A Revolution Is A Simple Thing, But Love Is Not What Revolution's For von CharleyQueens ================================================================================ Prolog: Once Upon A December ---------------------------- Far Away, Long Ago Glowing Dim As An Ember Things My Heart Used To Know Things It Yearns To Remember   „Yura, bist du noch wach?“ Viktor drückte die Türklinke zu Yuris Zimmer nach unten und betrat vorsichtig den Raum. Es war dunkel, also murmelte Viktor leise ein paar Worte. Augenblicklich erschien eine kleine, leuchtende Kugel zwischen seinen Händen, die den Raum leicht erhellte. Auf den ersten Blick erschien das Zimmer leer. Dann bemerkte Viktor, dass auf dem Bett die Decken und das Kissen fehlten. Schmunzelnd sah er sich weiter im Raum um und entdeckte schließlich die Decke, die über zwei Stühle und den Tisch gespannt und mit Büchern beschwert war, bis auf den Boden hing. Viktor schnalzte belustigt mit der Zunge, dann ging er auf die Deckenburg zu und steckte vorsichtig seinen Kopf ins Innere. Und tatsächlich, sein kleiner Halbbruder saß dort auf einem der Kissen, während er eins seiner Stofftiere umklammert hielt. „Yura, versteckst du dich etwa vor mir?“, fragte Viktor überrascht. Als Yuri ihn bemerkte, rutschte er ein Stück weg von ihm. Viktor seufzte und schob sich weiter ins Innere der Deckenburg. „Dabei hast du doch gar keinen Grund sauer auf mich zu sein“, entgegnete er. „Immerhin bin ich doch dein Lieblingsbruder.“ Yuri streckte ihm die Zunge entgegen. „Nicht mehr“, erklärte er. „Du lässt mich einfach alleine.“ Viktor setzte sich aufrecht und zog das Kissen mit Yuri zu sich. Yuri quietschte laut auf. Wütend sah er ihn an. „Geh weg!“, verlangte er und warf das Plüschtier nach Viktor. Viktor fing es und hielt es gegen seine Brust. „Oh, Yura. Du hast mich getroffen“, jammerte er theatralisch und warf sich nach hinten. „Ich … ich glaube nicht, dass ich es noch schaffe. Mein lieber Yura, ich sehe schon das Licht.“ Yuri rollte mit den Augen. „Du bist ein verdammt schlechter Schauspieler“, meinte er dann und kicherte trotzdem. Zufrieden setzte sich Viktor wieder auf und betrachtete das Plüschtier in seinen Händen. Es fiel ihm ja selbst schwer, wieder zurückzukehren. Jedes Mal, wenn er nach den Ferien zurückkehrte, brach es ihm am Ende das Herz, Yuri zurückzulassen. Nachdenklich betrachtete er das Plüschtier in seinen Armen. Es war Yuris ältestes Plüschtier, eine Katze, die auch schon bessere Tage gesehen hatte. Ein Geschenk von Viktor, als Yuri gerade mal ein paar Monate alt war. Das einst strahlende Schwarz war verblasst und ein Auge fehlte. Aber wann immer man Yuri sagte, dass er dieses alte Plüschtier doch wegwerfen sollte, reagierte er trotzig und weigerte sich. Viktor drehte das Plüschtier in seinen Händen und murmelte wieder ein paar fremdartig klingende Worte. Augenblicklich wurde das graue Fell wieder zu dem Schwarz, dass es einmal gewesen war und ein Knopfauge erschien auf magische Weise. Zufrieden reichte er Yuri das reparierte Plüschtier. „Wenn du artig bist, werde ich dir eine echte Katze schenken, wenn wir uns nächstes Mal sehen“, versprach er ihm. Yuri blinzelte mehrmals, sein Mund zu einem „O“ geformt. Dann sprang er eilig auf und warf sich Viktor um den Hals. „Oh, wirklich, wirklich, wirklich?“ Viktor lächelte und drückte Yuri dann an sich. „Aber natürlich. Als Zarewitsch würde ich niemals ein Versprechen brechen. Und vor allem keins, dass ich meinem liebsten Bruder gemacht habe.“ Yuri kicherte und drückte das Plüschtier an sich. „Willst du wissen, wie ich sie nennen werde?“ Grinsend blickte er zu Viktor auf. „Aber natürlich.“ Viktor beugte sich vor, sodass Yuri ihm die Worte besser ins Ohr flüstern konnte. „Wirklich?“ Viktor sah ihn erstaunt an. „Ein interessanter Name.“ Yuri gähnte laut. „Es wird meine Katze, also kann ich sie so nennen, wie ich will“, erklärte er leise. Ein weiteres Gähnen. Viktor summte ein Schlaflied und streichelte immer wieder mit dem Finger über Yuris Stirn und seine Nase. „Hmm, Vik…“ murmelte Yuri noch, dann fiel sein Kopf gegen Viktor. Dieser murmelte erneut ein paar Worte und die Decke über ihren Köpfen hob sich von ihrem Platz, während zeitgleich die Bücher zurück ins Regal schwebten. Viktor stand auf, während er Yuri und das Kissen in den Armen hielt und trug ihn zum Bett. Vorsichtig legte er Yuri auf die Matratze und schob das Kissen unter seinen Kopf. Wenn Yuri einmal schlief, hatte er einen festen Schlaf, aber trotzdem wollte Viktor nichts riskieren und ihn wieder wecken. Er griff nach der noch immer schwebenden Decke, löste den Zauber auf, der sie zum Schweben gebracht hatte, und deckte Yuri dann zu. „Schlaf gut, kleiner Prinz“, flüsterte er ihm zu und drückte dann einen sanften Kuss auf seine Stirn. Yuri grummelte leicht im Schlaf und schmiegte sich enger an seine Plüschkatze. Viktor wäre gerne noch geblieben, doch der Zug nach Parizh würde bald abfahren. Also verließ er das Zimmer wieder. „Yakov, du hast auf mich gewartet.“ Er setzte ein Lächeln auf, als er den alten Mann im Flur sah. Yakov diente der Familie seit Viktor klein war. Er gehörte der zaristischen Armee an und beschützte die Zarenfamilie seit jeher. Als Viktor auf ihn zutrat, salutierte er ihm. Viktor lachte leicht. „Yakov, du weißt doch, dass du die Etikette vergessen sollst, wenn wir alleine sind. Bist du nicht General? Vor wem solltest du dich fürchten, wenn du dich nicht an die Regeln hältst?“ Yakov hob fragend eine seiner buschigen Augenbrauen und griff nach dem Koffer, der neben der Tür stand. „Euer Großvater, seine Majestät, zum Beispiel“, murmelte Yakov. Gemeinsam gingen sie den Flur entlang und verließen den Palast durch einen Seitenausgang. Das Auto wartete bereits auf ihn. Ein unscheinbarer, schwarzer Wagen. Es war Yakovs Idee gewesen. Niemand würde vermuten, dass der Zarewitsch in so einem Auto unterwegs sein würde. Viktor seufzte schwer, während Yakov den Koffer verstaute. Der Weg zum Bahnhof war nicht weit vom Palast, eine Strecke, die er normal auch zu Fuß gegangen wäre. Doch seit Wochen herrschte Unruhe in Rossiya. Gerüchte einer Revolution waren im Umlauf. Viktor ließ seinen Blick durch die Gegend gleiten. Die Stadt war ruhig, seit Zar Nikolai das Ausgeh- und Versammlungsverbot erteilt hatte. Und doch, Viktor war sich bewusst, dass sich die Rebellen trotzdem irgendwo trafen. Er konnte es ihnen nicht übelnehmen, auch wenn er wusste, dass es lächerlich war. Die Ausbildung in den magischen Künsten war nun einmal dem Adelsgeschlecht vorbehalten. Und weil sie Magie beherrschten, waren sie der Adel. So war es seit Jahrtausenden gewesen und so würde es immer sein. „Vitya?