Götterdämmerung von Skadi91 ================================================================================ Kapitel 1: Fremd ---------------- Die Wellen reflektierten die zarten Sonnenstrahlen, die zaghaft durch den Nebel drangen. Die See war um diese Jahreszeit unruhig, doch hinter den hohen Felsen, welche die harte Wucht der anrollenden Wellen brachen, wurde es still. Dumpfes Rauschen. Kalte Gischt. Der Schrei einer Möwe. Nach Seetang riechende Luft, die einen Hauch von Eis mit sich trug. Das dumpfe Rauschen wurde lauter, kam näher. Hände griffen nach ihr, umklammerten sie fest und sie spürte den eisigen Wind, der an ihrem nassen Körper rüttelte. Sie hörte einen schnellen Herzschlag und fühlte sich in dem festen Griff geborgen. Geborgenheit. Etwas, das sie seit langer Zeit nicht mehr gespürt hatte. Sie blinzelte und sah den rauen Ozean in den Augen, die sie anblickten. Wieder ein Herzschlag. Stille. Stimmen summten in ihrem Kopf und etwas wurde über einen hölzernen Boden in ihre Nähe gezogen. Sie spürte die Vibration, als der Gegenstand gegen ihre Lagerstätte rumste. Eine Tür quietschte in den Angeln und es wurde hell in dem Raum, in dem sie sich befand. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie bereits seit einiger Zeit durch halbgeöffnete Augen den Raum betrachtete. Die Ausrichtung der Balken an der Decke ließen auf eine runde Bauweise schließen. Eine Hütte? Reet lag auf den schweren Balken und ein Schornstein ragte durch das Gebälk. Es roch nach Feuer. Jemand musste den Kamin geschürt haben und es blubberte in einem schwarzen, gusseisernen Kessel über der Kochstelle. Sie spürte etwas Warmes und Weiches auf ihrer Brust liegen. Die Stimmen wurden lauter und sie schrak hoch, so dass ihr die schwere Wolldecke in den Schoß fiel. Gesichter mit roten Nasen blickten sie an, ihre Münder bewegten sich, doch sie konnte die Worte nicht klar zusammenfassen. „Sie ist endlich aufgewacht. Ein Wunder, dass sie nicht an den Felsen zerschellt ist.“ Ein dicker Junge mit blonden, strubbeligen Haaren unter einem winzigen Helm, trat näher an sie heran. „Kannst du mich verstehen? Hicks, sieh nur! Ihre Handgelenke!“ Langsam griff er nach ihrer Hand. Sie zuckte zurück, ihr Atem ging schneller. Das behagliche Gefühl, dass sie vor einigen Augenblicken noch hatte, war verschwunden. Panik machte sich in ihr breit. Was war geschehen? Wer waren diese Leute? Ihre Gedanken kreisten wie wild und blieben dennoch ein zusammenhangloses Chaos. Die dunkle Tiefe der See. Der frostige Wind. Rauschen. Die Sonnenstrahlen. Die Augen. Sie blickte in die gleichen Augen, die zu den Händen gehören mussten, welche sie aus dem Meer gezogen hatten. Der Junge hockte auf dem Schemel neben ihrem Bett und sah sie schweigend an. Ein anderer fuchtelte mit einer Hand vor ihrem Gesicht herum. „Hallo, hallo, wer bist du?“ Wer bin ich? „Wie heißt du?“ In diesem Moment wusste sie nicht, welchen Namen sie trug, oder ob sie überhaupt jemals einen hatte. „Rotzbakke, jetzt hör auf damit. Du siehst doch, dass sie noch nicht ganz beisammen ist!“, mahnte ein großer, hagerer Junge mit braunen, wuscheligen Haaren. „Genau. Sie muss jetzt erstmal zu sich kommen. Astrid hat sich dazu bereit erklärt, ihr saubere Kleidung zu bringen. Sie lässt für das Mädchen gerade zusammen mit Sturmpfeil ein warmes Bad ein.“, sagte der dickliche Junge und reichte ihr einen dampfenden Krug. Der Geruch des Gebräus war ihr fremd, aber die Wärme die es versprühte war ihr sehr willkommen. Zögerlich griff das Mädchen danach. „Du musst ja ein Eisklotz sein. Bald gefriert das Meer wieder an manchen Stellen.“ Die Tür quietschte erneut und ein blondes Mädchen stand in der Tür. „Was ein Glück, dass sie wieder aufgewacht ist. Um ehrlich zu sein, hatte ich kurzzeitig Zweifel daran. Aber Taffnuss hat sich ja rührend um sie gekümmert!“, schmunzelte sie und sah mit einem amüsierten Blick zu dem Jungen auf dem Schemel. „Das Wasser war doch überhaupt nicht tief und bei dem furchtbaren Gejaule wäre auch jemand tatsächlich Totes noch einmal lebendig geworden!“, lachte der schwarzhaarige Junge, der zuvor noch vor ihrem Gesicht herumgefuchtelt hatte, spöttisch. „Mach dich bloß nicht lustig über ihn. Dieses Lied hat unsere Mama früher für uns gesungen, wenn wir krank waren!“ Ein extrem dürres Mädchen mit blonden Zöpfen trat neben ihn und hatte die Fäuste in die Hüfte gestemmt. Sie sah dem Jungen auf dem Schemel sehr ähnlich. Allerdings hatte dieser seine langen Haare zu vielen filzigen Strähnen gebunden, die mit einigen Perlen verziert waren. Er machte eine Grimasse in Richtung des Schwarzhaarigen mit dem Widderhelm, dann saß er weiterhin nur da und schaute auf das Mädchen, das er aus dem Wasser gezogen hatte. Ein Räuspern. „Ich würde sagen, die Jungs gehen jetzt besser mal und lassen uns mit ihr alleine. Sie muss sich aufwärmen und mal das Seegras aus den Haaren loswerden. Außerdem wird sie sich bestimmt auch mal etwas anziehen wollen!“ Das Mädchen, das zuvor noch in der Tür stand, scheuchte die anderen aus der Hütte. Dabei fiel ihr auf, dass der braunhaarige, große Junge eine Prothese am linken Bein trug. „Hab keine Angst! Du bist hier sicher. Wir wollen dir helfen!“, sagte sie in sanftem Ton zu dem Mädchen, das immer noch verängstigt in der hintersten Ecke ihres Schlafplatzes kauerte. „Ich bin Astrid.“ Sie lächelte und reichte ihr die Hand. Langsam griff das Mädchen, das immer noch den halben Ozean im Haar hatte, ihre Hand und stand auf. Der hölzerne Boden fühlte sich fest unter ihren nackten Füßen an. Jetzt erst bemerkte sie, was Astrid mit „etwas anziehen“ meinte. Sie trug ein schmutziges, immer noch feuchtes Leinengewand, das bis zu den Knien zerrissen war. Bei dem Blick an ihren Beinen entlang, sah sie auch die roten Striemen an ihren Fußgelenken. Bei jedem Schritt schmerzten die Stellen, aber die Aussicht auf ein warmes Bad, ließen sie vorwärts gehen. Astrid führte sie an den Händen, da das Mädchen sehr wackelig auf den Beinen war. Auch an ihren Handgelenken sah sie die Striemen. Sie waren etwas tiefer, als die an ihren Füßen. Wieder keimte in ihr bei diesem Anblick Panik auf. Was war nur passiert? Fesseln? Doch die warmen Hände von Astrid und ihr aufmunterndes Kopfnicken ließen die Panik wieder abflauen. Die Blonde legte ihr die Wolldecke über die Schultern und langsam liefen sie zu einer Hütte, die direkt neben der ersten stand. Diese Hütte war größer und auf dem Dachfirst thronte die blaue Skulptur eines, ihr unbekannten Wesens. Es waren nur wenige Meter, doch fröstelte es Astrid und auch ihre Gesichter röteten sich. Winter lag in der Luft. Die Sonne stand niedrig und dennoch blendete sie das unbekannte Mädchen, so dass es sich eine Hand über die Augen halten musste. Blumiger Dampf strömte ihnen beim Betreten der Hütte entgegen. In einem großen Zuber war heißes Badewasser eingelassen, auf dem sich rosiger Schaum türmte. Für einen kurzen Augenblick huschte ihr ein Gedanke in den Sinn, wie es Astrid wohl geschafft haben mag, diesen großen, vollen Badezuber von der Feuerstelle in ihre Hütte zu bringen. Eimerweise konnte sie das heiße Wasser nicht rangeschafft haben, denn das wäre bei den frostigen Temperaturen sofort ausgekühlt. Aber sie wurde von den vielen Waffen, hauptsächlich Äxte, an den Wänden abgelenkt. Ein richtiges Waffenarsenal. Dagegen wirkte der wohlige Badezuber mit seinen rosigen Schaumtürmchen und den hellen Handtüchern, die neben einem vergoldeten Spiegel lagen, einfach fehl am Platz. „Brauchst du Hilfe?“ Astrid deutete auf die wunden Füße, unsicher, ob es das Mädchen alleine in den hohen Badezuber schaffen würde. Doch es schüttelte den Kopf. „Ich habe dir ein paar Kleidungsstücke bereitgelegt. Nimm dir, was dir gefällt.“ Astrid nickte noch einmal aufmunternd und lies sie dann allein. Das Mädchen ging langsam auf ihr Spiegelbild zu. Trotz der prunkvollen Goldumrahmung, strahlte ihr Gegenüber nicht einmal ansatzweise etwas Würdevolles aus. Ein Häufchen Elend. Der Anblick passte, denn so fühlte sie sich auch. Eingefallene Wangen, dünne Ärmchen und Beinchen. Ein leerer Blick, der sich langsam mit Tränen füllte. Hätte sie sich mit einem Wort beschreiben müssen, es wäre „Grau“ gewesen. Vielleicht lag es auch nur an dem Halbdunkel der Hütte, oder an ihrem schmutzigen, zerfetzten Leinengewand, aber Grau beschrieb tatsächlich alles an ihr. Ihre Haut war, bis auf die blutig roten Striemen an ihren Gelenken, grau. Wie die Haut einer Wasserleiche. Ihr Gesicht hatte keine Farbe und auch ihre Haare, die ihr in hüftlangen, zerzausten Strähnen wild über die Schultern und den Hals fielen, hatten tatsächlich unter dem Schmutz einen silbrig weißen Ansatz. Sie war noch jung, vermutlich nicht älter als Astrid, dennoch sah sie uralt aus. Als läge die Last einer alten, gebrochenen Frau auf ihrem Herzen. Sogar ihre Augen hatten einen Grauton. Die tiefen Augenringe darunter, untermalten ihren traurigen Gesichtsausdruck nur. Sie hatte schöngeschwungene Lippen und eine hübsche, kleine Nase in ihrem herzförmigen Gesicht, aber das konnte an dem trostlosen Gesamtzustand auch nichts mehr ändern. Ihre Lippen zitterten, als sie sich zusammenreißen musste, nicht loszuheulen und gegen den Spiegel zu schlagen. Womöglich hätte sie dafür noch nicht einmal mehr die Kraft gehabt. Sie streifte sich das feuchte Gewand von ihren knochigen Schultern und es fiel wie ein alter Lumpen auf den Boden. An ihrer Flanke und den Oberschenkeln zeigten sich Schürfwunden. Als sie sich drehte, um das ganze Ausmaß der Verletzung im Spiegel sehen zu können, zuckte sie zusammen. Stechende Schmerzen. Eine Schnittwunde. Sie musste noch recht frisch sein. Die etwa handgroße Wunde zwischen ihren Schulterblättern bestand aus einem senkrechten Strich mit einer liegenden Mondsichel und einem größeren Gegenstück mit geraden Kanten. In der Mitte des Gebildes befand sich eine Art Auge. Ein beklemmendes Gefühl stieg in ihr bei diesem Anblick auf. WAS WAR PASSIERT? Um ihr rasendes Herz und ihre wirren Gedanken zu beruhigen, stieg sie in das wohlduftende, warme Bad und tauchte vollständig unter. Sie hörte nur noch das dumpfe Pochen ihres Blutes in den Ohren. Das Meer. Sie wurde immer ruhiger und das Gedankenkarussell drehte sich immer langsamer. Dann stand es still. Mit einem tiefen Luftzug tauchte sie wieder zwischen den Schaumkronen auf und sagte seit ihrer Ankunft ihr erstes Wort: „Aska!“ Astrid kehrte in ihre Hütte zurück, um nach dem unbekannten Mädchen zu sehen. Es stand vor dem Spiegel und kämmte sich das lange Haar. Es war silbrigweiß und fiel in glänzenden Locken bis zur Hüfte. Im Spiegelbild konnte Astrid einen leicht rosigen Schimmer auf den Wangen des Mädchens erkennen. Das Bad musste ihr wieder Leben eingehaucht haben. In der Kleidung wirkte sie mit ihren dünnen Gliedmaßen recht schlaksig. Sie hatte sich für die dunkelgraue Hose, schwarze, warme Fellstiefel und einen langen weichen, dunkelgrünen Pullover mit Kapuze entschieden. Über ihre dünnen Finger hatte sie Stulpen gezogen, die ihre verwundeten Handgelenke bedeckten. Um ihre Hüfte trug sie einen schwarzen, schmalen Gürtel. Astrid war etwas größer als sie und hatte auch eine muskulösere und kräftigere Statur, welche auf regelmäßige Trainingseinheiten schließen ließ. Das Mädchen erblickte Astrid im Spiegel und drehte sich zu ihr um. In ihren grauen Augen zeigte sich immer noch Traurigkeit und etwas Furcht, aber dennoch konnte man den Funken neuerweckten Lebensmutes deutlich erkennen. „Ich danke dir für all das!“ Die Stimme des Mädchens war leise und etwas rau, dennoch wohlklingend. Astrid winkte lächelnd ab. „Komm. Die anderen warten bereits mit dem Essen auf dich.“ Essen! Der stechende Schmerz in ihrer Magengegend wies sie darauf hin, dass sie bereits seit mehreren Tagen nichts mehr gegessen haben musste. Sie traten aus der Hütte. Wieder verdeckte das Mädchen seine Augen mit der Hand. „Du bist wohl sehr lichtempfindlich!“, stellte Astrid fragend fest. Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern und zog sich die Kapuze in die Stirn, so dass ihre langen Locken vorne über die Schultern hingen. Sie folgten einem kurzen, breiten Weg an einer Klippe entlang. Das Meer peitschte die Wellen gegen die Felsen vor der Bucht. Weiße Gischt spritzte auf. Ein Seil war von der oberen, bis zur untersten Klippe gespannt. Eine Seilrutsche. Trotz der zarten Sonnenstrahlen, tobte der Wind draußen auf hoher See. Von der Klippe aus, konnte man weit sehen. Einzelne hohe Felsen ragten aus der See und am Horizont endete das Meer mit einer sanften Krümmung unter dem, sich verdunkelnden Himmel. Es musste bereits früher Abend sein, denn die Sonne berührte im Westen beinahe den Meeresrand. Vier weitere Hütten standen rings um einen großen Platz, auf dem eine Art Katapult stand. Hoch oben auf dem ungespannten Arm des Katapults saß ein Vogel. Er hatte ein eigenartig. rundes Gesicht, große Augen und schien keine Federn zu tragen. Das Mädchen runzelte die Stirn, wurde von Astrid jedoch abgelenkt. „Wir sind da. Das ist die Hütte von Hicks. Fischbein hat Yakkoteletts zubereitet.“ Die Anderen saßen in einer halbdunklen Halle an einem großen, hölzernen Tisch. Diese Hütte war die größte, die sie in diesem winzigen Dorf sehen konnte. Die Hütte glich viel mehr einem richtigen Haus. Starke Eichenpfeiler stützen das Dach. Im Kamin loderte ein Feuer. Der aromatische Duft von würzigem Fleisch drang in ihre Nase. Der Junge mit den schwarzen Haaren und ihr Retter schienen sich zu streiten und das dürre Mädchen mit den Zöpfen mischte ordentlich mit. „Ich hätte das viel eleganter gelöst. Wir Jorgensons sind dafür bekannt, Heldentaten zu vollbringen.“, ätzte der kleinere der Jungs. „Pah, sieh dir doch Hühnchen an. Sie gedeiht prächtig. Und das nur durch meine führsorgliche Pflege. Wenn hier einer sich kümmern kann, dann wohl ich. Sieh nur das glänzende Gefieder.“ Der Blonde drückte dem Kleinen ein dickes Huhn ins Gesicht, worauf dieser angewidert zurückwich. „Ja, deine Wildschweine hast du auch spitzenmäßig gepflegt … und dann aufgefressen!“, merkte das dürre Mädchen an, was seine Zwillingsschwester sein musste, so ähnlich wie sie sich sahen. Das Huhn gab ein ersticktes „Gag“ von sich und schien für ein Federvieh sehr entrüstet. „Vielen Dank, dass du mir in den Rücken fällst!“, zischte ihr Bruder in ihre Richtung. „Was? Du hast die Schweine doch gepflegt, oder nicht?