Verlorene Sonne von Noxxyde ================================================================================ 1 - Kapitel 1 Ruhelos wippte Thomas – Tom, bitte, danke – mit dem Fuß. Sunny war zu spät. Nicht, dass das unüblich gewesen wäre, eine halbe Stunde musste man bei ihr grundsätzlich einplanen, aber mehr als zwei schienen ihm dann doch übertrieben. Ganz besonders dann, wenn sie sich offensichtlich nicht einmal dazu herablassen konnte ihm eine kurze Nachricht zu schicken. „Muss ja ‘n toller Kunde sein, wenn du dafür deinen besten Freund vergisst“, murrte er in seinen Cosmopolitan. Das war nun der dritte Cocktail, den er eigentlich durch ein Glas Wasser hatte ersetzen wollen, aber wenn man von der besten Freundin für einen prallen Scheck versetzt wurde, durfte man sich ja wohl wenigstens besaufen. Sein Handy vibrierte, doch nicht Sunnys Name zierte das Display, sondern die der Agentur Little Secrets. Sein Arbeitgeber, sozusagen. Er hob ab. „Japp?“ „Hey, Tom.“ Solveigs Stimme war unter dröhnender Barmusik und schallendem Gelächter nur schwer auszumachen. „Ich wollte nur fragen, ob du was von Sunny weißt. Ihr letzter Termin sollte seit Stunden rum sein, aber sie hat bisher nichts von sich hören lassen.“ „Nee, mich hat sie auch versetzt.“ Toms Frust rang mit dem Nuscheln, das der Alkohol über seine Zunge legte und verlor. Er räusperte sich, in der Hoffnung, den nächsten Satz ein wenig klarer rauszubekommen. „Ich warte schon seit zwei Stunden im Apple‘s.“ „Och, du Ärmster. In zwanzig Minuten ist meine Schicht rum, dann leiste ich dir gern Gesellschaft.“ „Passt schon. Ich sollte eh nicht so lange machen, hab ja gleich morgen früh eine Buchung.“ Mit jemandem, der dafür, dass Tom sich zu dieser gottlosen Stunde aus dem Bett quälte, hoffentlich ordentlich Trinkgeld springen ließ. „Aber gib mir Bescheid, sobald sich das treulose Stück bei dir meldet, ja?“ „Versprochen, wenn du dasselbe tust. Ich würde mir aber an deiner Stelle keine unnötigen Sorgen machen. Wahrscheinlich hat sie einfach nur ein paar Stunden drangehängt. Ist ein Stammkunde.“ Tom schnaubte. Von wegen ein Stammkunde. Wenn Sunny einfach so einen Cocktailabend platzen ließ, musste es der Stammkunde sein. Nicht, dass sie jemals seinen Namen erwähnt hätte – Diskretion war eines der obersten Gebote in diesem Business, selbst unter Kollegen – aber seit ein paar Monaten bestimmte auffallend oft eine Person ihre Erzählungen. Das Bild, das sich Tom daraus malte, wollte ihm nicht so recht gefallen. Der Kerl klang wie einer der vielen, deren pralles Portemonnaie gerade so ihre mangelnden sozialen Fähigkeiten ausglich. Aber vielleicht gewannen hier auch nur Toms eigene Vorurteile. „Dann hoffe ich mal, dass sie sich die Überstunden wenigstens angemessen vergüten lässt und mir einen Drink ausgibt, falls sie mal wieder Zeit für mich findet.“ Solveig lachte. „Ich bin sicher, das wird sie. Gute Nacht, Tom.“ „Gute Nacht.“ Doch bevor Tom auflegen konnte, rief Solveig: „Warte! Vergiss nicht, dir für morgen den Wecker zu stellen!“ „Ja, Mami. Ist schon erledigt. Bin schließlich Profi.“ Solveig stieß einen Seufzer aus, der verdächtig nach einem getarnten Lachen klang. „Ich meins ernst. Punkt acht. Dein Kunde hat am Telefon ziemlich deutlich gemacht, dass er keine Verspätung duldet. Wenn du nicht pünktlich bist, wird er weder dich noch uns nochmal beauftragen, da helfen dann auch dein Schlafzimmerblick und deine dunklen Locken nicht weiter. Die ich übrigens beide nur erwähne, weil er sie bei der Buchung mehrmals angesprochen hat. Mach was draus.“ „Als würde ich mir eine Chance auf Trinkgeld entgehen lassen. Schönen Abend, dir.“ Tom legte auf, kippte seinen Cosmo herunter und bestellte den nächsten.   ~~~~~~~~~~   Zum dritten Mal an diesem noch recht jungen Tag, putzte sich Tom die Zähne. Erneut vergeblich. Wenn nicht einmal Zahnpasta, Kaffee und Zigaretten den Nachgeschmack eines Kunden wegspülten, war das eher ein psychisches denn physisches Problem. Der Kerl war aber auch unangenehm gewesen. Tom spuckte mit roten Schlieren versetzten Schaum ins Waschbecken. „Kein Wunder, dass wir schon deine dritte Agentur sind, weil du bei den anderen immer wieder versetzt wurdest“, erzählte er seiner stillen Wohnung. „Morgendlicher Blowjob schön und gut, aber wenn ich nicht tierisch in dich verknallt bin, hast du davor gefälligst zu duschen, du Schwein. Versuch wenigstens so zu tun, als hättest du Respekt vor mir und meinem Job.“ Nur geringfügig besänftigt verstaute er ein Bündel Scheine in seinem Safe. Zugegeben, das Trinkgeld konnte sich sehen lassen. Aber auch, wenn seine Miete damit für diesen Monat gesichert war, konnte er sich nicht so recht vormachen, dass das die Verachtung aufwog, mit der der Kunde ihn behandelt hatte. Andererseits: Vor die Wahl gestellt, einem Fremden eine gute Zeit zu schenken und dabei ordentlich bezahlt zu werden, oder zu seinem alten Job in einem Callcenter zurückzukehren? Da lutschte er lieber Schwänze – auch, wenn gelegentlich ein faules Ei darunter war. Ein Glas Orangensaft in der Hand, schnappte sich Tom sein Handy und deaktivierte den Wecker. So früh würde er den Rest der Woche garantiert nicht mehr aufstehen. Anschließend öffnete er die Nachricht von Solveig, die bereits seit einer halben Stunde auf seine Aufmerksamkeit wartete. ‚Guten Morgen, mein Hübscher. Mr. K würde dich gerne übermorgen um 14 Uhr nackt in seinem Bett vorfinden. Übliches Hotel. Klappt das?‘ Tom lächelte. Na, das war doch mal eine erfreuliche Wiedergutmachung für den miesen Start in den Tag. Der Mann, den die Agentur als Mr. K führte, war nicht nur einer seiner ersten Kunden gewesen; über die vergangenen beiden Jahre hatte sich so etwas wie Freundschaft zwischen ihnen aufgebaut. Nicht genug, um ihre Beziehung in bezahlungsfreie Gefilde zu manövrieren, aber definitiv ausreichend, um Toms Stimmung zu heben und ihn den widerlichen Geschmack in seinem Mund vergessen zu lassen. Nach einer kurzen Kontrolle, ob sich der Termin mit anderen Plänen überschnitt, stimmte er zu. Zögernd setzte er nach: ‚Hast du was von Sunny gehört?‘ ‚Nein. Du?‘‘ ‚Auch nicht.‘ Die leise Sorge, die Tom in den vergangenen Stunden relativ erfolgreich ignoriert hatte, pochte nun beharrlich gegen seine Schläfen. ‚Sollten wir ihren Notfallkontakt informieren?‘ Das wäre Sunnys Zwillingsschwester Marlene. Tom hatte sie das eine oder andere Mal gesehen, konnte die Worte, die sie zu diesen Gelegenheiten miteinander gewechselt hatten, aber an beiden Händen abzählen. ‚Vielleicht hat sie einfach nur verschlafen. Lass uns bis zum Abend warten. Wenn wir bis dahin noch nichts gehört haben, mache ich die Pferde scheu!‘ Zähneknirschend nahm Tom Solveigs Entscheidung hin. Der Tag zog sich; der Abend kam und ging ohne eine Nachricht von Sunny. 2 - Kapitel 2 „Was soll das heißen, ihr könnt da nichts tun?“ Instinktiv zog Tom den Kopf ein. Sunny klang alles andere als glücklich. Moment. Sunny! Tom hetzte den Gang herunter. Der Schwung, mit dem er durch die Tür schlitterte, hätte ihn beinahe von den Füßen gefegt, aber tatsächlich, mitten im Agenturbüro – eine Hand in die Hüfte gestemmt, den Zeigefinger der anderen anklagend auf Solveig gerichtet – stand Sunny! „Gekauft hat er euch, darum geht’s! Na los, spuck’s schon aus: Wie viel ist das Leben meiner Schwester wert?“ Toms Herz sank ein Stockwerk tiefer. Er hätte es gleich bemerken sollen. Sunny würde nie ihr feuerrotes Haar zu einem strengen Dutt zusammenbinden. Oder Turnschuhe tragen. Oder Solveig anbrüllen, bis diese mit den Tränen kämpfte. „Hi, Marlene.“ Marlene wirbelte herum, bereit, den Störenfried bei lebendigem Leib zu verspeisen. Glücklicherweise erkannte sie Tom, bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzte. Der Blick, mit dem sie ihn musterte, hätte trotzdem um ein Haar gereicht, ihn in die Flucht zu schlagen. „Hallo.“ „Bitte sag mir, dass du nur hier bist, weil Sunny wieder aufgetaucht ist und du auf sie wartest.“ Im Grunde wusste er, dass das nicht der Fall war, aber Marlenes Kopfschütteln kam dennoch einem Schlag in die Magengrube gleich. „Es ist fast zwei Wochen her, dass ich etwas von ihr gehört habe. Und jetzt erzählt mir die da“, wieder der angriffslustige Finger, der auf Solveig deutete, „dass Sunny laut ihrem letzten Kunden die Schnauze voll von ihrem Leben hatte und er ihr daraufhin mal eben einen Flug nach Übersee spendiert hat. Ich soll ernsthaft glauben, meine Schwester zieht gerade mit dem Rucksack durch Südamerika!“ Tom runzelte die Stirn. „Das klingt wirklich nicht nach Sunny.“ Letztes Jahr noch hatte sie sich geweigert, mit ihm zusammen auf ein Festival zu fahren, weil sie Dixi-Klos widerlich fand. Doch für diesen Einwand hatte Solveig lediglich ein hilfloses Kopfschütteln übrig. „Ich kann dir nur sagen, was man mir erzählt hat.“ „Und jetzt?“ „Können wir nichts mehr tun. Tom, du weißt, wie das hier läuft. Diskretion ist alles. Geld ist alles.“ Tom war so angewidert wie Marlene aussah, aber er wusste, dass Solveig hier nur die Botin spielte. Andere hatten seinen Zorn viel mehr verdient. Er wandte sich an Marlene. „Warst du schon bei der Polizei?“ Sie schnaubte. „Nein, ich bin nämlich total doof und brauche einen Kerl, der mir sagt, was ich tun soll.“ Nach einem tiefen Atemzug wurden ihre Züge weicher und so etwas wie eine Entschuldigung trat in ihre Augen. Naja, jedenfalls ansatzweise. „Ich war bei der Polizei. Zweimal. Die haben gesagt, Sunny wäre eine erwachsene Frau und sie hätten keinen Grund anzunehmen, dass eine Straftat vorliegt.“ „Sie tun also absolut nichts.“ „So sieht es aus.“ Tom bemühte sich, sich nicht der Hoffnungslosigkeit hinzugeben. „Sunny ist seit zwei Wochen verschwunden, ohne dass irgendwer auch nur einen Mucks von ihr gehört hätte. Irgendwann müssen die doch tätig werden, oder?“ „Deshalb wird das auch mein nächster Stopp sein.“ „Nimmst du mich mit?“ „Von mir aus.“ Die Aussicht, endlich etwas Sinnvolles zu tun, ließ Tom sogar vergessen, weshalb er überhaupt in die Agentur gekommen war. Später sollte ihn ein Blick auf seinen Kontostand wieder daran erinnern, aber im Augenblick war er mit anderen Dingen beschäftigt. Zum Beispiel herauszufinden, wo zur Hölle seine beste Freundin steckte.   ~~~~~~~~~~   Obwohl Tom und Marlene die einzigen Zivilisten auf dem Polizeirevier zu sein schienen, dauerte es gute zwanzig Minuten, bis sich einer der Beamten erbarmte und sie zu sich winkte. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ Im Hintergrund rannten seine Kollegen geschäftig durch den Raum, wobei es auf Tom wirkte, als schoben sie lediglich Aktenstapel von A nach B. „Meine Schwester wird vermisst“, erklärte Marlene. „Ich bin deshalb jetzt das dritte Mal bei Ihnen und es wird Zeit, dass sich etwas tut.“ Der Beamte hob beschwichtigend die Hände. „Selbstverständlich. Ich nehme gleich ihre Daten auf.“ Mit unverhohlener Ungeduld diktierte Marlene ihm Sunnys vollständigen Namen („Susanne Fichtner“), ihr Alter („30, aber wenn Sie sie fragen, wird sie 25 sagen“) und beschrieb ihr Äußeres („Sehen Sie mich an. Gut, und jetzt geben Sie mir größere Möpse und eine schmalere Taille. Fertig.“). „Wann hatten Sie zuletzt Kontakt?“ „Vorletzten Sonntag waren wir brunchen, seitdem herrscht Funkstille.“ „Ich habe am Tag darauf noch mit ihr geschrieben“, warf Tom ein. „Sie hat spontan einen Kundentermin übernommen. Danach wollten wir eigentlich was Trinken gehen, aber sie ist nie aufgetaucht.“ „Was für einen Kundentermin?“ „Escort. Unsere Agentur kann Ihnen den Namen des Kunden sicher heraussuchen.“ „Escort …“ Der Polizist hörte auf zu schreiben. „Ach, es geht um die verschwundene Nutte? Da können wir ni–“ Er quiekte auf, als Marlenes Hand auf die Tischplatte donnerte. „Meine Schwester“, zischte sie, „ist eine intelligente, sensible und witzige Frau, die möglicherweise tot in irgendeinem Straßengraben liegt.“ Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. „Beten Sie, dass ich nur paranoid bin. Beten Sie, dass Sunny nichts passiert ist. Und dann machen Sie Ihren beschissenen Job und sehen zu, dass Ihnen in meiner Anwesenheit nie wieder so eine Respektlosigkeit rausrutscht!“ Zu Beginn von Marlenes Tirade hatte noch ein sichtbares ‚Sonst was?‘ auf der Zunge des Polizisten gelegen, das allerdings mit jedem weiteren ihrer Worte tiefer in seine Kehle zurückgekrochen war – nun sah er aus, als versuchte es durchs andere Ende aus seinem Körper zu entkommen. „Ich kann nichts für Sie tun“, würgte er hervor. Das Zittern in der Stimme des Polizisten verschaffte Tom kaum Genugtuung. „Wir sollen also einfach weiter abwarten?