“ Yakovs Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte die hintere Tür des Autos geöffnet. Viktor sah ihn blinzelnd an und lächelte dann sanft. Solange Yakov da war, musste er sich keine Sorge machen. Er beugte sich vor und drückte ihm einen Abschiedskuss auf die Wange. „Pass auf Yuratchka auf, versprochen?“, bat Viktor ihn beim Einsteigen in den Wagen. Dann nickte er dem Fahrer zu. „Aber natürlich, mein Prinz“, versprach Yakov und schloss dann die Tür. Der Wagen fuhr los.   *   Yuri war müde. Er hatte einen wunderbaren Traum gehabt. Seine Plüschkatze war auf einmal lebendig und riesengroß geworden. Yuri war auf ihr zu der Universität von Viktor geritten und hatte Viktor dort aus den Fängen eines Kraken befreit, der das Gesicht seines eigenen Hauslehrers hatte. Gemeinsam waren sie dann auf der Katze zur Sonne gelaufen, die eigentlich nur ein riesiger Keks war. Ein lauter Knall ließ ihn zusammenzucken und er stieß das Glas Milch um. „Maman, entschuldige bitte“, murmelte er und sah zu seiner Mutter. Yakov eilte aus dem Zimmer, in dem sie ihr Frühstück zu sich nahmen. Seine Mutter, Fürstin Sophia sah panisch zu ihrem Vater auf und ignorierte das umgefallene Glas. „Papa, was war das?“, fragte sie ängstlich. „Sind das die Rebellen?“, „Oh, Marie, hör auf mit diesem Unsinn, hier können sie nicht rein!“ „Maman, ich will nicht sterben!“ Seine drei älteren Schwestern sprachen durcheinander. „Seid ruhig!“, befahl Nikolai und mit einem Schlag verstummten sie. Er griff nach seinem Tee und trank einen Schluck. Die Tür öffnete sich und Yakov trat wieder ein. „Sprich, mein alter Freund“, forderte Nikolai ihn auf. „Die Rebellen“, erklärte Yakov. „Sie sind in den Palast eingedrungen.“ Yuri schlug die Hände vor den Mund. Er hatte von ihnen gehört, von den Rebellen, die eifersüchtig auf ihre Magie waren. Neben ihm brach Katherina in Tränen aus. „Werden wir jetzt sterben?“, fragte sie laut. „Natürlich nicht“, beruhigte ihr Großvater sie. „Yakov, wohin?“ „In Eurem Arbeitszimmer ist ein Dienstbotengang versteckt“, antwortete Yakov. „Dieser führt in den Keller und dann in einen Tunnel zum Stadtrand. Wartet im Keller auf mich. Ihr müsst einfach nur die linke Laterne neben dem Porträt zur Seite drehen.“ Nikolai runzelte seine Stirn. „Wieso habe ich noch nie etwas von diesem Gang gehört?“ „Eure Majestät, es ist nicht Eure Aufgabe, die Wege der Angestellten zu kennen und je weniger Leute von diesem Tunnel wissen, desto besser“, erinnerte Yakov ihn. „Meine Männer halten die Rebellen so gut es geht auf, aber trotzdem müsst Ihr fort von hier.“ „Aber natürlich.“ Sophia stand auf und augenblicklich sprangen Yuri und seine Schwestern ebenfalls von ihren Plätzen. Katherina und Marie eilten um den weißen Frühstückstisch, um ihrem Großvater beim Aufstehen zu helfen. Es war ein Wunder, dass sie es in den zweiten Stock ins Arbeitszimmer schafften, ohne dabei den Rebellen zu begegnen. In der Ferne waren Schüsse und Schreie zu hören. „Maman, ich will nicht sterben“, jammerte Marie erneut. Yuri rollte mit den Augen. Sie würden nicht sterben, wenn sie sich nur beeilten.   *   Yuri trat auf seinen Großvater zu, der gerade damit beschäftigt war, an der Lampe zu drehen. Oder eher gesagt, es versuchte, die Lampe zu drehen. „Was ist los, Papa?“ Die Fürstin sah ihn fragend an. Erneute Schüsse. Yuri zuckte zusammen und klammerte sich am Bein seines Großvaters fest. Katherina, Marie und Nadia hatten sich zusammengekauert. Nadia betete unaufhörlich. „Die Lampe lässt sich nicht drehen“, erklärte Nikolai seiner Tochter. „Vielleicht hat Yakov einen Fehler gemacht“, überlegte sie und griff dann nach der Lampe auf der rechten Seite. Mehrmals versuchte sie diese zu drehen, doch vergeblich. „Maman, warum gehen wir nicht weiter?“, fragte Marie ängstlich. Doch ehe sie antworten konnte, wurde die Tür mit einem Schlüssel geöffnet. Drei Männer traten herein. Sie trugen alle einen roten Mantel, auf dem das Wappen der Rebellenarmee prangte – ein zerbrochener Zauberstab. Ihre Gesichter waren hinter schwarzen Masken versteckt. „Was wollt ihr hier?“ Nikolai trat auf sie zu, die Hände erhoben. Er murmelte eine Zauberformel, doch nichts geschah. Fassungslos starrte er auf seine Hände. „Was?“ „Alter Mann, deine Zaubersprüche werden dir nicht helfen, solange das Gift in deinem Körper ist“, meinte einer der Rebellen spöttisch. „Hat der Tee gemundet?“ Nikolai erstarrte. Seine Enkelkinder beherrschten ihre Magie noch nicht und auch, wenn Katherina ein hervorragendes Talent hatte, so würde ihre Magie nicht gegen vier Erwachsene ankommen. Seine Tochter Sophia hatte seit dem Tod ihres zweiten Ehemanns – Yuris Vater – nicht mehr gezaubert und auch sie hatte von dem Tee getrunken. Den Tee, den Yakov ihnen eingeschenkt hatte. Sein Blick huschte über die vier Rebellen. Zwei von ihnen waren dürr und schlaksig, der Mann, der ihn angesprochen hatte, breit und muskulös. Doch der vierte Rebell hatte die gleiche Statur seines Freundes. Nikolai seufzte und trat dann vor seine Familie. „Ist es das, was ihr wollt?“, fragte er laut. „Wenn ich als Zar abdanken soll, dann tue ich das hiermit.“ Der Anführer der Rebellen spuckte ihm ins Gesicht. „Denkst du wirklich, dass du und deine Familie so einfach davonkommen?“ Seine Tochter schnappte nach Luft und Yuri stürzte nach vorne, hätte Nikolai ihn nicht aufgehalten und nach hinten gegen Sophia gedrückt. „Halt ihn fest!“, befahl er ihr. „Gut, ihr wollt mich. Ich bitte euch, lasst meine Familie gehen. Dann werde ich mit euch gehen.“ Erneut lachte der muskulöse Soldat. „Ich sagte doch, du und deine Familie werden nicht so einfach davonkommen.“ Er trat wieder nach hinten und nahm dann das Gewehr von seinen Schultern. „Die Magie muss sterben, wenn sie nicht jedem gehören kann!“, erklärte er laut. „Wir haben lang genug unter euch gelitten. Und wir werden jeden Adligen, jeden mit Magie auslöschen, wenn es sein muss. Rossiya wird in ein neues Zeitalter eintreten. Ein Zeitalter ohne Magie.“ „Ein Zeitalter ohne Magie?“, wiederholte Nikolai die Worte fassungslos. „Ihr seid wahnsinnig. Hier sind Kinder. Kinder, die ihre Magie noch nicht einmal wirklich beherrschen.“ „Aber sie besitzen Magie!“, entgegnete der Rebell und lud sein Gewehr nach. „Das ist genug.“ Dann richtete er das Visier auf die Zarenfamilie. Die anderen drei Rebellen taten es ihm nach. Nur einer zögerte kurz, ehe er sein Gewehr anhob. Marie weinte unaufhörlich. Yuri war wieder zu ihm gestürzt und seine kleinen Finger gruben sich in sein Hosenbein. Nikolai tätschelte sanft den Kopf seines Enkels. „Alles wird gut“, versprach er ihm. „Mach deine Augen zu, Yuratchka.“ Yuri schniefte und gehorchte dann. Nikolai seufzte und ließ seinen Blick über seine Familie gleiten. Seine Tochter Sophia, die Jüngste, während seine anderen Kinder noch in der Krippe gestorben waren. Seine drei Enkeltöchter, Katherina, Marie und Nadia, alle nur ein Jahr auseinander und vom Charakter alle unterschiedlich. Yuri, sein jüngstes und liebstes Enkelkind. „Warum, mein alter Freund?