“ Achselzuckend drehte sie sich zur Tür. Der kleine Schwarzhaarige mit den geschwungenen Widderhörnern am Helm verstummte abrupt mit seinem höhnischen Gelächter. Alle starrten stumm zu den beiden weiblichen Schemen, die sich vor dem Hintergrund der untergehenden Sonne abzeichneten. Der hagere Junge stand auf und ging auf die beiden Mädchen zu. „Geht es dir besser?“ Das weißhaarige Mädchen nickte und blickte ihm dabei in seine grünen Augen. Er hatte ein markantes Kinn mit einer feinen Narbe. Seine braunen Haare standen zottelig in alle Richtungen. Er hatte einen sehr gütigen Blick und ein freundliches Lächeln auf seinen schmalen Lippen. Seine sanfte Stimme gab ihr ein gutes Gefühl. „Ich bin Hicks. Willkommen auf der Drachenklippe und fühl dich als Gast. Das sind übrigens Rotzbakke, Raffnuss und Taffnuss.“ Mit einem Kopfnicken deutete der große Junge auf die drei Streithälse. „Astrid hast du ja bereits kennen gelernt.“ Astrid lächelte und schob das Mädchen sanft Richtung Tisch. „Ich bin Fischbein und für heute Abend Ihr Koch, werte Dame.“ Der freundliche Dicke reichte ihr eine Schale. Es roch fantastisch und als hätte sie noch nie in ihrem Leben etwas gegessen, machte sich das unbekannte Mädchen über die Koteletts her. „Wow, du musst ja echt am Verhungern sein!“, stellte Hicks fest. Etwas beschämt zügelte das Mädchen das Tempo und nahm einen großen Schluck Met aus dem, ihr von Fischbein gereichten Horn. Die Anderen fingen nun auch an zu essen und sie mit Fragen zu löchern. „So, jetzt noch einmal. Wer bist du?“, fragte der Schwarzhaarige fordernd. Dabei zeigte er mit einem abgenagten Knochen auf das schweigsam kauende Mädchen. Sie hielt inne und starrte auf die übrigen Erbsen auf ihrem Teller. „Ja, wo kommst du her? Was machst du so den ganzen Tag, wenn du nicht gerade im Meer rumtreibst? Und was ist deine Lieblingsfarbe? Meine ist Rot. Blutrot um genauer zu sein.“, mampfte das Zwillingsmädchen mit vollem Mund und rammte bei der Nennung ihrer Lieblingsfarbe ein Messer in die Tischplatte. „Leute, Leute. Macht mal halblang.“ Hicks hob beschwichtigend die Hände und schüttelte seinen wuscheligen Kopf. „Hast du noch Schmerzen?“, fragte der Hüne und deutete dabei auf ihre Hände. Das war die einzige Frage, auf die das Mädchen eine Antwort wusste. „Ja, ein wenig.“, sagte sie leise und blickte dabei weiterhin auf ihren Teller. Sie fühlte sich sichtlich unwohl. Wer war sie? So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte keine Antwort darauf finden. Was tat sie den ganzen Tag? Bis vor wenigen Stunden wusste sie noch nicht einmal, dass sie im Meer gewesen war. Sie konnte sich nicht daran erinnern. Geschweige denn, einen Reim darauf bilden, warum sie überhaupt dort war, woher sie kam und woher diese Fesselstriemen an ihren Gelenken stammten. Und das eingeritzte Symbol auf ihrem Rücken. Das Alles hatte sicherlich nichts Gutes zu bedeuten. Wieder keimte in ihr die Verzweiflung auf und Tränen traten in ihre Augen. „Ich weiß es nicht!“, flüsterte sie und schüttelte ihren Kopf. Die weißen Locken wippten dabei auf und ab. Tränen rannen über ihre eingefallenen Wangen. „Ich kann mich an nichts mehr erinnern!“ Ihre Stimme zitterte. „Hey, ganz ruhig. Du hast sicherlich einen Schock erlitten. Du musst erstmal zu Kräften kommen, dann kommt bestimmt auch die Erinnerung wieder.“, sagte Astrid, die neben ihr saß und legte eine Hand sanft auf ihre zitternde Schulter. Mit tränenverschleierten, müden Augen blickte sie in das Feuer im Kamin. Kleine Funken stoben in die Luft und es knisterte behaglich. „Ich weiß bloß meinen Namen.“, flüsterte das Mädchen. Erwartungsvoll hob Hicks den Kopf und sah ihr dabei in die grauen Augen. „Aska! Mein Name ist Aska!“ Kapitel 2: Déjà-vu ------------------ Nach einem unruhigen Schlaf wachte Aska auf ihrem Bett, auf dem sie am vorigen Tag bereits zu sich kam, auf. Ihr Kopf schmerzte von den irrsinnigen Gedankengängen, die sie selbst in der Nacht nicht in Ruhe ließen. Unter der Wolldecke war es warm und die Felle, auf denen sie lag, waren weich und gemütlich. Geborgenheit! Sie setzte sich auf die Bettkante und zog sich die schwarzen Stiefel über. Die Wunden an ihren Gelenken schmerzten dabei. Sie biss ihre Zähne zusammen und atmete zischend ein, als sie aufstand. Aska fühlte sich deutlich kräftiger als am Tag zuvor, aber immer noch gerädert. Das warme Bad, das köstliche Mal und der lange Schlaf haben sie zu Kräften kommen lassen, so dass sie nicht mehr wankte. Aska beschloss nach den anderen zu suchen. Sie wollte sich für die freundliche Fürsorge der jungen Leute bedanken. Sie öffnete die quietschende Tür und atmete die frische Morgenluft ein. Es schien ein schöner Tag zu werden. Die Sonne trat zwischen den Nebelschwaden hervor und der Himmel klarte auf. Sie zog sich die Kapuze wieder über den Kopf, da das helle Licht sie blendete. Aska ließ ihren Blick hinüber zu den anderen Hütten schweifen. Etwas Großes landete lautlos vor ihr, als wäre es gerade vom Himmel gefallen. Aber nicht plump wie ein toter Seevogel, sondern anmutig, wie auf Samtpfoten. Doch das waren keine Pfoten. Das waren große Klauen und sie gehörten nicht zu einer großen Raubkatze, sondern zu einem schwarzen, schuppigen Echsentier, das ihr aus seinem zahnlosen Maul mit fischigem Atem entgegen gurrte. Aska stieß einen spitzen Schrei aus und schlug die Tür gerade wieder hinter sich zu. Nein! Sie schlief noch und träumte weiter ihre wirren Gedanken. Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die noch immer schmerzende Stirn, was den Schmerz nicht unbedingt linderte, sie aber um einiges wacher werden ließ. Sie atmete tief durch und öffnete entschlossen noch einmal die Tür, in der Hoffnung, dass das schwarze Wesen nicht da sein würde und sich nur als Hirngespinst einer noch schläfrigen jungen Frau entpuppte. Doch Aska wurde dieser Gefallen nicht getan. Das schwarze Untier kotzte ihr förmlich einen übelriechenden Brei aus Gräten und Fischinnereien vor die Füße. Sie war gerade dabei dasselbe zu tun, als hinter der Riesenechse ein brauner Schopf hervor lugte. „Guten Morgen!“, rief Hicks. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf und grinste peinlich berührt. „Tut mir leid! Er will nur nett sein. Ohnezahn, Aska möchte bestimmt etwas weniger Fischiges zum Frühstück. Aber Danke, mein Freund.“ Hicks tätschelte den flachen Schädel des Wesens. Dieses streckte den Kopf und gurrte wieder. Es schien fast so, als würde es lachen. Dann drehte es sich um, spreizte weite lederne Schwingen und hüpfte davon. Aska glotzte der Echse ungläubig hinterher. „Das war Ohnezahn, mein Drache.“, sprach Hicks zu ihr. „Drache!?!“, rutschte es Aska nur monoton heraus. Sie sah weiterhin in die Richtung, in die das Wesen verschwunden war. Dann sah sie abwechselnd zu Hicks und den halbverdauten Überresten eines Fisches. Nach dem Schreck war sie erstaunlich ruhig. Zu ruhig für jemanden, der das erste Mal in seinem Leben einen Drachen gesehen hatte. „Hast du noch nie einen Nachtschatten gesehen?“, fragte Hicks. „Einen was?“, entgegnete Aska verwirrt. „Das ist nicht verwunderlich. Ohnezahn scheint weit und breit der einzige seiner Art zu sein.“ Aska sah in seine grünen Augen, um festzustellen, ob nicht sie, sondern der Einbeinige verwirrt war. „Du meinst, er ist der einzige Drache?“, fragte sie ihn. „Äh, nein. Der einzige Nachtschatten. Von Drachen wimmelt es hier nur so.“, lachte Hicks unsicher. „Lass mich raten, du scheinst noch nie einen Drachen gesehen zu haben?“ Aska kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte bereits von Drachen gehört. „Nein! Gesehen habe ich noch nie einen. Glaube ich zumindest. Man erzählt sich aber, dass meine Urgroßmutter einen jungen verletzten Drachen gefunden hätte, als sie noch ein kleines Mädchen war.“ Hicks schaute sie nachdenklich an. „Hey! Du erinnerst dich an etwas. Du hast also noch nie einen Drachen gesehen? Das ist seltsam. Denn seit Generationen gehören die Drachen zu unserem Leben dazu. Ich kenne in unseren Gewässern niemanden, der nicht schon einmal versucht hätte, sie wieder loszuwerden.“ Jetzt legte Aska ihre Stirn in Falten. „Wieso loswerden? Dieser Drache – Ohnezahn, richtig? – schien sich doch bestens mit dir zu verstehen. Dir fast schon zu gehorchen.“ Wieder kratzte sich Hicks verlegen am Kopf: „Ja, fast gehorchen trifft es ganz gut. Er hat seinen eigenen Kopf, aber dennoch sind wir richtige Freunde und können uns aufeinander verlassen.“ Er wurde wieder ernst. „Früher waren die Drachen eine Plage und wir bekämpften sie. Doch dann lernten wir mit ihnen umzugehen und konnten sie sogar zähmen. Jetzt leben wir mit ihnen gemeinsam. Sie helfen uns sogar bei unserem alltäglichen Leben. Leider trifft das nicht auf alle Stämme in unseren Reichweiten zu. Es gibt noch immer genügend Menschen, die die Drachen jagen, korrupte Geschäfte mit ihnen machen und sie sogar töten. Daher wundert es mich, dass du noch nie einen Drachen gesehen hast.“ Jetzt grinste er wieder. „Das ist hier einfach unmöglich.“ Aska sah in der Ferne Fischbein, der auf einer Art rundem Felsbrocken saß, dem an der Vorderseite eine zähe, rötliche Flüssigkeit herauslief. Plötzlich vibrierte der Felsbrocken und winzige Flügelchen trugen Fischbein, samt dem Brocken mit schnellem Flügelschlag in die Lüfte. Hicks forderte Aska auf, mitzukommen. Fischbein kam ihnen auf seinem glupschäugigen Felsen entgegengeflogen. „Guten Mogen! Du bist heute deutlich stabiler auf den Beinen.“, freute sich Fischbein und rutschte von seinem Ungetüm. „Das ist Fleischklops, eine Gronkeldame und das liebste Schätzchen auf der ganzen Welt, nicht wahr, Engelchen?“ Er streichelte das rundliche Wesen mit der dicken steinartigen Haut. „Auch ein Drache?“, wandte sich Aska zu Hicks. Dieser nickte lächelnd und sprach zu Fischbein: „Sie hat noch nie Drachen gesehen.“ Verwundert zog Fischbein beide Augenbrauen hoch. „Was? Wie kann das sein? Sie muss von sehr weit weg kommen. Alle Gebiete, die wir auf den Karten eingezeichnet haben, sind Drachengebiete.“ Nun lächelte Fischbein Aska an: „Aber nun wirst du sie kennen lernen. Sie sind wunderbare Geschöpfe. Und mit Hicks und mir hast du die Drachenprofis direkt an der Hand.“ „Hat da jemand nach uns verlangt? Die Drachenprofis sind direkt zur Stelle.“ Die Zwillinge Raffnuss und Taffnuss thronten hoch oben auf zwei Köpfen. Die Köpfe hatten lange, spitze Zähne, große Augen, spitze Hörner und einen roten Stachelkamm auf ihren grünen langen Hälsen, die in einem Körper endeten. Aska wusste noch nicht so genau, wer von den Geschwistern welchen Namen trug. Generell schienen hier alle etwas eigenartige Namen zu haben. Aber tatsächlich wunderte Aska das schon gar nicht mehr so sehr. Hier kam ihr mittlerweile vieles surreal vor. „Gestatten? Kotz und Würg.“ Als wäre es eine Aufforderung gewesen, spie der Kopf auf dem das Mädchen saß, grünes Gas aus. Der andere Kopf, auf dem ihr Bruder mit einem selbstgefälligen Grinsen hockte, spuckte Funken und das Gasgemisch explodierte. Aska zuckte zusammen. Toll, Drachen schienen es mit dem Erbrechen von übelriechenden Konsistenzen zu haben. „Kotz und Würg. Sehr treffend.“, fand Aska. Ein Zischen drang durch die Luft. Ein Feuerball kam auf die Gruppe zugeschossen. „Nicht schon wieder, du dumme Echse. Hakenzahn!“, schrie es aus dem Gewirr aus Feuer, Flügeln und Klauen nur noch hervor. Mit einem harten Aufprall landete ein gigantischer Drache mit langen Hörnern vor ihnen. Er stand komplett in Flammen und ein jammernder Rotzbakke sprang von ihm herunter und schlug sich sein kokelndes Hinterteil aus. Die Zwillinge lachten sich schlapp und auch die zwei Köpfe des Drachen schienen sich zu amüsieren. Hicks und Fischbein dagegen verdrehten nur die Augen. Rotzbakke schritt auf Aska zu, wobei ihm immer noch eine Rauchschwade folgte. Mit stolzgeschwellter Brust und einem Gesichtsausdruck, als wäre ihm soeben nicht etwas Peinliches wiederfahren, setzte er zu Reden an, wurde jedoch von Astrid unterbrochen, die zwischen ihm und Aska auf einem stacheligen, bläulichen Drachen landete. „Wir kommen gerade von der Patrouille.“ „Und?“, fragte sie Rotzbakke, genervt darüber, dass er in seiner Lobesrede auf sich selbst, unterbrochen wurde. „Außer deinem brennenden Hintern war weit und breit nichts zu sehen.“, sagte Astrid spöttisch zu ihm und schob Aska in Richtung der Hütte, in der sie bereits gestern gegessen hatten. „Was war denn das? Die ist ja nur eifersüchtig! Sie kann es einfach nicht ertragen, wenn ich mit anderen Frauen spreche!“, hörte man Rotzbakke hinter ihnen maulen. Die anderen ignorierten ihn und folgten den beiden Mädchen. Aska war froh, dass Astrid sich wieder ihrer annahm. Sie bewunderte die junge Wikingerin, mit ihrem goldenen Haar, der durchtrainierten Figur und ihrem Selbstbewusstsein. „War das dein Drache?“, fragte Aska leise. Astrid nickte freundlich und schob ihr Haferbrei in einer Schüssel entgegen. So langsam dämmerte es dem bleichen Mädchen, wie Astrid den schweren Badezuber erhitzt haben musste, ohne ihn von einer Feuerstelle zu heben. Hicks und Fischbein gesellten sich zu ihnen. Die Zwillinge stritten sich um Irgendetwas und Rotzbakke setzte sich schmollend an das andere Ende des großen Tisches. Drachen! Da sie sonst keine großen Erinnerungen hegte, schien sie diese Tatsache nicht wirklich zu überfordern. Stattdessen dachte Aska darüber nach, wer ihr von ihrer Urgroßmutter und ihrem Drachen erzählt haben könnte. Gedankenversunken löffelte sie ihren Brei, während Hicks, Astrid und Fischbein von ihr wegrückten, ihre Köpfe zusammen steckten und flüsterten. Aska nahm nur einzelne Fetzen des Gesprächs wahr. Immer wieder grinsten die Drei verlegen, wenn sie sich bei ihrem Gespräch von Aska ertappt fühlten. „Vertraust du ihr? Denke damals an Heidrun. Verrat. Freundin. Sie braucht unsere Hilfe. Keine Geheimnisse über die Drachen.“ Die Drei steckten wohl in einer hitzigen Diskussion über sie. Den Namen Heidrun hatte Aska bereits gestern Abend gehört. Hatte nicht Fischbein erwähnt, dass er das Rezept von einer Heidrun hatte? Er sprach ihren Namen beinahe schon wehmütig aus. Er musste diese Heidrun sehr gerne haben. Aska versuchte genauer hinzuhören, aber nicht mehr in ihre Richtung zu schauen, um die Drei in Sicherheit zu wiegen. „Glaubst du ihr denn diese Geschichte mit der verlorenen Erinnerung?“, hörte sie Astrid Hicks fragen. „Du hast sie doch gesehen. Sie war Verzweifelt und voller Angst. Das kann man so gut nicht spielen. Und ihre Wunden an den Gelenken? Die kann sie sich wohl kaum selbst zugefügt haben.