“ Der Polizist zuckte mit den Schultern. „Hängen Sie Suchzettel auf, wenn Sie sich damit besser fühlen.“ Er beugte sich vor, trat bei Marlenes Bick jedoch gleich darauf wieder einen Schritt zurück. „Hören Sie, wir haben mit der Nuttenvermittlung, äh, der Escort-Agentur gesprochen und auch mit dem letzten Kunden Ihrer Schwester. Nach allem, was wir wissen, zieht sie mit dem Rucksack durch Südamerika. Da können wir absolut nichts tun. Dummheit liegt nun mal nicht in unserem Aufgabenbereich.“ Tom zerrte Marlene aus der Wache, bevor sie durch das Sicherheitsglas hüpfen und einen Mord verüben konnte. Draußen angekommen atmeten die beiden zunächst tief durch. Tom war der erste, der seine Sprache wiederfand. „So eine dreimalgefickte Kackscheiße!“ „Warum will ihr niemand helfen?“ Zum ersten Mal seit Tom sie kannte, erlitt Marlenes harte Schale einen Sprung. „Warum will niemand meiner Schwester helfen?“ Sie blickte ihn an, als hoffte sie, er wüsste die Antwort. „Weil sie sich mit den falschen Leuten eingelassen hat.“ Der Polizist, der ihnen unbemerkt aus dem Gebäude gefolgt war, war ein anderer, als der, der sich geweigert hatte, die Vermisstenanzeige aufzunehmen. Er war jung, mit weichen Gesichtszügen und einem Ausdruck in den Augen, der weder zum einen noch zum anderen passte. Nun hob er beschwichtigend die Hände, vermutlich in der Hoffnung, einer weiteren Schimpftirade zu entgehen. „Bitte hören Sie mir kurz zu. Niemand hier wird Ihnen helfen Ihre Schwester zu finden, weil sich niemand mit dem Mann, der sie mutmaßlich zuletzt lebend gesehen hat, anlegen möchte. Aus gutem Grund, übrigens. In der ganzen Stadt verschwinden Menschen und–“ Er schüttelte den Kopf. „Sie sollten die Sache lieber vergessen.“ „Diese Sache ist meine Schwester“, zischte Marlene. Der Polizist seufzte. „Ich hatte befürchtet, dass sie das sagen. Deshalb wollte ich Ihnen das hier geben.“ Zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner ausgestreckten Hand klemmte eine Visitenkarte. „Wenn Ihnen jemand helfen kann, dann er.“ Da Marlene nicht reagierte, nahm Tom die Karte entgegen. „Danke, schätze ich.“ „Wenn Sie mir danken wollen, vergessen Sie, dass wir uns begegnet sind.“ Ohne weitere Abschiedsworte verschwand der Polizist zurück in die Wache. Ratlos blickte Tom zu Marlene. „Und jetzt?“ „Jetzt“, sie rupfte ihm die Karte aus der Hand, „besuchen wir diesen“, ihre linke Augenbraue wanderte eine Etage nach oben, „Mr. Magick.“ Mehr oder minder leise darüber schimpfend, dass nicht einmal mehr auf geheimnisvolle Dei ex machina Verlass sei, schleifte sie Tom hinter sich her. 3 - Kapitel 3 Dämmerlicht, Brokatvorhänge und der Gestank nach kaltem Rauch, der in den Wänden hing, egal, wie oft man lüftete. Das waren die ersten Eindrücke, die Tom von Mr. Magicks Kanzlei erwartet hatte. Stattdessen sah er sich mit Zierdeckchen, Katzenbildern und dem Duft nach Asia-Take-Away konfrontiert. „Pfuldigung“, nuschelte der Mann hinter dem günstigen Schreibtisch eines namhaften schwedischen Möbelherstellers um einen Bissen Pad Thai herum. Er deutete auf die beiden Stühle ihm gegenüber. „Feffen Fie–“ Hastig schluckte er und räusperte sich. „Setzen Sie sich doch bitte.“ Marlene und Tom führten eine stumme Debatte, ob sie nicht lieber auf dem Absatz umkehren und verschwinden sollten. Die Erkenntnis, dass keiner von ihnen wusste wohin, überzeugte sie zu bleiben. In Ermangelung eines besseren Zeitvertreibs bis Mr. Magick sein Mittagessen zur Seite geschoben und etwas Platz auf seinem Schreibtisch geschaffen hatte, musterte Tom den Mann. Er war ein paar Jahre älter als er selbst, vielleicht Anfang bis Mitte dreißig, schmal gebaut, straßenköterblondes Haar, von dem ihm einzelne Locken über die Stirn und bis zum Rand seiner Brille fielen; dazu eine spitze Nase und scharfe Wangenknochen. Er bewegte sich mit einer gewissen Agilität, allerdings mangelte es ihm an Grazie. Bevor Tom seine Inventur fortsetzen konnte, sah Mr. Magick ihn direkt an; die Farbe seiner Augen glich von Sonnenstrahlen geküsstem Sumpfgras. Tom schrak innerlich zurück. Wenn er zu so schwülstigen Metaphern griff, bedeutete das meistens, er fand sein Gegenüber attraktiver, als er sich zu diesem Zeitpunkt eingestehen wollte. Offenbar – hoffentlich – nichtsahnend über Toms inneren Monolog blickte Mr. Magick zwischen ihm und Marlene hin und her. „Was kann ich für Sie tun?“ Wie üblich kam Marlene sofort zum Punkt. „Meine Schwester ist seit gut eineinhalb Wochen verschwunden.“ Mr. Magicks Gesicht ließ nicht erkennen, was er dachte. „Waren Sie bei der Polizei?“ Marlene zeigte sich weniger geheimnisvoll. Die Hände zu Fäusten geballt, drehte sie die Augen zur Decke. „Von wie vielen Typen muss ich mich heute eigentlich noch wie der letzte Vollidiot behandeln lassen? Ja, ich war bei der Polizei. Nein, die wollen nichts unternehmen. Ja, ich weiß, dass meine Schwester eine erwachsene Frau ist, die machen kann, was sie will. Nein, das ist kein typisches Verhalten für sie. Reicht das, um die nächsten fünf Minuten dümmlicher Fragerei zu überspringen?“ Mr. Magick blinzelte träge, wie eine Katze im Sonnenlicht. „Ich nehme an, dass ich Ihre Schwester finden soll?“ Marlene schnaubte. „Das wäre ein Anfang.“ „Leider bin ich völlig ausgebucht.“ Aller Sauerstoff schien aus dem Raum zu weichen. Anders konnte sich Tom jedenfalls nicht erklären, weshalb ihm das Atmen plötzlich so schwerfiel. „Was?“ Entschuldigend spreizte Mr. Magick die Finger. „Vermisstenfälle fressen viel Zeit und die habe ich frühestens in zwei Monaten wieder. Ich kann Ihnen die Namen einiger Kollegen nennen, die möglicherweise noch über Kapazitäten verfügen. Alternativ schlage ich vor, dass Sie weiterhin auf die Polizei vertrauen. Wenn Sie hartnäckig bleiben, wird sie sicher nochmal einen genaueren Blick auf den Fall werfen.“ „Einen Scheiß wird sie“, murmelte Tom, aber seine Worte gingen in Marlenes aufgebrachtem Fluchen unter. Man musste ihr eine gewisse Kreativität zugestehen. Nachdem sie ihrem Frust vorerst Luft gemacht hatte, legte sich Stille über den Raum. Marlene starrte Mr. Magick an, als hoffte sie, er würde in Flammen aufgehen. Mr. Magick starrte regungslos zurück. Tom versuchte derweil, Frusttränen zurückzudrängen. Als Marlene endlich ihr Schweigen brach, schnitt ihre Stimme wie Rasierklingen. „Haben Sie einfach nur Angst vor Martin Pfahlhammer, oder stehen Sie auch auf seiner Gehaltsliste?“ Mr. Magick verharrte noch immer regungslos, doch etwas nur schwer Greifbares änderte sich an seiner Körperhaltung. Sie wirkte nicht länger desinteressiert, sondern angespannt. Nahezu … was? Lauernd? „In welchem Verhältnis sta– steht Ihre Schwester zu Pfahlhammer?“ „Er hat sie gelegentlich als Escort gebucht“, erklärte Tom, darum bemüht, nicht ganz so überrumpelt zu klingen wie er sich fühlte. Oder gar so, als hätte er diesen Namen eben zum allerersten Mal gehört. „Soweit wir wissen, war er der Letzte, der“, sie lebend gesehen hat, „mit ihr Kontakt hatte, bevor sie verschwunden ist.“ „Wann war das?“ „Letzten Montag.“ „Hat sie zuvor irgendetwas erzählt? Kam ihr etwas an ihm“, Mr. Magick schien seine nächsten Worte mit Bedacht zu wählen, „seltsam vor?“ „Inwiefern?“, fragte Tom. Das plötzliche Interesse von Mr. Magick war ihm nicht ganz geheuer. „Hat sie irgendetwas an seinem Verhalten oder seiner Art irritiert? Erschien er ihr … nicht normal?“ „Nicht, dass ich wüsste. Sunny hat nie negativ über ihre Kunden gesprochen oder Details über sie verraten.“ Aber stimmte das, oder verbreitete Tom hier nur die Propaganda seiner Agentur? Mr. Magicks Blick ruhte auf ihm. Zugegeben, Sunny hatte ein paar Anspielungen gemacht, dass der Typ etwas spezielle Vorlieben besaß, aber nie mehr als das. Mr. Magick blinzelte nicht einmal. Dabei war es längst zu einem Spiel zwischen Tom und Sunny geworden, sich mit ihren verrücktesten Erfahrungen gegenseitig zu übertrumpfen. „Also?“, fragte Mr. Magick, mit einer Gleichgültigkeit als kannte er die Antwort bereits. „Tatsächlich ist es ist ein bisschen schräg, wie wenig Sunny von dem Kerl erzählt hat“, räumte Tom ein. „Hatte sie Angst vor ihm?“ „Angst?“ Tom nahm sich Zeit, über die Frage nachzudenken, blieb jedoch bei seiner ersten, instinktiven Antwort. „Nein.“ Zur Bekräftigung schüttelte er den Kopf. „Sonst hätte sie ihn niemals als Kunden behalten. Egal, wie hoch das Trinkgeld ausgefallen wäre.“ Gedankenverloren starrte Mr. Magick auf seinen Schreibtisch. Er bewegte keinen Muskel, lediglich die Falten auf seiner Stirn gruben sich zunehmend tiefer. Als er endlich sprach, war seine Stimme heiser und so leise, dass sie mit dem Straßenlärm vor dem Fenster zu verschmelzen drohte. „Ich glaube nicht, dass sie noch lebt.“ Toms Herz setzte einen Schlag aus. Einfach so hatte jemand diese tiefsitzende Angst ausgesprochen, die mit jedem verstrichenen Tag mehr zur Gewissheit geworden war. Und dennoch hörte er sich sagen: „Sie lebt.“ Mr. Magick erwiderte nichts, akzeptierte Toms Widerspruch jedoch mit einem knappen Nicken. Marlenes Stuhl knarzte, als sie sich erhob. „Komm. Wir verschwenden hier unsere Zeit.“ Ohne Toms Reaktion abzuwarten, lief sie in Richtung des Fahrstuhls, der sie zurück ins Erdgeschoss des Bürokomplexes bringen würde. Mit Schultern, die das Gewicht einer unliebsamen Wahrheit trugen, stand auch Tom auf. Für einen Augenblick verschwammen Katzenposter, Zierdeckchen und Mr. Magicks regungslose Gestalt, doch dann hatte er sich wieder ausreichend unter Kontrolle, um zur Tür zu stolpern. „Warten Sie.“ Obwohl Mr. Magick nicht laut gesprochen hatte, schrak Tom zusammen. Alles an diesem Mann war zu intensiv. Sein Blick, seine Stimme – seine gesamte Präsenz. Tom fühlte sich wie im Auge eines Sturms, glaubte eine Sekunde lang sogar, Ozon zu riechen. Also tat er, was er immer tat, wenn das Leben ihn zu überwältigen drohte. Er sorgte dafür, dass ein arrogantes Lächeln seine Mundwinkel hob und gurrte: „Hm? Kann ich Ihnen noch … anderweitig behilflich sein?“ Mr. Magick schien blind für Toms Provokation. Oder sie interessierte ihn schlicht nicht. Oder – und das war die bei weitem erschreckendste Alternative – er durchschaute sie. „Ihre Schwester–“ „Freundin“, verbesserte Tom. „Sunny ist Marlenes Schwester und meine Freundin.“ Für einen Wimpernschlag huschte etwas, das verdächtig nach Enttäuschung aussah, über Mr. Magicks Züge. Dann zeigte er einmal mehr dieses träge Blinzeln und der Ausdruck war verschwunden. „Ich kann Ihnen nicht helfen, Ihre Freundin zu finden, weil sie höchstwahrscheinlich nicht mehr am Leben ist. Aber Sie können mir helfen.“ „Wobei?“ „Dabei Pfahlhammer zu stoppen. Irgendetwas stimmt in dieser Stadt nicht. Etwas“, Mr. Magick rang sichtlich nach Worten, „Etwas hat sich verändert und das Verschwinden Ihrer Freundin passt zeitlich zu gut, um es zu ignorieren. Ich muss herausfinden, was hier los ist.“ „Und warum sollte ich Ihnen dabei helfen?“ „Weil es das Richtige ist.“ Mr. Magick klang wie ein Erzieher kurz vor der Rente, der zum tausendsten Mal einem Kind erklärte, dass es sich nicht gehörte, andere Leute mit Sand zu bewerfen. Das Schlimmste daran war: Er hatte recht. Toms Schultern sackten nach unten. Ihm fehlte die Kraft, die Rolle des desinteressierten Arschlochs aufrechtzuerhalten. „Was soll ich tun?“ „Sie gar nichts.“ Bevor Tom auch nur den Mund öffnen konnte, um Mr. Magick zu sagen, was er von dessen überaus charmanter Art hielt, fuhr dieser fort. „Ich brauche jemanden, der das Blut Ihrer Freundin teilt.“ „Das Blut meiner … Sie meinen Marlene?“ Mr. Magick nickte. „Also besteht meine überragende Hilfe darin, sie zurückholen?“ Tom sah das erneute Nicken nur noch aus dem Augenwinkel, als er aus der Tür sprintete. 4 - Kapitel 4 Marlene saß mit verschränkten Armen vor Mr. Magicks Schreibtisch. „Ich weiß beim besten Willen nicht, warum ich mich dazu habe breitschlagen lassen.“ Weil wir nicht wissen, was wir sonst tun sollen. Anstatt diesen Gedanken laut auszusprechen, richtete Tom seine Aufmerksamkeit auf Mr. Magick. Dieser hatte sich nicht von der Stelle gerührt, seit Tom mit einer wenig begeisterten Marlene in sein Büro zurückgekehrt war, doch nun lagen seine Arme über den Schreibtisch gestreckt, beide Handflächen nach oben gerichtet. „Legen Sie Ihre Hände in meine“, bat er, zuckte jedoch zurück, als Tom seiner Aufforderung folgte. „Nur Frau Fichtner, bitte.“ „Oh. Okay. Sorry.