Das Lied des Regens von Zeilengestöber ================================================================================ Kapitel 3 – Kay --------------- Das einzig Gute, an ihrem unfreiwilligen Bad und seinem kleinen Umweg zu Bran, war die Tatsache, dass sie nun den Regen vollkommen ignorieren konnten. Der Stoff ihrer Kleidung war gar nicht in der Lage, noch mehr Wasser aufzunehmen. Der Galgenhumor half, bei klarem Verstand zu bleiben, da der Weg zurück zu seiner Hütte anstrengend war. Kay hatte nach Lucas Rettung Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und ein Blick zu dem Jungen verriet ihm, dass es ihm nicht anders erging. Kay wollte sich gar nicht vorstellen, was in Lucas Kopf nach dem Erlebten vorgehen musste. Seine Körpersprache zeigte, dass er sich noch stärker in sich verzogen hatte, als üblich. Es blieb zu hoffen, dass eine warme Mahlzeit Luca auf bessere Gedanken bringen würde. Auf eine andere Art könnte Kay ihm im Moment nicht helfen. Sie sehnten sich beide nach dem warmen Haus, was ganz sicher der Erschöpfung noch mehr in die Hände spielte. Was wäre jetzt schöner, als am Feuer zu sitzen, hoffentlich schnell trocken zu werden und eine warme Suppe oder Tee zu sich zu nehmen? Stattdessen schüttelte er Wassertropfen von sich, die ihm von den Haaren in die Augen tropften. In diesem Moment hatte Kay das Gefühl, dass es nicht mehr lange dauern könnte, bis ihm Schwimmhäute zwischen den Fingern wuchsen. Vielleicht würde das sogar helfen, sollten sie noch einmal in eine Situation wie vorhin kommen, was er nicht hoffte. Am besten sorgte er dafür, das Luca nicht mehr in die Stadt mitkam. Die Lage war schlimm. Ein sehr viel größerer Teil von Norel stand unter Wasser und so wie es aussah, staute es sich höher, als es bisher angenommen hatte. Sollte es so weiter regnen, könnten sie versuchen, das schlechte Wetter zu vermarkten. 'Die Stadt, die unter Wasser liegt' wäre ein guter Titel. Reisende könnten dann in Booten über die versunkenen Häuser hinweg fahren und sich das Leben hier von oben angucken. Kay schloss die Augen und versuchte, die Gedankengänge gegen strahlendem Sonnenschein auszutauschen … oder gegen irgendetwas anderes, damit er nicht mehr das Bild im Kopf hatte, wie Luca leblos im Wasser trieb. Kay sah zu Luca, der bisher nicht einmal aufgesehen hatte. „Alles okay?“, fragte Kay. Er bekam einen kurzen Seitenblick und ein Nicken als Antwort.   Schweigend und im strömenden Regen legten sie eine Meile nach der anderen zurück. Eine gute Stunde dauerte der Marsch, als nach einer Baumreihe endlich sein Haus in Sicht kam, in dem er nun seit einem Jahr lebte, wenn er nicht gerade auf Verkaufsreisen war. Es war nicht groß und auch nur spärlich eingerichtet, da er dort alleine lebte und nicht oft Besucher hatte. Darum hatte er keinen Sinn darin gesehen, eine größere Bleibe sein Eigen zu nennen. Aber da es ihm wichtig war, nach seinen langen Reisen in ein trockenes Heim zurück zu kehren, waren seine Dachschindeln und die hölzerne Fassade in bester Ordnung. Kay verstand schließlich sein Handwerk: Kein Regentropfen würde ins Innere finden. Ein Umstand, der ihm wohl zu seinem Besucher verholfen hatte. Nur wenige Tage nachdem der Regen zugenommen hatte, weckte ihn eines sehr frühen Morgens ein stetiges Klopfen. Luca hatte vor der Tür gestanden, nass und voller Matsch, und fragte, durch den Regen kaum hörbar, ob er hier bleiben könne. Wie hätte Kay bei dem Anblick des dürren und vor Kälte zitternden Jungen nein sagen sollen? Ein erleichtertes Seufzen entkam Kay, als sein Heim in greifbare Nähe geriet. Die solide Eichentür war inzwischen so mit Feuchtigkeit vollgesogen, dass sie beinahe schwarz wirkte und schwer über den Boden schliff, als Kay sie öffnete. Beide huschten sie ins Trockene und sperrten den Regen aus. „Du schaust nach dem Feuer, ich suche etwas, womit wir uns abtrocknen können.