“, fragte Nikolai schließlich und richtete seinen Blick auf den Rebellen, hinter dessen Maske er Yakov vermutete. Der Rebell zuckte zusammen. Für einige Minuten starrten sie sich einfach nur an. Dann trat der Rebell nach vorne und zerrte Yuri zu sich. Yuri schrie und trat um sich und beschimpfte den Rebellen mit Worten, für die er sich sonst tagelangen Hausarrest eingehandelt hätte. „Und wo genau willst du mit diesem Balg hin, Feltsman?“, fragte der muskulöse Rebell. „Er ist gerade mal sechs Jahre alt, Altin!“, bellte Yakov und hinter Nikolai schnappten Sophia und ihre Töchter nach Luft, als sie die Stimme erkannten. „Du hast selbst einen Sohn und würdest nicht wollen, dass er so etwas mit ansieht. Ich erledige ihn im Nebenzimmer.“ Altin starrte ihn stumm an und rollte dann mit den Augen. „Du bist verweichlicht“, murmelte er und trat dann zur Seite, um ihn durchzulassen. Nikolai ballte die Hände zu Fäusten, um sich zu wappnen. Dann schoss jemand, drei Mal hintereinander und jedes Mal setzte sein Herz aus. Sophias Schrei nach ihrem Sohn zerriss ihn innerlich. Marie, Nadia und Katherina weinten laut. Yakov kehrte zurück. An seiner Hand hatte er Bissspuren und Nikolai unterdrückte ein Lächeln. Yuri war eine Kämpfernatur. Selbst in seinen letzten Atemzügen hatte er nicht aufgegeben. „Auf das Ende der Magie!“, befahl der Rebell namens Altin und dann fielen die Schüsse.   *   Nach der Hinrichtung hatten sie dem Volk den Leichnam des letzten Zaren präsentiert. Es hatte weitere Aufstände gegeben. Adlige, die versuchten zu fliehen und gefangen genommen wurden. Doch nun war es spät in der Nacht, der Palast war leer und Yakovs Schritte hallten durch die Gänge. Er hatte nicht gewollt, dass es so weit kam. Ihr Plan war gewesen, den Zar abzusetzen und die restliche Zarenfamilie sollte aus dem Land verbannt werden. Nie war die Rede davon, dass sie die Zarenfamilie hinrichten würden. Doch als er Altin und den anderen Rebellen Zutritt zum Palast gewährte, hatte dieser ihm von der Planänderung erzählt. „Yuri?“ Er schloss die Tür auf und betrat das kleine Nebenzimmer direkt neben Nikolais Arbeitszimmer. An der Wand zum Arbeitszimmer stand eine weiße, mit Floralornamenten bemalte Truhe. Yakov kniete sich nieder, die Öllampe hielt er dabei mit der einen Hand fest, während er mit der anderen den schweren Deckel anhob. Yuri lag schlafend auf den Wintermänteln. Yakov seufzte schwer. Er wusste nicht, was ihn dazu getrieben hatte, Yuri zu retten. War es das Versprechen, dass er Viktor gegeben hatte oder der verurteilende Blick seines alten Freundes Nikolai? Er wusste nur, dass er es getan hatte. Genauso, wie er darauf gedrängt hatte, dass Viktor eine Nacht früher als geplant zurück nach Parizh reiste. Er konnte nur hoffen, dass Viktor nichts Dummes tat und keinen Fuß mehr nach Rossiya setzen würde. Yuri könnte er verstecken, seine Magie würde schon bald erblassen. Viktor würde die Magie wiedererwecken, wenn er zurückkehrte. „Yuri, wach auf!“ Er schüttelte den kleinen Jungen sanft an der Schulter. Yuri grummelte und schlug seine Augen auf. Blinzelnd sah er sich um und setzte sich dann auf. „Wer ist Yuri?“, fragte er verwundert. Yakov runzelte die Stirn. Das Licht der Öllampe fiel auf die Hinterwand der Truhe und er bemerkte das Loch. Eilig beugte er sich nach unten und sah hindurch. Er schnappte nach Luft, als er das Arbeitszimmer sah. „Yuri“, entgegnete er und stand wieder auf. „Yuri, das ist dein Name.“ Yuri sah ihn verständnislos an. „Warum kann ich mich nicht erinnern?“ „Es ist egal“, murmelte Yakov und hob Yuri hoch. Es war besser, wenn Yuri sich nicht erinnerte. „Komm, lass uns gehen.“ Kapitel 1: A Rumor In St. Petersburg ------------------------------------ It’s A Rumor, A Legend, A Mystery Something Whispered In An Alleyway Or Through A Crack It’s A Rumor That’s Part Of Our History   10 Jahre später   Yuris Magen knurrte. Er zog seinen Schal über Nase und Mund und drückte seine Hände gegen seinen Bauch, um so das Knurren zu unterdrücken. Wann hatte er das letzte Mal etwas gegessen? Es war zulange her. Yuri schleppte sich weiter, stieß dabei immer wieder mit anderen Passanten zusammen. Erzürnte Beschimpfungen folgten ihm, während er den Geldbeutel tief in den Taschen seines übergroßen Mantels versteckte. Es war Markttag, also der perfekte Zeitpunkt um an ein bisschen Geld zu kommen. Der Platz war voll mit Menschen verschiedenen Alters, die ihre Einkäufe erledigten. Aber sein Magenknurren würde ihn noch umbringen und Yuri hatte nicht vor, an Hunger zu sterben. Suchend blickte Yuri sich um. Einer der Obsthändler unterhielt sich gerade aufgeregt mit einer Kundin, die sich über den erhöhten Preis der Äpfel beschwerte. Langsam ging er auf den Stand zu. Der Händler schimpfte laut, dass die Kundin ja auch einfach keine Äpfel kaufen bräuchte. Yuri sah sich um. Niemand schien sich für ihn zu interessieren, aber das war er gewöhnt. Die Leute achteten nur auf sich selbst. Höchstens noch auf ihre Familie. Aber gewiss nicht für einen sechzehnjährigen Straßenjungen. Immerhin war Yuri nicht das einzige Straßenkind. Flink schnappten sich seine Finger einen der Äpfel und schoben diesen in seine Manteltasche neben den Geldbeutel und die Plüschkatze. Niemand bemerkte ihn. Zufrieden mit sich selbst ging Yuri weiter. Erst einige Stände holte er den Apfel wieder raus, säuberte ihn an seinem Mantel und nahm dann einen Bissen. Er verzog das Gesicht, als die Säure des Apfels seinen Mund ausfüllte. Er mochte die süßen Äpfel viel lieber. Aber er konnte nicht meckern. Hauptsache, es war etwas zu essen. Er wollte einen weiteren Bissen nehmen, als sich plötzlich eine Hand um sein Handgelenk schlang und ihn grob packte, sodass er vor Schreck den Apfel in eine Pfütze fallen ließ. „Und wo genau hast du diesen Apfel eigentlich her?“, fragte ein junger Mann. Yuri blickte auf und erschrak, als er die rote Uniform sah. Es war einer der Soldaten der rossiyanischen Regierung. Yakov hatte ihn gewarnt, dass er diese Menschen meiden sollte. Und nun hatte ausgerechnet einer der Roten Soldaten ihn geschnappt. Yuri hatte die Gerüchte gehört, von den Menschen, die etwas gegen die Regierung sagten und dann über Nacht einfach verschwanden. Von Spionen, die an jeder Ecke lauerten. „Lass mich!“, fluchte Yuri und seine freie Hand fuhr in seine Manteltasche, auf der Suche nach etwas, mit dem er den Anderen abwerfen konnte. „Arschloch!“, schimpfte er und warf den Geldbeutel nach dem jungen Soldaten. Der Geldbeutel traf ihn im Gesicht und fluchend ließ der junge Mann Yuri los. Yuri stolperte einige Schritte nach hinten und stürzte dann davon. „Verdammter Mist!