“ Im Gegensatz zu Tom, zeigte sich Marlene wesentlich weniger bereitwillig zum Händchenhalten. Kühl musterte sie Mr. Magick. „Ist das wirklich nötig? Ich wäre nämlich sehr froh, wenn wir das Spektakel auf ein Minimum reduzieren und einfach meine Schwester finden könnten.“ Zur Antwort erhielt sie ein geduldiges Lächeln, das Mr. Magicks Augen nicht erreichte. „Das ist der Plan. Aber dafür muss ich eine Verbindung zu Ihrer Schwester aufbauen und das geht am einfachsten durch einen mit ihr verbundenen Menschen.“ Seine Finger – lang und feingliedrig, bemerkte Tom, obwohl er selbstverständlich nicht auf die diversen körperlichen Qualitäten mysteriöser Männer mit lächerlichem Namen und Katzenpostern achtete – zuckten ungeduldig. „Ihre Hand. Bitte.“ Tom blickte ebenso bittend zu Marlene. Wenn es auch nur die geringste Chance gab, Sunny heil oder wenigstens lebendig zu finden, mussten sie sie nutzen. „Was haben wir schon zu verlieren?“ Ergeben seufzend legte Marlene ihre Hand in Mr. Magicks. Stille breitete sich aus und möglicherweise waren Toms Nerven strapazierter als er ahnte, denn nichts daran fühlte sich natürlich an. Darum bemüht, das unangenehme Prickeln in seinem Nacken abzuschütteln, sah er sich in dem Büro um, das ebenso einer lieben Oma aus einem Kindermärchen hätte gehören können. Erst bei genauerem Hinsehen realisierte er, dass das nicht ganz stimmte. Die zarten Muster der Spitzendeckchen entpuppten sich als Sigillen; nicht Lavendel, sondern Eisenhut füllte die beiden Vasen auf dem Fensterbrett und die cremefarbene Tapete war von Symbolen überzogen, die Tom trotz seiner obsessiven Phase nächtlichen ‚Pendel, Puppen, Plusquamperfekt – Paranormale Phänomene‘-Guckens nicht zuordnen konnte. Lediglich bei den Katzenpostern handelte es sich um genau das: Poster von Katzen. Am Ende seiner Inventur kehrte Toms Blick zu Mr. Magick zurück. Dessen Stirn hatte sich in der vergangenen Minute eine beachtliche Menge neuer Falten zugelegt. „Ich bekomme keine Verbindung.“ Er musterte Marlene, als machte er sie dafür verantwortlich. „Sind Sie sicher, dass Sie blutsverwandt mit Ihrer Schwester sind?“ „Andernfalls wäre unserer Mutter ein ziemliches Kunststück gelungen. Eineiige Zwillinge sind Ihnen ein Begriff?“ „Warum kann ich dann nicht …“ Ohne seinen Satz zu beenden, schloss Mr. Magick seine Augen und vertiefte die Falten auf seiner Stirn in absoluter Konzentration. Dieses Mal war Tom überzeugt, Ozon zu riechen. Abrupt ließ Mr. Magick Marlenes Hand los. „Ich muss mich mit jemandem beraten. Sobald ich mehr weiß, melde ich mich bei Ihnen.“ Mit einem flapsigen Winken bedeutete den beiden, sein Büro zu verlassen. Marlene bewegte sich keinen Millimeter. „Dann wäre es wohl gut, wenn Sie meine Telefonnummer aufschreiben.“ Mr. Magick rezitierte eine Nummer, die Tom nichts sagte, Marlene aber das letzte bisschen Farbe aus dem Gesicht trieb. „Korrekt?“ Sichtlich um Fassung ringend, funkelte Marlene ihn an. „Wie sind Sie an diese Nummer gekommen?“ „Google. Sie steht auf Ihrer Firmenhomepage. Und jetzt bitte.“ Er deutete zur Tür. „Je früher Sie gehen, desto eher kann ich mich auf die Suche nach Ihrer Schwester machen.“ Tom beeilte sich Marlenes Protest zuvorzukommen, indem er ihren Unterarm packte – fest, aber hoffentlich nicht schmerzhaft – und sie zur Tür schleppte. „Alles klar! Vielen Dank schonmal!“ „Tom!“ Marlene stemmte sich gegen ihn. „Lass mich los!“ „Nur, wenn du versprichst, den armen Mann seine Arbeit machen zu lassen.“ Den Rücken exakt jenem zugewandt, hauchte er ein ‚Vertrau mir‘ hinterher. Für einen Moment sah es aus als würde Marlene diese Bitte ignorieren, doch nach ein paar Sekunden nickte sie grimmig. In stummer Einigkeit traten die beiden aus dem Büro. Bedauerlicherweise bot die Lobby im Erdgeschoss keine guten Versteckmöglichkeiten – das vollgestopfte Café auf der anderen Straßenseite allerdings sehr wohl.   ~~~~~~~~~~   Tom saugte an seinem Karamell-Minz-Frappuccino. Dickflüssige Zuckermasse glitt vom Strohhalm über seine Zunge, die Speiseröhre hinab, bis in seinen Magen. „Woher wusstest du, dass dieser Pfahlhammer etwas mit Sunnys Verschwinden zu tun hat? Und warum hast du mir das nicht früher gesagt?“ „Weil ich es eben nicht wusste.“ Marlene nippte an ihrem Dreifachespresso. „Ich konnte Sunny nicht erreichen und alle anderen haben sich einen Dreck für sie interessiert, also habe ich angefangen selbst zu recherchieren. Und massig ähnliche Fälle gefunden. Sexarbeiter leben gefährlich.“ Sie stürzte den Rest ihres Espressos herunter. „Aber dir muss ich kaum einen Vortrag über die Risiken deines Jobs halten.“ „Musst du tatsächlich nicht.“ „Jedenfalls gibt es zwar auch viele Berichte über Körperverletzung und so weiter, zurzeit scheinen sich aber besonders die Vermisstenfälle zu häufen. Manchmal tauchen die Vermissten wieder auf, manchmal ist es falscher Alarm. Aber oft genug bleiben sie verschwunden und wenn man tief genug gräbt, stolpert man immer wieder über denselben Namen.“ „Pfahlhammer.“ „Genau der. Hauptsächlich im Zusammenhang mit einem kleinen Mädchen, das man vor ein paar Wochen tot in einem Waldstück gefunden hat, nachdem es davor monatelang verschwunden war. Gerüchteweise hat der Mann noch sehr viel mehr Dreck am Stecken, aber bisher konnte man ihm nie etwas nachweisen. Trotzdem dachte ich, es kann ja nicht schaden, den Namen mal einzuwerfen und zu gucken, wie dieser Mr. Magick reagiert.“ Tom verschluckte sich beinahe an seinem Alibikaffee. „Du hast geblufft!“ „Und es hat sich ausgezahlt.“ Plötzlich betrachtete Tom Marlene mit völlig anderen Augen.   ~~~~~~~~~~   Tom war bei seinem zweiten Karamell-Minz-Frappuccino angekommen, als Mr. Magick das Bürogebäude verließ. Weder zügig noch gemächlich, sondern wie jemand, der sein Ziel kannte und wusste, dass es nicht davonlief. Zeit, herauszufinden, was der Kerl plante. Marlenes Fingernägel gruben sich schmerzhaft in Toms Unterarm. „Warte!“, zischte sie. „Ist ein bisschen auffällig, wenn du ihm nachläufst wie ein Welpe, der Leckerchen wittert, denkst du nicht?“ Widerwillig sank Tom zurück auf seinen Sitzplatz. „Wusste nicht, dass du jetzt auch noch Beschattungsprofi bist.“ „Ich denke einfach nur weiter als von zwölf bis Mittag. Wir warten, bis er ums Eck ist, dann folgen wir ihm.“ „Und wenn er bis dahin nochmal abbiegt? Oder in den Bus einsteigt. Oder–“ „Das“, unterbrach Marlene Toms Angstschwall, „überlegen wir uns, wenn es so weit ist. Los jetzt!“ Während Toms Hirn Horrorszenarien ausgespien hatte, war Mr. Magick in eine Seitengasse eingebogen und damit effektiv aus ihrer Sicht verschwunden. So gelassen Marlene ihren Plan noch vor wenigen Augenblicken dargelegt haben mochte, ihre mit jedem Meter schneller werdenden Schritte verrieten, dass sie sich bei weitem nicht so sicher fühlte, wie sie vorgab. „Da“, raunte Tom, als er einen Rücken erspähte, der nach einem einzigen Treffen nicht so vertraut aussehen sollte. Auf leisen Sohlen folgten sie Mr. Magick. Gar nicht so ungeschickt offenbar; auch nach fünfzehn Minuten zügigen Fußmarsches ahnte er nichts von ihrer Existenz. Ohne sich ein einziges Mal umzublicken betrat er ein Geschäft, dessen Schaufenster von schwarzen Samtvorhängen verdeckt wurden. Über der Tür hing ein eisernes Schild, das den Laden als Knochenmark & Blut auswies. „Gehen wir rein und gucken, was es mit dem Laden auf sich hat?“, fragte Tom. „Lieber nicht. Wenn der so klein ist, wie er von außen aussieht, bleiben wir keine drei Sekunden unentdeckt.“ Stumm stimmte Tom Marlenes Bedenken zu. Glücklicherweise hatte die allgemeine Franchise-Welle auch ihre Stadt vor einigen Jahren geflutet und so fanden sie keine zehn Meter entfernt ein Café, das dem, das sie vor einer Viertelstunde verlassen hatten, aufs Haar glich. Bei dem Gedanken an ein weiteres aromatisiertes Heißgetränk rumorten Toms Magen und Geldbeutel, doch was tat man nicht alles, um seine Tarnung aufrechtzuhalten. Und so warteten sie. Und warteten. Und warteten. „Was zur Hölle treibt der Kerl so lange da drin?“ Wie um ihren Missmut zu unterstreichen, schlürfte Marlene die Reste ihres Eistees extra laut aus dem Strohhalm. „Vielleicht gibt es einen Hinterausgang?“ Bisher hatte sich Tom verkniffen, diese Befürchtung laut auszusprechen, aber er vermutete, allmählich war die Zeit für Zurückhaltung vergangen. „Vielleicht.“ Oh, toll. Nur nicht zu optimistisch. „Und jetzt?“ „Gehen wir rein. Viel zu verlieren haben wir ja nicht mehr.“ Keine Glocke mit zarter Melodie kündigte ihre Ankunft an, kein Verkäufer hieß sie mit gerade so viel Enthusiasmus willkommen wie man für Mindestlohn eben kaufen konnte. Stattdessen betraten sie Stille. „Igitt!“ Okay, Stille und den alles umhüllenden Gestank von Patschuli. Tom verzichtete darauf, es Marlene gleichzutun und sich mit einer dramatischen Geste die Nase zuzuhalten, musste dafür jedoch den Anflug eines herzhaften Niesers bekämpfen. „Wo ist er hin?“ „Shh!“ Anstatt auf ihre Nase, presste Marlene ihre Finger nun gegen ihre Lippen. „Hör hin.“ Zunächst verstand Tom nicht, worauf sie hinauswollte, doch nach einigen Atemzügen angestrengten Lauschens registrierte er das heisere Murmeln aus dem Lagerraum hinter der Verkaufstheke. Zwei Stimmen, eine davon vage vertraut. Gänsehaut kroch über Toms Arme, als er näher schlich. „–nicht, dass es möglich wäre?“, fragte Mr. Magick seinen Gesprächspartner. „Möglich ist vieles.“ Die Frau, mit der sich Mr. Magick unterhielt, sprach mit dem Hauch eines Akzents, den Tom nicht richtig platzieren konnte. Ihre Vokale klangen gerundet und die Konsonanten schienen in ihrer Kehle auf Watte zu treffen, bevor sie in die Außenwelt schwebten. „Aber du glaubst nicht daran.“ „Ich glaube nicht, dass du daran glaubst.“ Tom konnte das Schulterzucken von Mr. Magicks Gegenüber beinahe hören. „Sonst wärst du nicht bei mir, um nach Rat zu fragen.“ „Womit du dich bisher ziemlich zurückhältst“, entgegnete Mr. Magick missmutig. „Wenn du darauf bestehst, gebe ich dir einen Rat. Lass die Finger von diesem Fall. Sag deiner Kundin, dass ihre Schwester tot ist–“ „–aber sie könnte–“ „–was höchstwahrscheinlich der Wahrheit entspricht. Nur, weil du keine Verbindung zu ihrem Echo aufbauen konntest, bedeutet das nicht, dass sie noch lebt. Vielleicht war dein Träger zu schwach.“ „Zwillingsblut, Lou. Wenn ich damit keine Verbindung aufbauen kann, sollte ich mir einen anderen Job suchen.“ „Wir wissen beide, dass es noch hundert andere Gründe gibt, die ein Echo schweigen lassen.“ Eine kurze Pause. Als die Frau das nächste Mal sprach, schwang Mitgefühl in ihrer Stimme. „Ich weiß, du wünscht dir ein Happy End. Gerade nach deinem letzten Vermisstenfall. Aber vertrau mir, wenn ich dir sage, dass du dich da zu sehr reinsteigerst. Lehn den Fall ab. Verweis sie an jemand anderen. An mich, wenn du dich dann besser fühlst. Nur tu dir selbst das nicht an. Nicht, solange die alten Wunden noch bluten.“ „Das …“ Mr. Magick seufzte fast unhörbar. „Nein, du hast recht. Ist es okay, wenn ich der Kundin deine Nummer gebe?“ „Selbstverständlich ist es das. Jetzt komm, ich muss wieder an die Theke, bevor mir irgendjemand den Laden leerräumt.“ „Als würdest du nicht mehr als genug Methoden kennen, um–“ Der Rest des Satzes ging in Rascheln und eiligen Schritten unter, als Marlene Tom am Kragen packte und ihn zu einer unscheinbaren Tür am anderen Ende des Raums schleifte. Ein Messingschild mahnte der Bereich sei ‚Nur für Personal‘ gedacht, doch das interessierte Marlene herzlich wenig. Sie stieß Tom hinein und schlüpfte hinterher. Dunkelheit umhüllte sie, zentnerschwer und allumfassend. Eine zarte Brise flüsterte über Toms Haut. Das war keine Abstellkammer. Er brauchte kein Licht, um zu erkennen, dass sich dieser Raum meterweit erstreckte. „Hörst du das?“, hauchte Marlene. Tom lauschte. Marlenes Atem bildete ein Echo zu seinem eigenen. Unregelmäßig. Vielfach. Zu weit entfernt, um von der Frau neben ihm zu stammen. Wo auch immer sie gelandet waren, sie waren nicht allein. Schreckensstarr wartete er darauf, dass sich das Atemgeräusch näherte. Eine Hand seinen Arm berührte. Sich um seinen Hals legte. Nichts geschah. Da waren nur sie und das Geräusch von Luft, das in Lungen gesogen und wieder ausgestoßen wurde. Marlene hatte weniger Geduld auf einen von der Dunkelheit geschützten Angreifer zu warten. „Hier ist ein Lichtschalter“, flüsterte sie. „Sekunde.