sich gerade aufhielt. Dafür könnte sie sich später aber vor lauter Anfragen von anderen Spielern kaum retten, sobald der erste Dungeon für sie offen stand. „Dann spielen wir doch nächstes Mal lieber direkt Dead by Daylight. Etwas Multiplayer-Horror könnte ich auch wieder mal vertragen“, schlug ich vor. „Halloween war dieses Jahr wieder viel zu schnell vorbei.“ Ablehnend schüttelte Auroras Charakter heftig den Kopf. „Leute, wir haben Dezember! Das Fest der Liebe liegt doch jetzt in der Luft~.“ Großartig. Die Zeit des Jahres, auf die ich inzwischen getrost verzichten konnte. Dummerweise blühte Aurora bei so etwas total auf, völlig egal um welches Fest es sich handelte. Sie war sozusagen recht leicht Feuer und Flamme für besondere Ereignisse. Ich blieb da eher zurückhaltend. „Bis Weihnachten sind es noch ein paar Tage.“ „Du sagst es“, mischte Asterea sich wieder ein, „darum müssen wir so langsam mal einen Freund für dich finden, mit dem du dann vor dem Kamin kuscheln kannst.“ Zu schade, dass sie nicht sehen konnten, wie ich vor dem Bildschirm mit den Augen rollte. „Nicht das Thema schon wieder.“ „Oh doch, genau das“, quiekte Aurora verzückt. „Wir haben unsere Mission Liebe für Feria noch nicht aufgegeben.“ Dem stimmte Asterea enthusiastisch zu. Daraufhin nahm ich meine übliche Abwehrreaktion ein: „Das Leben ist auch ohne Liebe lebenswert. Warum tun immer alle so, als müsste man als Frau ständig nur an Hochzeit und so denken? Ich denke lieber an die nächsten geilen Spieletitel.“ Das war auch der einzige Grund, warum ich Weihnachten trotz allem noch halbwegs ertragen konnte: Geschenke. Mit Glück bekam ich von meinen Eltern das eine oder andere Spiel von meiner Wunschliste, dann hätte ich für Dates ohnehin keine Zeit. Betrübt ließ die Magierin vor mir den Kopf hängen. „Owww, dabei wollen wir doch nur dein Bestes.“ „Keine Sorge, Rora, notfalls zwingen wir sie einfach zu einer Dreierbeziehung mit uns“, verkündete Asterea. „Und was ist mit deinem Freund, Richard?“, hakte ich nach. „Der muss natürlich mitmachen, ist doch klar~.“ „Wow, armer Kerl.“ „Nah, in Wahrheit ist er ganz verrückt nach mir.“ Das mit der Dreierbeziehung würde ich den beiden sogar glatt zutrauen. Sollte das helfen, damit sie keine weiteren Versuche mehr starteten mich zu verkuppeln, wäre mir das nur recht. Ein gemeinsames Leben mit Aurora und Asterea wäre zwar anstrengend, aber spaßig und erfüllend. Was wollte man mehr? Vielleicht sollte ich ihnen endlich erzählen, warum ich gar nicht so interessiert daran war, einen Freund zu finden. Allein bei dem Gedanken schnürte sich mir aber schon der Hals zu. Nein, ich wollte das alles niemals erneut nach oben holen. Es wäre mir auch viel zu peinlich, weil ich wusste, wie dumm ich damals gewesen war, auf Ralph hereinzufallen. Begeistert klatschte Aurora in die Hände. „Okay, davor steht aber unser kleines Vor-Weihnachtsfest an. Das hast du hoffentlich nicht vergessen, Feri.“ Wie könnte ich? Sie hatten mich schon vor Wochen dazu eingeladen. Einer aus ihrem Freundeskreis veranstaltete eine kleine Party, zu der sie mich mitnehmen wollten. Laut ihnen kamen nur Leute dorthin, die sie kannten und die alle großartig waren – das hatte Aurora mir jedenfalls versichert. Jeder durfte Freunde mitbringen, solange man dafür garantieren konnte, dass keiner Unsinn anstellen würde. Selbst wenn die beiden mich nicht alleine auf dieser Party sitzenlassen würden, käme ich mir dort sicher fehl am Platz vor. Mir lagen solche Ansammlungen von Menschen nicht, obwohl ich mich ganz gut anpassen konnte. Früher war das mal anders. Seit diesem einem Vorfall hatte sich einiges geändert … Obendrein fand diese sogenannte Party auch noch an dem Datum statt, an dem ich vor drei Jahren so hinterhältig verarscht worden war. Schicksalhaft, was? Von wegen, das war einfach nur ein gewaltiger Zufall. Einer von der lästigen Sorte. „Nein, aber das würde ich gerne“, gab ich grummelnd zurück. „Muss ich wirklich mitkommen?