“, schimpfte er. Er hatte nicht nur sein Essen, sondern auch das gestohlene Geld verloren. Und auf den Markt zurück konnte er nicht. Sicher würde der Kerl dort nach ihm Aussicht halten. „Stehen bleiben!“, erklang die Stimme des Soldaten hinter ihm. Verdammt, der Kerl ließ nicht locker. Yuri sprang über eine kleine Mauer und eilte über die Straße. Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass er immer noch verfolgt wurde. Der alte Zarenpalast kam näher. Gerüchten zufolge spukte es dort. Nun, Geister waren Yuri allemal lieber als ein Roter Soldat. Die Kette, die um die Palasttore gewickelt war, war fest und stabil und Yuri nutzte sie als Stütze, um über das Tor zu klettern. Mit einem Plumps landete er auf der anderen Seite. Grinsend blickte er sich um und streckte dem Soldaten die Zunge entgegen, dann lief er weiter und umrundete den Palast. Sicher waren die Vordereingänge zu, aber vielleicht bestand ja die Möglichkeit, dass einer der Hintereingänge noch offen war oder dass er ein Fenster einschlagen konnte. Yuri blieb stehen, als er eine eingeschlagene Glastür entdeckte, die nur mit Holzplatten bedeckt war. Hektisch trat er gegen die Platten, bis sie sich lösten und Yuri sich ins Innere des Palasts schob. Er befand sich in einem weißen Raum, dessen Wände mit Efeu bedeckt war. In der Mitte stand ein weißer Tisch, umrundet von sechs Stühlen. Ein Glas war umgekippt und eine dicke Staubschicht lag auf dem Geschirr. Yuri schluckte nervös. Die Zarenfamilie war beim Frühstück gewesen, als die Rebellen den Palast gestürzt hatten. War dies der Raum, wo sie gesessen hatten? Das Knirschen der Steine und das Geräusch sich nähernder Schritte ließ Yuri zusammenzucken. „Gibt dieser Kerl denn nie auf?“, schimpfte er erneut und verließ den Raum. Yuri blickte den Flur hinauf und hinunter und rannte dann nach rechts weiter. Die Tapete war verblasst und hing in Schlieren von der Wand. Am Ende des Ganges wartete nur eine Treppe, die nach oben führte. Yuri eilte die Stufen nach oben ins nächste Stockwerk und dann den Flur entlang. In der Mitte des Flures war eine Flügeltür, die eine Seite stand leicht offen. Er quetschte sich durch die Tür, als er die näherkommenden Schritte hörte. Die Tür fiel ins Schloss und Yuri atmete erleichtert auf. Hier würde er ihn sicher nicht finden. Langsam ging Yuri die Treppe hinunter. Er befand sich in einem Ballsaal. Riesige Kronleuchter hingen an der Decke. Die Treppe, die er nun hinunterging, war einst die Treppe, die die Zarenfamilie benutzt hatte, um ihre Bälle zu betreten. Verwundert runzelte Yuri die Stirn. Woher wusste er das? Neugierig blickte er sich um. Am anderen Ende des Raumes war eine weitere Flügeltür, durch diese mussten bestimmt die anderen Gäste kommen und gehen. Sicher musste dieser Saal einmal wunderschön gewesen sein. Yuri konnte es regelrecht vor sich sehen. Die Musikanten in der Ecke und all die Menschen in prächtigen Kleidern. Es kam Yuri beinahe so vor, als könnte er sie wirklich sehen. Paare, die wie Rauch durch seinen Sinn, dahintanzten. Er blinzelte und das Bild verschwand. Yuri war alleine im Saal. Ein dicker Holzbalken versperrte den Ausgang. Yuri schluckte. Wenn der Soldat ihn fand, saß er in der Falle. Der Raum war leer und es gab keine Möglichkeit, sich zu verstecken. „Habe ich dich endlich gefunden!“, ertönte die Stimme des Soldaten hinter ihm. Yuri wirbelte herum. Der junge Mann, der ihn verfolgt hatte, kam nun langsam die Treppen runter. Yuri stolperte nach hinten, bis er gegen die Wand stieß. Es gab keinen Ausweg. Nun, zumindest würde er Yakov wiedersehen. Und vielleicht auch seine eigene Familie. Der junge Soldat stieg die Treppe hinab und durchquerte dann den Ballsaal. Kurz vor Yuri schob er seine Hand in seine Jackentasche. Yuri wollte sagen, dass er doch nur einen Apfel gestohlen hatte und es sicher nicht verdiente, deshalb erschossen zu werden. Doch dann zog der junge Mann etwas in Papier Eingewickeltes heraus und packte es auseinander. „Hier“, forderte er ihn auf und hielt Yuri das belegte Brot entgegen. Yuri sah fassungslos auf die dicken Brotscheiben, zwischen denen er eine Scheibe Wurst entdeckte und dann zu dem jungen Soldaten. Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes war stoisch und ernst. So von Nahem betrachtet sah er eigentlich ganz gut aus. Seine Seiten und sein Hinterkopf waren rasiert, das restliche schwarze Kopfhaar war nach hinten gekämmt. Breite Schultern und ein scharfer Kiefer, mit dem er jemanden töten könnte. Breite, geradlinige Augenbrauen. Wäre er kein Roter Soldat, hätte Yuri ihn sicher angesprochen. „Es ist schon nicht vergiftet“, fügte der Soldat hinzu und biss dann ein kleines Stück ab. „Siehst du?“ Yuri zögerte. Er hatte solchen Hunger, aber vielleicht war das auch nur ein Trick, um ihn wieder einzufangen. Der junge Soldat schien Yuris Gedanken erraten zu haben, denn plötzlich legte er das Brot mit Papier vorsichtig auf den Boden und trat dann mehrere Schritte nach hinten. Er hob beide Hände hoch und Yuri schnappte sich das Brot. Verdammt, war das lecker. Es war einfach nur trockenes Vollkornbrot mit einer viel zu harten Scheibe Wurst und doch war es das Beste, was Yuri seit Tagen gegessen hatte. Stöhnend setzte er sich hin, ließ sich Zeit beim Kauen. Doch schließlich war das Brot aufgegessen. Yuri blickte entschuldigend zu dem jungen Soldaten. „Das war keine Absicht“, murmelte er. „Ich wollte dir nicht deine Mahlzeit wegessen.“ „Alles gut“, winkte der junge Mann ab und setzte sich dann ebenfalls hin. „Ich habe es dir schließlich angeboten.“ Yuri runzelte seine Stirn. Sicher würde der Soldat ihn nicht einfach so wieder gehen lassen. Er hatte keine Möglichkeit zu fliehen und noch einmal konnte Yuri ihn bestimmt nicht überraschen. Wieso also nahm der Kerl ihn nicht fest? „Otabek Altin“, sprach der Soldat plötzlich. „Das ist mein Name.“ Altin. Der Name löste eine Erinnerung in ihm aus, doch je weiter Yuri versuchte nachzudenken, desto mehr schmerzte sein Kopf. „Yuri“, entgegnete er schließlich. „Yuri und weiter?“ Otabek sah ihn interessiert an. Er zuckte mit den Schultern. „Einfach nur Yuri. Yakov meinte, ich habe meine Erinnerung verloren“, erzählte er. „Ich weiß nicht, woher ich komme.“ „Und dieser Yakov wusste es auch nicht?“ Yuri zögerte. Er durfte diesem Otabek nicht zu viel erzählen. Ein falsches Wort und er würde am Pranger stehen. „Nein“, entgegnete er nur. Otabek blickte ihn für mehrere Sekunden einfach nur an, sein Blick intensiv. „Warum lügst du, Yuri?“ Yuri rollte die Augen. „Du bist dümmer, als du aussiehst, wenn du denkst, ich würde jemandem wie dir mehr über mich erzählen.“ Otabek schmunzelte leicht und irgendwie fühlte es sich gut an, dass Yuri diese Emotion aus ihm herausgelockt hatte. Dann öffnete er die Knöpfe seiner roten Uniformsjacke, zog sie aus und warf sie hinter sich. „So. Jetzt bin ich nur Otabek“, erklärte er. „Und alles, was du mir sagst, wird niemand sonst erfahren, versprochen.