“ Auf ihre Worte folgte ein fast unhörbares Klicken, gleich darauf fluteten Deckenlampen den Raum mit Licht. Gegen die trotz der Warnung plötzlich kommende Helligkeit blinzelnd, brauchte Tom einen Moment, um ihre Umgebung wahrzunehmen. Und noch einen Moment länger, bis sein Gehirn den Anblick der vor ihm aufgereihten Körper verarbeitet hatte. Sie befanden sich in etwas, das früher einmal ein Lagerraum gewesen sein musste. Regale, gefüllt mit Gegenständen, deren Sinn und Zweck sich Tom entzog, bildeten ein wändeverdeckendes Labyrinth. Einige von ihnen wirkten deplatziert. Vermutlich hatte die Ladenbesitzerin sie verschoben, um Platz für die dünnen Matratzen zu schaffen, die nun die Mitte des Raums einnahmen. Auf ihnen lagen acht nackte Männer. „Sind sie tot?“ Marlene machte einen Schritt nach vorne, überlegte es sich jedoch anders und blieb stehen. „Ich denke nicht.“ In der auf seine Worte folgenden Stille hörte Tom erneut dieses sachte Atemgeräusch. „Zumindest nicht alle.“ Sein Blick huschte über die Körper vor ihm. Allesamt männlich, allesamt jung, allesamt attraktiv. Davon abgesehen, hatten sie wenig gemein. Einer war so blass, dass seine Haut beinahe durchscheinend wirkte, Sommersprossen sprenkelten seine Schultern und kupferfarbene Haarsträhnen umrahmten sein Gesicht. Ein anderer hatte dicht gekräuselte Locken, volle Lippen und dunkle Haut. Einen dritten zierten kunstvolle Tattoos und Piercings, während der Mann neben ihm … „Sam?“ Tom rannte zu dem Freund, mit dem er mehr als eine gemeinsame Nacht verbrachte hatte. „Samuel?“ Erleichtert registrierte er das stete Heben und Senken von dessen Brust und als er seine Finger an Sams Mund legte, strich warmer Atem über sie. „Lebt er?“ Marlene war neben Tom auf die Knie gesunken, die Lippen zu einem schmalen Strich gepresst. Tom nickte. „Aber ich bekomme ihn nicht wach.“ Hatte er zunächst sanft Sams Wange gestreichelt, versetzte er ihm nun fraglos schmerzhafte Klapse, die jedoch keine Reaktion erzielten. „Komm schon, Sam. Wach auf!“ „Erkennst du noch jemanden hier?“ Nur widerwillig löste Tom seine Aufmerksamkeit von seinem Freund, um die anderen Männer näher in Augenschein zu nehmen. „Ich glaube n–“ Er stockte. „Warte. Der Dunkelhaarige da vorne. Wenn ich nicht völlig daneben liege, hat er mal für unsere Agentur gearbeitet. Damals hatte er ein paar Piercings weniger, deshalb habe ich ihn nicht gleich erkannt, aber … Doch, ich bin mir sicher. Wir sind uns ein oder zweimal über den Weg gelaufen.“ „Aber er ist nicht mehr bei Little Secrets?“ Tom schüttelte den Kopf, bereits erneut über Sam gebeugt. „Ist aus der Kartei geflogen, weil er einen Kunden beklaut hat.“ „Und dein Freund hier? Wann hast du das letzte Mal mit ihm gesprochen?“ „Vor ein paar Wochen. Wir wollten uns eigentlich mal wieder treffen, aber dann hat er nichts mehr von sich hören lassen.“ „Ist er sonst auch so unzuverlässig?“ Tom antwortete nicht sofort. Nicht, weil er darüber nachdenken musste, sondern weil er sich für die Wahrheit schämte. Schließlich zwang er sich, sie dennoch auszusprechen. „Nicht wirklich“, räumte er ein. „Aber Sam …“ Er seufzte. „Sam hatte immer mal wieder Probleme mit, äh, nicht völlig legalen Substanzen und ich bin davon ausgegangen, dass die Bullen ihn einkassiert haben. Wäre nicht das erste Mal.“ „Du hast nicht nachgehakt, als du nichts mehr gehört hast?“ „Nein.“ Marlene ließ sich nicht anmerken, was sie von Toms Geständnis hielt, aber wenn er raten sollte, half seine Treuelosigkeit nicht unbedingt, ihre Meinung über ihn zu verbessern. Zurecht. „Gab es abgesehen von dir noch jemanden, der sein Verschwinden bemerkt hätte?“ „Unwahrscheinlich. Soweit ich weiß hatte er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie und ich glaube nicht, dass er in einer Beziehung war. Jedenfalls keiner ernsthaften.“ „Hm.“ Marlene presste die Lippen zusammen. „Was hat er beruflich gemacht?“ „Dasselbe wie ich. Weniger regelmäßig und nicht über eine Agentur, aber …“ Tom zuckte mit den Schultern. „Und der andere, den du erkannt hast, war auch Sexarbeiter, ja?“ Tom nickte. „Vorbestraft?“ „Damals nicht, aber gerüchteweise hat er nach seinem Rausschmiss bei Little Secrets ein paar Monate wegen Betrugs gesessen.“ „Findest du nicht, dass das ein ziemlich auffälliges Muster ist?“ Fand er. „Wir müssen die Jungs hier wegbringen, bevor dieses Miststück wer weiß was mit ihnen anstellt.“ „Ich fürchte, das kann ich nicht zulassen.“ Tom wirbelte herum. Im Türrahmen stand die Ladenbesitzerin, einen Revolver auf seine Brust gerichtet. 5 - Kapitel 5 Ohne den Blick von der Waffe zu nehmen, hob Tom die Hände vor die Brust, als könnte er sich so vor der tödlichen Kugel schützen. „Wir, äh, haben überhaupt nix gesehen.“ Die Ladenbesitzerin runzelte die Stirn. Offenbar hatte sie Schwierigkeiten zu glauben, dass jemand so erbärmlich lügen konnte wie Tom es eben getan hatte. „Netter Versuch. Aber bitte spart euch weitere peinliche Ausreden, während ich mir überlege, was ich mit euch anstelle.“ Die kühle Entschlossenheit in ihren Augen jagte Tom einen Schauer über den Rücken. Sollte die Frau Skrupel haben sie an Ort und Stelle zu erschießen, lag das sicher nicht an ihrer Menschenliebe. Wenn er und Marlene nicht ganz schnell einen genialen Fluchtplan entwickelten, erlebten sie den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr. Tom konnte nicht glauben, dass seine Henkersmahlzeit aus einem überteuerten Karamell-Minz-Frappuccino bestanden haben sollte. „Komm schon, wir finden doch bestimmt irgendeinen Kompromiss. Du lässt uns gehen und dafür erzählen wir niemandem, was wir hier gesehen haben.“ Die Frau neigte den Kopf. „Ich dachte, ihr hättet nichts gesehen?“, fragte sie mit zuckersüßer Stimme. „Äh …“ Verdammt. Tom war nicht nur ein schlechter Lügner, sondern auch noch ein dummer. „Mehrere Freunde von mir wissen, wo ich hingegangen bin.“ Im Gegensatz zu Tom klang Marlene völlig ruhig. Sie hätte sich ebenso gut mit einer Bekannten über das Wetter unterhalten können. Die Ladenbesitzerin zeigte sich davon allerdings wenig beeindruckt. Noch immer hielt sie ihren Kopf geneigt; eine Haltung, die Tom an einen lauschenden Jagdhund erinnerte. „Und das sollte mich interessieren, weil …?“ „Weil ich ihnen gesagt habe, dass sie die Polizei rufen sollen, wenn ich mich nicht mehr melde.“ Marlene deutete auf die reglosen Körper hinter ihr. „Das da sind Menschen, die niemand vermisst.“ Tom schluckte seinen Protest herunter, als Marlene beim nächsten Satz auf ihn und sich selbst deutete. „Das gilt aber nicht für uns beide. Uns wird man suchen. Und in meinem Fall wird die Polizei auch ganz genau wissen, wo sie anfangen muss.“ Tom hatte keine Ahnung, ob Marlenes Argumente auf offene Ohren stießen, aber zumindest schaffte sie es damit, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ganz langsam war der Revolverlauf von Toms zu Marlenes Brust gewandert und verharrte dort. Sie zeigte sich auch davon unbeeindruckt. „Erschießen werden Sie uns übrigens schon zweimal nicht und ich erkläre Ihnen auch gerne, wieso.“ Bedächtig machte Tom erst einen winzigen Schritt zur Seite, dann einen weiteren. „Es ist helllichter Tag, die Straßen sind voll mit Passanten.“ Noch einen Schritt. „Sie mussten sich ja ausgerechnet eine der belebtesten Gegenden der Stadt für Ihren Laden aussuchen.“ Und noch einer. Inzwischen musste Tom fast aus dem direkten Sichtfeld der Ladenbesitzerin verschwunden sein. „Bei so einer Menschenmenge wird irgendjemand den Schuss ganz sicher hören.“ Vielleicht erahnte Marlene Toms Plan, vielleicht hoffte sie, die Ladenbesitzerin wirklich überzeugen zu können. So oder so redete sie weiter. „Schüsse sind hier zum Glück eher selten, werden also die Polizei auf den Plan rufen und ich wette, das Letzte, das Sie wollen, ist ein Schwarm Polizisten, der Ihren Laden durchkämmt.“ Nur noch ein paar Schritte. Nur noch ein paar Schritte und Tom hatte eine realistische Chance, die Ladenbesitzerin zu überrumpeln. Vorausgesetzt, sie drückte den Abzug nicht schneller als er springen konnte. Was recht unwahrscheinlich war. Verdammt, das war ein wirklich beschissener Plan. Aber wenn er nichts tat, starben sie ebenfalls. „Also?“, unterbrach Marlenes kühle Stimme seine Zweifel. „Ich würde vorschlagen, Sie stecken die Waffe weg, drehen auf dem Absatz um und sehen zu, dass Sie das Weite suchen. Wir geben Ihnen sogar eine Stunde Vorsprung, bevor wir die Polizei alarmieren.“ Ein Lächeln schenkte den blassen Zügen der Ladenbesitzerin einen schmierigen Film. „Ich denke, das lassen wir lieber. Oh, und wenn dein Kumpel hier“, träge schwenkte ihr Revolver zu Tom, „auch nur einen Millimeter weiterkriecht, jage ich erst ihm und dann dir eine Kugel in die Brust.“ Tom erstarrte. So viel zu seinem Überraschungsmoment. „Lass wenigstens Marlene gehen.“ Huch, wo war das denn hergekommen? Tom war ja einiges, aber sicher kein selbstloser Held. Sein Mund schien das allerdings noch nicht mitbekommen zu haben, denn der plapperte fröhlich weiter. „Du sammelst Kerle, ja?“ Er breitete die Arme aus. „Jung, sexy, Callboy und ohne Freunde oder Familie, die ihn vermissen würden. Ich bin dein feuchter Traum.“ Igitt, das Bild hatte er eigentlich nicht in seinem Kopf haben wollen. Die Ladenbesitzerin antwortete nicht, aber immerhin hatte sie ihn bisher auch nicht erschossen. Und bildete sich Tom das ein, oder war der Revolverlauf ein kleines Stück tiefer gesunken? „Na? Was sagst du? Du lässt Marlene laufen und dafür benehme ich mich wie ein artiger Chorknabe, lege mich zu deinen anderen Eroberungen und mache ein langes Nickerchen.“ Aus dem er vermutlich niemals aufwachte. Wieder flackerte ein Lächeln über die Lippen der Frau; falls sie ihren Revolver zuvor etwas tiefer gehalten hatte, tat sie das nun nicht mehr. Sie öffnete den Mund, doch ihre sicherlich höhnische Erwiderung verwandelte sich in einen Aufschrei, als Marlene sie mit Schwung gegen den Türrahmen rammte. Der Revolver fiel scheppernd zu Boden. „Renn!“ Sie kamen nicht weit. Finger gruben sich in Toms Oberarm und der kalte Revolverlauf, der sich in seinen Nacken presste, nahm ihm die letzte Hoffnung auf ein Happy End. Still betete er, wenigstens Marlene würde entkommen. Als hätte sie ihn gehört, drehte sie sich um und versteinerte bei dem Anblick, der sich ihr bot. „Schön stehenbleiben, Liebes“, schnarrte die Frau. Ihr feuchter Atem wehte über Toms Wange. „Du willst sicher nicht, dass ich das bisschen Hirn, das dein Kumpel hier besitzt, gleich an Ort und Stelle verteile.“ „Geh!“ Tom hörte seine Worte kaum über das Hämmern seines Herzens. „Marlene, verschwinde endlich! Sie wird mich so oder so erschießen, aber du hast noch eine Chance!“ Zum Dank für seinen Heldenmut erntete Tom einen Schlag in seine rechte Niere. Vermutlich. Er war sich nicht ganz sicher, wo genau seine Nieren saßen und ehrlich gesagt war es ihm im Moment ziemlich egal. Der größte Teil seiner Aufmerksamkeit ging gerade dafür drauf, sich nicht wimmernd zusammenzukrümmen. „Jetzt habe ich aber genug von euch beiden! Es wird Zeit, diese Farce zu been–“ Ein Knirschen erklang, das tief in Toms Magen vibrierte und die Säure darin nach oben trieb. Keine Sekunde später begrub das Gewicht der Frau ihn unter sich. „Alles in Ordnung?“, fragte eine Stimme, die er heute nicht zum ersten Mal hörte. Nein, dachte Tom. Seine Welt war zu eng, warme Flüssigkeit tropfte auf seinen Nacken, auf genau jene Stelle, gegen die bis eben der Revolverlauf gedrückt hatte. Marlene sagte etwas, doch er verstand durch das Rauschen in seinen Ohren nur Bruchstücke. „… tot?“ Ihre Stimmt klang so piepsig, dass er sie beinahe nicht erkannt hätte. „Ich weiß nicht“, antwortete Mr. Magick gepresst. „Ich bin nicht tot“, stellte Tom klar. „Nicht du.“ Ah, das klang schon mehr nach der Marlene, die Tom kannte und … nun ja, eben kannte. „Die Frau.“ Toll. Tom lag nicht nur unter dem Körper einer irren Killerin begraben, er lag unter dem Körper einer toten irren Killerin. Seine Magensäure startete einen neuen Fluchtversuch und irgendetwas, über das er lieber nicht näher nachdenken wollte, drückte schmerzhaft gegen sein Steißbein. „Holt. Mich. Hier. Raus!“ „Machen wir. Bleib ruhig.“ Marlene ächzte und Mr. Magick gab ein Geräusch zwischen Schnaufen und Grunzen von sich, doch das Gewicht verschwand von Toms Rücken. Schwerfällig setzte er sich auf, sorgsam darauf bedacht, nicht auf das reglose Bündel neben sich zu achten. „Danke. Glaube ich.“ „Und?“, fragte Marlene. „Ist sie jetzt hinüber oder nicht?“ „I-Ich weiß nicht.“ Im Gegensatz zu Marlenes, klang Mr. Magicks Stimme noch immer eine Oktave zu hoch. „Ich finde keinen Puls.