“ „Keine Diskussion, du bist längst eingeplant!“, sagte Asterea, gespielt streng. „Wir haben schon lange nichts mehr zusammen unternommen, außerhalb der virtuellen Welt.“ „Keine Sorge, wir werden eine Menge Spaß haben“, versprach Aurora – wobei sie wieder übermäßigen Gebrauch von den Emotes des Spiels machte. „Es wird leckeres Essen geben, klasse Gesellschaft, Filme, Spiele und Essen~.“ Klang fast so, als würde sie sich besonders auf das Essen bei dieser Party freuen. Verübeln konnte ich es ihr nicht, immerhin war ich mit einem guten Buffet ebenfalls leicht zu locken. Außerdem hatte Asterea recht, meinetwegen trafen wir uns wirklich fast nur noch in irgendwelchen Spielewelten, weil ich das Gefühl hatte, dass meine Anwesenheit unter Leuten bloß eine Beleidigung für die Augen war. Da ich ihnen nie von Ralph erzählt hatte, jedenfalls nicht im Detail, konnten sie auch nicht verstehen, was mit mir los war. Trotzdem waren sie die letzten drei Jahre über verständnisvoll gewesen und hatten sich nie ernsthaft beschwert, nur ihre Sorge um mich geäußert. Also war ich es ihnen schuldig, auch mal etwas zurückzugeben. Vielleicht war ich nun alt genug, um über ein paar dämlichen Aussagen zu meinem Gewicht stehen zu können. Falls nicht, wären Aurora und Asterea bei mir. Genau, ich war auf dieser Party nicht alleine. Es konnte gar nicht so schlimm enden wie vor drei Jahren … „Okay, dann sollte das Essen besser so richtig gut sein“, betonte ich motiviert. „Denn zur Weihnachtszeit ist es vollkommen in Ordnung, wenn ich mir ganz viel davon gönne~.“ „So ist's richtig!“, lobte Aurora mich. Plötzlich erschien im Chat-Fenster in der unteren linken Ecke in roter Schrift die Warnung, dass ich in wenigen Sekunden aus dem Dungeon entfernt werden würde. Offenbar hatte der Raidleiter in der Zwischenzeit die Gruppe aufgelöst, während unserer Unterhaltung. Als einzelne Person wurde man immer automatisch aus den Dungeons entfernt, warum auch immer. „Wir haben die Abschiedsrunde verpasst“, murmelte Aurora bedrückt. „Schade, ich hatte mir schon so einen tollen Spruch zurechtgelegt.“ „Heb ihn dir für nächstes Mal auf.“ „Dann passt er aber sicher nicht mehr richtig zur Situation! Habt ihr eine Ahnung, wie schwer es ist, sich immer die richtigen Worten auszudenken? Das ist richtig harte Kopfarbeit, sage ich euch!“ Asterea und ich mussten herzlich lachen, als Aurora anschließend einige niedliche Laute von sich gab, mit denen sie eigentlich verdeutlichen wollte, wie sehr sie nun schmollte. Eine verärgerte Aurora würde aber auch nur das Weltengefüge zerstören, sie war nun mal mehr der gut gelaunte Typ. Einige Sekunden später wurden wir aus dem Dungeon jeweils in die Städte zurück teleportiert, die wir als unsere Heimat ausgewählt hatten. In meinem Fall handelte es sich um das Geheimversteck der Assassinen, das unter einer uralten, verlassenen Ruine lag. Dieser Ort, der Schattenbau, war auch der Geburtsort aller Spieler der Rasse Untote, weshalb ich als Sirene eigentlich nicht hierher passte. Der Schattenbau war finster und wirkte wie eine dieser schäbigen Seitengassen voller Obdachlosen, nur in der Größe einer ganzen Stadt. Daher begegnete man einer Menge zwielichtigen NPCs und haufenweise zombieartige Wesen lungerten hier ebenfalls herum. Dafür traf man nur wenige Spieler in dieser Gegend, was angenehmer für die Augen war. Dieses hektische, unübersichtliche Gewusel in der Hauptstadt