“ Yuri sah ihn fassungslos an. Es war kalt im Schloss und sicher musste Otabek nun frieren. „Yakov sagte mir, ich hätte Verwandtschaft in Parizh“, murmelte er. „Aber ich weiß nicht, wer und wo genau. Er starb, ehe er mir mehr sagen konnte.“ „Das tut mir leid für dich.“ „Muss es nicht“, erwiderte Yuri. „Nach seinem Tod habe ich erfahren, dass er zu den Rebellen gehörte. Ich habe seine alte Uniform gefunden. Ich hasse ihn.“ „Wieso? Die Zarenfamilie hat verdient, was sie bekommen hat.“ Yuri sah ihn wütend an. Doch ehe er etwas sagen konnte, sprach Otabek weiter. „Das war, was mein Vater jeden Tag zu sagen pflegte. Serik Altin gehörte zu der Gruppe Rebellen, die damals die Zarenfamilie erschossen hatte.“ Yuri schluckte. Deshalb kam ihm der Name also so bekannt vor. „Du solltest wirklich nicht stehlen“, erklärte Otabek ihm. Yuri rollte mit den Augen. Wenn die Regierung nicht wollte, dass er stahl, dann sollte sie ihn nicht verhungern lassen. „Nächstes Mal wirst du vielleicht nicht so leicht davonkommen.“ Er stand auf und ging dann zu seiner Jacke, hob diese vom Boden auf. „Der Palast ist leer“, murmelte er mehr zu sich selbst als zu Yuri. „Und in den Gängen gibt es sicher viele Orte, an denen man sich verstecken kann. Immer noch besser, als unter der Brücke zu schlafen. Yuri blinzelte. Hatte Otabek ihm gerade vorgeschlagen, im Palast zu leben? Doch ehe er etwas sagen konnte, hatte dieser seine Jacke auch schon wieder angezogen. „Warum?“, fragte Yuri zynisch. „Warum bist du so nett zu mir? Was willst du von mir?“ Denn wenn er eines auf der Straße gelernt hatte, dann das solche Dinge immer ihren Preis hatten. „Es sind deine Augen“, entgegnete Otabek schließlich und hob den Holzbalken von der Halterung ab. „Du hast die Augen eines Soldaten. Warte morgen früh im Frühstückssaal auf mich, dort wo du reingekommen bist. Ich werde dir etwas zu essen bringen. Dann musst du nicht mehr stehlen.“ Yuri blinzelte, doch ehe er etwas sagen konnte, war Otabek auch schon wieder verschwunden. Kapitel 2: The Neva Flows ------------------------- I Heard The Shots. I Heard The Screams. But It’s The Silence After I Remember Most. The World Stopped Breathing And I Was no Longer A Boy.   Die Augen eines Soldaten. Otabek starrte an die Decke über ihm. Sie war mit Wasserflecken bedeckt und an einigen Stellen löste sich die Tapete. Es war keine Lüge gewesen, was er zu Yuri gesagt hatte. Er hatte wirklich die Augen eines Soldaten. Erst auf dem Rückweg, als er am Familienporträt der Zarenfamilie Nikiforov-Plisetsky vorbei ging, fiel es ihm auf. Der jüngste Enkel saß auf dem Schoß des Zaren. Grüne Augen blickten ihm stolz entgegen. Grüne Augen, die beinahe schon etwas Soldatenhaftes an sich hatten. Yuri hatte die Augen der Zarenfamilie. Aber das war lächerlich. Auf der anderen Seite seines Zimmers, dass er sich mit einem Kollegen teilte, murmelte dieser leise etwas im Schlaf und rutschte unruhig hin und her, sodass sein Bett laut quietschte. Die Zarenfamilie war tot. Nein, das stimmte nicht. Viktor Nikiforov-Plisetsky lebte noch. Aber seit der Hinrichtung hatte der Prinz keinen Fuß mehr in sein Land gesetzt. Die Monarchie war verboten und wenn Viktor auch nur die Grenze überschritt, würde man ihn ebenfalls hinrichten. Er lebte in Frantsariya unter dem Schutz der Herrscherfamilie Giacometti. Der Zufall hatte es gewollt, dass Viktor einen Tag vor dem Angriff abgereist war. Otabeks Vater hatte oft genug geschimpft, wie sehr er es hasste, dass Viktor noch lebte. Wie er einfach selbst nach Frantsariya ziehen würde, um auch den letzten der Nikiforov-Plisetskys zu töten. Doch sein Bein war schlecht, seit es angeschossen worden war. „Versprich es mir, Beka“, hatte er auf seinem Sterbebett gesagt und seinen einzigen Sohn flehend angesehen. „Mein Sohn, versprich mir, dass du es zu Ende bringst. Die Nikiforov-Plisetskys müssen alle vernichtet werden. Viktor und …“ Er hustete und spuckte dabei Blut. „… und das Gerücht, dass der jüngste Sohn ebenfalls überlebt hat.“ Und Otabek hatte es ihm versprochen. Genau, wie er Soldat geworden war, weil sein Vater es von ihm erwartete. Dass er Yuri sein Brot gegeben hatte, war das erste Mal, dass er selbstständig gehandelt hatte. Er hatte selbst nicht verstanden, wieso er so etwas getan hatte. Die Straßen Sankt Peterburgs waren voll mit hungernden Jugendlichen, die täglich stahlen um an Essen oder Geld zu kommen. Aber etwas in Yuris Augen, die ihn so voller Hass angestarrt hatten, hatte etwas in Otabek ausgelöst, dass er sich selbst nicht erklären konnte. Otabek drehte sich auf die Seite und blickte aus dem Fenster. Er hatte von seinem Zimmer einen guten Blick auf die Newa, der Fluss der durch die Hauptstadt floss. Wenn sein Vater damals nicht gehandelt hätte, dann würden sie noch immer unter der Tyrannei der Magie leiden. Familien würden auseinandergerissen werden, weil der Zar jeden zum Adligen erklärte, der selbst Magie besaß. Oft genug floss Magie innerhalb einer Familie, doch von Zeit zu Zeit kam es vor, dass jemand aus einer nicht-magischen Familie plötzlich diese Fähigkeiten entwickelte. Die meisten versuchten, ihr Talent zu verbergen. Der Kontakt eines magischen Menschen zu seiner nicht-magischen Familie war strikt verboten. Und die Zarenfamilie waren die mächtigsten Zauberer im Land gewesen. Der Zar war der Anker der Magie und solange er lebte, würden immer neue magische Menschen geboren werden. Sie mussten sterben. Das war die einzige Lösung gewesen, so die Worte seines Vaters, als er wieder nach Hause kam. Es wird Zeit, dass du erwachsen wirst, Otabek. Und seit zehn Jahren war die Magie am Aussterben. Wer noch immer Magie besaß, floh aus dem Land oder versteckte sich. Wer gefangen genommen wurde, saß entweder im Gefängnis oder wurde hingerichtet. Sie machten vor niemandem Halt. Die Enkelkinder des Zaren Nikolai waren sechzehn, vierzehn, dreizehn und … Yuri Nikiforov-Plisetsky war gerade einmal sechs Jahre alt gewesen. Würde er noch am Leben sein … Dann wäre er in etwa so alt wie Yuri. Das waren Hirngespinste. Yuri Nikiforov-Plisetsky war mit dem Rest seiner Familie gestorben. Aber, meldete sich eine Stimme in seinem Hirn. Wenn Yuri sich nicht erinnerte, wer er war, wäre er nicht die perfekte Möglichkeit, an Viktor Nikiforov-Plisetsky heranzukommen? Kapitel 3: Journey Through The Past ----------------------------------- Who Knows Where This Road May Go Back To Where I Was On To Find My Future Things My Heart Still Needs To Know   Yuri wusste nicht, was das zwischen ihm und Otabek war. Seit sie sich das erste Mal begegnet waren, hatte Otabek wie versprochen jeden Tag Essen gebracht und sie hatten ein paar Worte ausgetauscht. Yuri mochte die Ruhe und Gelassenheit, die Otabek ausstrahlte. Er hasste es, sich eingestehen zu müssen, dass er Otabek bewunderte. Yuri verbrachte den Rest des Tages damit, den Palast zu erkundigen. Wie erwartet waren die Gerüchte nur Gerüchte. Bisher hatten ihn keine Geister erschreckt. Nun, abgesehen von den Albträumen, aber diese hatte er schon immer gehabt. Sie kamen und gingen immer wieder. Nun waren zwei Wochen vergangen. Es war Samstag, Otabek hatte frei und gemeinsam schlenderten sie nun durch den Palast. Bisher hatte Otabek niemandem davon erzählt, dass Yuri hier lebte. Dabei gab es genug Gelegenheiten. Noch konnte Yuri ihm nicht ganz vertrauen. Und doch, er merkte, dass er Otabek nicht mehr verachtete. „Warum bist du Soldat geworden?