Nacht im Wunderland von Charly89 (Gespräch mit einem Schatten) ================================================================================ Kapitel 1: Nenn mich Jack ... John ---------------------------------- Ein Raum, dunkel und alt. Die Luft ist schwer und schmeckt abgestanden. Stille ist zu hören, absolute Stille. In der Dunkelheit erkennt man diffus Möbel. „Bleib stehen. Nicht das du über etwas fällst. Ich mache dir Licht.“ Mehrere Kerzen, die auf den ersten Blick wahllos herumstehen, gehen gleichzeitig an. Ihr sanfter Schein erhellt den Raum und offenbart die Größe des Zimmers. Vermutlich gute zehn mal zehn Meter, obwohl man das schlecht schätzen kann. Das Licht ist eher mager und der Raum vollgestopft. Regale, Tische, Kommoden, Schränke. Dicke Teppiche bedecken den Boden, Bilder unterschiedlicher Epochen und Stile die Wände. „Ja, ja. Licht. Ihr Menschen und euer Licht.“ Etwas Verächtliches schwebt in der Stimme mit. Das Tier geht voran, immer im Schatten. Nur kurz kann man einen Blick auf es erhaschen. Das Fell ist kurz und glatt, wirkt wie Haut. Der Körperbau ist muskulös und elegant. Katzenhaft. Doch der lange dünne Schwanz, der leicht geschwungen er in der Luft schwebt, stört das Bild. Es geht an Regalen vorbei, voll mit Büchern und Dingen. Dicke, ledergebundene Wälzer. Schmale Bücher mit Hardcover. Kleine Holzkästchen. Figuren aus Stein, Holz oder anderem Material. Schmuck aus allen möglichen Edelmetallen. Die Tische, in sämtlichen Varianten und Größen, sind ebenfalls mit Büchern und anderen Sachen beladen. Die Kommoden sind übervoll, Türen und Schubladen stehen auf und offenbaren noch mehr Dinge. Den Schränken scheint es nicht besser zu gehen. Obwohl die Luft nach Staub schmeckt ist keiner zusehen, alles ist sauber. Sauber und ordentlich. Auch wenn Chaos auf den ersten Blick herrscht, wirkt es dennoch auf merkwürdige Weise strukturiert und geordnet. „Setzt dich.“ Den Ton den das Tier anschlägt ist freundlich, zumindest an der Oberfläche. Darunter befindet sich eine drohende Aufforderung. Während der Gast sich auf einem wuchtigen Sessel niederlässt, schleicht das Tier in eines der Regale und verschwindet. Der Gast entledigt sich seiner Jacke. Leicht faltet er sie zusammen und legt sie sich auf den Schoß. Zur Rechten steht ein hoher Tisch. Die Platte ist eher klein, bietet der Laterne die darauf steht gerade genug Platz. An der Ecke des Sessels steht noch ein kleiner Tisch, kaum 40cm hoch. Er ist filigran und mit Ornamenten bedeckt. Edelsteine schmücken die Ränder. Zur Linken steht ein Esstisch, gefüllt mit Schüsseln und Schalen. Schöne Schmuckschalen, die funkeln und glänzen. Einfache Blechschalen, die von Jahren der Nutzung erzählen. Genau wie die Regale, Kommoden und Tische sind die Gefäße ebenfalls gefüllt. Einfach alles in dem Zimmer wirkt fürchterlich überladen. Der Raum wirkt schwer, alt und melancholisch. Er passt nicht zu seinem … Bewohner? Wohnt das Tier hier? „Die Frage ist wohl eher ‚Kann ein Tier wohnen?‘, nicht?“ Der Gast zuckt zusammen, die plötzliche Ansprache hat ihn überrascht. Verwirrt sieht er sich um. Zwischen all diesen Dingen etwas Konkretes auszumachen, scheint eine unmögliche Aufgabe. Die Stimme des Tieres, die ein wenig lauernd klang, schien gleichzeitig von allen Seiten zu kommen. „Ja, ja. Wohnt ein Tier … oder haust es?