“ Hicks war einfach ein echt liebenswerter Kerl und er stand auf Askas Seite. Astrid hingegen schien skeptisch zu sein, was Aska einen leichten Stich versetzte. „Mal angenommen, sie hat sich diese Wunden wirklich nicht selbst zugefügt, wer könnte das aus welchen Gründen getan haben? Ja, vielleicht war sie eine Gefangene. Aber vielleicht auch zurecht? Wir wissen nichts über sie. Sie könnte gefährlich sein, eine Spionin. Es wäre möglich, dass sie gefangen wurde, weil sie etwas Schlimmes getan hat.“, hörte sie Astrid argumentieren. Und Aska musste ihr insgeheim zustimmen. Niemand wusste wer sie war, nicht einmal sie selbst. Was wäre, wenn Astrids Befürchtungen zutrafen? War sie tatsächlich gefährlich? Gefährlich für diese netten Leute, die ihr das Leben gerettet und sie so freundlich aufgenommen hatten? Aska spürte einen Klos im Hals. „Schau sie dir doch mal an, Astrid. Hast du wirklich den Eindruck, dieses dünne, fast gestorbene Mädchen könnte gefährlich sein? Was könnte sie schon anrichten?“ Astrid sah zu Aska herüber, die ihren Kopf mit einer Hand stützte und mit der anderen in ihrem Brei stocherte. Dieses Mädchen, mit den dünnen Armen und Beinen und diesen todtraurigen Augen würde ihr mit Sicherheit nichts anhaben können. Dafür war die Wikingerin einfach zu stark und zu schlau. „Ja, Hicks. Ich sehe es auch so, dass sie unsere Hilfe braucht. Aber dennoch sollten wir nicht zu Leichtgläubig sein und sie beobachten. Zumindest solange, bis wir herausgefunden haben, wer sie ist. Wir sollten ihr nicht gleich alle Geheimnisse der Drachenklippe verraten und sie nicht mit den Drachen alleine lassen. Nichts für Ungut, Fischbein, aber Heidrun hatte uns auch zuerst ganz schön an der Nase herumgeführt.“, sagte Astrid in sanftem Ton. „Das ist richtig. Dennoch seid ihr zwei nun die besten Freundinnen.“, zwinkerte Fischbein ihr zu. Astrid musste bei dem Gedanken lächeln. Sie seufzte. Hicks berührte ihre Hand. „Du wirst sehen, es wird alles nicht so schlimm sein. Dennoch wäre es mir recht, wenn du sie in deine Obhut nimmst. Sie scheint dich zu mögen und du könntest sie so im Auge behalten. Und wir gehen sicher, dass unsere Chaostruppe nicht irgendeinen Unfug mit ihr anstellt.“ Mit diesen Worten nickte Hicks in Richtung Rotzbakke, der immer noch eingeschnappt mit einem Löffel in seiner Schüssel herumrührte und zu den Zwillingen, die sich wohl wieder vertragen hatten, aber es dennoch bevorzugten, sich gegenseitig in die Bäuche zu boxen. Nun wusste Aska, woran sie bei den Bewohnern der Drachenklippe war. Sie hatte vollstes Verständnis für die Vorkehrungen, die zum Schutz der Drachenreiter von Astrid vorgenommen wurden. Wenn Astrid sie im Auge behielt, würde sie ihnen nichts anhaben können, selbst wenn sie tatsächlich eine Gefahr sein sollte. Außerdem bestand die Chance, noch einiges von Astrid zu lernen. Am Nachmittag machten sich die Drachenreiter auf zu einer Arena. Dort trainierten sie mit ihren Drachen und auch den Nahkampf mit Waffen. Aska schaute aus sicherer Entfernung zu, denn die ein oder andere Attacke der Zwillinge schien des Öfteren daneben zu gehen. Auch Rotzbakke hatte augenscheinlich Schwierigkeiten, Hakenzahn seinen Kommandos folgen zu lassen. Immer wieder roch es nach versengter Kleidung. Fischbein und seine Drachendame Fleischklops flogen gemütlich einen kleinen Parcours und Astrid lies ihren Drachen Sturmpfeil präzise ihre Stacheln, wie Wurfdolche auf die Ziele niederprasseln. Aska war schwer beeindruckt. Noch beeindruckender fand sie jedoch den schwarzen Drachen von Hicks. Ohnezahn flog waghalsige Manöver und das in einer enormen Geschwindigkeit. Er war wendiger als die anderen Drachen. Hicks schien dem Drachen Hilfen über eine Art Gestänge zu geben, welches vom Sattel ausgehend mit der Schwanzflosse des Nachtschattens verbunden war. Der Drache trug tatsächlich eine mechanische Flügelprothese. Wie sein Reiter! Was da wohl passiert war? Aska sah den beiden bei ihren grazilen Kunststücken noch eine Weile zu. Astrid spaltete gerade einen Schild mit ihrer Wurfaxt und Raffnuss – Aska konnte die beiden nun auch namentlich auseinander halten - rannte mit dem Helm voraus gegen einen weiteren Schild. Tatsächlich zerbarst dieser. Dümmlich grinsend kippte sie zur Seite und brabbelte „1 zu 0 für Team Thorston“ während ihr ein Speichelfaden aus dem Mundwinkel baumelte. „Willst du auch mal?“, rief ihr Bruder zu Aska hinauf, die dem ganzen Spektakel mit schmerzverzerrtem Gesicht zugesehen hatte. Womöglich verspürte sie tatsächlich mehr Schmerzen beim bloßen Zusehen, als Raff, die bereits wieder wankend aufstand. Taffnuss streckte den leicht verbeulten Helm seiner Schwester, der entsetzt dreinblickenden Aska entgegen. „Ja, vielleicht wäre es gar nicht verkehrt, wenn du auch ein wenig trainierst. Zuschauen muss doch auf Dauer langweilig sein.“, meinte Fischbein, der mit Klöpschen neben ihr auf der Tribüne landete. Die Holzbank knirschte verdächtig. Astrid winkte sie zu sich herunter in die Arena. Zögerlich kletterte sie hinunter und etwas unbeholfen griff Aska nach der ihr gereichten Axt. „Versuch sie mal auf den Schild da drüben zu werfen“, motivierte Astrid sie. Aska hob die schwere Axt mit beiden Händen an und konnte sie kaum über ihre Schulter schwingen, geschweige denn damit ausholen. „Vielleicht versuchen wir es doch mit einer leichteren Waffe.“ Astrid gab ihr einen Speer. Dieser war etwas leichter, aber für das zierliche Mädchen auch nicht wirklich händelbar. Immerhin konnte sie mit dem Speer ausholen und ihn….nicht werfen. Der Speer fiel ihr mehr aus den Händen, als dass er flog. „Öhm, naja. Wenn der Angreifer nah genug ist, könntest du den Speer immerhin zielsicher vor seine Füße werfen. Mit etwas Glück stolpert er darüber.“, meinte Taffnuss mit fachkundiger Miene. Hicks übergab ihr ein leichtes Schwert. „Es ist aus Gronkeleisen. Dadurch ist es sehr leicht, aber viel stärker als Stahl. Versuch es damit.“ Aufmunternd nickte er Aska zu. Er erinnerte sich nur zu gut an seine ersten Versuche, mit den starken Waffen der Wikinger umzugehen und hatte etwas Mitleid mit dem zarten Mädchen. Fischbein schob eine Puppe aus Stroh in die Mitte der Arena, die als potenzieller Angreifer dienen sollte. Entschlossen griff das Mädchen das mit Leder umwickelte Heft des Schwertes und holte zu einem festen Hieb aus. „Gag Gaahg.“ Schrilles Geschrei. Federn wirbelten auf. Tja, das Schwert tat das, was der Speer nicht tat. Es flog und verfehlte das Hühnchen nur knapp. Verdutzt blickten alle dem vor Empörung gackernden Federvieh hinter her. Beschämt sah Aska auf ihre Stiefel. „Eine Disziplin haben wir ja noch. Die Königsdisziplin.“, strahlte Hicks und tätschelte seinen Drachen, doch Astrid trat vor ihn und sagte hastig: „Genau. Selbstverteidigung mit vollem Körpereinsatz.“ Leicht verärgert sah sie kurz zu Hicks. Der hob nur entschuldigend die Arme. „Ja, lasst mich ihre Gegnerin sein.“ Raffnuss hob begeistert ihre Hand, blickte allerdings eindeutig an Aska vorbei. Sie schien von dem Aufprall immer noch etwas zu schielen. „Ok. Aber reis dich ein wenig zusammen. Und keine unfairen Tricks, Raff!“, ermahnte sie Hicks. Aska war es sichtlich unangenehm gegen jemanden anzutreten, der anscheinend einen Schädel aus Stahl hatte. Raffnuss war zwar ähnlich dürr wie sie selbst, aber um einiges größer und in ihren blauen Augen blitzte die Kampfeslust, auch wenn sie immer noch in verschiedene Richtungen schauten. Aska wollte jedoch nicht wie ein Feigling dastehen, schon gar nicht wenn Astrid und Hicks sich so viel Mühe gaben, eine geeignete Disziplin für sie zu finden. Sie musste es wenigstens probieren. Fischbein mimte den Schiedsrichter und läutete die erste Runde des Zweikampfes ein. Beim ersten Haken konnte Aska noch ausweichen, bei der Geraden, die direkt darauf folgte jedoch nicht mehr und sie ging zu Boden. Raffnuss hatte anscheinend der Ehrgeiz gepackt, denn sie stieß einen gellenden Schrei aus und stürzte auf das weißhaarige Mädchen. Angesteckt von dem Schrei, stürmte plötzlich auch ihr Bruder los und sprang mit lautem Wikingergebrüll auf die raufenden Mädchen. „Stopp. Sofort aufhören. Was macht ihr Hirnis da?!“ Hicks lies Ohnezahn einen violetten Strahl speien, der das Kampfgetümmel abrupt beendete. Taffs gehörnter Helm hatte sich in den Zöpfen seiner Schwester verheddert und Raffnuss hatte sich in seinem Bein verbissen. Unter ihnen begraben, kauerte ein zitternder Haufen, der hysterisch schluchzte. Astrid stürzte zu dem weinenden Mädchen, das mit dünnen Fingern versuchte, seinen Kopf zu schützen. „Hast du dich verletzt?“ Sie schlang ihre Arme um die bebenden Schultern und versuchte Aska zu beruhigen. Sie strich ihr vorsichtig die verheulten Strähnen aus dem Gesicht und untersuchte sie oberflächlich nach Verletzungen. In ihren grauen, weit aufgerissenen Augen stand das blanke Entsetzen. Die Wikingerin erkannte die Todesangst in ihrem Ausdruck. Die Zwillinge kassierten in der Zeit einen heftigen Anpfiff von Hicks und schauten bedröppelt und beschämt drein. „Ich eile meiner Schwester immer zur Hilfe. Das weist du doch. Wir sind doch das Thorston-Team.“, versuchte sich Taffnuss zu entschuldigen. „Ihr mistet zur Strafe die nächsten zwei Wochen ganz allein den Stall aus!“, herrschte Hicks die beiden an. Bei der Aussicht darauf, in der nächsten Zeit keinen stinkigen Drachendung schippen zu müssen, grinste Rotzbakke zufrieden. Er hatte das Spektakel vom Rücken seines Riesenhaften Alptraums aus angesehen. Astrid und Fischbein kümmerten sich indes um das traumatisierte Mädchen und brachten sie zurück in die Hütte. Außer einer Beule an der Stirn, schien sie jedoch unverletzt zu sein. Aska hatte aufgehört zu zittern und zu schluchzen, in die Augen schauen konnte sie Astrid allerdings immer noch nicht. Nicht mehr vor Angst, sondern vor Scham. „Es tut mir furchtbar leid was passiert ist.“, entschuldigte sich Astrid bei ihr. „Ich hätte wissen müssen, dass die Zwillinge sich nicht im Griff haben.“ Aska schüttelte heftig ihre silbrigen Locken. „Nein. Du kannst nichts dafür. Auch die Zwillinge nicht. Ich habe nur….“ Sie verstummte. Es dauerte einen kurzen Moment, dann atmete sie noch einmal tief durch und begann von vorne. „Ich habe nur … eine Art Déjà-vu gehabt. So als hätte ich so etwas schon einmal erlebt. Ich bin mir nicht sicher, ob es sich um die Erinnerung eines Traums handelt, oder tatsächlich geschehen ist.“ Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen und sie musste kräftig Schlucken. „Ich habe allerdings das Gefühl, dass es Realität war.“ Aska hatte in dem Moment, als sie auf dem Boden lag und die Geschwister auf sie zu stürmten, Schmerzen am ganzen Körper. Es fühlte sich an, als würden ihr wieder stumpfe Gegenstände über die Gliedmaßen geprügelt werden. In einem Traum verspürt man keine echten Schmerzen. „Ich glaube … ich wurde ….“ Astrid sah sie entsetzt an. „Du wurdest misshandelt?“ Der Anblick Askas, der sich der jungen Wikingerin bot, erübrigte eine Antwort. Fischbein saß kreidebleich auf einem Hocker und hörte angespannt zu. Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und Rotzbakke trat gemeinsam mit Hicks in die wohlig warme Hütte. Es war bereits Dunkel geworden. „Ich begleite dich noch zu deiner Hütte. Du solltest dich ausruhen!“ Astrid warf Hicks vielsagende Blicke zu und nickte in Richtung Fischbein, der mit ernster Miene heißen Met in Becher füllte. Während Astrid und Aska in die Nacht verschwanden, berichtete er den anderen, was das Mädchen ihnen soeben offenbart hatte. In dieser Nacht schliefen alle sehr unruhig. Fischbein rollte sich unter unangenehmen Träumen in seinem Bett hin und her. Nur der üppige Korpus seines Drachen, der zwischen Bett und Kamin schlummerte, verhinderte sein Herausplumpsen. Astrid blieb noch eine Weile bei Hicks. Eng umschlungen schauten sie schweigend in die kleiner werdenden Flammen, bis sie Arm in Arm einschliefen. Rotzbakke träumte von schreienden Mädchen und brüllenden Zwillingen, bis er zwischendurch aufwachte und merkte, dass es sich um sein eigenes lautes Schnarchen handelte. Die Zwillinge plagte das schlechte Gewissen und Raffnuss noch zusätzlich Kopfschmerzen. Früh am Morgen stapften zwei Paar gleichgroße Stiefel über die dünne Frostschicht, die sich auf dem Boden über Nacht gebildet hatte. Es klopfte. Aska schrak hoch. Sie hatte noch sehr lange wach gelegen und über das Erlebte gegrübelt. Dementsprechend müde war sie noch. Es klopfte erneut. Aska schlüpfte aus dem Bett und tapste mit nackten Füßen über den rauen Holzboden. Die Zwillinge standen vor ihr und trugen einen großen Korb in ihrer Mitte. „Wir wollen uns bei dir entschuldigen!“, sagte Raffnuss mit ihrer krächzenden Stimme, in der echtes Bedauern mitschwang. „Wir haben dir ein Frühstück vorbereitet. Raff hat sogar ein Brot gebacken. Gut, Kotz und Würg haben ihr dabei geholfen, aber sie haben es mit ihren Tatzen – Raff natürlich mit ihren Händen…“ „Und mit meinen Füßen.“, fügte die Schwester noch hinzu. „...und mit ganz viel Liebe geknetet.“, beendete Taffnuss seine Lobpreisung. Sie traten an Aska vorbei, stellten den Korb neben den Tisch und fingen an, die mitgebrachten Sachen auszupacken. Taff zog sogar ein, etwas in Mitleidenschaft geratenes Sträußchen erfrorener Blumen zwischen den Schüsseln und Töpfen hervor. „Für dich! Ich weiß, das ist nur ein schwacher Trost, aber …“, setzte er bedeutungsschwer an, „das Beste kommt noch! Weil wir das alles wirklich wieder gut machen wollen und du eine echt schlechte Kriegerin bist – nichts für ungut – haben wir uns beide entschlossen, von nun an deine Leibgarde zu sein!“ Aska brachte aufgrund ihrer Verschlafenheit und auch wegen der unerwarteten Überraschung nur ein „Hm“ heraus. Etwas leiser fügte Taffnuss, der anscheinend einen überschwänglichen Freudentanz erwartet hatte, hinzu: „Das ist leider älles was wir dir geben können. Es tut uns wirklich sehr leid!“ Er hatte kurzzeitig enorme Ähnlichkeit mit dem zerknickten Sträußchen, das er bei seiner Ansprache vor seine Brust gehalten hatte. Aska versuchte ihre Müdigkeit zu vertreiben und auf die Entschuldigung der Zwillinge angemessen zu reagieren. Sie nahm das traurige Sträußchen entgegen und schaute Taff in die Augen. Die Geschwister mussten sich doch gar nicht entschuldigen, sie hatten schließlich nicht geahnt, was ihre Aktion in ihr auslösen würde. Klar, sie waren ungestüm und dachten erst nach, wenn es schon zu spät war, aber sie hatten ihr Herz am rechten Fleck. Und sie besaßen etwas, was viele Menschen nicht besitzen. Die Fähigkeit sich Fehler einzugestehen und sich dafür zu entschuldigen. Sie lächelte. Das erste Mal seit Langem. Taffnuss schien sichtlich erleichtert und lächelte zurück. „Ähm, wollen wir vielleicht mit dem Frühstück beginnen?