“ Und Tom würde dem Arschloch weiß Gott nicht noch mehr Zeit dafür lassen. Mit einem Zornesschrei, den er selbst kaum wahrnahm, stürzte er sich auf ihn. „Du Wichser!“ Einen Unterarm gegen Mr. Magicks Kehle gepresst, fixierte Tom ihn an der nächstbesten Wand. „Wusstest du von den Männern im Lager? Was hast du uns noch verschwiegen? Wo ist Sunny? Was habt ihr mit ihr angestellt?“ „Tom!“ Einmal mehr wurde er gepackt, doch dieses Mal weigerte er sich nachzugeben. „Ich will Antworten!“ „Die bekommst du aber nicht, wenn du den einzigen Typen erwürgst, der sie uns geben kann!“ Mr. Magick sah in der Tat nicht allzu gut aus. Ungesunde Röte flammte unter seiner leichenblassen Haut und ein Tränenfilm verschleierte seine Augen. Seine Hände lagen auf Toms Unterarm, ohne wirklich Gegenwehr zu leisten. Nicht unbedingt das, was man als das blühende Leben bezeichnete. Widerwillig ließ Tom von ihm ab. Eine Anklage wegen Körperverletzung mit Todesfolge wäre die Kirsche auf dem Kackehaufen dieses Tages. „Du hast dreißig Sekunden, um uns zu erzählen was zum Fick hier los ist.“ Die dreißig Sekunden verstrichen, ohne dass Mr. Magick auch nur eine Silbe über die Lippen gebracht hätte. Abwesend rieb er über seinen Hals, aber sein Blick war fest auf den auf reglosen Körper der Ladenbesitzerin gerichtet. Blut verklebte ihre Haare und rote Spritzer sprenkelten die schwere Kristallkugel neben ihr. „Sie ist tot.“ Mr. Magick barg das Gesicht in den Händen. „Ich habe sie umgebracht.“ Marlene ging neben der Leiche in die Knie und presste zwei Finger auf ihre Halsschlagader. Eine endlose Sekunde später stand sie wieder auf. „Nicht tot. Nur echt hinüber. Wir sollten einen Arzt rufen.“ „Sie lebt?“ Auf Marlenes Nicken hin gaben Mr. Magicks Beine unter ihm nach, unkontrolliert flossen Tränen über seine Wangen. Tom beobachtete das Schauspiel, unfähig, die Wut, die ihn bis eben noch erfüllt hatte, erneut zu entzünden. „Wir sollten verschwinden.“ Marlene lief zum Telefon hinter der Verkaufstheke, um einen anonymen Anruf zu tätigen. 6 - Kapitel 6 Blaulicht durchbrach die Abenddämmerung, während in Uniform gekleidete Polizisten über den Gehsteig wuselten. Tom fand sich hingegen zum dritten Mal an diesem Tag in einem dieser vermaledeiten Franchisecafés, eine Tasse flüssigen Herzinfarkt in den Händen. Er fixierte Mr. Magick, der ihm gegenüber saß. „So. Spuck’s aus.“ Nach der letzten halben Stunde, die für seinen Geschmack eindeutig zu viel Mord und Totschlag (okay, beinahe-Mord und beinahe-Totschlag) enthalten hatte, schien ihm das ‚Du‘ angebracht. „Was zur Hölle ist hier los?“ Mr. Magick starrte auf seinen Tee, ohne daraus zu trinken. „Es gibt nicht viel zu erzählen. Lou war meine Freundin. Ich dachte, ich könnte ihr vertrauen.“ „Ich würde mal sagen, dass das eine ziemliche Fehleinschätzung war“, warf Marlene – hilfreich wie immer – ein. Sichtlich getroffen schloss Mr. Magick die Augen. „Ja, das war es wohl.“ „Wusstest du von den Männern, die sie entführt hat?“ Tom hörte nur halb zu, er glaubte, die Antwort auf diese Frage bereits zu kennen. Sollte Mr. Magick sein Entsetzen beim Anblick der aufgebahrten Männer im Hinterzimmer gespielt haben, war Hollywood der brillanteste Schauspieler aller Zeiten entgangen. Aber selbst wenn nicht, schwirrten Toms Gedanken gerade in ganz anderen Sphären. Immer wieder kehrte er zurück zu dem Moment, in dem sich kalter Stahl gegen seine Haut presste. Sein Nacken prickelte, seine Ohren warteten auf das Klicken des Triggers. Warteten auf den Schuss. Er zwang sich, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Dort schüttelte Mr. Magick gerade den Kopf. „Ich wusste nichts.“ Er schluckte. „Natürlich wusste ich nichts.“ „Dann erzähl uns, was du weißt.“ Marlene beugte sich vor. „Fang am besten damit an, warum du nicht gesagt hast, dass meine Schwester noch lebt.“ „Weil ich nicht weiß, ob das so ist!“ Mr. Magicks Lautstärke garantierte ihnen mehr als ein paar neugieriger Blicke. Das schien auch ihm aufzufallen. Wut, Furcht, Bedauern und noch einige Emotionen mehr huschten über seine Züge, doch am Ende sahen sich Marlene und Tom einmal mehr mit der gleichgültigen Maske konfrontiert, die Toms Nackenhaare schon bei ihrer ersten Begegnung aufgestellt hatte. „Ihr habt mein Gespräch mit Lou belauscht.“ Keine Frage, eine Feststellung. „Dann wisst ihr auch, dass es eine Menge anderer Erklärungen gibt, weshalb ich Sunnys Echo nicht höre.“ Tonlos fügte er hinzu: „Ich wollte euch keine falschen Hoffnungen machen.“ Auf der anderen Straßenseite schoben Sanitäter eine weitere Trage zu einem der wartenden Krankenwägen. Tom erhaschte einen kurzen Blick auf Sam; leichenblass und regungslos. „Ein wenig Hoffnung fände ich gerade ganz schön.“ Mr. Magick schüttelte den Kopf. „Ich kann euch nichts versprechen. Vielleicht bekomme ich keinen Kontakt mit Sunnys Echo, weil sie noch lebt.“ Er biss sich auf die Unterlippe. „Aber wenn Lou da mitdrinsteckt, dann ist es wahrscheinlicher, dass sie Spuren für Sunnys Mörder verwischt hat.“ Mörder. Tom hatte sich immer als Realist betrachtet, war überzeugt gewesen, das Leben hätte ihm jeden Hang zum Optimismus frühzeitig ausgetrieben. Doch nun dieses Wort zu hören, die Gewissheit in Mr. Magicks Stimme … Tom dachte an Sunny. Seine beste Freundin. Lebensfroh, warmherzig, voller Pläne für die Zukunft. Wütend blinzelte er gegen die Tränen in seinen Augen an. „Was machen wir jetzt? Sagen wir’s der Polizei?“ Marlene schnaubte. „Wozu? Die werden uns genauso abwimmeln wie beim letzten Mal. Ist ja nicht so, als hätten wir plötzlich mehr Beweise.“ „Ach nein? Und wie nennst du das?“ Unwirsch nickte Tom zum Laden, aus dem gerade ein weiterer regloser Körper geborgen wurde. „Einbruch und schwere Körperverletzung“, erwiderte Marlene trocken. „Wir beide hatten absolut nichts in diesem Lagerraum zu suchen und Mr. Magick hier hat einer Frau fast den Schädel eingeschlagen.“ „Julius“, murmelte Mr. Magick. „Was?“, fragten Marlene und Tom. „Mein Name ist Julius.“ „Schön für dich.“ Marlene richtete ihren Blick erneut auf Tom. „Verstehst du, was ich dir sagen will? Die Polizei wollte uns davor schon nicht helfen, und sie werden es auch jetzt nicht tun. Vielleicht sind sie einfach nur faule Arschlöcher, die sich einen Dreck für Menschen wie Sunny interessieren. Vielleicht zahlt ihnen jemand ein hübsches Schweigegeld. So oder so, wenn wir jetzt zu ihnen gehen, dann können sie uns gewaltig in die Scheiße reiten, während die wahren Schuldigen in aller Ruhe ihre sieben Sachen packen und sich absetzen.“ Tom wollte widersprechen, konnte es aber nicht. Marlene hatte recht. Die Verbindung zwischen Sunnys Verschwinden und den entführten Männern im Lagerraum schien so dünn, dass selbst er Schwierigkeiten hatte sie zu sehen. Die Polizei überzeugten sie so jedenfalls ganz sicher nicht. „Was schlägst du vor?“ Es war Mr. Magick – Julius – der antwortete. „Ihr beide geht nach Hause. Ab hier übernehme ich.“ Marlenes ‚Das kannst du ja mal voll vergessen!‘ überschnitt sich mit Toms ‚Willst du mich verarschen?‘ und ein weiteres Mal war ihnen die Aufmerksamkeit der anderen Gäste sicher. Marlene verschränkte die Arme vor der Brust. „Glaubst du wirklich, wir vertrauen dir, das zu regeln? Du hast uns belogen und bist schnurstracks zu einer Frau gerannt, die nach allem was wir wissen am Verschwinden meiner Schwester beteiligt ist.“ „Und ganz nebenbei ein paar Freunde von mir in ihrem Hinterzimmer lagert“, merkte Tom an. „Denkt ihr, das weiß ich nicht?“ Julius schloss den Mund, bevor sich ihnen dank seiner Lautstärke noch mehr Köpfe zuwandten. Stattdessen holte er etwas aus seiner Manteltasche hervor. „Das hier habe ich in Lous Büro gefunden, während ihr mit der Polizei telefoniert habt.“ Er schob einen schlichten Terminkalender über den Tisch. Marlene blätterte ihn durch, während Tom über ihre Schulter spähte. Einer der letzten Einträge ließ sie beide nach Luft schnappen. Tom strich über die Tinte, als wollte er sich von ihrer Echtheit überzeugen. „Ich wusste es“, murmelte Marlene, doch da lag nichts Triumphierendes in ihrer Stimme Vor zwei Tagen hatte sich Julius‘ Bekannte mit Pfahlhammer getroffen. Name, Adresse und Uhrzeit waren fein säuberlich in ihrem Kalender notiert. „Ich glaube, Lou hat ihn mit Menschen versorgt“, murmelte Julius. „Deshalb wollte sie auch, dass ich euren Fall an sie abtrete. Vermutlich hätte sie eine falsche Séance aufgezogen, euch davon überzeugt, dass Sunny bei einem Unfall ums Leben gekommen aber glücklich ist, und danach alles unter den Tisch gekehrt.“ Leiser fügte er hinzu: „Oder euch Pfahlhammer auf einem Silbertablett serviert.“ Marlene starrte noch immer auf den Namen im Kalender. „Das bedeutet, Sunny war vermutlich weder das erste noch das letzte Opfer.“ Julius nickte grimmig. „Ich muss Pfahlhammer aufhalten.“ Er hob die Hand, um Marlenes und Toms Proteste abzuwürgen. „Lou war meine Freundin. Ich habe ihr vertraut und genau deshalb muss ich nun auch für ihre Sünden einstehen.“ Nur mit Mühe verkniff sich Tom ein Augenrollen. „Geht’s vielleicht ein bisschen weniger dramatisch? Ihr Scheiß ist ihre Verantwortung, nicht deine.“ „So einfach ist das nicht.“ Julius Hände ballten sich zu Fäusten. „Lou hat diese Männer gefangen, betäubt und in ihrem Lager weggesperrt. Und das nicht erst seit gestern. Ich muss unzählige Male bei ihr gewesen sein, ohne etwas davon zu ahnen. Schlimmer, ich habe euch direkt zu ihr geführt. Wenn ich nicht zurückgekommen wäre, wärt ihr jetzt tot!“ „Was mich zu meiner nächsten Frage bringt“, sagte Marlene unbeeindruckt. „Warum bist du überhaupt zurückgekommen?“ Tom blinzelte. Bisher war er viel zu erleichtert gewesen, um Julius‘ plötzliches Auftauchen zu hinterfragen, doch nun zog sich eine verräterische Röte über dessen Wangen. „Das ist … schwer zu erklären.“ „Versuch’s.“ Julius seufzte. „Ich nehme Dinge wahr, die andere übersehen. Deshalb kann ich das Echo von Verstorbenen hören–“ „Wie einen Geist?“, unterbrach Tom. Julius schüttelte den Kopf. „Eher wie“, er suchte nach dem richtigen Wort, „Erinnerungen. Ein Abdruck, den der Verstorbene in der Welt hinterlässt.“ „Das heißt aber, du kannst nicht wirklich mit ihnen kommunizieren? Nur, äh, zuhören?“ „So ungefähr, ja.“ Zum ersten Mal führte Julius seine Tasse zum Mund, ohne sie gleich wieder abzusetzen. Er nippte vorsichtig. „Ich kann nicht ausschließen, dass es Menschen gibt, die mehr als das können, aber bisher ist mir keiner begegnet, der sich nicht im Nachhinein als Schwindler entpuppt hätte.“ Marlene schnippte ungeduldig mit den Fingern. „So interessant ich euren kleinen Plausch auch finde, könnten wir uns wohl auf die eigentliche Frage konzentrieren? Warum bist du zurückgekommen?“ „Ah, ja. Entschuldigung.“ Betreten rührte Julius in seiner Tasse um. „Verstorbene hinterlassen ein Echo, aber auch Lebende versenden Signale. Wenn sie stark genug sind, kann ich sie aufschnappen.“ „Du bist also zurückgekommen, weil du gespürt hast, dass deine Freundin gerade jemanden mit einer Waffe bedroht?“, fragte Tom skeptisch. Julius‘ Wangen färbten sich Scharlach. „Nein, ich … Ich habe deine Angst gespürt.“ „Meine Angst?“ Jetzt war es an Tom, rot anzulaufen. „Ich hatte keine Angst. Also, nicht wirklich. Sicher nicht so stark, dass man sie spüren könnte.“ „Ich, äh, nehme dich stärker wahr als andere Menschen“, gestand Julius. Er hob die Hände, als wollte er einen Angriff abwehren. „Das bedeutet nicht, dass ich dich irgendwie überwachen kann. Es sind nur Fetzen, die manchmal durchkommen. Ich habe ja auch nicht bemerkt, dass ihr mich beschattet. Es braucht schon extreme Emotionen, damit ich sie über so eine Distanz wahrnehme.“ „Todesangst gehört wohl dazu“, bemerkte Marlene trocken. Tom wollte protestieren, doch Julius kam ihm zuvor. „Ich hatte nicht vor, Lou niederzuschlagen. Ich wollte mit ihr sprechen. Herausfinden, was los ist. Aber sie hatte ihre Barrikaden runtergefahren und was ich gespürt habe, war …“ Er schüttelte den Kopf, ohne seinen Satz zu beenden. Auch Tom schwieg. Er schaffte es nicht einmal Julius in die Augen zu sehen, obwohl dieser stumm darum zu bitten schien. Das war einfach zu viel. Das alles war zu viel. Abrupt stand er auf. „Wir sollten gehen.“ Marlene nickte. Er musste ihr nicht sagen, wohin. 7 - Kapitel 7 „Das ist so eine unglaublich dumme Idee.“ Nichtsdestotrotz schnallte sich Tom an. „Wir sollten uns zumindest einen Plan überlegen.“ „Dafür haben wir die Fahrt.