unserer Fraktion war kaum zu ertragen. Sicher waren sogar die NPCs froh über diesen Umstand, dass es hier ruhiger zuging und sie unter ihresgleichen blieben. Im Grunde war der Schattenbau nichts weiter als eine Kopie von Unterstadt aus World of Warcraft – dieses ganze MMORPG an sich konnte man als einen Klon davon bezeichnen, nur in einem japanisch angehauchten Anime-Stil. Glücklicherweise blieben wir noch von Gacha-Elementen verschont. Mein Taschengeld wurde eh schon für allerhand anderen Kram investiert, auf den man als Zocker und halber Otaku nicht verzichten wollte. „Hui, Post~“, hörte ich Aurora sagen – sie war bestimmt in der Hauptstadt, denn sie liebte die Spielermassen dort. Automatisch kontrollierte auch ich, ob ich eine Nachricht im Briefkasten hatte, und tatsächlich: Da war eine, wie mir das kleine Symbol an der Karte oben rechts vom Bildschirm verriet. Neugierig eilte ich mit meiner Assassine zum nächsten Briefkasten. „Virtuelles Schneegestöber“, las ich den Titel laut vor. Es handelte sich um die Eröffnung einer Questreihe, die zu einem speziellen Weihnachts-Event gehörte, die nur dieses Jahr stattfand. Sofort spürte ich dieses aufgeregte Kribbeln in mir. Ich liebte solche Events. Nicht nur, dass man bei denen einzigartige Gegenstände oder gar Ausrüstung bekommen konnte, ohne diese lästigen Raids, sie waren in der Regel auch kreativ gestaltet. Glücklicherweise stimmten Aurora und Asterea auf mein Bitten hin zu, die Questreihe zusammen zu starten. „Ich hab die Benachrichtigung schon bekommen, als ihr noch im Raid wart“, erzählte Asterea. „Wollte euch aber nicht ablenken, also hab ich nichts gesagt. Hatte das sogar schon fast wieder vergessen.“ „Also ist das Event geradezu noch frisch!“, platzte es begeistert aus mir heraus. Wir verabredeten uns an einem der Eingänge zu dem Gebiet, wo sich der NPC aufhielt, bei dem man vorsprechen musste: Das Goldmeer. Da jeder von uns woanders war, dauerte es wohl ein paar Minuten, bis wir alle am Ziel angekommen wären. Zielstrebig verließ ich den Schattenbau und beschwor an der Oberfläche mein Reittier, einen dunkelvioletten Panther. Während ich so durch die einzelnen Gebiete reiste, wurde mir wieder bewusst, was ich an MMORPGs letztendlich doch mochte, obwohl mich diese Competetive-Community und Raids so sehr störten: Diese offene Welt, in der man sich frei bewegen konnte – man fühlte sich wirklich wie ein Abenteurer, der mit seinen Freunden die Geschichten und Geheimnisse ergründete, die man überall entdecken konnte. In dieser Welt spielte es außerdem keine Rolle, wie ich in der Realität aussah. Hier kann ich einfach Ich sein. „Und deshalb spielst du eine dieser vermummten Assassinen, deren Ausrüstung immer komplett den Charakter bedeckt“, kicherte Asterea. Wenn man sie nicht näher kannte, hätte man das als Sarkasmus verstehen können, aber für sie war es tatsächlich lediglich eine Feststellung. Mir dagegen fiel etwas anderes auf: „Moment mal, hab ich etwa eben laut gedacht?“ „Aber sowas von!“, bestätigte Aurora amüsiert. Ich schnaubte verlegen. „Mist.“ „Du bist mal wieder richtig süß heute, du kleines Kastenbrot~.“   ***   Im Grunde war der Hintergrund der Questreihe dem vom vorherigen Jahr recht ähnlich. Ein NPC, der vermutlich den Geist des Winters darstellen sollte, hatte im Goldmeer, ein riesiges Wüstengebiet, eine Schneemaschine bauen wollen. Mit Hilfe dieser Technik wollte er den Einheimischen dort zeigen, wie weiße Weihnachten aussah. An sich eine echt niedliche und rührende Idee, doch natürlich war dabei einiges schiefgegangen und wir wurden darum gebeten, das ganze Chaos wieder zu beheben. Vom Level her gab es zum Glück kein Hindernis für Asterea, sonst