“, unterbrach Raffnuss die beiden Grinsebacken. Die Drei setzten sich um den Tisch und machten sich über die Leckereien her. Ja, die Speisen kamen bei weitem nicht an die Yakkoteletts von Fischbein heran, aber sie kamen von Herzen, was ihnen eine besondere Note verlieh und Aska war sich sicher, dass sie schon deutlich schlechter gegessen haben musste. Nur das Brot rührte sie vorsichtshalber nicht an. Es klopfte wieder an der Tür. Astrid stand auf der Türschwelle. „Ach, hier steckt ihr.“, stellte sie mit leichter Verwunderung fest. „Ihr habt doch nicht schon wieder etwas total Bescheuertes ausgeheckt?“, fragte sie mit deutlichem Argwohn an die Zwillinge gerichtet. „Nein! Wir entschuldigen uns nur mit einem selbstgemachten Frühstück bei Aska!“, entgegnete Raffnuss kauend. „Das ist ja tatsächlich … sehr nett.“, stellte Astrid verblüfft fest. „Und wir sind ab heute ihre persönliche Leibgarde.“ Stolz verkündete Taff die, für Astrid eher unter „total bescheuert“ fallende Neuigkeit. Aska zuckte nur unschuldig lächelnd mit den Schultern. „Hey, was ist denn hier los?“ Hicks kam mit Fischbein und Rotzbakke im Schlepptau durch die Tür. „Frühstück. Setzt euch doch zu uns.“ Die kleine Hütte, die ursprünglich als Lagerhaus diente, füllte sich. Nicht nur mit Menschen und dem Geruch von Essen, sondern auch mit dem wohligen Gefühl von Leichtigkeit und Freude. Vergessen war der Schrecken vom Vortag und die Drachenreiter brachten das traurige Mädchen mit ihren Anekdoten zum Lachen. So vergingen mehrere Tage, in denen Aska einiges über die Drachen lernte, die Geschichte von Ohnezahn und Hicks erfuhr, wilde Erzählungen über Berserker und Flügelmädchen hörte und in den Kampfkünsten unterrichtet wurde. Natürlich wurde darauf geachtet, dass sie nie zu viele Geheimnisse um die Drachen erfuhr, aber das störte das Mädchen nicht. Sie wusste schließlich aus dem heimlich belauschten Gespräch, was die Beweggründe dafür waren und diese leuchteten ihr durchaus ein. Trotz der Waffenkunde und des Trainings wurde aus ihr in dieser kurzen Zeit keine sonderlich gute Kämpferin. Taff und Raff schworen jedoch auch bei jeder Gelegenheit, sie bis auf das Bitterste zu verteidigen, Thorston-Ehrensache, versteht sich. Sie mochte die Drachenreiter. Hicks, der von Anfang an sehr freundlich zu ihr war. Fischbein, der unheimlich viel über Drachen wusste, prima kochte und einfach gutmütig war. Astrid, die sich um sie kümmerte und dennoch stets im Auge behielt, wie eine große Schwester. Sogar der Hitzkopf Rotzbakke, der anscheinend ein Egoproblem hatte, aber niemandem wirklich etwas Böses wollte. Die Zwillinge verfolgten sie nun fast schon auf Schritt und Tritt, was zeitweise sehr anstrengend sein konnte, insbesondere, wenn sie sich mal wieder stritten oder gegenseitig kleine Gemeinheiten an sich erprobten. Aska nahm ihre Anwesenheit mit Humor, schließlich brachten die beiden sie tatsächlich oft zum Lachen, was meist an ihren doch wirren Konversationen und ihrer blühenden Fantasie lag. Auch an die Drachen hatte sie sich gewöhnt. Sogar der strenge Geruch machte ihr nichts mehr aus. Sie hatte erkannt, dass diese Echsenwesen wirklich sehr freundlich und loyal waren. Auch fühlte Aska sich durch sie beschützt. Insgesamt war es ein wirklich schönes Leben auf der Drachenklippe und das Mädchen, das vor wenigen Tagen mehr tot als lebendig war, verspürte jeden Tag Dankbarkeit und Zufriedenheit. Aber ihre Melancholie verlor sie auch in den nächsten Tagen nicht, obwohl der erste Schnee fiel und das Jubeln und Lachen der Reiter, die mit den Drachen lustige Rutschpartien veranstalteten, die eisige Luft füllte. Immer wieder überkamen sie in der Nacht Angst und Verzweiflung. Obwohl sie ständig darüber nachdachte, wer sie war und woher sie kam, sogar Buch über ihre bisherigen Erinnerungen führte, kam sie der Wahrheit keinen Schritt näher. Oft wachte sie aus Alpträumen auf. Vermummte Gestalten verfolgten sie, fesselten ihre Arme und Beine, schlugen auf sie ein. Dann ein kleines Mädchen mit silbrigen Haaren, das ihr sehr ähnlich sah. Sie hatte einen kleinen pechschwarzen Drachen auf dem Schoß. Dann wieder Stille. Rauschen. Stille. Die, an raue See erinnernden blaugrauen Augen, denen sie ihr Leben verdankte. Taffs Augen. Sie hatte zwar Allen bereits mehrfach gedankt, aber bei ihm hatte sie sich tatsächlich noch nicht direkt für die Rettung bedankt. Dabei fing das friedliche und geborgene Leben mit ihm an und ihr Leid endete. Sie beschloss, dies bei einer guten Gelegenheit endlich nachzuholen. Kapitel 3: Berk --------------- Sie war bisher noch nicht auf einem Drachen gesessen und wollte sich mit diesem Wunsch auch nicht aufdrängen, da sie wusste, wie wertvoll die Drachen für ihre neuen Freunde waren. Doch nun sollte der Tag kommen, an dem es endlich soweit war. Am Abend, genau vierzehn Tage nach ihrer Rettung, schlug Hicks beim Essen vor, am nächsten Tag einen Ausflug nach Berk zu machen. „Wir brauchen dringend neue Lebensmittel und Händler Johann hat sich an der Bucht von Berk angekündigt. Vielleicht hat er neue Kräuter für deine Wundsalbe dabei.“ In den zwei Wochen waren ihre Wunden an den Gelenken deutlich besser geworden. An manchen Stellen schienen sich Narben zu bilden, aber das störte Aska nicht. Sie war nur froh, dass die Schmerzen, insbesondere die an den Fußgelenken, nachgelassen hatten. Regelmäßig rührte Fischbein ihr die Salbe an und behandelte damit ihre wunden Stellen. Nur die Wunde zwischen ihren Schulterblättern bereitete ihr besonders in der Nacht, wenn sie sich versehentlich auf den Rücken drehte, noch höllische Schmerzen. Sie selbst kam nur schwer an diese Stelle dran und sie hatte bisher niemandem von dem eingeritzten Symbol erzählt. Sie wusste, dass dieses Mal etwas Schlechtes bedeuten musste und sie wollte ihre Freunde damit nicht verunsichern. Zu groß war die Angst, das neugewonnene Leben, mit all seinen Annehmlichkeiten wegen eines Mals, das einer Verstümmelung glich, aufs Spiel zu setzen. Manchmal betrachtete sie es vor einem Spiegel, den sie sich von Astrid geborgt hatte, um den Wundverlauf zu beobachten. Es war eindeutig entzündet und bedurfte dringender Behandlung. Aber bei ihrem Anblick stellte sie auch fest, dass sie wieder kräftiger wurde. Ihre Silhouette war immer noch sehr schmal und ihre Gliedmaßen zierlich, aber ihr Gesicht wirkte nicht mehr so ausgemergelt und auch die tiefen Augenschatten waren verschwunden. Ihre Haut war nach wie vor sehr bleich und sie musste sich weiterhin mit ihrer Kapuze vor dem hellen Tageslicht schützen, denn ihre Augen hatten sich immer noch nicht daran gewöhnt. Bei genauerem Betrachten stellte sie sogar winzige Sommersprossen auf ihrer Nase fest. Sie war hübsch geworden. Nichts im Vergleich zu Astrid, die strahlende tapfere Kriegerin, aber dennoch recht attraktiv. Nur der melancholische Ausdruck ihrer grauen Augen war geblieben. „Aska, möchtest du mitkommen?“ Hicks Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatte in den vergangenen Wochen viel über Berk und seine Bewohner gehört. Von Hicks Vater, Grobian, den Ersatzreitern in der Drachenakademie, von der alten Gothi und von Händler Johann, der die Berkianer mit Kostbarkeiten aus fernen Ländern belieferte. Bei dem Gedanken an einen Ausflug mit den Drachen, huschte ihr ein Strahlen über das Gesicht. Begeistert nickte sie und ihre langen Locken hüpften fröhlich auf und ab. In der Nacht konnte sie wie so häufig nicht schlafen. Diesmal nicht einmal wegen ihren düsteren Gedanken, sondern vor Aufregung. Die Reiter hatten eine so tolle Bindung zu ihren Drachen und waren richtige Künstler der Lüfte. Es musste ein großartiges Gefühl sein, ein so mächtiges Wesen unter sich zu fühlen, sein Vertrauen zu gewinnen und Eins mit ihm zu werden. Unter den wachsamen Augen der Besitzer, durfte Aska manchmal die Drachen füttern und sogar streicheln. Sie mochte, wie sich die Haut der jeweiligen Arten unterschied. Sie war rau und schuppig, glatt und geschmeidig, manchmal auch alles zusammen. Kotz und Würg, die zwangsweise Mitglied ihrer persönlichen Leibgarde waren, trugen sie sogar manchmal spazieren. Den etwas tollpatschigen Drachen mit den zwei Köpfen und den beiden identischen Schwänzen, hatte sie in ihr Herz geschlossen. Er erinnerte sie an seine beiden Reiter, denn auch die Köpfe des Drachen schienen immer wieder Meinungsverschiedenheiten untereinander zu haben. Der Drache schien Aska zu mögen, denn er folgte meist ihrem Weg und Taffnuss und Raffnuss wurden einfach ignoriert. Sturmpfeil war der einzige Drache, den sie bisher noch nicht streicheln durfte. Astrid war unglaublich hilfsbereit und freundlich zu Aska, aber bei ihrem geliebten Drachen machte sie auch bei ihr keine Ausnahme. Die Vorfreude auf den morgigen Tag weckte unter dem silbrigweißen Schopf einen Tatendrang, der sie nicht mehr in ihrem Bett hielt. Aska warf sich einen schwarzen Mantel aus Schafswolle über die Schultern und schlich sich aus der Hütte. Vorsichtig stakste sie auf Fußspitzen durch den Schnee, an den anderen Hütten vorbei, um niemanden zu wecken. Sie wusste, dass sie sich eigentlich nicht unbeaufsichtigt auf der Insel herumtreiben sollte. Aber sie verspürte den Drang, sich an die Klippe zu setzen und den klaren Sternenhimmel zu betrachten. Die Luft roch nach Schnee und salziger Gischt. Aska schob die Kapuze zurück, die sie gegen den beißenden Wind aufgezogen hatte. Es musste Neumond sein, denn nur eine schmale Sichel zeichnete sich schwach am schwarzblauen Horizont ab. „Gag gaag.“ Sie zuckte zusammen und drehte sich in die Richtung, aus der das Gackern kam. Ein Huhn rannte aus einem Gebüsch hervor und verschwand in der Dunkelheit. Sie stieß ein kurzes, leises Lachen aus, denn sie amüsierte sich über ihre eigene Schreckhaftigkeit. Gedankenversunken betrachtete Aska die funkelnden Sterne und die Bucht, in die in dieser Nacht sanfte Wellen rollten. Sie dankte still den Asen für die Erschaffung dieses wunderbaren Flecken Erde. Weiße Wölkchen kräuselten sich bei jedem Atemstoß sanft vor ihrem Gesicht. Es knirschte hinter ihr. Sie wirbelte herum und sah einen zwar noch verschlafenen, aber auch leicht verärgert wirkenden Taffnuss, der das dicke Hühnchen unter seinen linken Arm geklemmt hatte und mit dem anderen eine Faust in die Seite stemmte. „Du bist unvorsichtig!“, sagte er nur in müdem Tonfall. „Ich hätte jetzt auch ein hinterhältiger Drachenjäger sein können und du hast noch nicht mal einen Speer dabei, den du ihm vor …“, sprach er weiter und tätschelte den Kopf des Hühnchens. „Ja, ich weiß. Tut mir leid! Wirklich! Aber ich musste mal alleine raus. Ich konnte nicht schlafen!“, unterbrach ihn Aska schuldbewusst. Tatsächlich stand der Wikinger mit den blonden Strähnen sehr dicht hinter ihr und sie hatte ihn trotz des knirschenden Schnees erst zu spät gehört. „Schon gut! Das kenne ich. Es ist schon manchmal anstrengend, ständig mit jemanden zusammen sein zu müssen. Das fing schon bei uns im Mutterleib an. Nie hatte man seine Ruhe. Ich schätze meine Schwester sehr, aber ihr fischiges Haar kann ich nur schwer ertragen!“ Er schwang sich behände neben sie auf den Rand der Klippe und lies seine Beine baumeln. Er war wohl ziemlich schwindelfrei, denn Aska hatte sich das nicht getraut, immerhin ging es steil und sehr tief hinunter. Das Hühnchen pickte hinter ihnen im Schnee. Schweigend schauten sie eine Weile in den funkelnden Sternenhimmel. „Danke, Taff!“, begann Aska. Der Blonde drehte sich zu ihr. „Danke, dass du mich aus dem Wasser geholt hast. Du hast mir das Leben gerettet!“ Taffnuss lächelte milde. „Keine Ursache. Wir Thorstons sind bekannt für unsere glorreichen Taten. Naja, zumindest erzählt man sich, dass unser Urgroßonkel Hartnuss der Hohle auch schon mal eine Heldentat begangen haben soll.“ Amüsiert zog Aska eine Augenbraue hoch. „Du bist für mich auf jeden Fall wirklich ein Held!“, sagte sie nachdrücklich. „Oh, nett dass du das sagst. Meistens höre ich nur Worte wie Hirni, Schafskopf, Trottel usw. Und natürlich auch Brüderchen.“, er seufzte. Aska hatte mitbekommen, dass diese Worte des Öfteren fielen, aber meist in Situationen, in denen das Handeln der Zwillinge einfach keine andere Bezeichnung zuließ. Sie schaute ihn ein wenig peinlich berührt an. „Ich bin mir sicher, dass ihr beiden noch mehr auf dem Kasten habt, außer Streiche und Streitereien. Ich meine, äh, ihr heckt immerhin sehr kreative Streiche aus und eurer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und außerdem scheint ihr sehr waghalsig … also äh, schmerzfrei… ich meine mutig, ja genau, sehr mutig zu sein.“, sagte das Mädchen mit den, im Sternenglanz funkelnden Haaren, hastig. Taffnuss schaute sie etwas skeptisch an, als befürchtete er, sie würde sich über ihn lustig machen wollen. Sie wandte sich von seinem Blick ab und sah zurück aufs Meer. „Du bist wirklich mutig. Und ja, eure Streiche nerven oft, aber … du hast dein Herz am rechten Fleck. Deine Schwester auch. Ihr seid so ungestüm und denkt über euer Handeln nicht immer nach, aber ihr würdet alles für einander und eure Freunde tun. Ihr habt irrsinnige Ideen, aber viele von ihnen sind tatsächlich brauchbar. Eure Erfindung mit der Seilrutsche zum Beispiel. Ich meine, Hicks ist ein furchtbar schlauer Kopf, aber er wirkt manchmal einfach zu festgebohrt, zu strukturiert. Es braucht Leute wie euch, die einfach die Grenzen des Möglichen überschreiten, denn sonst würde man nie erfahren, ob es da nicht noch etwas anderes geben kann.“ Sie sah wieder zu ihm. Im fahlen Sternenlicht konnte sie nur einen Hauch rosigen Schimmerns auf seinen Wangen erahnen, aber Taff schien gerührt zu sein. So hatte ihn noch nie jemand gesehen, noch nicht mal er sich selbst. Aska legte ihre Hand auf seine hageren Finger. „Manchmal braucht es eben eine große Portion Verrücktheit und Wahnsinn in dieser verrückten und wahnsinnigen Welt!“ Sie sahen sich einen Moment schweigend in die Augen. Taffs Lippen zitterten und dann fiel er ihr um den Hals. „Das ist wirklich das Netteste was jemals jemand zu mir gesagt hat.