“ Schmeichelnd finden die Worte ihren Weg in die Ohren des Besuchers. Die sanfte melodische Stimme, weder offensichtlich männlich noch weiblich, scheint durch die Luft zu fließen. Wie ein kleiner Bach, der über warmes Gras dahineilt. „Entschuldigt. Ich wollte Euch nicht beleidigen“, spricht der Gast, die Stimme ein wenig heiser. Ein kleines Lachen ertönt, negativ amüsiert. „Ja, ja. So viele Menschen hausen, anstatt zu wohnen.“ Der Gastgeber taucht in dem Regal gegenüber des Sessels auf. Obwohl eben keine Lücke zwischen den Büchern war, sitzt das Tier nun dort. Drohend verengt es die Augen und mustert den Gast eingehend. „Sind diese Menschen dann Tiere?“ Die Augen des Gastes weiten sich. Diese Frage kann man nur falsch beantworten, das indiziert bereits die Tonlage des Fragestellers und das herausfordernde Grinsen. „Menschen sind doch Tiere. Säugetiere, Primaten.“ Der Gast flüstert leise und stockend, unsicher ob die Antwort zufriedenstellend ist. „Familie Hominidae“, kichert das Tier und lächelt zufrieden. Es wendet den Blick und sieht zu dem niedrigen Tisch. Wo eben noch ein Bücherstapel gewesen ist, steht nun eine Kanne mit dazu passender Tasse - beides aus Porzellan und alt anmutend. „Tee“, erklärt der Gastgeber. „Für die Nerven. Du wirst sie brauchen. Ja, ja. Brauchen.“ Der schockierte Gesichtsausdruck des Gastes bringt das Tier zum Lächeln. Zufrieden und wie in Trance wiegt es den Kopf, ein wenig, als würde es Musik hören. „Warum bin ich hier?“ Der Gastgeber hält inne. Die schwarzen Augen klären und ein Schmunzeln bildet sich. „Solltest du dich, dass nicht selbst fragen?“ Das Tier legt den Kopf schief. „Ich habe dich eingeladen. Ja, ja. Eingeladen. Nicht gezwungen oder bedroht." Nervös knetet der Gast seine Hände. Unsicher blickt er durch den Raum, doch trotz der vielen Dinge finden seine Augen keinen Halt. „Ich ... Ich weiß es nicht.“ „Hm. Ihr Menschen, wisst nichts und doch haltet ihr euch für die Krone der Schöpfung. Doch das ist nicht schlimm. Ja, ja. Nicht schlimm. Ihr seid noch jung, so jung.“ Fast liebevoll betrachtet das Tier seinen Gast. „Trink den Tee.“ Es ist kein freundschaftlicher Rat, es ist eine Aufforderung, die keine Widerworte duldet. Der Gast beugt sich nach unten. Er nimmt die Kanne und gießt sich Tee in die Tasse. Ein würziger Duft steigt in kunstvollen Wirbeln auf. Fertig mit seinem Tun, sieht er auf. Das Tier ist verschwunden und die Lücke wieder mit Büchern gefüllt. Ohne hinzusehen nimmt der Gast die Tasse und lehnt sich wieder in den Sessel zurück. „Was tust du?“ Erschrocken zuckt der Gast und verschüttet beinahe den Tee. Irritiert blickt er sich um und entdeckt das Tier auf dem Tisch zur Linken. Entspannt liegt es zwischen den Schüsseln und Schalen, immer ein wenig im Halbschatten. Grübelnd legt der Gast die Stirn in Falten. Vorhin war das Tier doch größer? Als es ihn hier her brachte war es definitiv größer. Amüsiert kichert der Gastgeber. „So jung. Ja, ja. Jung ... und unwissend.“ Der Besuch sammelt sich kurz und atmet durch. „Was meintet Ihr eben?“ „Was du tust, wenn du nicht gerade mit merkwürdigen sprechenden Tieren in komisch anmutende Wohnungen gehst?“ Das Tier rekelt sich und funkelt heimtückisch. „Ich...“ Der Blick des Gastes geht ins Leere. Er verliert sich in Gedanken und Erinnerung. Das Tier betrachtet seinen Besuch. Die Augen weiten sich und scheinen sich in den Geist des Besuchers zu bohren. Scheinbar zufrieden grinst der Gastgeber nach einigen Minuten. „Schon gut, nicht so wichtig.“ Der Besuch blinzelt mehrfach. Er benötigt einige Momente um wieder im ‚hier‘ anzukommen. Kurz räuspert er sich. „Dürfte ich Euch etwas fragen?“ „Nur zu“, schnurrt das Tier. „Wie ist Euer Name?