hätte sie aber wahrscheinlich gar nicht erst eine Einladung zu dieser Questreihe bekommen. Ihr Charakter hatte sich in der kurzen Zeit, in der sie alleine spielen musste, kaum verändert. Sie trug noch zum Teil das Starter-Set für Magier, eine blau-weiße Robe. Das strahlend blonde Haar lag auch bei ihr wie ein Schleier über dem Rücken, was insgesamt eine perfekte Harmonie mit ihrem Outfit bildete. Wie Aurora gehörte Asterea ebenso der Rasse Mensch an. Gemeinsam erfüllten wir mühelos eine Aufgabe nach der anderen, erfreuten uns an einem unerwarteten Minigame und amüsierten uns über den unlustigen Humor des NPCs, genannt Charon, der dadurch zu vertuschen versuchte, was für Probleme er verursacht hatte. Wieder und wieder betonte Charon in seinen Texten, dass er nur ein kleines Märchen hatte erschaffen wollen, indem er es an einem Ort, wo es normalerweise keinen Winter gab, schneien ließ. Stets mit diesem freundlich sanften Lächeln auf den Lippen. Für einen gewöhnlichen NPC war Charon irgendwie überraschend individuell. Jedenfalls hatten wir eine wahrlich gute Zeit. Bis zu dem Zeitpunkt, als wir dazu gezwungen wurden uns zu trennen. Nach einer überraschenden Wendung hatte die Schneemaschine nämlich eine Art Dimensionsloch in das Wüstengebiet gerissen. Well, that escalated quickly. Right? Seltsamerweise konnte man den neuen Ort, zu dem diese Öffnung führen sollte, nur alleine betreten – nicht in einer Gruppe. Zumindest sagte das der rote Hinweistext im Chat-Fenster, sobald wir es versuchten. Ungläubig schwiegen wir für einen Moment. Jeder von uns versuchte erneut durch einen Klick auf den schwarzen Wirbel, um den mehrere goldene Sandkörner schwerelos in der Luft tanzten, doch irgendwie zusammen reinzukommen. Natürlich vergeblich. Als ob man eine Regelung so leicht durchbrechen könnte … „Menno!“, beschwerte Aurora sich empört. „Erst lassen sie uns alle Aufgaben in einer Gruppe machen und dann wird daraus ein Solo-Run gemacht?“ Auch Asterea seufzte enttäuscht. „Ein Schlag ins Gesicht für alle leidenschaftlichen Gruppenspieler.“ „Vielleicht ist es ja nur für einen kurzen Moment. Kann doch sein, dass sich da drin je nach Klasse das Event anpasst oder so“, vermutete ich. Nun, das änderte nichts an der Tatsache, die Gruppe erst mal auflösen zu müssen. Wir ergaben uns diesem Schicksal und folgten der Aufforderung des Spiels. Nun sollte jeder problemlos diesen mysteriösen Wirbel betreten können, in dem garantiert ein Event-Boss auf seine nächsten Opfer wartete. Leider wurden wir abermals vor den Kopf gestoßen. Aurora sprach es zuerst laut aus: „Hä? Ich komm trotzdem nicht rein.“ „Ich auch nicht“, schloss Asterea sich dem an, wobei sie ihre Spielfigur dazu brachte die Arme vor der Brust zu verschränken. Verständnislos starrte ich in den Wirbel hinein, als könnte ich darin die Antwort auf dieses Problem finden. Mir blieb es auch verwehrt, zu erkunden, was sich darin verbarg. Selbst der NPC Charon wusste nicht, was es mit diesem Dimensionsloch auf sich hatte, glaubte aber, dass sich dort der ursprüngliche Fehler finden lassen müsste, wegen dem seine Schneemaschine durchgedreht war. „Was soll's, langsam wird es sowieso Zeit für's Bett“, beschloss Asterea, sehr zu unserer Überraschung. Wild fuchtelte Auroras Spielfigur mit den Armen herum. „Wie jetzt? Du bist doch nicht etwa schon müde?“ „Das nicht, aber wir sollten trotzdem versuchen etwas zu schlafen. Es ist schon wieder ganz schön spät geworden.