“, schluchzte er. Aska konnte für einen Moment kaum Luft holen, so fest umarmte der schlaksige Junge sie. Dann schoss ihr ein brennender Schmerz in den Rücken und sie zuckte heftig zusammen. „OH, bitte entschuldige. Ich wollte dir nicht alle Knochen brechen!“, schniefte Taffnuss und wischte sich dabei eine Träne mit der geballten Hand aus dem Auge, wie ein kleines Kind. Das Mädchen schüttelte den Kopf, immer noch mit schmerzverzehrtem Gesicht. „Nein, es ist … es ist nicht wegen dir.“ Sie versuchte ihn aufmunternd anzulächeln, was ihr wohl nur halbherzig gelang, denn Taffnuss setzte eine besorgte Miene auf. Sie überlegte kurz, aber in Anbetracht der heftigen Schmerzen musste sie sich endlich jemandem anvertrauen. „Kannst du ein Geheimnis bewahren?“, fragte sie ihn und blickte ihm tief in die Augen. „Ein Geheimnis? Na klar! Ich mag Geheimnisse!“ Aska schaute ihn durchdringend an. „Ich möchte wissen, ob du es für dich behalten kannst?“ Taff legte feierlich die linke Hand auf seine Brust und hob die Rechte. „Thorston-Ehrenwort!“, schwor er. „Gag gaahg!“, schrie das Hühnchen, als ob es ebenfalls ein Geheimnis bewahren wollte. „Dann komm mit! Ich muss dir etwas zeigen!“ Aska stand auf und gab Taffnuss ein Zeichen, ihr leise zu folgen. Sie schlichen sich zurück, an den Hütten vorbei, den kurzen Weg entlang zum ehemaligen Lagerhaus, das jetzt Askas Behausung war. Sie streifte sich den warmen Wollmantel von den Schultern, zog den Gürtel aus und schob ihren Pullover den Rücken hoch. Taffnuss hatte zunächst perplex zugesehen, sich dann beschämt umgedreht und stand nun mit verdeckten Augen und mit dem Rücken zu ihr, an der Wand. Da Aska jedoch selbst ihm rücklings zugewandt stand, bemerkte sie das erst einige Augenblicke später. „Was machst du da?“, hörte sie den Jungen hinter verdeckenden Händen hervor nuscheln. „Äh, ich habe da was am Rücken. Ich brauche deine Hilfe!“, forderte sie ihn auf. Taff tastete sich in ihre Richtung, mit einer Hand immer noch die Augen zuhaltend. „Ist ok. Du kannst gucken.“, sagte Aska leicht genervt. „Ouh man. Das sieht ja echt furchtbar aus. Ich meine, ich habe schon den schrecklich behaarten Rücken meiner Schwester gesehen, aber das ist ja echt schaurig.“, stellte er beeindruckt fest. „Hast du eine Idee was das ist?“, fragte Aska. Nun war sie diejenige, der das Ganze furchtbar unangenehm war. „Was das ist? Na auf alle Fälle schlimm entzündet. Das wird ne krasse Narbe geben.“, freute sich Taff, fast schon ein wenig neidisch, nicht selbst eine krasse Narbe zu haben. Aska verdrehte genervt die Augen. „Das weiß ich! Ich meine, hast du eine Ahnung was das für ein Symbol ist?“ Fachmännisch, mit Daumen und Zeigefinger am Kinn, schritt der Blonde hinter ihr auf und ab und analysierte das Gebilde. Nach einem Moment hielt er inne und lies seine Schultern wieder ratlos hängen. „Nein, kein Plan!“, sagte er trocken. Aska seufzte und lies ihren Pullover wieder über den Rücken fallen. „Ich weiß nicht, woher ich das habe und wer dafür verantwortlich ist. Bitte erzähl niemandem etwas über diese Narbe. Ich muss erst herausfinden, was das zu bedeuten hat! Bitte versprich mir das!“ Aska sah ihn flehend an. „Ich habe dir mein Thorston-Ehrenwort gegeben und das werde ich auch halten!“, versprach er. Aska nickte erleichtert. Erleichtert darüber, sich endlich jemandem anvertraut zu haben. Erleichtert über das Ehrenwort von Taff, den sie wirklich mochte. Noch erleichterter war sie allerdings, als Taffnuss ihr anbot, morgen etwas gegen die Schmerzen von Händler Johann zu beschaffen. Sie war dem Wikinger so unglaublich dankbar. Wie sollte sie sich nur jemals für die Rettung und Fürsorge revanchieren? Sie verabschiedete sich mit einem leisen „Danke!“, nachdem er darauf hinwies, dass Astrid sie beide als Ziele für ihre Axtwürfe verwenden wird, wenn sie von ihrem nächtlichen Treffen erfahren würde. Aska lachte zunächst, wurde aber sofort wieder ernst als sie begriff, dass Taff gar keinen Scherz gemacht hatte. „Fischbein? Hast du die Liste?“, fragte Hicks den Dicken. „Alles dabei. Wir sind startklar.“, strahlte Fischbein und streckte einen Daumen hoch. Die Drachenklippe war in das goldene Licht der winterlichen Sonne gehüllt und der Wind war nicht mehr so stark, wie die Tage zuvor. Ein perfekter Tag für einen Ausflug. Die Wikinger hatten ihre Drachen gesattelt und waren aufbruchbereit. Aska sollte bei Astrid mitfliegen. Es war eine Ehre für das Mädchen, das bisher noch nicht einmal die Fütterung von Sturmpfeil übernehmen durfte. Astrid wollte ihr eine Freude machen. Noch mehr jedoch, wollte sie Aska bei ihrem ersten Flug in der Nähe haben. So konnte sie sicher gehen, dass sie nichts anstellen könnte. Obwohl sie das bleiche Mädchen gern hatte, war sie immer noch vorsichtig. Die Vergangenheit hatte sie zu Argwohn erzogen. Unvorsichtigkeit konnte man sich nicht leisten. Sie half Aska hoch auf den Sattel. „Halt dich bloß gut fest.“, mahnte sie bestimmt. Askas Herz raste vor Freude. Sie saß tatsächlich auf einem Drachen, noch dazu auf Sturmpfeil. Es gab einen kräftigen Ruck und sie hoben ab. Askas Magen wurde nach unten gezogen und ihre Finger wurden kribbelig. Sie krallte sich an dem Sattel fest und versuchte nicht nach unten zu schauen. Allerdings wusste sie genau, dass tief unter ihnen die Wellen gegen die Felsen brausten. Ihr wurde schwindelig und sie vergrub ihr Gesicht in dem weichen Zopf von Astrid. „Alles in Ordnung?“, fragte Astrid besorgt nach hinten. Sie spürte eine Bewegung in ihren Haaren, was sich wie ein langsames Nicken anfühlte. Nach einigen Kurven flogen sie nur noch gerade aus. Der Flügelschlag wurde ruhiger. Aska zog ihr Gesicht vorsichtig aus Astrids Haaren und wagte einen Blick über ihre Schultern. Vor ihnen lag der weite Horizont und die Sonne spiegelte sich auf der Oberfläche des tiefblauen Ozeans. Unter ihnen glitten winzige Felsen vorbei und Ohnezahn flog mit seinem einbeinigen Reiter direkt vor ihnen. Fischbein flatterte mit Fleischklops zu ihrer Linken und Hakenzahn zu ihrer Rechten. Rotzbakke lehnte entspannt in seinem Sattel und hatte heute mal seine mürrische Miene gegen ein zufriedenes Grinsen getauscht. Askas vierköpfige Leibgarde flog dicht hinter ihnen, so dass Sturmpfeil von beiden Seiten von Kotz und Würg flankiert wurde. Die anfängliche Angst war verschwunden und auch das Schwindelgefühl hatte sich gelegt. Sie begann den Flug endlich zu genießen. Sie spürte den starken Körper und die kraftvollen Bewegungen des Drachenweibchens und beobachtete die feinen Signale, die die Reiterin an Sturmpfeil sendete. Der Wind zog ihre Kapuze herunter und zerzauste ihre Haare. Der scharfe Luftstrom brannte in ihren Augen. Aska schloss ihre Lider und eine Träne rollte über ihre Schläfe. Der Wind zischte in ihren, vor Eiseskälte brennenden Ohren. Ihr Herz sprang förmlich vor Freude. Sie fühlte sich schwerelos. Frei. Sie ließ den Sattel mit ihren tauben Fingern los und streckte die Arme in die Luft. Ein Freudenschrei rang sich aus ihrem Hals. Astrid drehte sich zu ihrem Passagier um und musste bei dem Blick in das glückliche Gesicht selbst lachen. Sie wusste noch genau wie sie sich damals fühlte, als sie das erste Mal zusammen mit Hicks auf Ohnezahn geflogen war. Nein! Das waren aufrichtige Emotionen. Hicks hatte Recht behalten. Solche Gefühle konnte man nicht spielen. Aska war ihnen gegenüber die ganze Zeit aufrichtig gewesen. Astrid verspürte einen leichten Stich in ihrem Herzen. Sie hatte ihr Unrecht getan. Die anderen Drachenreiter ließen sich von den Glücksgefühlen anstecken, johlten und flogen kleine Kunststückchen. „Pass ja auf! Das kann süchtig machen!“, rief Hicks zwinkernd. In der Ferne ragte ein riesiger Berg auf, auf den sie geradewegs zusteuerten. „Da vorne ist Berk!“ Hicks deutete auf die Bucht. „Händler Johann scheint bereits angelegt zu haben.“ Beim näher kommen, konnte man die schmalen Planken der Bootsstege erkennen, die im Takt der Wellen auf und ab wippten. Ein Schiff mit roten Segeln schaukelte daneben. Weiter draußen lag ein Fischerboot, in dem zwei Menschen saßen. Der Größere der beiden schien einen Eimer auf dem Kopf zu tragen. Sie flogen in einer scharfen Linkskurve um die Bucht herum und landeten sanft auf einem großen Platz in der Mitte des Dorfes. Ein riesiger, bärtiger Mann stürmte auf die Gruppe zu. „Bei Odins Bart! Hicks, mein Junge! Schön, dass du deinen alten Vater mal wieder besuchst!“ Er strahlte über beide Backen. Hicks Vater hatte freundliche Falten um die blitzenden Augen und sehr starke Arme. Kaum zu glauben, dass dieser Koloss mit dem hageren Hicks verwandt sein sollte. Die beiden fielen sich um den Hals. Um sie herum versammelten sich weitere Bewohner von Berk, um die Ankömmlinge willkommen zu heißen. Neugierig beäugten sie die Fremde, die sich versuchte unter ihrer Kapuze zu verstecken. Aska waren die vielen Blicke nicht besonders geheuer. Sie wollte sich eben noch ein Stückchen weiter hinter die anderen Drachenreiter stellen, da wurde sie von Hicks am Arm gepackt und nach vorne gezogen. Vor dem stattlichen Häuptling fühlte sich Aska wie eine Ameise. Eine Ameise die sich gleich in die Hosen machte. „Nanu? Wer bist denn du, mein Kind?“ Freundlich lächelte er auf sie herab, bückte sich zu ihr herunter und schob mit seinem Finger ihre Kapuze aus der Stirn. Sofort kniff sie ihre Augen zusammen. Hicks lachte verlegen und antwortete ihm: „Äh, das haben wir noch nicht so ganz geklärt. Lasst uns in die große Halle gehen. Dann erzählen wir dir alles.“ Hicks trug den Anderen auf, an den Kai zum Handelsschiff hinunter zu gehen und alle Sachen von ihrer Liste zu besorgen. An Fischbein gewandt, sagte er: „Pass bitte auf, dass Rotzbakke und die Zwillinge nicht wieder das ganze Gold für unsinnige Sachen ausgeben.“ Fischbein salutierte. „Ay ay, Chef!“ Dann beeilte er sich, den Anderen, die bereits auf dem Weg waren, hinter her zu kommen. Sanft schob Hicks Aska in Richtung der großen Halle. Auf dem Weg dorthin betrachtete das Mädchen die vorbeikommenden Hütten. Sie hatten Ähnlichkeit mit denen auf der Drachenklippe, wirkten aber um ein Vielfaches größer. Hier lebten ganze Familien unter einem Dach. Der Gedanke daran, mit lieben Eltern und Großeltern, ja, vielleicht sogar mit ein paar Geschwistern in einer gemütlichen Hütte zu leben, löste Wehmut in ihr aus. Auf einer Weide hinter einem Zaun suchte ein zotteliges Yak im gefrorenen Boden nach Wurzeln und eine Herde weißer Schäfchen tat es ihm gleich. Es war sehr idyllisch hier auf Berk. Sie gingen steinerne Stufen hinauf. Der Eingang der Halle war separat überdacht. Mächtige Eichenstämme, in die filigrane Linien und Knoten geschnitzt worden waren, zierten ihn und riesige Steinfiguren wachten daneben. Der Hauptteil der Halle war in einen gigantischen Felsen gehauen worden. Hicks Vater, der sich ihr als Haudrauf vorgestellt hatte, schlug mühelos die schwere doppelflügelige Tür auf, die in starken schmiedeeisernen Scharnieren knarzte. Die große Halle machte ihrem Namen alle Ehre. Ihre Schritte hallten an der hohen Decke wider. Haudrauf bot ihnen einen Platz am vorderen Ende der langen Eichentafel an und wuchtete seinen Körper auf den verzierten Thron, der in der Mitte der Halle stand. An den Wänden hingen prunkvolle Wandteppiche und bemalte Schilde . Auf einem jünger wirkenden Modell erkannte sie Hicks mit seinem stolzen Vater. Im Halbdunkel hinter ihr vernahm Aska ein rasselndes Atemgeräusch und ein sich näherndes hölzernes „Klonk“. Noch bevor sie sich umdrehen konnte, sauste ein Haken an ihrem Ohr vorbei und … servierte ihr einen Becher Met. „Moin ihr Zwei. Mensch Hicks, min Jung, wen haste uns da denn mitgebracht?“ Ein dicker Wikinger mit gelbem Schnauzbart humpelte mit einem Holzstumpf anstelle eines rechten Unterschenkels um den Tisch herum und nahm ihnen gegenüber Platz. „Hey, Grobian. Schön dich zu sehen. Das ist Aska. Wir wollten Vater eben über sie aufklären.“, antwortete Hicks und griff nach seinem Becher. Nachdem er sich den Mund mit seinem Handrücken abgewischt hatte, begann er: „Vor zwei Wochen haben wir sie bewusstlos treibend im Meer gefunden.“ „Die Götter schienen es gut mit dem jungen Ding zu meinen. Zu dieser Zeit möchte ich noch nicht mal meinen kleinen Zeh da rein halten.“, sagte Grobian erstaunt und schüttelte sich. „Ja, es grenzt an ein Wunder!“, pflichtete Hicks ihm bei. „Allerdings hat sie keine Erinnerungen mehr!“, fügte der hagere Junge bedauernd hinzu. Aska starrte die ganze Zeit auf den Becher Met, den sie mit den Fingern umklammert hielt. Sie mochte es nicht, wenn man sie anstarrte. „Armes Kind! Du weißt also nicht was dir wiederfahren ist und wo du her kommst?“ fragte Haudrauf direkt an das weißhaarige Mädchen gerichtet. Sie blickte ihn mit angespannter Miene an. Sie kam sich vor wie ein Kind in der Schule, das zuvor fleißig gelernt hatte, aber bei der Prüfung nicht eine korrekte Antwort geben konnte, obwohl sie ihr auf der Zunge zu liegen schien. Wieder senkte sie den Blick und schüttelte schweigend ihr Haupt. „Allerdings haben wir einige Anhaltspunkte!“, antwortete Hicks rasch, denn er spürte ihr Unbehagen. Die bärtigen Männer und auch Aska sahen ihn fragend an. „Wir wissen nicht genau was passiert ist, aber sie muss eine Gefangene gewesen sein. Sie hatte relativ frische Fesselspuren an ihren Hand- und Fußgelenken. Auch ihre Kleidung, die sie zu diesem Zeitpunkt trug, deutet auf den Stand einer Sklavin hin.“ Aska erinnerte sich an den schmutzigen und feuchten Fetzen, den sie wie eine alte Haut von ihrem dürren Körper gestreift hatte. „Außerdem war sie bis auf die Knochen abgemagert.“ Eine Sklavin. Aska hatte sich in ihren schlaflosen Nächten viele Gedanken über ihre Herkunft gemacht, aber darauf war sie tatsächlich noch nicht gekommen. „Sie scheint etwas lichtempfindlich zu sein und hat wohl noch nie eine Waffe in der Hand gehabt. Und sie hat noch nie einen Drachen zuvor gesehen!“, zählte Hicks seine Fakten auf. Grobian und Haudrauf hatten beide verwundert die Augenbrauen hochgezogen. Noch nie einen Drachen gesehen? Das war auf diesem Teil der Erde doch gar nicht möglich. „Ouha! Dann musst du ja von sehr weit weg her kommen!“ Grobian kratzte sich am stoppeligen Kinn und drehte die Augen zur Decke, in der er eine Antwort darauf zu suchen schien. „Mh hm mhmm.“, brummte er nachdenklich. „Jo, ich habe – meine ich – schon von fahrenden Händlern gehört, die sogar bis weit über die Grenzen segelten und das ewige Eis erblickt haben. Es soll dort weiße Bären und sogar weiße Wale geben. Warum nicht auch weißhaarige Menschen?