“ Geistesabwesend nippt der Gast am Tee. Der Geschmack, bitter und dennoch süß, lässt ihn kurz das Gesicht verziehen. „Ich habe keinen Namen.“ Verwirrt sieht der Besuch zum Tisch. Zwischen den Schalen und Schüsseln sind nur Schatten zu sehen, das Tier ist verschwunden. „Aber jeder hat doch einen Namen“, spricht er mehr zu selbst. „Nein“, faucht es plötzlich hinter dem Gast. Ruckartig dreht der Besuch den Kopf. Hinter dem Sessel ist ebenfalls ein Regal. Genau wie vorhin sitzt das Tier nun dort, wo eben noch kein Patz gewesen ist. Aufgebracht fixiert der Gastgeber seinen Besucher. „Nicht jeder hat einen Namen.“ Groll liegt in den Worten und Wut in der Stimme. „Verzeiht, wenn ich euch beleidigt habe. Ich dachte nur, jeder bekommt bei seiner Geburt einen Namen von seinen Eltern.“ Überfordert und unsicher gestikuliert er mit der freien Hand. Die Stimmung kippt endgültig. Die Augen des Tieres glühen geradezu, die spitzen Zähne glitzern im Kerzenschein. „Und wenn niemand da ist? Wenn kein Vater, keine Mutter anwesend ist?! Wenn man aus seinem Sein gerissen wird, egal ob man will oder nicht? Wenn man brutal fortgezerrt wird aus seiner Existenz und hineingeschleudert wird in eine fremde Welt? Was dann?!“ Die Schatten in den Ecken scheinen sich auszubreiten, verschlingen immer mehr und mehr Licht. Der Gast ist mit jedem Wort tiefer in den Sessel gerutscht. Jedes Wort war lauter und wütender wie das vorangegangene. Verängstigt umklammert er die Tasse. Die Augen spiegeln Panik wider und sein Herz klopft schnell. Das Tier beugt sich immer weiter zu dem Besuch. Die Vorderpfoten stützen sich auf der Lehne des Sessels ab, die Hinterbeine sind noch am Regal. Es gewinnt wieder an Größe, der Schwanz peitscht durch die Luft und Eckzähne scheinen immer länger und spitzer zu werden. Kaum fünf Zentimeter trennen die Nasenspitzen der Beiden. Schwarze wutglühende Augen bohren sich in blaue ängstliche. Die Zeit scheint still zu stehen, selbst die Flammen der Kerzen scheinen sich einen Moment nicht zu bewegen, dann … normalisiert sich plötzlich wieder alles. Die Schatten kehren in ihre Ecken zurück, das Tier setzt sich wieder zurück in das Regal. Noch einen Augenblick ist Wut und Hass in den schwarzen Augen, doch auch das verschwindet einen Wimpernschlag später. „Verzeih. Ich ... Ich bin wohl ein bisschen aus der Haut gefahren.“ Das Tier kratzt sich am Kinn. Nicht wie man es erwarten würde. Nicht mit der Hinter-, sondern mit der linken Vorderpfote. Ein wenig, wie ein Mensch es tun würde. Die Tasse zittert und Tee schwappt auf die Jacke. „Nicht der Rede wert. Kann jedem passieren“, stammelt der Besuch. Gedankenverloren sieht das Tier ins Nichts. Wie vorhin sein Gast, verliert es sich in Erinnerungen und Gedanken. „Nun“, durchbricht der Gastgeber nach eine gefühlten Ewigkeit die drückende Stille. „Wo waren wir?“ Der Gast mustert das dunkle Wesen unsicher. „Ich würde gern wissen, wie ich Euch nennen soll.“ Kurz verzieht er das Gesicht. Er hätte die Frage besser von Anfang an so stellen sollen. Amüsiert grinst das Tier. „Nenn mich Jack.“ Verschlagen funkeln die Augen. „Ja, ja. Nenn mich Jack ... John.“ Angsterfüllt weiten sich die blauen Augen. Kurz und stockend geht sein Atem, Panik flutet seine Nerven. Gehässig lacht das Tier. „Deswegen fürchtest du dich? Deswegen?!“ Elegant und geräuschlos springt es aus dem Regal und landet auf dem Boden. Verschlagen blickt es zu John hoch, der Schwanz schwingt spielerisch hin und her. „Du bist in einem Raum, den es nicht geben sollte. Redest mit einem Tier, das es nicht geben sollte und bekommst Angst, weil ich deinen Namen kenne?