“ Marlene lenkte ihren Wagen auf die Straße. Schon jetzt kämpfte Tom mit Übelkeit und der Sitz vor ihm ließ gefühlt zwanzig Zentimeter zu wenig Platz für seine langen Beine, doch der Beifahrerplatz schien dauerhaft für Marlenes überdimensionierte Handtasche reserviert zu sein – eine Macke, die ihn schmerzlich an Sunny erinnerte – also teilte er sich die Rückbank mit Julius. Die Spannung im Wagen stieg rapide, als das Navi mit kühler Stimme den Weg zu der Adresse beschrieb, die die Ladenbesitzerin in ihrem Kalender notiert hatte. Pfahlhammers Adresse. Was bis eben als unausgegorene Idee in ihren Köpfen herumgespukt hatte, wurde damit erschreckend real. „Bevor noch mehr unangenehme Überraschungen auf uns warten, willst du uns vielleicht erzählen, woher du Pfahlhammer kennst.“ Abwechselnd blickte Marlene von der Straße zu Julius‘ Gesicht in ihrem Rückspiegel. „Du bist sofort auf den Namen angesprungen.“ „Das ist eine lange Geschichte.“ „Zum Glück sind wir eine Weile unterwegs. Also los.“ Julius‘ Mimik verriet nicht den Hauch einer Emotion, aber Tom bemerkte die roten Halbmonde, die seine Fingernägel in seinen Handflächen hinterließen. „Vor ein paar Monaten kamen zwei neue Klienten zu mir. Ein Bekannter hatte ihnen erzählt, dass ich gut darin bin, Verschwundenes aufzuspüren.“ „Wonach haben sie gesucht?“, fragte Tom. „Nach ihrer Tochter. Sie ist eines Tages nicht von der Schule nach Hause gekommen.“ „Oh.“ Obwohl er fürchtete, die Antwort bereits zu kennen, fragte Tom: „Hast du sie gefunden?“ „Habe ich. Etwa drei Wochen zu spät.“ „Shit.“ „Emma.“ Einen Moment lang konnte Tom nichts mit Marlenes Einwurf anfangen, doch dann erinnerte er sich an ihre Geschichte über die Kinderleiche im Wald, die man mit Pfahlhammer in Verbindung brachte. „Hat er sie umgebracht?“ „Ich weiß es nicht. Echos sind oft nur schwer zu entschlüsseln, die von Kindern ganz besonders und Emmas Fall war nochmal spezieller. Egal, wie stark die Verbindung zu ihrem Echo ausfiel, ich habe immer nur Bruchstücke empfangen. Wortfetzen, fremd und verzerrt, wie durch einen Filter. So etwas hatte ich bis dahin noch nie erlebt und ich dachte … ich dachte, vielleicht lebt sie noch, vielleicht empfange ich das Echo eines lebendigen Kindes, nicht nur die Erinnerung an ihren Tod.“ An dieser Stelle pausierte Julius einen Moment. Als er fortfuhr, klang seine Stimme noch gleichgültiger als gewöhnlich. „Unabhängig davon, dass ich offensichtlich falsch lag, gab es einzelne Wortfetzen, die immer wieder vorkamen. ‚Kalt‘ zum Beispiel.  Und ‚hübsch‘. Außerdem ‚Pfahl‘ und ‚Hammer“. Selbst nachdem wir Emmas Leiche gefunden hatten, konnte ich mir lange keinen Reim darauf machen – die Todesursache war Dehydrierung, sie ist also weder erfroren, noch hatte sie irgendwelche sichtbaren Verletzungen. Dann habe ich über einen Kontakt bei der Polizei erfahren, wie der Besitzer des Waldstücks hieß, in dem sie lag.“ Julius starrte auf seine Hände. „Für eine Weile war ich wie besessen, habe alles über Pfahlhammer gesammelt, was mir zwischen die Finger gekommen ist und jeden Vermisstenfall genau unter die Lupe genommen. Kaum geschlafen und zu wenig gegessen. Vermutlich hätte ich mich selbst völlig aufgerieben, wenn Lou nicht irgendwann ein Machtwort gesprochen und mich gezwungen hätte, andere Fälle anzunehmen. Sie hat mir einige ihrer Kunden zugeschustert. Triviale Kleinigkeiten, gerade genug, um mich auf andere Gedanken zu bringen, aber–“ Er stockte. Seine Lippen bewegten sich stumm, doch es dauerte, bis sie Worte formten. „Sie hat damals schon für ihn gearbeitet. Deshalb wollte sie mich auf andere Gedanken bringen. Sie hat sich keine Sorgen um mich gemacht, sondern darum, dass ich ihm auf die Schliche komme.“ Julius blinzelte mehrmals, machte jedoch keine Anstalten, weiterzusprechen. Niemand sonst ergriff das Wort. Stumm setzten sie ihre Fahrt fort, die Bäume um sie herum wurden dichter, der Anblick anderer Autos seltener. Um sich von seiner wachsenden Panik abzulenken, beobachtete Tom Julius aus dem Augenwinkel. Mit jeder Minute, in der sich dieser unbeobachtet fühlte, wich sein gleichgültiger Gesichtsausdruck Kummer und Erschöpfung. Julius mochte Fehler gemacht haben, doch auch er hatte ein paar richtig beschissene Stunden hinter sich. Ein paar richtig beschissene Monate, genaugenommen, wenn man seiner Geschichte Glauben schenkte. So etwas Ähnliches wie Mitleid regte ich in Toms Brust und wollte nicht mehr verschwinden, egal, wie sehr er das Gefühl zu ignorieren versuchte. Kurzerhand entschied er, dass schweigend nebeneinander zu hocken niemandem half. „Haben dich deine Eltern ernsthaft Julius Magick genannt, oder ist das ein Künstlername?“ Julius brauchte einen Augenblick, um auf die Ansprache zu reagieren, doch dann huschte der Ansatz eines Lächelns über seine Lippen. „Sowas ähnliches. Eine Freundin von mir arbeitet im Marketing und meinte, wenn ich meinen Namen schon ändere, soll ich dabei auch gleich an meinen Job denken.“ „Und Julius Magick ist das Beste, was euch eingefallen ist?“ „Lach so viel du willst, aber im ersten Monat nach der Änderung hatte ich mehr Kundschaft als in dem halben Jahr davor.“ Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht lag das aber auch daran, dass viele Menschen einem männlichen Namen noch immer mehr Kompetenz zuschreiben als einem weiblichen.“ „Ah, sexistische Kackscheiße. Gut möglich.“ Tom realisierte, dass nun er kritisch gemustert wurde. „Wie lange kanntest du …“, er suchte nach dem korrekten Namen, „Lea?“ Das Lächeln verschwand. „Lou. Louise Batiste. Wir kannten uns unser halbes Leben. Sie war immer“, Julius‘ Lippen bewegten sich stumm, als er verschiedene Worte durchprobierte, „exzentrisch. Aber sie hat mir nie einen Grund gegeben, an ihr zu zweifeln. Sie stand mir näher als jeder andere.“ „Wart ihr …“ Tom schüttelte den Kopf. „Vergiss es. Geht mich nichts an.“ Abgesehen davon, dass er nicht wissen wollte, ob jemals mehr zwischen Julius und Batiste gelaufen war, produzierte sein Gehirn schon jetzt ausreichend fantasievolle Bilder. Vielleicht sehnte sich Julius ebenso nach einem Themenwechsel, anders ließ sich sein nächster Satz jedenfalls nur schwer erklären. „Der Revolver war nicht echt.“ „Ist das nur eine Ahnung, oder hast du das wirklich überprüft?“, fragte Marlene scharf. „Überprüft. Lou hat Schusswaffen gehasst. Sie fand sie primitiv. Warum sollte sie also eine besitzen? Ich schätze, sie wollte euch damit lange genug unter Kontrolle halten, um euch anschließend anderweitig aus dem Weg räumen.“ „Oh, dann ist ja alles gut“, murrte Tom. „Das bedeutet, wir wären nicht sofort gestorben.“ „Das bedeutet, ich hätte sie nicht niederschlagen müssen.“ Wieder diese kühle Neutralität, doch inzwischen wirkte sie so künstlich wie ein Plastikweihnachtsbaum. „Ich hätte sie ansprechen können. Mit ihr reden. Sie überzeugen, dass sie einen Fehler macht.“ Julius seufzte. „Aber sie stand vor euch, die Waffe in der Hand und ich habe deine Angst gefühlt und ihre … ihre Mordlust. Ich habe nicht nachgedacht.“ Er war dazu übergegangen, abwechselnd auf seine Hände und aus dem Fenster zu starren. Daher bemerkte er auch den kurzen Blick, den Marlene und Tom über den Rückspiegel wechselten, nicht. „Wir haben uns noch nicht bei dir bedankt“, sagte sie leise. „Ich gebe das nur ungern zu, aber letztendlich hast du uns das Leben gerettet.“ Jene Röte, die ihm diesen charmanten Hauch Farbe verlieh, kehrte auf Julius‘ Wangen zurück. „Ohne mich wärt ihr gar nicht erst in diese Situation geraten.“ Tom brummte zustimmend. „Ohne dich hätten wir aber auch Sam und die anderen nicht gefunden. Ich würde mal sagen, du hast heute mehr als zwei Leben gerettet.“ Julius öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber Marlene kam ihm zuvor. „Wir sind da.“ Vor ihnen ragte eine Villa in die Höhe. Weniger opulent als Tom erwartet hatte, aber weit luxuriöser als er sich in drei Leben zusammen würde leisten können. Fichten, Tannen und Buchen umrahmten das weitläufige Grundstück, im Hintergrund der Villa thronten die Alpen, der Blick auf sie lediglich durch die alles umgebenden Wälder eingeschränkt. Das Haus selbst glich einer Mischung aus moderner Architektur und Schloss Neuschwanstein, die erschreckend gut zusammenpasste. Verflucht, Sunny hatte es verdient in so einem Haus zu leben, nicht, dort zu sterben. Marlene stellte den Motor ab. „Okay. Wir gehen rein, suchen nach Beweisen, die selbst die Polizei nicht mehr ignorieren kann und dann sehen wir zu, dass wir von hier verschwinden.“ „Und, äh, wie genau sollen wir das anstellen?“ Allmählich realisierte Tom, wie wenig sie ihre nächsten Schritte durchdacht hatten. Um nicht zu sagen: Gar nicht. „Wir benutzen Julius.“ „Wir … was?“ „Das könnte funktionieren“, stimmte dieser zu und nahm Tom damit die Chance auf weiteren Protest. „Pfahlhammer und Lou haben zusammengearbeitet. Es sollte relativ einfach sein, mich glaubhaft als Kollegen und“, er schluckte, „Freund auszugeben. Bestenfalls lässt er uns ins Haus und wir sehen uns um, schlimmstenfalls lenken wir ihn ab, während Marlene nach Sunny sucht.“ „Warte, was?“ Warum schien jeder den Plan zu begreifen, außer Tom? „Wer ist wir? Warum macht Marlene ihr eigenes Ding?“ „Ich bin Sunnys Zwillingsschwester.“ Marlene gab sich keine Mühe, ihren Unmut über Toms Verständnislosigkeit zu verbergeben. „Wäre ein wenig auffällig, wenn ich plötzlich vor Pfahlhammers Tür stünde, oder? Also müsst ihr beide das übernehmen.“ „Oh. Okay. Klingt logisch. Dann, äh, fangen wir an?“ Kristallklare Bergluft begrüßte Tom, als er aus dem Auto ausstieg. „Sieht ziemlich verlassen aus.“ Marlene deutete auf die geschlossenen Fensterläden. „Was glaubt ihr, wie viele Angestellte hier arbeiten?“, fragte Tom. „Selbst, wenn wir Pfahlhammer ablenken, könnte dich immer noch eine Haushälterin oder ein Gärtner oder so entdecken. Wie willst du denen erklären, was du hier zu suchen hast?“ Anstelle einer Antwort musterte Marlene Julius. „Kannst du nicht, keine Ahnung, spüren ob jemand da ist?“ Julius schüttelte den Kopf. „So funktioniert das nicht. Ich bin kein Radar, das alle möglichen Auren und Echos empfängt.“ „Also nutzlos.“ „Marlene!“ Doch Julius blinzelte nur träge und wandte sich der Villa zu. „Tom und ich gehen vor und kundschaften die Gegend aus. Wenn wir beim Schnüffeln erwischt werden, können wir uns besser rausreden als du. Sobald wir uns überzeugt haben, dass die Luft rein ist, holen wir dich dazu.“ „Und ich soll hier solange untätig rumsitzen?“ „Ja.“ Demonstrativ hielt Tom ihr die Autotür auf. „Rein mit dir, bevor dich jemand sieht.“ Marlene warf erst Julius dann ihm einen Blick zu, der unter schlechteren Umständen getötet hätte, akzeptierte den Plan jedoch klaglos. „Wehe, ihr beiden versaut das.“ Okay, fast klaglos. „Werden wir nicht. Versprochen. Ich will doch auch wissen, was mit Sunny passiert ist.“ Marlenes Züge glätteten sich und das zornige Funkeln in ihren Augen wurde durch etwas anderes ersetzt. „Ich weiß. Viel Glück. Pass auf dich auf.“ „Machen wir.“ Gemeinsam mit Julius steuerte Tom zielstrebig die Vordertür der Villa an. Kein Tor, das ihren Weg versperrte, keine Kamera, die ihre Schritte begleitete. Das Fehlen jeder Sicherheitsmaßnahme erschreckte Tom mehr, als es ein Rudel auf sie zustürmende Wachhunde getan hätte. Die Hand bereits zum Klingeln erhoben, pausierte Julius. „Was ist los?“ Und wieso zur Hölle flüsterte Tom? „Siehst du die Symbole dort?“ Julius deutete auf eine Reihe von Schnitzereien, die den Türrahmen zierten. „Mhm.“ Bei näherem Hinsehen erinnerten sie Tom an die Symbole, die er in Julius‘ Büro gesehen hatte. „Was bedeuten sie?“ „Sie sind eine Art … Gefängnis für Energien.“ Julius begegnete Toms verständnislosem Blick mit einem Blinzeln. „Ich habe euch doch im Café von den Echos erzählt, ja? Meine Erklärung ist ein bisschen kurz ausgefallen. Sie werden nicht nur von verstorbenen oder lebenden Menschen hervorgerufen, sondern zum Beispiel auch von Tieren, Emotionen, Gegenständen oder auch Ereignissen. Sind diese Echos stark genug, höre ich sie. Dazu muss ich aber entweder selbst am Ort ihres Entstehens sein, oder die Echos mit Hilfe eines Trägers zu mir rufen.“ „Hast du deshalb Marlene gebraucht? Weil sie ein, äh, Träger für Sunnys Echos ist?“ „Blutsverwandtschaft funktioniert meistens recht gut. Je enger, umso besser sind die Ergebnisse. Mit Sunnys Zwillingsschwester als Träger, hätte ich überhaupt keine Schwierigkeiten haben sollen. Aber diese Symbole hier“, Julius‘ Fingerspitzen schwebten über den Schnitzereien, nicht bereit, sie wirklich zu berühren, „halten Echos am Ort ihrer Entstehung gefangen, bis sie verblassen. Das ist Lous Werk, ich erkenne ihre Handschrift, wenn ich sie sehe. Deshalb konnte ich Sunnys Echo nicht zu mir rufen.