“ Nun schaute Aska hoffnungsvoll zu dem buckeligen Mann auf, der sie mit seinem gelben Bart an ein blondes Walross erinnerte. „Johann! Wir könnten Händler Johann fragen!“ Hicks sprang aufgeregt auf. „Komm, Aska!“ Vor lauter Aufregung stieß sie beim Aufstehen ihren noch vollen Becher um und rannte dem Einbeinigen hinterher. Goldener Met lief wie ein klarer Fluss über die polierte Tafel und tropfte am Ende auf den Felsboden herunter. Sie ließen die beiden Männer in der großen Halle zurück. Haudrauf strich sich mit der Hand stirnrunzelnd über den Bart. „Grobian? Was hältst du davon, wenn wir Gothi befragen?“ Grobian duckte sich mit einem „Gnh“ bei der Erwähnung der Alten. Noch immer schmerzte ihn sein vorhandenes Schienbein von der letzten Begegnung mit ihr. Sie landeten auf der Reling, des sanft in den Wogen wippenden Bootes. Bei dem Verlassen der großen Halle hatte Hicks auf beiden Fingern gepfiffen und Ohnezahn kam freudig hüpfend auf sie zu. Der Flug des Nachtschatten unterschied sich von dem des Tödlichen Nadders. Man nahm den Flügelschlag kaum wahr, stattdessen schien der schwarze Drache schwerelos in der Luft zu gleiten. „Meister Hicks!“ Ein kleiner krummnasiger Mann mit schwarzem Ziegenbart kam erfreut auf sie zu. Hinter ihm konnte man die Zwillinge erkennen, die nun unbeobachtet versuchten, einige Gegenstände heimlich in ihren Westen zu verstauen. Doch sie kamen nicht weit. Astrid stand mit verschränkten Armen und wütendem Blick vor ihnen. Ertappt ließen die beiden einige Gegenstände wieder fallen. Rotzbakke betrachtete verliebt eine goldene Axt. Vielleicht himmelte er auch sein glänzendes Spiegelbild darin an und Fischbein hakte akribisch alle Dinge auf seiner Liste ab, die er bereits zusammengetragen hatte. „Meister Hicks. Schön sie noch einmal vor der Wintersonnwende zu sehen. Ich hoffe, Sie finden alles was Sie benötigen, um über den Winter zu kommen. Sobald das Meer gefriert, werde ich nicht mehr kommen können. Erst wieder im Frühjahr!“ Der kleine Mann lies sehnsüchtig seinen Blick über den Horizont schweifen, dann stutzte er. Jetzt erst bemerkte er die zierliche Gestalt hinter dem jungen Wikinger. „Danke Johann. Ich denke wir werden alles finden, was wir brauchen.“, antwortete Hicks zuversichtlich. „Was ich dich allerdings fragen wollte. Du bist doch auf deinen Handelsrouten schon weit gereist, oder? Bist du jemals über die nördlichste Grenze bis zum ewigen Eis gereist?“ Der Händler sah Hicks verdutzt an, als hätte dieser eine besonders absurde Frage gestellt. „Das ewige Eis? Was soll man denn da wollen? Da gibt es weit und breit nichts. Gar nichts.“ Aska, die eben noch erwartungsvoll auf den hakennasigen Mann geblickt hatte, spürte ein Gefühl der Enttäuschung aufkommen. „Hast du vielleicht davon gehört, dass es dort Menschen geben soll? Menschen mit weißen Haaren?“, fragte Hicks, der sich mit „Nichts“ nicht zufrieden geben wollte. Johann musterte das junge Mädchen hinter dem Häuptlingssohn. „Nun. Man munkelt, es gäbe dort eine unterirdische Festung, in denen die uralten Eisriesen, die Erben Ymirs, der von Odin erschlagen wurde, sich verstecken sollen. Aber wenn man mich fragt, ist das nur ein Mythos. Ein Ammenmärchen.“ Ernüchtert von der Aussage des Händlers drehte sich Hicks zu Aska um, die ihre Enttäuschung kaum in ihrem Gesicht verbergen konnte. Er seufzte. „Ein Versuch war es wert gewesen.“ Johann hatte sich von den beiden abgewandt und versuchte nun, dem feilschenden Rotzbakke doch noch ein paar Silberlinge mehr abzuknüpfen. Hicks ging zu Fischbein, der eben Fleischklops ein großes Paket unter den Bauch schnallte. Ohnezahn hatte sich während der Unterhaltung ein paar Fische von der Reling aus geschnappt und gurrte zufrieden. „Und hast du was herausgefunden?“, fragte Fischbein den Hünen. „Leider nein!“ Die beiden schauten mitleidig zu dem Mädchen rüber, das gedankenverloren an der Reling stand und seinen weißgelockten Kopf in die Hände stützte. Rotzbakke sprang auf den Bootssteg und schwang stolz seine neue, goldene Axt. „Ich glaube wir haben alles.“ Astrid und die Zwillinge kamen zu den drei jungen Männern, Sturmpfeil und den Wahnsinnigen Zipper im Schlepptau, der einen langen Stock in seinen zwei Mäulern trug, an dem ein schweres Bündel baumelte. „Ja, wir sollten aufbrechen. Dann kommen wir noch vor der Dämmerung auf der Klippe an.“, stellte Fischbein fest. Aska hatte die Aufbruchstimmung bemerkt und schloss zur Gruppe auf. Dass sie gleich wieder einen wunderbaren Flug genießen konnte, tröstete sie ein wenig über die Enttäuschung hinweg. Sie wollten gerade aufsitzen, als Grobian auf einem schläfrigen, einem grauen Salamander ähnelnden Drachen, vor ihnen landete. „Wartet! Hicks, dein Vater möchte noch einmal euren Gast sprechen.“ Er nickte zu Aska, die gerade mit Hilfe von Astrid auf das Nadderweibchen aufsteigen wollte. Kapitel 4: Ragnarök ------------------- Die Wolken färbten sich bereits rosa von den milden Strahlen der tiefer sinkenden Wintersonne, als sie Grobian folgend, erneut die Stufen zur großen Halle erklommen. Haudrauf saß auf seinem Thron, als hätte er ihn seit ihrem Gespräch heute Mittag nicht verlassen. Neben ihm standen noch zwei weitere Personen. Ein großer, muskelbepackter Mann mit schwarzen Haaren und einer Narbe, die quer über sein grimmiges Gesicht lief, beäugte die Fremde mit abfälligem Blick. Sein Haupt zierte ein glänzender Helm mit geschwungenen Widderhörnern. Er sah Rotzbakke sehr ähnlich, nur dass dieser wesentlich sympathischer wirkte, als sein erwachsenes Ebenbild. Mit diesem Mann hatte man nichts zu spaßen, das stand fest. Auf der anderen Seite des Thrones stand eine winzige Frau, deren wettergegerbtes Gesicht von unzähligen Falten durchzogen war. Sie hatte graue Haare, die zu Zöpfen geflochten waren. Mit beiden Händen stützte sie sich an einem Stock. Sie hatte etwas Eulenhaftes an sich, wie sie da so regungslos stand und aus schläfrigen Lidern die näherkommenden Gestalten musterte. Sie blinzelte langsam, wobei das rechte Auge sich schneller öffnete als das Linke. Haudrauf erhob sich und trat vor Aska, die das Gefühl hatte, gleich als Haupttäterin eines schlimmen Vergehens angeklagt zu werden, von dem sie noch nichts wusste. Das Stammesoberhaupt beugte sich zu ihr herunter. Das Mädchen konnte deutlich seine Fältchen um die Augen sehen, die gerade ein wenig tiefer wurden. Haudrauf lächelte. Ein Stein fiel Aska vom Herzen. Mit freundlicher Stimme erklärte er ihr, wer diese Menschen waren. „Das ist Kotzbakke. Oberhaupt der Familie Jorgenson und Mitglied des Dorfrats.“ Der schwarzhaarige Mann verzog bei seiner Vorstellung keine Miene. Haudrauf schob Aska sanft vor die Alte. „Das ist Gothi, unsere Stammesälteste. Sie steht mit unseren Ahnen im engen Kontakt und weiß die Zeichen der Götter zu deuten.“ Wieder blinzelte die Alte. Diesmal war jedoch das linke Auge schneller, als das Rechte. „Hicks, ihr wartet draußen. Das hier ist nur für Aska bestimmt.“ Hicks hatte eine grobe Ahnung von dem, was nun folgen würde und nickte verständnisvoll. Die Zwillinge versuchten zu protestieren und bestanden auf ihre Aufgabe als Leibwache. Astrid zog die beiden an ihren Haaren aus der Halle. Beim Hinausgehen drehte sich Rotzbakke noch einmal um und schwang seine goldene Axt, in der Hoffnung, sein Vater würde mit seiner neuen Errungenschaft zufrieden sein. Dieser schien ihn jedoch zu ignorieren und Rotzbakke wandte sich enttäuscht ab. Aska war verunsichert, denn die alte Eule und der finster dreinblickende Jorgenson waren ihr nicht geheuer. Auch wusste sie noch nicht, was gleich mit ihr geschehen würde. Haudrauf legte Aska seine große schwere Hand auf die Schulter und sprach leise zu ihr: „Vielleicht kann dir Gothi helfen. Lass sie in deinem Namen die Götter befragen.“ Fragend sah das Mädchen mit großen Augen zu der winzigen Frau, die immer noch regungslos da stand und mit spindeldürren Fingern den Stock umklammerte, wie ein Vogel den Ast mit seinen Klauen. Plötzlich klopfte die alte Frau mit ihrem Stock auf den steinernen Boden. Aska zuckte bei dem Knall, der durch die Stille hallte, zusammen, denn damit, dass die Alte sich bewegen würde, hatte sie nicht mehr gerechnet. Noch einmal knallte der Stock auf den Boden und eine kleine Staubwolke wirbelte auf. „Achso, klar. Da war ja noch was.“ Grobian humpelte in den hinteren Teil der Halle und kehrte kurz darauf wieder mit einem kleinen Lederbeutel zurück. Diesen überreichte er Gothi, die nun mit ausgestreckter Hand da stand und immer noch mit schläfriger Miene geradeaus schaute. Es dauerte einen Moment, bis die alte Frau sich wieder regte. Dann trippelte sie mit winzigen Schrittchen auf Aska zu, drückte ihr den Lederbeutel in die Hände und fing an mit einer Hand Askas Mundwinkel auseinander zu ziehen, ihre Zähne zu begutachten, ihr die Augenlider aufzureißen und sogar mit einem Finger in der Nase zu bohren. Aska versuchte sich nach hinten weg zu lehnen, denn von dem muffigen Gestank, der von der alten Frau ausging, wurde ihr übel. Sie roch wie ein alter Putzlappen, der mit Zwiebelsuppe getränkt war. Dann rasselte sie mit dem Stock, an dem sie sich die ganze Zeit mit der anderen Hand stützte, über Askas Kopf und deutete ihr, sie solle den Beutel auf den Boden werfen. Etwas verwirrt und immer noch überrumpelt von der Fummelei der Frau, betrachtete sie den Lederbeutel. Er war leicht und etwas klimperte leise in seinem Inneren, wenn man ihn mit den Fingern bewegte. Das Mädchen zuckte kurz ratlos mit den Schultern und ließ dann den Beutel direkt vor die Füße der Stammesältesten fallen. Gothi sah den Beutel nur mit dem gleichen müden Ausdruck an, den sie zuvor auch schon aufgesetzt hatte. Als eine Weile weiterhin nichts geschah und alle nur gebannt auf den Beutel blickten, knallte wieder der Stock der Alten. „Oh, tschuldigung.“, murmelte Grobian, bückte sich und zog vorsichtig an der Schlaufe, die den Beutel verschlossen hielt. Das Leder stülpte sich nach außen und gab den Blick auf Hölzchen mit geschnitzten Runen und kleinen Knochen frei. Für den ungeübten Betrachter lagen sie einfach wild durcheinander gewürfelt in der Mitte des, zum Kreis ausgebreiteten Beutels. Doch Gothi sah zum ersten Mal hell wach aus und fixierte das Gebilde mit weit geöffneten Augen. Aska folgte ihrem Blick und noch ehe jemand etwas sagen konnte, wusste sie bereits die Zeichen der Götter zu deuten. Ragnarök! Die Götterdämmerung! Das Ende der Welt! Aska wurde noch blasser als sie eh schon war und hielt den Atem an. Gothi sah nur abwechselnd zu ihr und dann wieder auf die Zeichen. „Was? Was siehst du?“, fragte Haudrauf aufgeregt. Auch Kotzbakke war nähergetreten und wartete auf eine Übersetzung. Gothi begann flink mit dem Ende ihres Stocks wilde Linien und Kreise in den Staub zu zeichnen. Grobian übersetzte für die anderen. „Das Ende naht. Wenn der Wolf den Mond verschlingt … und die Schlange erwacht … wird das Schicksal der Götter … besiegelt sein …“ Und Midgard fallen! Aska musste nicht auf die holprige Übersetzung des Buckeligen warten. Sie hatte Gothis Krakelei bereits entziffert. „Ou ha!“, sagte Grobian nur und kratzte sich unruhig am Schädel. Die Alte setzte noch einmal mit ihrem Stock an und zeichnete eine verwackelte, senkrechte Linie, die mit einer liegenden Mondsichel am oberen, und einem größeren Gegenstück mit geraden Kanten am unteren Ende versehen war. In der Mitte zeichnete sie eine Art Auge. Aska stockte der Atem. Ihre Hände zitterten und an ihrem Haaransatz bildeten sich feine Schweißperlen. „Ist das… ist das eine Mondrune?“, fragte Grobian unsicher. Gothi schlug ihm mit ihrem Stock auf das Schienbein, natürlich nicht dem aus Holz. Sie verdrehte die Augen, als wäre er begriffsstutzig. „Okay, okay. Schon gut. Das ist natürlich eine Mondrune. Ganz klar!“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht hüpfte der Wikinger auf seinem Holzstumpf herum und hielt sich das Schienbein. „Aber was hat sie zu bedeuten?“, fragte Haudrauf ungeduldig. Ein letztes Mal schrieb Gothi etwas auf den Boden. „Schicksal!“ Aska war schwindelig. Ihre Wunde brannte wieder und sie rang nach Luft. Die Alte sah Aska traurig an, tätschelte ihre Wange und verschwand dann aus der großen Tür. Die drei Männer starrten das zitternde Mädchen an, das nun noch viel dünner wirkte als zuvor. Aska schwirrte der Kopf. Ragnarök. Mondrune. Schicksal. Die Götter hatten ihnen ein Zeichen geschickt, eine Warnung, aber sie konnte sich keinen Reim darauf bilden, was das alles zu bedeuten hatte und vor allem … was das mit ihr zu tun hatte. „Was denkst du, Grobian? Könnte das diesmal wirklich zutreffen?“, flüsterte Haudrauf. „Naja, die gute Gothi hat einen Hang zum Dramatischen und es wäre nicht das erste Mal, dass sie mir mein Ende voraussagt. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass sie heute mit dem richtigen Fuß aufgestanden war und ausnahmsweise nicht jedem die Pest an den Hals wünscht.“ Ein unsicheres Grinsen huschte dem Buckeligen über das Gesicht. „Hm, da hast du allerdings recht. Leider kann man sich nicht immer auf ihre Deutungen verlassen. Aber ihr Auftritt war heute ziemlich stark. Sehr theatralisch.“ Auch Haudrauf musste Grinsen. Nur Kotzbakke schwieg und sah Aska durchdringend in die Augen. Der Häuptling klopfte Aska auf die Schulter und sie hatte das Gefühl, die schwere Hand würde sie in den Boden stampfen. „Mach dir nichts draus. Gothi ist bestimmt nur etwas verwirrt. Wahrscheinlich haben die abgenagten Knochen sie nur an ihre letzte Mahlzeit erinnert, die ihr nicht so richtig bekommen ist.“ Er lachte laut. Aska rang sich mühevoll ein zaghaftes Lächeln ab. Gothi war nicht verwirrt. Sie hatte schließlich das Selbe in dem Gebilde aus Holz und Knochen gelesen. Und sie hatte die Rune gezeichnet, ohne wissen zu können, dass Aska genau dieses Symbol als entzündete Wunde auf ihrem Rücken trug. Draußen vor der Tür atmete das Mädchen tief durch und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Es war bereits stockdunkel geworden und es begann zu schneien. Heute würden sie wohl nicht mehr zur Drachenklippe aufbrechen. Sie sehnte sich nach ihrer kleinen Hütte und dem weichen Bett, welche ihr in der letzten Zeit so vertraut geworden waren. „Hey! Wir sind hier drüben.“ Raffnuss winkte ihr aus der Tür einer kleinen Taverne entgegen. Aska freute sich nach dem Erlebnis, wieder ein vertrautes Gesicht zu sehen und eilte zu ihr. „Wie war es? Hat Gothi dir auch ihre alten Krähenfinger in die Ohren gestopft?