“ Lauernd schleicht Jack zwischen den Tischbeinen hindurch. „Ja, ja. Jung und unwissend.“ Während er das Tier beobachtet wie es im Schatten verschwindet, versucht sich der Gast wieder zu sammeln. Alles hier ist so furchtbar unwirklich. Er erinnert sich kaum wie er hierhergekommen ist, geschweigenden was vorher gewesen ist. Nichts ergibt mehr Sinn. Müde reibt er sich über die Augen. Die Gasse, er war in einer Gasse und da war eine Frau. Sie sah nicht gut aus, verprügelt. Er hat ... sie beim Sterben beobachtet. Dann ist das Tier aufgetaucht. Es hat gesprochen ohne das sich sein Mund bewegt hat. Es hat zu der Frau gesprochen und er hat sich versteckt, doch das Tier hat ihn bemerkt. „Ein Plausch“, flüstert John vor sich hin. „Ja, ja. Ein netter kleiner Plausch.“ Erschrocken sieht sich der Gast um. Er braucht einige Momente bis er seinen Gastgeber in dem überladenen Raum ausfindig macht. In der Mitte des Raumes stehen zwei Kommoden mit den Rücken aneinandergestellt, darauf eine unstrukturierte Pyramide aus Büchern. Auf der linken Seite liegt das Tier, sichtlich entspannt. Die weißen Zähne leuchten im Halbdunkel und lassen das Lächeln unecht wirken. „Lass uns plauschen, John.“ „Worüber?“ Unsicher rutscht er im Sessel hin und her. Um seine Jacke und Hose nicht noch mehr mit Tee zutränken stellt er die Tasse ab. Jack legt den Kopf schief. „Wir könnten darüber reden, warum du nachts in dunklen Gassen jungen Frauen beim Sterben zu siehst.“ Ertappt zuckten der Besuch zusammen. „Nun?“ Wissend funkeln die Augen. John wendet den Blick ab. Ihm ist das Thema sichtlich unangenehm. Die Geschichte hinter diesem kurzen Moment ist weitaus länger, wie man vermuten möchte. Bei dem Gedanken an all die Dinge die dazu geführt haben, kocht unweigerlich Wut in dem Besucher hoch. „Was geht Euch das an?!“, blafft John in die Richtung wo sein Gastgeber eben noch war. Verwundert stellt er fest, dass Jack bereits wieder verschwunden ist. „Nun? Was mich das angeht?“, schnurrt es von links. „Du genießt meine Gastfreundschaft, ist das nicht Grund genug?“ Peinlich berührt sieht der Besuch zu Boden. Ihm ist schleierhaft warum er der Einladung gefolgt ist. Wer geht schon mit einem Tier mit? Einem sprechenden, das eigentlich nicht existieren kann. Was stimmt nicht mit ihm? „Mir würde da so einiges einfallen“, kichert es von hinten. Wütend ballt der Besuch die Hände. „Woher...“ Ein Kichern hallt durch den Raum, erfüllt ihn und ebbt wieder ab. „Ich weiß so einiges. Ich bin alt und habe viel gesehen, viel erlebt und viel gelernt.“ Süßlich schmiegen sich die Worte an Johns Ohr, scheinen ihn fast schon verführen zu wollen. „Ja, ja“, flüstert es. Die Stimme lockt. Sie lockt und der Besuch hat nicht die Kraft zu widerstehen. „Ich weiß nicht wo ich anfangen soll.“ Plötzlich hat John einen unglaublichen Druck auf den Schultern und im Genick. Fell streift seine Haut und warmer Atem streicht über sein Ohr. „Fangen wir am Anfang an. Fangen wir bei deiner Mutter an.“ Alles in dem Gast verkrampft sich augenblicklich. Eisige Kälte zieht auf und hüllt Johns Inneres ein. Abwesend nickt er. Ja, der Anfang ... Seine Mutter ... Er hat schon Jahre nicht mehr an sie gedacht. Er hat sie verbannt, aus seinen Gedanken und seinem Herzen. Doch sein Tun beeinflusst sie selbst heute noch. Der Besucher seufzt und holt noch einmal tief Luft. „Nun gut. Fangen wir an...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)