“ „Du glaubst wirklich nicht, dass Sunny noch lebt, oder?“ „Tut mir leid.“ Das Mitgefühl in Julius‘ Stimme war nur schwer zu ertragen. Tom zwang sich, seine Fäuste zu lockern, bevor seine Fingernägel noch tiefer in seine Handflächen schnitten. „Lass uns dafür sorgen, dass ihr Mörder nicht noch mehr Schaden anrichtet.“ Entschlossen drückte er die Klingel. 8 - Kapitel 8 Vor Tom stand nicht, wen er erwartet hatte. Kein halbwegs attraktiver Mann, dem Geld aus jeder Körperöffnung quoll, sondern eine Frau Anfang fünfzig. Hochgewachsen, rothaarig, mit ebenmäßigen Zügen und kristallblauen Augen, wäre sie bildschön gewesen, wenn sich nicht etwas an ihr so schrecklich falsch angefühlt hätte. Sie hob eine ihrer perfekt gezupften Brauen bis knapp unter den Haaransatz. „Ja, bitte?“ „Wir, äh …“ „Guten Tag“, sprang Julius Tom zur Seite. „Darf ich mich vorstellen? Julius Magick“, er deutete eine Verbeugung an, „mit meinem Assistenten Thomas. Wie Sie sicher wissen, hat mich meine Freundin und Kollegin Louise Batiste kürzlich um die Einschätzung Ihres Falls gebeten.“ Die Frau senkte ihre Braue keinen Millimeter. „Ihre Einschätzung wozu genau?“ „Wie wir Ihnen noch besser behilflich sein können, natürlich.“ Tom hatte Julius noch nie so breit Lächeln sehen. Gruselig. „Louise möchte Ihnen den bestmöglichen Service bieten. Oh, aber sie hat Ihnen doch sicher gesagt, dass ich vorbeikomme?“ „Hat sie nicht.“ „Das tut mir leid. Ich war davon ausgegangen, mein Besuch wäre mit Ihnen abgesprochen und erwünscht.“ „Ist er nicht.“ Julius neigte den Kopf, sagte jedoch nichts mehr. Das war auch nicht nötig – nach einigen Sekunden misstrauischen Beäugens gab die Frau den Weg ins Haus frei. „Na schön, wir können uns ja mal anhören, was Sie zu sagen haben. Neue Ideen sind immer willkommen.“ Sie führte Tom und Julius in ein prunkvolles Vorzimmer. Über ihre Schulter hinweg erklärte sie: „Wir waren mit Batistes letzter Lieferung übrigens sehr zufrieden, aber es wäre schön, beim nächsten Mal noch mehr Abwechslung zu haben. Irgendetwas neues, aufregendes.“ Lieferung? Unwillkürlich blitzte vor Toms innerem Auge das Bild aufgereihter Männerkörper in einem Lagerraum auf. „Wir werden sehen, was wir tun können“, erwiderte Julius aalglatt. Falls er zum selben Schluss wie Tom gekommen war, ließ er sich davon nichts anmerken. „Haben Sie an etwas Spezielles gedacht?“ „Wie wäre es zum Beispiel mit einem Piercing? Untenrum, meine ich. Dass der Tätowierte von neulich so blank war, fand ich dann doch enttäuschend. Grübchen würde ich ebenfalls begrüßen. Und Brusthaar. Nicht übertrieben viel, es muss kein Pelz sein, aber etwas mehr als nackte Haut wäre wünschenswert.“ Diese Frau sprach von den entführten Männern als wären sie Ware auf dem Fleischmarkt. Dass Tom jeden Punkt ihrer Wunschliste erfüllte, half nicht unbedingt, seine Nerven zu beruhigen. Leider blieb Julius blind für seine Versuche, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen. Stattdessen rieb er über sein Ohr, als wollte er ein unangenehmes Geräusch verscheuchen. „Da werden wir sicher ein paar Kandidaten finden.“ „Das hoffe ich doch sehr.“ Sie blieben vor einer Marmortreppe stehen, die einen wesentlichen Teil des Raums eingenommen hätte, hätte dieser nicht über die Ausmaße eines Konzertsaals verfügt. „Mein Mann ruht sich aus. Bitte warten Sie hier, bis ich Sie rufe.“ Julius‘ Schultern sackten nach unten, sobald Frau Pfahlhammer aus ihrem Blickfeld verschwunden war. „Ich höre Echos.“ „Sunny?“ „Vielleicht. Ich weiß nicht. Definitiv mehr als eins.“ Wieder rieb er sich über die Ohren. „Das ist als … als …“ Es dauerte einen Moment, bis er einen passenden Vergleich fand. „Als säßen wir in einem Kino, in dem alle miteinander tuscheln. Zu leise, um einzelne Unterhaltungen zu verstehen, aber zusammengenommen ist es trotzdem erschreckend laut.“ Die charmante Röte verließ seine Wangen und enthülle den erschöpften Mann darunter. „Ich kann nicht glauben, dass sich Lou mit diesen Leuten eingelassen hat. Dass sie …“ Als Julius‘ Stimme brach, ergriff Tom instinktiv seine Hand. Er hatte Trost spenden wollen, stattdessen jagte ein Blitzschlag durch seinen Körper. Alles war zu grell und zu laut. Stimmen flüsterten, lachten, beteten und schrien. Farben und Formen und Klänge prasselten auf ihn ein. Sie durchdrangen seine Haut, seinen Geist, sein Ich. Man hatte ihn verraten. Ihm das Herz rausgerissen. Wie sollte er jemals wieder vertrauen? Wie– „Tom!“ Der Ansturm ebbte ab, zurück blieb Julius‘ besorgtes Gesicht. „Durchatmen. Es ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit. Immer weiter atmen. So ist’s gut.“ Wann hatte sich Tom auf den Boden gesetzt? Der Marmor fühlte sich kalt an seinem Hintern an, dennoch fand er nicht die Kraft, aufzustehen. „Was ist passiert?“ „Entschuldige.“ Die Sorge blieb in Julius‘ Zügen, doch nun mischte sich Scham darunter. „Ich fürchte, das war ich.“ „Du?“ Julius seufzte. „Ich habe meine inneren Barrieren ziemlich runtergefahren, weil ich gehofft hatte, so die Echos hier besser wahrzunehmen. Normalerweise ist das kein Problem, zumindest nicht für andere, aber die Verbindung zwischen uns scheint stärker zu sein als ich dachte. Als du mich berührt hast, muss ein Teil meines eigenen Echos zu dir übergeschwappt sein.“ Tom verstand nur Bahnhof. Das passierte nicht zum ersten Mal – er war weiß Gott nicht die hellste Kerze auf der Torte – wirklich gewöhnt hatte er sich das Gefühl allerdings nie. „Heißt das, was ich gerade wahrgenommen habe … warst du?“ „Teile von mir, nehme ich an. Erinnerungen. Gefühle. Etwas in dieser Art.“ „Oh.“ Tom bekämpfte sein aufwallendes Mitleid – niemand wollte bemitleidet werden – scheiterte allerdings recht schnell. „Sorry.“ Ein schwaches Lächeln huschte über Julius‘ Lippen. „Dich trifft dabei wirklich keine Schuld. Ich hätte wissen sollen, dass Hautkontakt so etwas auslösen kann. Entschuldige.“ „Schon gut.“ Tom akzeptierte Julius‘ mit einem Jackenärmel bedeckte Hand und ließ sich auf die Füße ziehen. „Ist es das, was du spürst, wenn du sagst, dass hier Echos sind?“ „Ohne genau zu wissen, was du gespürt hast, bezweifle ich das. Die Echos von Verstorbenen sind viel schwächer und oft auf den Moment ihres Todes konzentriert. Zumindest ihre erste Schicht. Manchmal–“ Schritte auf der Treppe unterbrachen seine Erklärung. Frau Pfahlhammer blieb auf der vorletzten Stufe stehen. „Mein Mann ist nun bereit Sie zu empfangen. Bitte folgen Sie mir.“ Die Treppe mündete in eine mit Ölgemälden und verschlossenen Türen gespickte Galerie. Kein Teppich dämpfte ihre Schritte, doch schwere Samtvorhänge schluckten den Hall. Ohne jemals in einem Mausoleum gewesen zu sein, vermutete Tom, dass es kaum anders als dieser Ort sein konnte. Frau Pfahlhammer klopfte an die vorletzte Tür. „Liebster, ich bringe unsere Gäste.“ „Wundervoll.“ Eine Stimme porös wie Kalkstein. „Bitte kommt herein.“ Die Luft im Raum war stickig, oder vielleicht bildete sich Tom das auch nur ein, weil die Luft eines mit Prunk überladenen Krankenzimmers einfach stickig sein musste. Ein Rollstuhl stand verwaist in einem Eck, halb verborgen im Schatten der gleichen Samtvorhänge, die auch die Fenster der Galerie zierten. Medizinische Gerätschaften, die Tom sicher schonmal in irgendeiner Krankenhausserie gesehen hatte, aber im Leben nicht würde benennen können, umringten das Bett im Zentrum, unter dessen gebleichten Laken der gebrechliche Körper eines alten Mannes lag. Pfahlhammer. „Guten Tag, meine Herren“, begrüßte er sie. „Meine Frau erzählte mir, Sie bringen Vorschläge zur Weiterentwicklung unseres Arrangements mit Mademoiselle Batiste.“ „Zumindest hoffen wir das“, erwiderte Julius. Weder seine Stimme noch Mimik gaben irgendwelche Emotionen preis, doch er hielt den Kopf geneigt und Tom bemerkte das unruhige Zucken seiner Finger, als wollte er sie gegen seine Ohren pressen. „Sie sehnen sich nach etwas mehr Abwechslung?“ „Abwechslung?“ Pfahlhammer stieß ein trockenes Lachen aus, das nahtlos in einen Hustenanfall überging. „Das ist wohl eher der Wunsch meiner Frau“, presste er hervor, nachdem er wich wieder beruhigt hatte. „Mir wäre es schon recht, wenn wir das Verfallsdatum dieser Körper verlängern könnten.“ „Das Verfallsdatum …“, wiederholte Tom und hätte sich im nächsten Augenblick am liebsten auf die Zunge gebissen. Konnte er nicht einfach mal die Klappe halten? „Ja, natürlich. Es muss wirklich, äh … ärgerlich … sein, wenn all diese Körper so schnell … verfallen.“ „Sie sagen es, junger Mann. Da hat man sich gerade daran gewöhnt, wieder laufen zu können und von der Dialyse los zu sein und schon entdeckt man die ersten Falten. Der schöne neue Körper zerfällt, bevor man ihn wirklich genießen konnte. Dieser hier entwickelt gerade ein paar ganz reizende Metastasen in der Lunge. So interessant diese Erfahrung sein mag, ich würde es bevorzugen, bald in einen frischen umzuziehen. Sonst ist die ganze Sache ein wenig nutzlos, nicht wahr?“ „Oh, da würde ich dann doch widersprechen.“ Frau Pfahlhammer stieß ein nicht ansatzweise zu ihr passendes Kichern aus. „Die letzten Körper haben wir durchaus genutzt.“ Das Schmunzeln, das Pfahlhammers rissige Lippen verzerrte, half nicht, Tom zu beruhigen. „In der Tat, das haben wir. Sie sind noch so jung, Sie glauben das vermutlich nicht, aber wenn man die Achtzig mal überschritten hat, vergisst man, was Lust eigentlich ist. Katja dann in diesen frischen Körpern zu bewundern und sogar selbst wieder in den Genuss der Jugend zu kommen …“ Bevor Tom die Gelegenheit hatte sich zu übergeben, fuhr der alte Mann fort. „Ich weiß ja nicht, ob Ihnen diese Information etwas nutzt, aber uns ist aufgefallen, dass Katjas Körper langsamer verfallen als meine. Vielleicht, weil sie knapp zehn Jahre jünger ist als ich. Dieses hübsche Exemplar trägt sie jetzt jedenfalls seit fast zwei Wochen und wie Sie sehen, ist es nicht mehr ganz frisch, aber noch immer ausgesprochen nett anzusehen.“ Julius blinzelte, ohne seine emotionslose Maske zu verlieren. „Ich fasse das mal zusammen, um sicher zu gehen, dass ich alles richtig verstanden habe: Meine Kollegin Louise hat einen Weg gefunden, der Sie die Körper anderer Menschen übernehmen lässt–“ „Nun, es war nicht ihre Idee, aber sie hat sich auf dem Weg dorthin als große Hilfe erwiesen“, unterbrach Pfahlhammer. „Ganz besonders nach dem Debakel mit der kleinen Emma. Der Erfolg ist zeitlich allerdings noch sehr begrenzt.“ „Weil der Alterungseffekt beschleunigt eintritt.“ Julius nickte bestätigend. „Zusätzlich …“ Doch Tom hörte nicht länger zu. Zum ersten Mal seit sie das Haus betreten hatten, nahm er sich Zeit, Frau Pfahlhammer anzusehen. Wirklich anzusehen. Sie mochte älter sein, sich anders stylen und die Nase höher in den Himmel recken als er gewohnt war, doch es gab keinen Zweifel. Feuerrotes Haar, himmelblaue Augen, mit Sommersprossen besprenkelte Wangen und schmerzlich bekannte Gesichtszüge. „Sunny.“ 9 - Kapitel 9 Warnend legte Julius eine Hand auf Toms Unterarm, doch es war zu spät. Die Pfahlhammers hatten ihn gehört. Sie wussten, dass er es wusste. „Sunny.“ Katja Pfahlhammer blickte an ihrem gestohlenen Körper herunter. „Den geschmacklosen Namen hatte ich völlig vergessen.“ „Wie viele?“ Julius presste die Hand, die nicht auf Toms Unterarm ruhte, gegen sein Ohr. „Hier sind so viele Sterbeechos, ich kann sie nicht einmal auseinanderhalten.“ Die Pfahlhammers zeigten sich denkbar unbeeindruckt; Herr Pfahlhammer brachte sogar ein Lächeln zustande. „Man verliert den Überblick. Was denkst du, wie viele es waren, Liebes? Zwanzig? Fünfundzwanzig?“ „Ich müsste nachsehen“, erwiderte seine Frau abwesend. Ihre Aufmerksamkeit galt Julius. „Sterbeechos, also. Ich gebe zu, ich bin überrascht. Bis eben habe ich Batistes Geschichten darüber für einen geschickten Marketingtrick gehalten, um uns diese hübschen Kritzeleien an der Eingangstür zu verkaufen. Offenbar habe ich mich geirrt.“ „Offenbar.“ Julius umfasste Toms Unterarm fester und machte einen Schritt nach hinten. Nachdenklich tippte Frau Pfahlhammer gegen ihr Kinn. „Ich frage mich, ob diese Fähigkeiten körpergebunden sind.“ Sie drehte den Kopf zu ihrem Mann, allerdings ohne Julius und Tom dabei aus den Augen zu lassen. „Wäre das nicht spannend, Liebster? Echos zu hören?“ Ihr Mann reagierte wenig begeistert. „Klingt nach anstrengendem Schnickschnack. Außerdem ist mir der Blonde zu dünn. Der andere gefällt mir besser.