“ Luca nickte und kniete sich dann auf seinen Lieblingsplatz, nahe des Kamins. Er hinterließ auf dem Weg dahin kleine Pfützen in Form seiner Füße. Sie mussten dringend aus den nassen Sachen raus. Vor einer Woche hatten sie bereits einige dünne Seile an der Decke aufgespannt, um ihre nasse Kleidung trocknen zu können. Kay hoffte, dass die derzeit dort hängenden Hemden und Hosen bereits wieder tragbar waren, damit sie nicht länger als nötig mit dem vor Nässe an der Haut klebenden Stoff leben mussten. Kay holte eine alte Decke, die so gelöchert war, dass er sie eigentlich schon lange hatte wegwerfen wollen. Jetzt erhielt sie, zumindest für kurze Zeit, ein neues Leben und würde hoffentlich reichen, bis seine mickrige Anzahl an Trockentüchern wieder ihrem Namen gerecht wurden. Nachdem er sich die Haare abgetrocknet hatte, gab er die Decke an Luca weiter, der Holzscheite aufgelegt hatte und sich bereits wärmte. „Seh zu, dass du was Trockenes an den Körper bekommst“, sagte Kay. Er selbst war bereits dabei, sein Hemd auszuziehen. Es landete erst einmal über seinem einzigen Stuhl, wo es tropfen konnte, so viel es wollte. Um an die hängende Wäsche zu kommen, kletterte Kay auf seine Holztruhe. Die trockene Kleidung legte er erst einmal auf den Tisch, damit sie nicht wieder nass wurde und Luca an sie heran kam. Es waren Kleinigkeiten wie diese, die ihr Zusammenleben gerade am Anfang erschwert hatte. Dinge, die er aus Gewohnheit tat, stellten eine Hürde für Luca dar, der einfach zu klein war, um an höherliegende oder hängende Dinge zu kommen, oder dass der Junge keine Ahnung hatte, wie man einen Fisch ausnahm oder einen Eintopf zubereitete. Wie genau Luca bis jetzt gelebt hatte, wusste Kay nicht. Vor dem Regen hatte er die in der Umgebung lebenden Straßenkinder immer mal wieder für kleine Aufgaben angeheuert. Auf diese Weise hatte er Luca kennengelernt. Den stummen Jungen, der sich immer hinter ein paar der größeren versteckte. Die Scheu hatte Luca nach einer gewissen Zeit überwunden. Bis Kay die ersten leisen Worte gehört hatte, hatte gedauert und war noch gar nicht so lange her. Er war so überrascht darüber gewesen, dass er selbst erst einmal sprachlos war und eine Extrarunde über den Marktplatz brauchte, um sich daran zu erinnern, was für einen Auftrag er für die Kinder hatte. Noch immer fragte er sich, was Luca wohl erlebt haben musste, um so vorsichtig und zurückhaltend zu sein. Bislang hatte er nicht die richtigen Worte gefunden, um danach zu fragen und mit dem Regen war ein ganz neues Problem in ihr Leben getreten. Es fühlte sich gut an, die Nässe hinter sich zu lassen. Dazu kam der Geruch der Suppe, die sie in der Kochnische aufwärmten, und schon sah der Tag nach dem Schrecken nicht mehr so düster aus. Das, was im Dorf passiert war, sprach keiner von ihnen an, wobei Kays Gedanken immer wieder zu den Momenten unter Wasser zurückkehrten. Er hielt an seinem Entschluss fest, Luca nicht mehr nach Norel mitzunehmen. Es war inzwischen zu gefährlich – auch für ihn. Er würde Bran und den anderen verbliebenen Leuten ein letztes Mal ins Gewissen reden, dass sie endlich ihre Häuser verlassen sollten, bevor die Gebäude auseinander brachen und ihnen in den Fluten niemand mehr helfen könnte. Er dachte an das Wasser. Das Gefühl nicht atmen zu können … nicht zu müssen … Ein Schauer zog über seinen Rücken. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)