“ Widerwillig löste ich den Blick vom Bildschirm und stellte sofort fest, dass ich inzwischen im Dunkeln saß. Als ich angefangen hatte zu spielen, war es draußen noch hell gewesen. Ein prüfender Blick auf mein Handy bestätigte Astereas Aussage, denn wir hatten Mitternacht schon überschritten. Seltsam, dass mein älterer Bruder noch nicht gekommen war, um mit mir zu schimpfen, weil ich viel zu lange am Bildschirm hing. Er musste es aufgegeben haben – oder war noch zu beschäftigt. „Wenn wir nicht wenigstens ein bisschen schlafen, sind wir nicht fit genug für die Party morgen.“ Diese Erinnerung von Asterea ließ Aurora verstehend nicken. „Stimmt, so gesehen hast du recht.“ „Ich weiß, ich hab immer recht~.“ „Du bist ja auch die allwissende Sternendeuterin“, merkte ich an. „So ist es! Und eben diese allwissende Sternendeuterin sagt, dass wir diesen Bug als Wink des Schicksals verstehen und schlafen gehen sollten.“ „Bug?“, wiederholte ich nachdenklich. „Klar, was soll es sonst sein? Ich glaube kaum, dass die Entwickler bewusst eine Questreihe einbauen, die man gar nicht abschließen kann.“ „Armer Charon“, sagte Aurora mitfühlend. „Dann können wir ihm jetzt gar nicht helfen, sein Märchen wahr werden zu lassen.“ „Keine Sorge, wir müssen nur warten, bis sie das Problem gefixt haben“, beruhigte Asterea sie. „Tja, hast wohl wirklich recht.“ Einige Minuten lang gerieten wir nochmal in ein lockeres Gespräch darüber, ob so etwas wie Schnee für Einwohner in Wüsten überhaupt existierte oder nur ein Aberglaube war, wenn sie es doch gar nicht kannten. Nachdem wir festgestellt hatten, dass keiner von uns wusste, wie sich das mit dem Winter in Wüsten in der Realität verhielt, beschlossen wir, mal bei Gelegenheit Google danach zu befragen. Schließlich loggten Aurora und Asterea sich dann aus, nur ich blieb zurück. Seufzend drehte ich meinen Charakter nochmal zu Charon, der nur wenige Meter von dem Dimensionsloch entfernt stand und dieses wundersame Phänomen selbst interessiert zu betrachten schien. Eigentlich sah er gar nicht wie jemand aus, den man für den Geist des Winters halten könnte. Vom Äußeren her wirkte er wie ein gewöhnlicher Mensch. Normale Körpergröße, schlank, schlichte Kleidung und braunes, langes Haar, das er im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden trug. Einzig sein violettes Augenpaar hinter den Brillengläsern hatte etwas Magisches an sich. Womöglich lag es an der, für Menschen, ungewöhnlichen Augenfarbe, aber mir war so, als könnte ich darin etwas erkennen. Etwas, das lebendig war und unzählige Geheimnisse verbarg, die sich weit außerhalb des eigenen Vorstellungsvermögen bewegten. „Ich spiele wohl doch schon zu lange.“ Als würde Charon auf meine Worte reagieren, wiederholte er seinen einprogrammierten Text, der mir im Chat-Fenster angezeigt wurde und auch in Form einer Sprechblase über seinem Kopf erschien: Wirst du hineingehen? Ich bin sicher, die Lösung des Problems ist nahe. Wenn es jemand schaffen kann, dann du. Typische Standard-Texte, mit denen man die Motivation der Spieler steigern wollte. Jeder bekam gerne gesagt, dass man die einzige Person wäre, die alles wieder geradebiegen konnte. „Wenn es funktionieren würde, dann wäre ich längst drin!“ Zur Demonstration versuchte ich noch einmal, mit einem Klick in das Dimensionsloch zu steigen und atmete erstaunt ein, weil sich diesmal plötzlich doch etwas tat. Ein Zufall? Hatte ich etwa ausnahmsweise auch mal etwas Glück? Was auch immer es war, ich hätte in diesem Augenblick vor Freude ausflippen können. Da ich nicht wollte, dass mein Bruder doch noch in mein Zimmer stürmte, um meinen Computer auszuschalten und mir eine Predigt zu halten, beließ ich es lieber nur dabei, auf dem Bürostuhl auf und ab zu hüpfen. Gebannt starrte ich auf den Bildschirm und wartete darauf, was ich zu sehen bekäme, sobald die verschwommenen Wellen verschwanden, die den Ladevorgang für das neue Gebiet vertuschen sollten. Dann war es soweit! Das Bild gewann wieder an Schärfe und- „Ah!