“, fragte er nun, während er eine halbe Gurke aß, die Otabek mit ihm geteilt hatte. Otabek blieb stehen und sah ihn verwundert an. In den wenigen Wochen ihrer Bekanntschaft hatte Yuri gelernt, Otabek zu lesen. Während andere behauptet hätten, dass Otabek stoisch dreinblickte, konnte er dutzend Gefühle auf Otabeks Gesicht entdecken. „Weil mein Vater es wollte“, erklärte er schließlich, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Yuri hob eine Augenbraue. „Machst du alles, was dein Alter verlangt?“ Otabek sah ihn ruhig an. „Er würde sicher nicht wollen, dass ich einen Straßenjungen füttere und ihn hier im alten Zarenpalast leben lasse.“ „Oh, was für ein Rebell du bist“, spottete Yuri und drehte sich doch zur Seite, um so sein Lächeln zu verbergen. So bemerkte er jedoch nicht, dass Otabek stehen geblieben war, und stieß gegen ihn. „Oi!“ Yuri sah ihn verärgert an, dann verstummte er, als er bemerkte, wo sie stehen geblieben waren. Vor dem Porträt der Zarenfamilie. Der letzte Herrscher, Nikolai Nikiforov-Plisetsky, saß auf dem Thron. Sein schwarzes Haar und Bart waren bereits grau an manchen Stellen. Die blauen Augen wirkten streng und doch voller Liebe. Hinter ihm stand seine Tochter, Großfürstin Sophia. Ihr Haar war genauso schwarz wie das ihres Vaters. In ihren grünen Augen lag eine tiefe Trauer. Yuri konnte das Gefühl nicht unterdrücken, sie in den Arm nehmen zu wollen. Viktor, Zarewitsch und einziger Überlebender, stand neben ihr und hatte eine Hand auf die Schulter seiner Mutter gelegt. Sein Vater war kurz nach Viktors Geburt im Krieg gefallen, wie Yuri gelernt hatte. Sophie hatte erst Jahre später erneut geheiratet und vier Kinder bekommen. Katherina, die Älteste. Ihr schwarzes Haar war zu einem strengen Zopf gebunden und ihre Augen blitzten wissbegierig hinter der Brille auf. Nadia und Marie, während Nadia fromm und anständig war, war Marie ein Wildfang. Und auf Nikolais Schoß saß der jüngste Enkel der Nikiforov-Plisetsky Dynastie. „Yuri Nikiforov-Plisetsky“, sprach Otabek langsam den Namen aus und drehte sich dann wieder zu Yuri um. „Ihr habt den gleichen Namen.“ „Bloßer Zufall. Oder willst du jetzt jeden mit dem Namen Viktor einsperren lassen?“ Yuri trat einen Schritt zur Seite. „Mag sein, aber findest du nicht auch, dass ihr eine gewisse Ähnlichkeit habt?“ Yuri antwortete nicht. Natürlich hatte er die Ähnlichkeit bemerkt. Sie hatten beide die gleichen grünen Augen und das gleiche blonde Haar. Aber es war nur ein Zufall. „Kennst du die Gerüchte, dass der jüngste Enkel des Zaren damals überlebt hat?“, fragte Otabek langsam. Yuri nickte einfach nur. Natürlich kannte er sie. Dass Yuri Nikiforov-Plisetsky überlebt hatte, war ein Gerücht, das schon beinahe Teil der rossiyanischen Geschichte war. Und er wusste auch, dass immer wieder junge Männer behaupteten, Yuri zu sein. „Prinz Viktor glaubt diese Gerüchte zumindest“, fuhr Otabek vor. „So sehr, dass er eine Belohnung ausgesetzt hat für die Person, die seinen Bruder findet. Und weißt du auch, wo Viktor sich seit der Revolution aufhält?“ „In Parizh“, antwortete Yuri, als die Minuten verstrichen waren und Otabek keine Anstalten machte, weiterzureden. „Sagte Yakov dir nicht, dass du Verwandtschaft in Parizh hast?“, wunderte sich Otabek. Yuri blickte ihn erstaunt an und lachte dann. „Sag nicht, du denkst, dass Viktor mein Verwandter ist? Beka, das ist lächerlich.“ Otabek entgegnete nichts, sondern blickte ihn einfach nur an. Seine Wangen waren leicht gerötet. Es dauerte einige Sekunden, bis Yuri klar wurde, dass er Otabek gerade mit dem Spitznamen angesprochen hatte, den er zuvor immer nur in Gedanken genutzt hatte. Otabek räusperte sich schließlich und richtete seinen Blick dann wieder auf das Porträt. „Ist es wirklich so abwegig? Du wolltest sowieso nach Frantsariya, aber ohne Ausreisevisum kommst du nicht weg. Ich als Soldat kann dir eins besorgen und dich nach Parizh begleiten. Wenn du wirklich Yuri Nikiforov-Plisetsky bist, dann wird Viktor es wissen. Und wenn nicht, nun, dann war einfach alles ein großes Missverständnis, aber du hast es zumindest schon mal nach Parizh geschafft.“ Yuri zögerte. Die Idee war lächerlich, geradezu riskant. „Du würdest deine Stelle riskieren“, stellte Yuri fest. „Dein Leben, wenn du mir hilfst.“ Otabek zuckte mit den Schultern. „Ich wollte diese Stelle nie haben. Es war der Wunsch meines Vaters.“ Er drehte sich zu Yuri um, die braunen Augen funkelten regelrecht, während er weitersprach. „Lass mich dir helfen, deine Familie zu finden“, bat er ihn und hob dann eine Hand, um mit ihr über Yuris Haar zu streichen. „Ich wollte Rossiya schon länger verlassen und nun habe ich einen Grund gefunden.“ Yuri lehnte sich gegen Otabeks Hand, die für eine Sekunde zu lang an seiner Wange lag. Otabeks Hände waren immer warm. Es war ihm schon vorher aufgefallen und er beneidete Otabek darum, war es in Rossiya doch selbst jetzt im Sommer kühl. Yuri griff nach Otabeks Hand und drückte sie fest, während er ihm auffordernd entgegenblickte. „Abgemacht!“, erklärte er sich einverstanden. „Also sag mir, wie du aus mir Yuri Nikiforov-Plisetsky machen willst?“ Otabek lächelte sanft und deutete dann auf das Bild. „Schließ deine Augen, hol tief Luft und stell dir eine andere Welt in einer anderen Zeit vor.“ Yuri rollte mit den Augen. „Du wurdest im Sommerpalast der Zarenfamilie am Meer geboren“, erzählte Otabek ihm. „Mit drei konntest du bereits reiten und hattest ein eigenes Pferd, ein Geschenk deines Halbbruders Viktor.“ „Wie hieß das Pferd?“ „Agape. Du warst ein wildes Kind, aber wer war der Mensch, der dich immer beruhigen konnte?“ Yuri blinzelte und blickte zu dem Porträt auf. „Mein Großvater?“ Otabek nickte zufrieden und zog dann ein kleines Büchlein aus seiner Tasche. „Hier steht deine Familiengeschichte bis ins letzte Jahrtausend drin. Lern es auswendig.“ Yuri sah ihn fragend an. „Das ist nicht dein Ernst. Wie soll ich mir das alles merken?“ „Du musst, wenn du Viktor davon überzeugen willst, dass du sein Halbbruder bist. Oder denkst du wirklich, dass du einfach so zu ihm spazieren kannst? Du wirst getestet werden, Yuri. Ich bin mir sicher, dass du es dir merken kannst.