“, fragte das Zwillingsmädchen. Aska schüttelte den Kopf. Das hatte Gothi tatsächlich nicht bei ihr getan. „Hey! Da bist du ja wieder.“ Hicks rutschte auf einer Bank zur Seite, um ihr Platz zu machen. „Konnte sie dir helfen?“, fragte er leise. „Nein, nicht wirklich.“, antwortete Aska und nahm dankbar den dampfenden Krug mit heißem Met entgegen. In dieser Nacht träumte Aska von einem brennenden Mond und den riesigen gelben Augen eines blutverschmierten Wolfes. Sie sah tapfere Krieger in eine Schlacht ziehen, die bereits verloren war, noch bevor sie begonnen hatte. Die Erde barst in zwei Teile und verschlang jeden Einzelnen von ihnen mit ihrem glühenden Schlund. Es roch nach Pech und Schwefel … und nach Zwiebelsuppe. „Aufstehen du Schlafmütze. Es ist schon Mittag.“ Die Zwillinge hockten vor ihr auf dem Boden und löffelten schmatzend Suppe aus einem kleinen Kessel. Aska sah sich verschlafen um. Die anderen Schlafplätze waren bereits geräumt und nur noch sie lag auf dem, mit Stroh bedeckten Boden des kleinen Stalls, in dem sie gemeinsam geschlafen hatten. „Willst du auch was?“, fragte Raffnuss sie und hielt ihr die Kelle mit der würzigen Brühe direkt unter die Nase. Leicht angewidert schob Aska die Kelle, deren Geruch sie stark an Gothi erinnerte, mit einem Finger aus ihrem Gesicht. „Ich habe keinen Appetit.“, antwortete sie. Das war noch nicht einmal gelogen. Sie hatte tatsächlich keinen Hunger, zumindest nicht auf Zwiebelsuppe. „Hey, ihr Drei! Beeilt euch mal! Wir wollen los!“ Astrid stand in der niedrigen Tür. Die Drachen waren bereits gesattelt und die Pakete wieder festgeschnallt. Heute war der Himmel grau, denn die Wolken hatten die Sonne vollständig verdeckt. Sie nahmen die gleiche Route zurück, die sie auch bei ihrem Hinflug nach Berk genommen hatten. Trotz der Leichtigkeit, mit der Sturmpfeil durch die Wolken flog, war es Aska schwer ums Herz. Sie versuchte sich auf das Gefühl von Freiheit zu konzentrieren, das sie bei ihrem ersten Flug verspürt hatte, jedoch wurde sie jedes mal wieder von den Bildern ihres düsteren Traums abgelenkt. Auch plagte sie der brennende Schmerz nun dauerhaft zwischen ihren Schulterblättern, seit dem Erlebnis in der großen Halle. Sie landeten genau rechtzeitig, denn kaum hatten sie wieder festen Boden unter den Füßen, begann es in dicken Flocken zu schneien und der Wind wurde spürbar stärker. Aska wollte alleine sein und entschuldigte sich bei den anderen unter dem Vorwand, von der langen Reise sehr müde zu sein. Etwas verwundert ließen die Drachenreiter sie ziehen. Vor dem Kamin saß sie nun grübelnd und sah schweigend in die Flammen. In welchem Zusammenhang stand die Mondrune mit der prophezeiten Götterdämmerung? Welche Rolle sollte sie dabei spielen? Und woher konnte sie überhaupt die Zeichensprache von Gothi und seit wann hatte sie die Fähigkeit, in Knochen lesen zu können? Anstatt ihrem Rätsel ein Stück näher zu kommen, wurde alles nur noch undurchsichtiger. WER BIN ICH? Verzweifelt sah sie nach oben, als würde die Antwort auf einem der Dachbalken stehen. Funken tanzten an ihrem Gesicht vorbei. Plötzlich hörte sie ein leises „Psst!“ und Taff streckte seinen Kopf durch die Tür. An seinen Dreads hingen kleine Eiszapfen. Er schloss hinter sich die Tür und setzte sich zu Aska ans Feuer und reckte seine Hände den wärmenden Flammen entgegen. Das Mädchen sah ihn erwartungsvoll an. Der Glanz des Feuers lies sein Gesicht rötlich schimmern. Im Gegensatz zu Fischbein, Rotzbakke und Hicks, denen bereits leichter Flaum im Gesicht spross, hatte Taff noch eine sehr glatte Haut. Er war kaum jünger als die anderen Jungs und dennoch musste er sich des Öfteren kleine Scherze darüber gefallen lassen, die wohlgemerkt, hauptsächlich von seiner Schwester kamen. Wie jeder Wikinger träumte er von einem dicken, vollen Bart, den er bei jeder Gelegenheit stolz streicheln würde. Mit seiner etwas plattgedrückten Nase, mit der er im Augenblick pfeifend schniefte, und den Sommersprossen im Gesicht, hatte er etwas spitzbübisches an sich. „Ähm, ja?“ Aska räusperte sich. Ihr war immer noch nicht klar, was Taffnuss jetzt um diese Zeit vor ihrem Feuer machte. „Oh, äh, ja. Fast vergessen.“, brach es aus ihm heraus. Er kramte in der Innentasche seiner Weste und holte ein kleines Fläschchen mit einer klaren Substanz heraus. „Was ist das?“, fragte Aska neugierig. „Ich habe dir doch gesagt, ich besorge etwas gegen deine Schmerzen.“ Er schüttelte grinsend das kleine Fläschchen und die Substanz verflüssigte sich. „Von Händler Johann? Hat das jemand mitbekommen?“ Aska hoffte, dass Hicks nichts von den ungeplanten Ausgaben mitbekommen hatte. „Nö! Noch nicht mal Johann!“, zwinkerte er. „Du hast es geklaut!“, stellte Aska nüchtern fest. Die Zwillinge waren Meister auf diesem Gebiet. „Hat deine Schwester etwas davon mitbekommen?“ Taff schüttelte grinsend den Kopf und wirkte sehr zufrieden mit seiner Leistung. „Nö! Auch die nicht. Sie war selbst beschäftigt, sich etwas … ich sage mal … auf unbestimmte Zeit auszuborgen.“ Das leuchtete Aska ein. „Ja, aber was ist das denn nun für ein Zeug?“, wollte sie wissen, mit der Befürchtung, der junge Wikinger könnte in Sachen Heilkunde im Unterricht gepennt haben. „Spucke vom Büffelstachel!“, sagte er begeistert. Aska legte eine entgeisterte und zeitgleich angewiderte Mine auf. „Jetzt guck nicht so! Das Zeug hilft wirklich. Außerdem ist es furchtbar schwierig, das zu beschaffen. Nicht weil der Drache besonders aggressiv ist, sondern weil seine Spucke einfach unheimlich schnell vertrocknet.“ Mit entrüstetem Blick sah er das Mädchen an, dass immer noch eine Augenbraue skeptisch hochgezogen hatte. „Sei lieber froh, dass sich irgendjemand …“, er deutete auf sich, „die Mühe gemacht hat, dieses wertvolle Elixier für dich zu besorgen.“ Ob es wirklich „mühsam“ war, für einen Meisterdieb etwas so Kleines zu stehlen, war fraglich, aber er hatte recht. Sie sollte ihm wirklich dankbar sein und nicht so viel an ihm zweifeln. „Tut mir leid!“, sagte sie leise und schenkte ihm ein dankbares Lächeln. „Das ist echt lieb von dir. Danke.“ Etwas überrascht war sie jedoch, als Taff ihr nun einfach den Pullover über den Rücken schob, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Sie wollte noch protestieren, da hatte er ihr jedoch bereits etwas von der Flüssigkeit auf die Wunde geträufelt. Ein wohliges Gefühl breitete sich auf ihrem Rücken aus und das Brennen wurde augenblicklich schwächer. Sehr behutsam fuhr er die geröteten Linien nach und Aska spürte, wie sich das zuvor flammende Symbol in ein Rinnsal aus angenehmer Wärme verwandelte. Sie entspannte sich und lies das gute Gefühl auf sich wirken. „Danke!“, flüsterte sie noch einmal und lies den Pullover wieder nach unten fallen. „Hast du schon einmal etwas von Mondrunen gehört?“, fragte sie ihn zögerlich. „Nein! Wieso?“, antwortete er beiläufig, als er das Fläschchen wieder verschloss. „Ach, ich … Ich weiß jetzt, dass die Verletzung … Also das … stellt eine Mondrune dar.“, brachte sie leise heraus. „Oh!“, machte Taff bedeutungsschwer, plapperte dann aber drauf los, als hätte sie ihm eben nicht einen wichtigen Fakt genannt. „Ich habe da noch etwas für dich!“, sagte Taffnuss, der wieder in seiner Weste herumkramte. Er zog einen schmalen, metallenen Gegenstand hervor. Der etwa handlange Gegenstand entpuppte sich im Schein des Feuers als eine Art Griff, der mit schwarzen Lederschnüren umwickelt war. Verwundert betrachtete Aska den Gegenstand in seinen hageren Händen. Dann klickte es leise und eine ebenfalls handlange Klinge schnellte aus dem Griff hervor. „Ich dachte du brauchst das, falls du mal wieder von deiner Leibgarde getrennt wirst.“, sagte er mit einem selbstgefälligen Grinsen im Gesicht. Aska nahm den schlanken Dolch vorsichtig entgegen. Auf seine glänzende Schneide war in feiner Runenschrift „Ehre dem Furchtlosen“ eingraviert. Die Frage, ob der spitze Gegenstand ebenfalls geklaut war, sparte sie sich. Der rasiermesserscharfe Dolch war sehr leicht und lag Aska perfekt in der kleinen Hand. Trotz des schlanken Designs, wirkte er extrem stabil. „Ich wollte dir erst eine hübsche Keule aus Gronkeleisen besorgen, allerdings habe ich sie lieber selbst behalten.“, sagte Taff. „Außerdem dachte ich, mit dem kommst du besser zurecht. Der lässt sich auch viel besser verstecken.“, fügte er noch hinzu. Aska wollte sich eben für das wahrhaft sinnvolle Geschenk bedanken, da sprang der Wikinger schon auf und sprang zur Tür. „Gern geschehen! Aber ich muss wieder los, bevor Raffnuss noch bemerkt, dass ich weg bin. Wir schnarchen immer im gleichen Rhythmus, weist du?“ Noch ehe Aska wusste, was sie darauf antworten sollte, war er auch schon aus der Tür verschwunden und lies sie sprachlos zurück. Sie sah noch lange auf die Stelle, an der seine filzigen Strähnen verschwunden waren. Taffnuss war beinahe wieder an der Hütte, mit den zwei gemalten, grün gelben Fratzen über dem Eingang, die Kotz und Würg darstellen sollten, angekommen, da hörte er etwas hinter sich rascheln. Erschrocken drehte er sich um, sah nichts und lief rückwärts weiter, den Blick fest auf die Stelle gerichtet, an der es eben noch geraschelt hatte. Plötzlich stieß ein schwerer weicher Gegenstand gegen seinen Rücken. Es war Rotzbakke, der sich mit verschränkten Armen vor ihm aufgebaut hatte. „Äh, guten Abend Rotzbakke. Herrliche Nacht, nicht wahr?“, stammelte der Zwilling mit übertriebener Höflichkeit. „Was machst du nachts alleine draußen?“ Rotzbakke sah ihn argwöhnisch an. Taff hatte sich wieder zusammengerissen und einen misstrauischen Blick aufgesetzt. „Das Selbe könnte ich dich fragen!“, erwiderte er provokant. „Ich suche meine Axt! Du hast sie nicht zufällig gesehen?“, giftete der Jorgenson ihn an. Taffnuss grinste ihn nun mit einem fiesen Lächeln an. „Das weibische goldene Ding? Ich hoffe doch, das ist nur ein Geschenk für deine Mutter?“, spottete er und seine Augen blitzten angriffslustig. Rotzbakke, leicht errötend, sah ihn nur wütend an, denn er wusste, dass die beiden nervigen Zwillinge hinter dem Verschwinden seiner neuen Axt steckten. „Und jetzt sag schon! Was machst du hier draußen?“, forderte der Schwarzhaarige sichtlich genervt. „Nicht dass dich das was angehen würde, aber … ich … habe …“. Gag gag! „Ich habe nach Hühnchen gesucht!“, log er und nahm freudig das dicke Huhn auf den Arm, das so eben aus dem Gebüsch hüpfte. „Ich behalte euch Thorston-Plagen im Auge!“ Wütend, aber entwaffnet, drehte sich Rotzbakke um und dampfte mürrisch grummelnd davon. Taffnuss atmete auf und kraulte erleichtert das braune Gefieder seines Lieblings. Kapitel 5: Julfest ------------------ Die Tage vergingen ohne weitere Vorkommnisse. Hicks tüftelte an einer neuen Konstruktion, mit der er den Flug des Nachtschattes noch präziser werden lassen konnte. Astrid verbrachte viel Zeit auf Patrouille, denn Schnelle Stachel kamen immer wieder über das bereits stellenweise gefrorene Meer auf die Insel. Rotzbakke und Fischbein halfen ihr dabei, die blitzschnellen Drachen wieder von der Drachenklippe zu vertreiben. Die Zwillinge hatten wie immer hauptsächlich Flausen im Kopf und taten, mehr schlecht als recht, ihr Übriges für die Allgemeinheit. So tüftelten sie beispielsweise weiterhin an dem Ausbau ihrer Wildschweingrube, da sie der Ansicht waren, dass jedes Dorf unbedingt eine solche, stinkige Schlammpfütze bräuchte. Aska nahm ihre ersten Flugstunden auf Ohnezahn. Während Astrid sie weiterhin versuchte, im Umgang mit Waffen zu schulen, hatte Hicks sich dazu bereit erklärt, ihr die Grundlagen des Drachenreitens beizubringen. Aska verbrachte auch viel Zeit bei Fischbein, der ihr die Theorie des Fliegens näherbrachte und den sie beim Kochen tatkräftig unterstützte. Sie hatte zwar das Gefühl, tatsächlich noch nie Gemüse geschnippelt, oder Brot gebacken zu haben, aber sie hatte – woher auch immer – köstliche Rezepte auf Lager. Sie verstand sich sehr gut mit den Drachenreitern, allerdings schien Rotzbakke ihr aus dem Weg zu gehen und sie ertappte ihn des Öfteren dabei, wie er sie heimlich beobachtete. Doch Aska hatte keine Zeit sich über sein seltsames Verhalten Gedanken zu machen. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, über die Mondrune auf ihrem Rücken und der furchtbaren Prophezeiung in der großen Halle nachzudenken. Mit Erleichterung hatte sie festgestellt, dass das Elixier des Büffelstachels bereits nach der ersten Anwendung seine Wirkung zeigte. Die Entzündung war zurück gegangen und die Schmerzen waren vollständig abgeklungen. Auch waren die Linien schmaler geworden und es blieb nur eine feine helle Narbe zurück. An einem stürmischen Nachmittag stand sie wie so oft bei Fischbein an der wohlig warmen Kochstelle. Er schien trotz eines milden Lächelns auf den Lippen besorgt zu sein. Aska sprach ihn darauf an. „Ich habe Schreckenspost von Heidrun erhalten.“, sagte er seufzend. Aska wusste mittlerweile, dass Heidrun seine Freundin war und seit Monaten gemeinsam mit ihrem Bruder Dagur auf der Suche nach ihrem Vater waren. Sie schrieben sich regelmäßig Briefe, die sie sich mit den kleinen flinken Drachen, den Schrecklichen Schrecken, zusandten. Fischbein hatte ihr das Postsystem damit erklärt, dass die kleinen Drachen reviertreu seien und so immer wieder an ihren Geburtsort, in diesem Fall die Drachenklippe, zurückfinden würden. „Heidrun schickt uns eine Warnung. Auf ihrer Suche sind sie seltsamen vermummten Gestalten begegnet, die nach etwas oder jemandem zu suchen scheinen. Sie macht sich Sorgen, dass es etwas mit Hicks und Ohnezahn zu tun haben könnte. Die beiden wurden in der Vergangenheit schon so oft gejagt.“ Das Mädchen hatte schon gehört, dass es vor noch nicht all zu langer Zeit, viele Probleme mit korrupten Drachenjägern gegeben hatte und auch deshalb regelmäßig Patrouille um die Insel geflogen wurde. Es rumste hinter ihnen. Hicks war die ganze Zeit damit beschäftigt gewesen, eine alte Karte auf dem langen Holztisch zu entziffern. Entnervt hatte er soeben mit der flachen Hand auf das vergilbte Pergament geschlagen. Ein Krug, der neben ihm stand, hüpfte bei der Erschütterung auf und Wasser spritzte auf die hölzerne Tafel. „Um Thors Willen! Das kann doch nicht so kompliziert sein!