“ Erschrocken riss ich mir die Kopfhörer runter, um diesem ohrenbetäubende Rauschen zu entkommen. Offenbar hatte jemand ordentlich die Soundabmischung verhauen. Das war richtig unangenehm gewesen, schon fast wie ein Kratzen im Ohr. Nicht nur, dass der Sound viel zu laut war, ich musste auch heftig blinzeln, weil das Gebiet, in dem meine Spielfigur nun stand, strahlend weiß war. Im Kontrast zu der Dunkelheit, die mein Zimmer kontrollierte, schmerzte das richtig in den Augen. Erst einige Sekunden später erkannte ich, was für ein heftiger Schneesturm an dem Ort tobte, zu dem mein Charakter gebracht worden war. Weiße Flocken, überall. Sie wirbelten dicht an dicht herum, fast als wären sie in Panik. Durch diesen Schneesturm konnte man nichts anderes erkennen. Weder, wie groß die Umgebung war, noch ob und was sich darin befand. Selbst wenn ich blind herumlief half das nicht. Ich könnte die ganze Zeit gegen eine Alphawand steuern und es nicht mal bemerken. Vorsichtig hielt ich mir die Kopfhörer nochmal ans Ohr und verzog direkt das Gesicht. Hörte sich so an wie das Rauschen eines alten Fernsehers, wenn auf dessen Bildschirm auch nur Schnee zu sehen war. Dazwischen konnte ich aber eine Stimme ausmachen. Zwar musste ich mich konzentrieren, damit ich halbwegs etwas verstehen konnte, aber da redete eindeutig jemand. Die geheimnisvolle Stimme wiederholte ohne Pause ständig dieselbe Frage: Was bringt das Eis zum Schmelzen? Zuerst tippte ich auf Feuer, aber es tat sich nichts. Zumindest nicht, wenn ich es einfach nur in den offenen Chat dieses Gebiets schrieb. Keine Ahnung, was ich sonst tun sollte. Ausgerechnet dann, wenn es so richtig schön mystisch wurde, war ich schon direkt am Anfang mit meinem Latein am Ende. Ich zuckte zusammen, als mein Handy auf dem Schreibtisch vibrierte und meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Meine Freunde kannten mich wirklich gut, denn es war eine Nachricht von Asterea, mit der Aufforderung, endlich vom Spiel loszukommen und auch ins Bett zu gehen. Wahrscheinlich sollte ich ihrem Befehl besser Folge leisten. Im Spiel kam ich ohnehin nicht weiter und ich hatte schon einen langen Tag hinter mir, also loggte ich mich mitten in diesem Schneesturm aus. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass mein Gehirn sich weiter mit dieser Frage beschäftigte. Womit sollte man Eis sonst schmelzen können, wenn nicht mit Feuer? Vielleicht die Sonne? Eine Heizung? Magie? Etwas sagte mir, dass die Antwort nicht so simpel sein konnte, andere Möglichkeiten wollten mir aber nicht mehr einfallen. „Nichts zu machen. Ich hau mich hin.“ Kaum auszudenken, was für Strafen sich Aurora und Asterea einfallen lassen könnten, falls ich nicht ausgeschlafen genug sein sollte. Manchmal kamen sie mir wie mein Bruder vor, der mich mehr bevormundete und zu erziehen versuchte als meine Eltern. Ein Wunder, dass sie sich diese Mühe überhaupt noch machten. Ehrlich gesagt sah ich mich in der Zukunft schon als einsame Pennerin unter einer Brücke liegen. Ein Grund mehr, die Zeit zum Spielen ausgiebig zu nutzen, solange ich das noch tun konnte. Dankbar für die Pause fuhr mein Computer runter, während ich aufstand und mich dazu bereit machte ins Bett zu gehen. Nur flüchtig warf ich dabei einen Blick zum Fenster, der dann aber sofort darauf fixiert blieb. Mir entglitt ein überraschter Laut: Draußen hatte es angefangen zu schneien, trotz der sicheren Aussage der Wettervorhersagen, dieses Jahr müssten wir auf weiße Weihnachten verzichten. Was für ein unheimlicher Zufall … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)