“ Yuri seufzte und griff nach dem Büchlein, blätterte es durch. „Und noch etwas“, fügte Otabek hinzu. „Du bist ein Prinz, also geh auch so. Hoch das Kinn und mach ein gerades Kreuz. Stark und doch anmutig.“ Yuri stellte sich aufrecht hin und machte steif einige Schritte nach vorne. „Und? Ist das stark und anmutig genug?“ „Wie ein toter Löwe“, kommentierte Otabek mit einem leichten Lächeln. „Nun, probieren wir es doch mal mit einer Verbeugung.“ Yuri trat einen Schritt nach vorne, zeichnete dann mit dem rechten Fuß einen Halbkreis durch die Staubschicht und brachte diesen dann hinter dem linken Fuß zum Stehen. „Es ist mir eine Ehre, Eure Bekanntschaft zu machen!“, begrüßte Yuri ihn und mit einem Arm vor seinem Körper und dem anderen dahinter verbeugte er sich tief. Otabek sah ihn fassungslos an. „Sieht aus, als wärst du ein Naturtalent, Yura.“ Yuri errötete und stellte sich dann wieder aufrecht hin. Er bemerkte den Spitznamen, aber entschied sich, die Sache einfach unkommentiert zu lassen. Otabek blickte nach draußen. Die Sonne ging unter. Bald würde es dunkel sein. „Ich muss nach Hause“, erklärte er. „Bis morgen dann. An der gleichen Stelle. Am Wochenende werde ich dich abfragen.“ Yuri lächelte sanft. Er konnte das Wochenende nicht abwarten. Kapitel 4: Still ---------------- „I’m Innocent“, She Cries But Then You See Her Eyes And Something In Them Tells You That She Absolutely Lies Until Your Heart Replies…   „Der Name deines Urgroßvaters?“ „Zar Viktor!“, antwortete Yuri wie aus der Pistole geschossen. Otabek nickte zufrieden. Die Tage waren wie im Flug vergangen und Yuri konnte inzwischen seine ganze Familiengeschichte auswendig. „Deine Lieblingscousine?“, fragte er weiter nach. „Gräfin Mila Babicheva“, erwiderte Yuri nach kurzem Nachdenken. „Lebt sie noch?“ Yuri zögerte und dachte nach. Das blonde Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, doch im Moment wünschte er, sein Haar würde ihm ins Gesicht fallen und seinen Ausdruck verbergen. Er murmelte leicht vor sich her, während er sich zu erinnern versuchte. „Sie lebt in Italiya zusammen mit Markgräfin Sara Crispino!“, erwiderte Yuri schließlich. Otabek nickte zufrieden. „Ich denke, du bist so weit“, erklärte er. „Allerdings gibt es da noch eine Sache.“ Yuri sah ihn fragend an. „Kannst du tanzen?“, fragte Otabek und verbeugte sich dann vor ihm, hielt ihm die Hand entgegen. Yuri schüttelte den Kopf. „Welchen Part übernimmst du?“ „Der Adel führt immer“, entgegnete Otabek und legte seine linke Hand auf Yuris Schulter. Yuri lächelte sanft und legte dann seine linke Hand auf Otabeks Schulterblatt, ehe er seine rechte Hand nahm und diese auf Schulterhöhe hob. „Und jetzt?“ Yuri blickte auf ihre Füße. „Mit dem rechten Fuß nach vorne“, gab er die erste Anweisung und folgte Yuris Bewegung mit dem linken Fuß. „Dann mit dem anderen Fuß zur Seite und den rechten Fuß daneben stellen.“ „Wie ein Viereck“, murmelte er und auch wenn Otabek sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste er, dass Yuri lächelte. „Genau“, stimmte er ihm zu und ließ dann Yuris Hand los, um sein Kinn anzuheben. „Ein Prinz blickt beim Tanzen nicht auf seine Füße“, ermahnte er ihn. „Kinn hoch, Yuri.“ Ein leichter Rotschimmer legte sich auf Yuris Wangen, dann nickte er entschlossen. „Also gut. Nochmal?“ Yuri nickte und erneut führten sie den Grundschritt aus. Dann noch einmal und noch einmal. „Woher hast du eigentlich Tanzen gelernt?“, fragte er neugierig. „Meine Mutter hat als Tänzerin gearbeitet“, entgegnete Otabek. Sie schwebten durch den Saal, stellte er fest. Yuri tanzte, als würde es ihm im Blut liegen. Der Blick ruhte auf seinem. Sie tanzten weiter und Otabeks Augen wanderten weiter über Yuris Gesicht. Seine Wimpern waren ungewöhnlich lang und die grünen Augen blickten ihm stolz entgegen. Otabek ließ sich von Yuri durch den Raum führen. Nach vorne, zur Seite, nach hinten und wieder zur Seite. Drehung um Drehung, bis Otabek schwindlig wurde. „Du bist wirklich gut“, murmelte Otabek und blickte auf Yuris Lippen. Er konnte nicht anders. Yuri war ihm so nah. Eine Bewegung nur und er könnte… „Aber natürlich bin ich gut“, entgegnete Yuri langsam. „Ich bin ein Prinz, schon vergessen?“ Er hatte es tatsächlich vergessen. Otabek stoppte und blickte sich im Saal um. Yuri war ein Prinz, nein, er war die Möglichkeit, an Viktor heranzukommen und die Nikiforov-Plisetsky Familie endgültig auszulöschen. Und wenn Yuri wirklich der verlorene Prinz war, nun dann würde er ihn auch töten. Er durfte es sich nicht leisten, Gefühle zu entwickeln. „Beka?“ Yuri sah ihn irritiert an. „Ich habe gar nicht bemerkt, wie spät es ist“, meinte Otabek schließlich. „Es wird Zeit, dass wir aufhören.“ Dann ließ er seinen Blick über Yuris Körper gleiten. Er stand anders, als noch vor wenigen Wochen. So voller Stolz und Eleganz. „Ich denke, du bist so weit“, entschied er. „Ich werde sehen, wann der nächste Zug fährt und komme dich dann abholen“ Er wartete nicht auf eine Reaktion, sondern griff nach seiner Uniformjacke und verließ den Saal mit eiligen Schritten. Erst als er den Palast durch einen Hintereingang verlassen und an einer dunklen, kaum sichtbaren Stelle über den Zaun geklettert war, erlaubte Otabek es sich, sein Tempo zu verlangsamen. Er klappte den Kragen seiner Jacke hoch, um sich so vor dem kalten Nachtwind zu schützen. Es war spät, viel zu spät. Er hatte gar nicht gemerkt, wie viel Zeit vergangen war. Mit Yuri Zeit zu verbringen, war besonders. Er war nicht mehr Otabek, der Soldat. Otabek, dessen Vater von allen gefeiert wurde und von dem sie alle erwarteten, dass er in seine Fußstapfen trat. Er war einfach nur Otabek. Vorsichtig drehte er den Schlüssel um. Sicher würde Dmitry bereits am Schlafen sein und er wollte ihn nicht wecken. Doch sein Mitbewohner saß auf seinem Bett, ein Buch in den Händen. „Wo warst du denn schon wieder?“, fragte er und blickte ihn über die Brillenränder streng an. „Spazieren“, murmelte er und hängte seine Jacke an dem Garderobenständer in der Ecke neben der Tür auf. Dmitry hob skeptisch eine Augenbraue. „Du bist jedes Wochenende spazieren. Bei deinen Rundgängen siehst du doch genug von dieser Stadt.“ Otabek zuckte mit den Schultern. Er und Dmitry hatten sich während der Ausbildung kennengelernt. Sie waren beide eher zurückgezogen und ruhig und so hatte es nicht lange gedauert, bis sie so etwas wie Freundschaft geschlossen hatten. Am Ende der Ausbildung hatte Dmitry dann vorgeschlagen, dass sie sich ein Zimmer teilten und Otabek hatte zugesagt. Es war immer noch besser, als sich mit einer wildfremden Person den Raum zu teilen. „Übrigens ist ein Brief für dich gekommen“, murmelte Dmitry und stellte seine Nachttischlampe dann aus. „Scheint wichtig zu sein.