“, fluchte er, sammelte sich aber sofort wieder und strich sich das wirre Haar aus der Stirn. Fischbein ging zu ihm hinüber und beäugte die Karte akribisch. Nach einer Weile musst auch der dicke Junge sich eingestehen, nichts von den Hieroglyphen entziffern zu können. Aska hatte ein Tuch geholt und wischte die kleine Überschwemmung auf dem Tisch auf, die Hicks mit seinem entnervten Schlag auf die Karte verursacht hatte. Hicks sah zu ihr auf, denn er hatte bemerkt, wie Aska mit aufmerksamem Blick die Karte studierte. Ihre Augen wanderten stakkatomäßig von oben nach unten und dann wieder von oben nach unten. „Du … du kannst das lesen!“, stellte Hicks überrascht fest. Aska war noch einen Moment in die Karte vertieft, dann nickte sie zustimmend. „Ja! Ich kann dir zwar nicht sagen, welche Sprache das sein soll, aber ich kann dir sagen, was hier draufsteht.“, sagte sie, selbst erstaunt über ihre ungeahnte Fähigkeit, zu den beiden gewandt. „Hier ist eine Sternenkonstellation beschrieben. Sie führt über den Nordstern und den Thiazisternen direkt zum Weltenbaum. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich sie in die richtige Richtung deuten kann. Entweder bezeichnet das hier Asgard, oder …“, sie hielt kurz inne, „Helheim.“, endete sie leise. Sie hatte dabei den Finger auf ein Zeichen gelegt, das sowohl von oben, als auch von unten gelesen, ein und das selbe Bildnis blieb. „Die Heimat der Götter … oder das Totenreich.“ Fischbein schauderte bei der Nennung der Unterwelt. Die Drei starrten das alte Pergament verunsichert an. „Wo hast du sie her?“, wollte Aska von Hicks wissen. Der sah weiterhin nachdenklich auf die Karte, die nun nicht mehr nur einfach ein friedlicher Fetzen Papier zu sein schien. „Ich habe sie vor einiger Zeit in einer Höhle gefunden, als wir mal wieder ein Problem mit dem Brüllenden Tod hatten.“ Der gigantische Albinodrache, der immer wieder wie aus dem Nichts auftauchte, hatte Berk vor einigen Jahren in Angst und Schrecken versetzt und drohte die Felseninsel und auch sämtliche andere Inseln, auf denen die Drachenreiter die verschiedenen Drachen erkundeten, in Schutt und Asche zu legen. Bei einem gemütlichen Abend am Lagerfeuer, hatten die Zwillinge von diesem Monster geschwärmt. Fischbein sah ängstlich zu dem Fetzen auf dem Tisch, als würde er ihn jeden Augenblick anspringen. „Das ist mir nicht geheuer! Eine Karte die den Weg ins Totenreich weist kann nichts Gutes bedeuten!“, sagte er mit todernster Miene. Hicks nickte stumm, rollte die Karte zusammen und legte sie in eine Eisentruhe, die er auch geschwind mit einem schweren Schloss verriegelte. Seine Augen, die er eben noch nachdenklich zusammen gekniffen hatte, schienen sich zu entspannen. „Naja, jetzt ist sie erstmal sicher vor den Drachenjägern. Lasst uns lieber mal die anderen suchen. Astrid und Rotzbakke müssten eigentlich gleich wieder von ihrem Kontrollflug zurück kommen.“ Er lächelte wieder und die angespannte Stimmung schien sich aufzulockern. Der Sturm hatte sich gelegt und elegant landete Astrid mit zufriedenem Ausdruck. Sie hatten seit etlichen Tagen keine Drachenjäger mehr gesichtet. Sie war sich sicher, vor dem Frühjahr würden sie auch auf keine mehr treffen. Im Meer trieben weiße Eisschollen, die ein Durchkommen mit dem Schiff unmöglich machten. Die gefrorene Brücke, auf der auch die Schnellen Stachel gekommen waren, hatte sie nach der Vertreibung der wilden Drachen, mit einem Magnesiumstrahl zerstört. Astrid fühlte sich seit langer Zeit wieder völlig sicher und freute sich auf das bevorstehende Julfest. Hinter ihr krachte der Riesenhafte Alptraum unsanft auf den Boden. Rotzbakke war sichtlich durchgefroren, was auf einem glühenden Drachen der Feuerklasse, wie ein schlechter Witz, der in frostigen Schlaf gehüllten Natur wirkte. Bibbernd, mit einem kleinen Eiszapfen an der Nase, lief der kurzgewachsene Junge steif zu Hicks Hütte, aus der es mit köstlichen Düften lockte. Die anderen sahen ihm nur schweigend nach. Aska erklärte sich bereit, die beiden Drachen in ihre Stallungen zu bringen, denn sie sah, wie auch Astrid vor Kälte zitterte. Da sie nun im Drachenreiten unterrichtet wurde, kannte sie sich nun etwas im Umgang mit ihnen aus. Die Verpflegung der Flügelwesen gehörte zum Unterrichtsinhalt selbstverständlich dazu. Während Aska mit Hakenzahn und Sturmpfeil im Schlepptau Richtung Stall stapfte, begleitete Hicks die blonde Wikingerin zu seiner Hütte, in der Fischbein mit dem Essen wartete. Im Stall war es sehr warm. Der Geruch nach verkohltem Holz und Schwefel störte das weißhaarige Mädchen schon lange nicht mehr. Im Gegenteil. Er war ihr mittlerweile vertraut und hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Sie mochte die Drachen. Diese faszinierenden Wesen hatten trotz ihres monströsen Äußeren eine liebevolle Art an sich. Sie wirkten oft wie schuppige Riesenbabys mit viel zu großen Zähnen und ledrigen Flügeln, die mit Fressen wunderbar ruhig zu stellen waren. Jeder Drache hatte etwas mit seinem Besitzer gemeinsam. Sturmpfeil war anmutig und tapfer, genauso wie seine mutige Reiterin und Ohnezahn hatte das gleiche loyale und unerschrockene Wesen wie Hicks. Fleischklops war liebevoll und freundlich und aß mindestens genauso gerne wie Fischbein. Kotz und Würg waren, genau wie die Zwillinge, etwas verplant und für jeden Streich zu haben. Hakenzahn, dem Aska gerade einen vollen Eimer frischen Fischs hinstellte, war genau wie Rotzbakke, sehr eitel und er liebte die kleinen Machtkämpfe mit seinem Reiter. Hakenzahn stürzte sich auf den stinkenden Eimer, fraß und blieb vor lauter Gier mit der Schnauze im Eimer stecken. Empört über seine Maulsperre, spreizte er die Schwingen, reckte sich und schüttelte seinen mächtigen Kopf, bis der Eimer in hohem Bogen davon flog. Während er sich schüttelte, drang eine gelartige grüne Flüssigkeit zwischen seinen roten Schuppen hervor und bespritzte die Wände und Aska, die sich noch versuchte schützend wegzudrehen. Das Gel des Riesenhaften Alptraums zog schnell in die feinen Wollfasern ihres Pullovers ein. Aska hatte schon mehrfach gesehen, dass das Gel sich selbst entzünden konnte und von den Drachenreitern für Verteidigungszwecke eingesetzt wurde. Bei der Vorstellung, nun jederzeit in Flammen aufgehen zu können, versuchte Aska panisch sich ihrer befleckten Oberbekleidung zu entledigen. Sie suchte einen vollen Wassertrog und wusch hektisch schrubbend das Gel aus ihrem Pullover. Indes kam Rotzbakke durch die Tür, um Haki – wie er seinen Drachen liebevoll nannte – noch ein Betthupferl vorbei zu bringen. Auch wenn die riesige Echse ihn oft zum Narren hielt und ihn gerne vor den anderen Wikingern auflaufen lies, war Hakenzahn doch sein ganzer Stolz und bester Freund. Rotzbakke hatte den Tumult in Hakenzahns Stall mitbekommen und stand nun vor einem halbnackten Mädchen, das Kleidung in einem Wassertrog wusch und dadurch zu abgelenkt war, um die Ankunft des jungen Wikingers mitzubekommen. Vor Scham versteckte er sich hinter einem Stapel leerer Kisten. Damit hatte er jetzt nicht gerechnet. Er überlegte kurz, wie er sich wieder unbemerkt davonstehlen könnte, da fiel ihm vor seinem geistigen Auge etwas auf. War da nicht eben etwas auf ihrem Rücken gewesen? Vorsichtig schob er seinen Kopf ein Stückweit an den Kisten vorbei und riskierte einen neugierigen Blick. Tatsächlich! Von einer silbrigen Strähne halb verdeckt erkannte er eine feine rötliche Narbe zwischen ihren Schulterblättern. Durch das heftige Schrubben wippte die Locke zur Seite und gab den gesamten Blick darauf frei. Es handelte sich nicht, wie zuerst von Rotzbakke vermutet, um eine einfache Narbe. Er erkannte ein mysteriöses Symbol auf dem bleichen Rücken des Mädchens. Er hatte dieses Mal schon einmal gesehen. Sein Vater hatte ihm in der Nacht auf Berk von Gothis Prophezeiung erzählt und ihm dieses Zeichen aufgemalt. Die Mondrune! Sein Vater gab sich im Gegensatz zu Haudrauf und Grobian nicht mit der Annahme zufrieden, Gothi hätte einfach einen schlechten Tag gehabt. Kotzbakke mistraute der Fremden, die angeblich keine Erinnerungen mehr an ihre geheimnisvolle Herkunft hatte. Er hatte seinen Sohn mit seinem Argwohn angesteckt. Seit dem Besuch auf Berk ging Rotzbakke Aska aus dem Weg, denn der Gedanke daran, dass die Prophezeiung wahr werden würde, machte ihm Angst. Und nun schien sich alles zu bewahrheiten. Er duckte sich und schlich heimlich aus dem Stall, in der Hand immer noch die zarte Makrele, die er für Hakenzahn dabei gehabt hatte. Er beschloss den anderen vorerst nichts von seiner Entdeckung zu erzählen. Wenn jemand diese Hexe dem hohen Rat auslieferte, dann war er das! Am nächsten Tag, dem Jultag, verbrachten alle gemeinsam die Zeit bei einer Runde Drachenball. Bei diesem Spiel durfte keine Feuerkraft eingesetzt werden und jeder Reiter bildete zusammen mit seinem Drachen ein Team. Nur durch Geschick durfte man den geworfenen Schneebällen ausweichen, oder diese fangen und als Geschoss weiterverwenden. Wer als letztes noch nicht von einem Schneeball getroffen worden war, hatte gewonnen. Fischbein hatte sich eine Strategie überlegt, wurde während der Planbesprechung mit Klöpschen allerdings schon von Hicks abgeworfen. Rotzbakke wurde gerade von den Zwillingen eingekesselt, die ihn mit den langen Hälsen des Wahnsinnigen Zippers in einer scherenartigen Formation verfolgten, als Astrid alle Drei mit zielsicheren Würfen traf. Nun waren nur noch sie und Hicks übrig. Mit waghalsigen Manövern versuchten sie sich gegenseitig abzuwerfen, doch beide waren zu schnell. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in denen die beiden sich abwechselnd immer wieder fast erwischt hätten, erklärte Aska, die als Schiedsrichterin auf einem Felsvorsprung stand, das Spiel für unentschieden. Hicks lächelte Astrid verschmitzt an, denn er wusste genau, dass sie sich mit einem Unentschieden niemals zufrieden gab. Und als hätte sie seine Gedanken gelesen, warf sie ihm aus nächster Nähe eine Hand voll Schnee ins Gesicht und lachte triumphierend. Hicks klopfte sich entgeistert den Schnee von den Schultern und sah säuerlich zu Ohnezahn, der mit einem gurgelnden Geräusch lachte. Es wurde sehr früh dunkel und sie zündeten Fackeln um den Platz vor den Hütten an. Die Raunächte standen bevor und traditionell wurde die längste Nacht des Jahres, die Wintersonnwende, die die Raunächte einläutete, ausgiebig gefeiert, denn nach dieser Zeit würden die Tage wieder länger und die Sonne wieder heller werden. Feldfrüchte wurden für die Göttin Frigg geopfert, was in einer theatralischen Zeremonie von den Zwillingen übernommen wurde. Mit dem Verbrennen der Opfergaben begann eine besinnliche Zeit, in der man noch einmal in sich kehrte und auf das vergangene Jahr zurückblickte. Aber es Begann auch eine sehr mystische, düstere Zeit, denn man erzählte sich, dass in den folgenden zwölf Nächten die toten Seelen auf der Erde wandeln würden, denn die Tore der Unterwelt würden in dieser Zeit offen stehen. Nach der Opferzeremonie nahm sich jeder einen glühenden Spahn aus der Feuerschale, in der die Gaben verbrannt waren, huldigte mit einem stummen Gebet den Göttern und anschließend wurden alle Gebäude schweigsam damit ausgeräuchert. Dieser Brauch sollte die Last und die negativen Energien aus dem alten Jahr vertreiben. Nachdem sich alle wieder auf dem, vom Fackelglanz erhellten Platz versammelt hatten, begann der fröhliche Teil der heiligsten aller Nächte. Sie zogen befreit von allen Sorgen in Hicks Hütte, in der bereits ein warmes freundliches Feuer loderte und bereiteten gemeinsam das Festmahl vor. Jeder steuerte etwas dazu bei. Hicks brachte gebratene Äpfel und getrocknete Rosinen, Astrid geröstete Kartoffeln und ein duftendes Kaninchenragout und Fischbein drehte im Feuer ein Spanferkel. Rotzbakke öffnete ein Fass köstlichen Malzbieres und die Zwillinge hatten Brote gebacken, die Aska kritisch beäugte. Sie selbst hatte kleine gezuckerte Kuchen gebacken, die sie mit Nüssen verziert hatte. Ihr waren diese Bräuche geläufig und sie liebte dieses heilige Fest, obwohl sie sich nicht an ein einziges erinnerte. Sie hatte sich während des Backens vorgestellt, sie würde die Küchlein nach dem Rezept ihrer Großmutter für ihre lieben Eltern backen. Sie sehnte sich nach ihrer Familie, die nur in ihrer Fantasie existierte. Schwermut lag auf ihrem Herzen. Nach dem köstlichen Festmahl packte Fischbein eine Laute aus und begann ein heiteres Lied anzustimmen. Die anderen stimmten mit ein und der Klang der Laute wurde im scheppernden Takt von Taff und Raff begleitet, die mehr grölend als singend mit ihrem Besteck auf den Tisch hämmerten. Die Stimmung war sehr ausgelassen und jeder kam mal an die Reihe, ein Lied anzusingen. Bis auf eines, kannte Aska die Lieder nicht, aber sie klatschte begeistert mit und ihre Augen strahlten. In diesem Moment waren die Sorgen der vergangenen Wochen vergessen und sie verspürte nur ein wohliges Gefühl der Heiterkeit. Dann war sie an der Reihe. Sie überlegte kurz und es fiel ihr tatsächlich ein kleines Lied ein. Glücklich darüber, fing sie mit heller Stimme an zu singen und bemerkte nicht einmal, dass es ein recht düsterer Vers war. Die anderen sahen sie verwundert an, aber die lustige Melodie und Askas fröhliches Lachen ließen sie ausgelassen klatschen und mit den Füßen stampfen. „Nacht, Nacht, der Wolf erwacht, bleckt seine Zung´, jagt Alt und Jung. Frisst nicht Schaf, frisst nicht Huhn, braucht keinen Schlaf, muss nicht ruh´n. Kinderlein, gebt nur acht, geht nicht raus, nie in der Nacht. Blut, so rot. Sieh dich um, sonst bist du tot.“ Es war nur ein alberner Kindervers, ein Lied, das Aska aus ihrer Kindheit kannte. Ein Lied, dass sie oft im Ringelreih mit ihrer kleinen Schwester gesungen hatte. Sie erstarrte mitten im Tanz. Hicks hatte sie abgelöst und nun begonnen, mit schiefen Tönen ein neues Lied zu trällern, das von den anderen grölend begleitet wurde. Niemand bemerkte, wie sie mit versteinerter Miene vor den lodernden Flammen des Kamins stand. Beißender Rauch stieg ihr in die Augen. Sie sah im flackernden Schein ein kleines, pausbackiges Mädchen, das nicht älter als fünf sein konnte. Es hatte dieselben grauen Augen wie Aska, das selbe, silbrigweiße Haar, das ihr in lustigen Zöpfen über die Schultern fiel. Astari! Ihre Schwester! Unter einem Schleier aus heißen Tränen rannte sie, von ihren feiernden Freunden unbemerkt, aus der Hütte, direkt auf die Klippe zu. Dort blieb sie mit schnellem Atem stehen und sah flehend hinauf zu den Sternen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)