“ Otabek nickte und verschwand dann kurz im Bad. Als er rauskam, trug er einen dunkelgrauen Pyjama. Dmitry hatte sich unter die Decke gelegt und ihm den Rücken zugekehrt. Das gleichmäßige Auf und Ab der Decke verriet Otabek, dass Dmitry schlief. Der Brief, von dem Dmitry gesprochen hatte, lag zusammen mit ein paar anderen Briefen auf seinem Kopfkissen. Otabek runzelte die Stirn, als er den Absender sah. Die Regierung persönlich. Was immer sie wollten, wieso hatten sie es ihm nicht einfach während der Arbeit mitgeteilt? Er öffnete den Umschlag und faltete dann den Brief auseinander. Es war ein Zweizeiler, dass er sich am kommenden Montag nach Arbeitsbeginn im Zimmer seines Vorgesetzten einfinden sollte. Fassungslos starrte Otabek auf das Papier, drehte es um und hielt es gegen seine Lampe, um zu prüfen, ob es nicht noch irgendwelche versteckte Nachrichten gab. Doch das Blatt zeigte nichts an. Seufzend faltete er das Papier wieder zusammen und legte den Brief zusammen mit den anderen auf seinen Nachttisch, ehe er sich schlafen legte. Die Nacht ging schneller um, als Otabek recht war. Sonntags erkundigte er sich am Bahnhof nach den nächsten Zügen, die Rossiya verlassen würden. Gleich am Montag würde ein Mitternachtszug Richtung Germaniya gehen. Der nächste erst wieder in einem Monat. Es war nicht Frantsariya, aber wenigstens ein erster Schritt. Die Ausreisevisa hatte er schon vor einigen Tagen besorgt. Alles war bereit für ihre Abreise. Montag kam und Otabek machte sich auf den Weg zum Zimmer seines Vorgesetzten. Grigori Petrow war einst ein Freund seines Vaters gewesen. Er war einer der Rebellen, die die Zarenfamilie erschossen hatte. Sicher hatte Otabek nichts zu befürchten. Trotzdem war er nervös, als er anklopfte und kurze Zeit später ein tiefes „Herein!“ erklang. Er drückte die Türklinke runter und trat dann ein. Petrows Zimmer lag im dritten Stock, von seinem Fenster aus hatte er einen Blick auf den Marktplatz. Dort, wo er Yuri das erste Mal getroffen hatte. „Sie wollten mich sehen, Sire?“, fragte Otabek mit einer leichten Verbeugung. Petrow deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Tee, Altin?“, fragte er nach und goss sich und Otabek jeweils eine Tasse Tee in zwei Metalltassen ein. „Trinken Sie ruhig“, forderte Petrow ihn auf und nahm selbst ein paar Schlucke. Einige Tropfen verirrten sich dabei in seinen langen, schwarzen Bart. Er stellte die Tasse wieder auf dem Tisch ab und trommelte dann mit seinen langen, dürren Fingern auf die Holzplatte. „Wie lange ist es jetzt eigentlich her, dass Euer Vater verstorben ist?“, fragte Petrow schließlich. „Drei Jahre“, erwiderte Otabek. „Hm.“ Petrow lehnte sich zurück und kratzte sich am Schnurrbart. „Euer Vater war ein Held, Altin. Aber das wisst Ihr sicher selbst. Ihr habt doch vor, in seine Fußstapfen zu treten, nicht wahr?“ Otabek nickte langsam und drehte die Tasse in seinen Händen. „Gut, gut. Etwas anderes hätte ich auch gar nicht erwartet.“ Petrow nickte zufrieden. „Und trotzdem sind mir Gerüchte an die Ohren gekommen, dass man Euch in der Nähe des alten Zarenpalasts gesehen haben soll. Ihr glaubt doch nicht etwa diesen lächerlichen Gerüchten, dass die Zarenfamilie dort spukt und probiert euch als Geisterjäger aus, oder?“ Er schmunzelte bei diesen Worten, seine Augen blickten ihn doch herausfordernd an. Otabek seufzte und führte die Tasse zu seinem Mund, tat so als würde er einen Schluck daraus nehmen, während er über seine nächsten Worte nachdachte. „Es gibt da diesen Straßenjungen“, murmelte er schließlich. Je näher die Lüge an der Wahrheit dran war, desto besser. So würde er sich nicht in Widersprüche verwickeln. „Er lebt im alten Palast und ich bringe ihm ab und zu etwas zu essen. Ich wusste nicht, dass es verboten ist, Sire.“ Petrow zwirbelte seinen Bart zwischen zwei Fingern. „Natürlich ist es nicht verboten. Aber woher diese Nettigkeit, Altin? Es ist nur ein einfacher Straßenjunge.“ „Ich … Er tat mir einfach leid“, gab Otabek zu. „Und es ist immer noch besser, als wenn er wieder stiehlt, oder? Ich versuche ihn zu überreden, für uns zu arbeiten. Einen Spion zu haben, der sich auf der Straße auskennt, ist doch nie verkehrt, oder?“ Petrow lächelte leicht. „Natürlich nicht, natürlich. Ich sehe, Ihr kommt wirklich nach Eurem Vater.“ Otabek zwang sich zu einem Lächeln. „Was sagt Ihr eigentlich zu diesen Gerüchten, dass der jüngste Prinz überlebt haben könnte?“, fragte Petrow gerade heraus. „Nun, es sind Gerüchte“, erwiderte Otabek langsam. „Ihr wart dabei gewesen, als die Zarenfamilie hingerichtet wurde, nicht wahr? Ihr habt ihn sterben sehen.“ Petrows braune Augen weiteten sich. „Aber natürlich“, erwiderte er. „Und trotzdem gibt es Gerüchte, dass er überlebt hat. Gerüchte, die wir ersticken müssen, ehe sie sich zu einem Lauffeuer verbreiten. Denn, wer würde augenblicklich nach Rossiya zurückkehren, wenn er wüsste, dass jemand überlebt haben könnte und hier lebt?“ „Sire, ich verstehe nicht. Wenn Prinz Viktor zurückkommt, wäre das nicht die perfekte Gelegenheit ihn endlich gefangen zu nehmen?“ Petrow runzelte seine Stirn. „Wisst Ihr, weshalb dieses Land seit zehn Jahren keine Menschen mit Magie geboren hat? Weil Magie nur da wachsen kann, wo Magie blüht. Die Nikiforov-Plisetskys waren der Anker der Magie. Nun, selbst wenn Yuri damals überlebt hat, seine Magie war noch nicht entwickelt genug. Aber würde Viktor zurückkehren, würde es wieder so werden wie zur Zeit der Nikiforov-Plisetskys. Magie würde wieder existieren. All unsere Bemühungen, all die Bemühungen deines Vaters, wären vollkommen umsonst. Und natürlich, in anderen Ländern leben sie Seite an Seite, magische und nicht-magische Menschen, aber wie lange wird es noch dauern, bis auch in diesen Ländern das nicht-magische Volk erkennt, dass es sich nicht mehr von den Magischen unterdrücken lassen braucht? Rossiya muss der Welt ein Vorbild sein. Die Magie muss begraben bleiben.“ „Die Magie muss begraben bleiben“, wiederholte Otabek den Leitspruch der Regierung. „Und genau deshalb müssen wir jedes Gerücht über den verlorenen Prinzen im Keim ersticken. Jeder, der es wagt, sich als Prinz zu bezeichnen, wird hingerichtet. Jeder, der ihm hilft, egal aus welchen Beweggründen, den wird das gleiche Schicksal erleiden. Aber dafür habt Ihr doch sicher vollstes Verständnis.“ Otabek nickte nur stumm. „Gut, sehr gut. Ihr könnt gehen.“ Otabek stand auf, verbeugte sich noch einmal zum Abschied und verließ dann das Arbeitszimmer wieder. Er musste so schnell wie möglich von hier weg. Sobald seine Schicht vorbei war, würde er Yuri aus dem Palast holen. Und wenn er Viktor erst einmal getötet hatte, dann würde Rossiya ihn als Helden feiern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)