“ Frau Pfahlhammers Blick huschte zu Tom. „Mir auch. Ein wenig mehr Gosse als ich gewöhnlich bevorzuge, aber ein maßgeschneiderter Anzug wirkt bekanntlich Wunder.“ Ihr Kichern klang wie Fingernägel auf einer Schiefertafel. „Und natürlich der richtige Wirt im Körper.“ „Haha. Der richtige Wirt. Ganz klar.“ Tom brauchte Julius‘ nonverbales Drängen in Form von Fingernägeln, die sich tief in seinen Unterarm gruben, nicht. Er trat auch so einen Schritt zurück. Tatsächlich hätte er Umdrehen und Wegrennen bevorzugt, aber dazu müsste er den Pfahlhammers den Rücken zuwenden und diese Option behagte ihm so gar nicht. „War nett Sie kennenzulernen und so, aber ich schätze, wir gehen dann mal.“ „Das bezweifle ich.“ Frau Pfahlhammer bemühte sich nicht länger, ihr zuckersüßes Lächeln aufrechtzuerhalten. „Ihr denkt doch nicht wirklich, wir würden euch einfach so gehen lassen?“ Sie kramte in ihrem Handtäschchen herum, ohne den Blick von Tom und Julius zu nehmen. „Andererseits wart ihr ja auch dumm genug zu glauben, Batiste hätte uns nicht vor ihrem herumschnüffelnden Freund gewarnt.“ Plötzlich hielt sie etwas in der Hand. Zu spät erkannte Tom, dass– Nadeln bohrten sich in seine Brust und die Welt verlor jede Farbe.   ~~~~~~~~~~   „Oh, fuck.“ Toms Schädel pochte schlimmer als nach dem legendären Besäufnis von 2016 und er fühlte sich ähnlich desorientiert. Behutsam öffnete er die Augen, aber egal wie oft er blinzelte, die Konturen um ihn herum wollten nicht schärfer werden. Wie auch immer er an diesen Ort gelangt sein mochte, er musste dabei seine Kontaktlinsen eingebüßt haben. Nach drei Sekunden genaueren Hinfühlens stellte er fest, dass das nicht seinen einzigen Verlust darstellte. Er war nackt. Und nicht allein. Neben ihm lag eine zusammengekrümmte Gestalt. „Julius? Julius! Wach auf!“ Ein schmerzerfülltes Stöhnen drang zwischen Julius Lippen hervor, doch Tom war zu erleichtert, um Mitleid zu empfinden. Für einen schrecklichen Augenblick hatte er das Schlimmste befürchtet. Vorsichtig, mit vielen Pausen, richtete sich Julius auf. „Wo sind wir?“ „Keine Ahnung.“ Tränen brannten in Toms Augen. In den ersten desorientierten Sekunden nach dem Aufwachen hatte ihm sein Gehirn erfolgreich vorgegaukelt, aus einem bösen Traum hochgeschreckt zu sein. Er lag gar nicht nackt auf kaltem Boden, einen fast Fremden neben sich. Sunny lebte, anstatt wie eine makabre Puppe fremdgesteuert durch ein Mausoleum zu stolzieren. Doch die Sorge um Julius pumpte genug Adrenalin durch Toms Adern, um den Nebel zu lichten. „Ich glaube, ich bin gefesselt“, krächzte Julius. Noch ein Punkt, den Toms Gehirn bisher erfolgreich wegrationalisiert hatte und dem er sich nun stellen musste. „Ich auch.“ Etwas, das sich nach rauem Seil anfühlte, verband seine Hand- und Fußgelenke miteinander. Schmerz schoss durch seine auf dem Rücken fixierten Arme, wann immer er versuchte, seine Beine auszustrecken. Heiße Wut erblühte in seiner Brust, ließ keinen Platz für Trauer – mit der konnte er sich den Rest seines Lebens auseinandersetzen. „Ich kann nicht glauben, dass uns diese blöde Kuh überwältigt hat! Mit was hat sie da überhaupt auf uns geschossen? Nee, sag’s mir nicht. Ist mir nämlich herzlich egal, so lange ich nie wieder Bekanntschaft damit mache!“ „Ich bin mir nicht sicher, ob–“ Ruckartig drehte Julius den Kopf, allerdings nicht zu Tom, sondern in Richtung des schmalen Streifens diffusen Leuchtens, das die einzige Lichtquelle im Raum darstellte. Eine angelehnte Tür, sofern Tom seiner kontaktlinsenberaubter Sehschärfe Glauben schenken wollte. „Was ist los?“ Doch Julius reagierte nicht. „Würdest du bitte mit mir reden?“ Tom hasste sich selbst dafür, wie kläglich seine Stimme klang und noch mehr für die Angst, die sich still und heimlich am Rand seines Bewusstseins positioniert hatte, darauf harrend, ihn im unpassendsten Moment zu überwältigen. „Julius?“ Nach der dritten, zunehmend drängender werdenden Ansprache, drehte sich Julius endlich zu Tom, den Ansatz eines verlegenen Lächelns auf den Lippen. „Entschuldige. Es ist nichts. Meine Nerven haben mir wohl einen Streich gespielt.“ „Sicher?“ Julius blinzelte träge, ohne sein Lächeln zu verlieren. „Sicher.“ Fragen brannten auf Toms Zunge, doch er ersetzte sie durch die einzige, die ihm im Augenblick wirklich wichtig erschien. „Irgendwelche Vorschläge wie wir hier rauskommen?“ Seine Bemühungen, sich aus den Fesseln zu lösen, wurden mit schmerzhaften Abschürfungen belohnt, mehr Bewegungsfreiheit gewann er dadurch nicht. Nichtsdestotrotz machte er weiter. „Ich nehme nicht an, dass du zufällig Entfesselungskünstler bist?“ „Tut mir leid.“ Erschreckenderweise klang Julius, als meinte er es ernst. „Schon gut. Du kannst ja nicht alles können.“ Tom schielte zur Seite. „Eine Frage hätte dann aber doch noch … Warum bist du angezogen und ich nicht?“ „Vermutlich, weil es nicht mein Körper ist, den die Pfahlhammers wollen.“ „Oh.“ „Tom?“ „Ja?“ „Ich habe vielleicht genug Bewegungsspielraum, um deine Fesseln zu lösen. An die Knoten in meinen eigenen komme ich nicht ran, aber bei deinen könnte es klappen.“ Nicht der ausgeklügelte Plan, den sich Tom erhofft hatte, aber besser als nichts. Bereitwillig wälzte er sich über den rauen Boden (Aua! Aua! Aua!), bis er Julius seine auf dem Rücken gefesselten Hand- und Fußgelenke präsentieren konnte. „Versuch dein Glück.“ „Dafür muss ich dich aber berühren.“ Fast schon belustigt schnaubte Tom. „Nur zu. Ich bin nicht schüchtern.“ „Das, äh, ist gut zu wissen, aber mir ging es eher darum, dass du mir das letzte Mal beinahe umgekippt wärst.“ Toms Erinnerungen an den elektrischen Schlag und die darauffolgende Welle an Emotionen, die ihn gnadenlos überrollt hatte, waren sich in der Tat noch schmerzhaft frisch. „Kannst du nicht – Wie hast du es genannt? – deine Barrieren hochfahren?“ Dann schüttelte er den Kopf. „Ist egal, ob du’s kannst oder nicht. Wenn das die einzige Möglichkeit ist, um hier rauszukommen, haben wir eh keine Wahl. Fang schon an, wer weiß, wie lange wir noch allein sind.“ Kühl strichen Julius‘ Finger über Toms Handgelenke, hinterließen prickelnde Sehnsucht. Blieb die Frage: Handelte es sich dabei um Julius‘ oder Toms? „Geht’s?“, erkundigte sich Julius. „Alles gut.“ „Dann fange ich jetzt an.“ Tom konnte nicht sehen, was genau Julius in seinem Rücken anstellte, aber seine Bewegungen fühlten sich trotz der erschwerten Bedingungen – Rücken an Rücken, ohne Sichtkontakt, dafür mit mehr als eingeschränkter Bewegungsfreiheit – methodisch an. Stück für Stück lockerte er die Knoten, ruckelte mal an der einen mal an der anderen Stelle. Schon nach wenigen Minuten glaubte Tom, sich freier bewegen zu können. „Warte. Vielleicht kann ich schon rausschlüpfen, wenn du die Seile festhältst.“ „Versuch’s.“ Er büßte ein paar Hautfetzen ein, doch am Ende waren Toms Hände frei. Mit vereinten Kräften folgten kurz darauf seine Fußgelenke. Innerlich jubelnd sprang er auf und vollführte die ersten Schritte eines kleinen Freudentanzes, bis ihn Julius‘ Blick – oder vielmehr die Abwesenheit dessen – daran erinnerte, dass er noch immer keine Kleidung am Körper trug. „Ähm. Ich kümmere mich dann mal um deine Fesseln, ja?“ Doch entweder waren diese fester gebunden als Toms, oder er stellte sich signifikant dümmer an. So oder so rührten sich die Dinger trotz intensiver Bemühungen kein Stück. „Ich krieg dich nicht los.“ „Versuch’s weiter.“ Julius‘ Stimme klang gepresst. Kein Wunder, die Fesseln hatten sich in den letzten Minuten nur noch tiefer in seine Haut gegraben – inzwischen rann Blut über seine Hände. Irgendwann ertrug Tom das glitschige Gefühl an seinen Fingern, begleitet von Julius‘ unterdrückten Schmerzlauten, nicht länger. „Das bringt nichts. Ich kann hier noch stundenlang weitermachen, da wetze ich eher deine Arme und Beine bis auf die Knochen durch, als dass ich dich befreie. Vielleicht finde ich irgendetwas, womit ich die Fesseln durchschneiden kann …“ Er blickte sich im Raum um, entdeckte jedoch nichts als blanken Beton. Das Leuchten hinter der Tür schien mit jeder verstreichenden Sekunde lauter zu rufen. „Nebenan könnte–“ „Ich bezweifle, dass du da etwas findest.“ „Aber wissen tun wir‘s erst, wenn ich nachgesehen habe.“ „Tom, ich denke nicht, dass–“ „Irgendetwas muss ich tun, um dich loszukriegen. Mit den Händen klappt es offensichtlich nicht.“ „Lass mich nicht allein.“ „Nur kurz. Ich will doch bloß–“ „Geh da nicht rein! Bitte!“ Schon im Begriff aufzustehen, erstarrte Tom mitten in der Bewegung. Julius‘ Flehen war das letzte, womit er gerechnet hatte und er konnte ausgesprochen gut darauf verzichten, noch einmal so viel Angst in einem einzigen Wort zu hören. „Julius …“ Doch dieser schüttelte nur den Kopf. „Es ist okay. Such lieber Marlene. Holt Hilfe, wenn ihr könnt. Ich komme zurecht. Nur bitte, geh nicht nach nebenan!“ Wieder am Boden kniend, griff Tom nach den Händen seines Freundes. Und plötzlich war sie da. Angst. Nein, mehr als das. Panik. Sie nahm Tom den Atem, verkrampfte seine Muskeln und flutete seine Sinne. Nur das Wissen, dass es sich nicht um seine eigenen Gefühle handelte, bewahrte ihn davor, die Flucht zu ergreifen. Er ließ Julius‘ Hand nicht los, umklammerte sie nur fester. Schloss die Augen. Atmete ein. Beschwor den Klang zirpender Grillen herauf. Atmete aus. Das Plätschern von Wasser. Atmete ein. Malte sich Sonnenstrahlen aus, die seine Haut wärmten – atmete aus – und goldene Lichtreflexe auf Sumpfgras zauberten. Atmete ein. Ruhe legte sich über ihn und er hoffte, einen kleinen Teil davon an Julius abzugeben. „Was macht dir solche Angst?“ Er musste die Frage noch zweimal wiederholen, bevor eine Antwort erhielt. „Der Raum nebenan.“ Julius starrte an Tom vorbei, zum Lichtschein des Türspalts. „Hier unten kann ich die Echos besser verstehen. Wir sind näher an dem Ort an dem …“ Er schluckte hörbar. „Nebenan sind Menschen gestorben. Viele Menschen. Qualvoll.“ Für einen Moment flammte Toms eigene Angst auf, aber keine Sekunde später knüppelte sein Pragmatismus sie nieder. „Ein Grund mehr, von hier zu verschwinden.“ Er musterte Julius‘ schmale Silhouette. „Ich kann dich tragen. Ein Stück zumindest. Wir müssen es ja nur bis zum Auto schaffen.“ „Falls ihr das Auto eurer Freundin meint … Die hat schon lange das Weite gesucht.“ Zum wiederholten Mal an diesem Tag richtete eine Frau eine Waffe auf Tom. 10 -- Kapitel 10 Katja Pfahlhammer bedeutete Tom durch Schwenken ihrer Pistole das Schussfeld auf Julius freizugeben. Alles andere als erpicht darauf, herauszufinden, ob auch diese Waffe nur das Bewusstsein oder am Ende doch das Leben raubte, bewegte er sich trotzdem keinen Millimeter von der Stelle. Enttäuscht schüttelte Pfahlhammer den Kopf. „Sei nicht so stur, Junge. Er stirbt so oder so. Gerade machst du es nur komplizierter für alle Beteiligten.“ „Gut.“ Tom gelang das lässige Grinsen nicht ganz so überzeugend wie erhofft. „Irgendwie muss ich meine Stärken ja ausspielen.“ „Du überschätzt deine Bedeutung für uns. Meinem Mann mag dein Körper gefallen“, ihr Blick huschte von Toms Haaransatz bis zu seinen Zehenspitzen, „und mir auch. Aber du bist sicher nicht einzigartig. Batiste kann hunderte von deiner Sorte auftreiben, wenn ich sie darum bitte.“ Sie richtete die Waffe zwischen Toms Augen. „Du bist ganz und gar ersetzbar.“ „Stopp!“ Julius‘ versuchte sich aufzurappeln, scheiterte jedoch an seinen Fesseln. Kraftlos sank er zurück auf den Boden. Die Stirn gegen Toms Unterschenkel gelehnt, funkelte er Pfahlhammer von unten herauf an. „Ihr hättet uns längst töten können. Ihr hättet mich längst töten können. Habt ihr aber nicht. Also muss es etwas geben, das ihr euch von mir erhofft.“ Ein Lächeln kroch über Pfahlhammers gestohlene Lippen. „Kluger Junge. Vielleicht kommen wir doch noch zu einer Einigung.“ „Lasst Tom gehen, dann werde ich sehen, was ich für euch tun kann.“ „Du bist kaum in der Lage, Forderungen zu stellen. Es wird so laufen: Du tust, was wir von dir wollen und dein Freund stirbt einen raschen, schmerzlosen Tod. Weigerst du dich, verliert er ein Fingerglied. Weigerst du dich erneut, verliert er ein weiteres. Solange, bis ihm die Finger ausgehen. Dann werde ich mir überlegen, was ich als nächstes abschneide.“ So sehr sich Tom bemühte, er konnte nichts gegen das Zittern tun, das seinen Körper übernahm. Julius‘ Hand hatte er lange losgelassen – dieses Mal war die Angst seine eigene. Er wusste, dass er diesen Keller nicht lebend verlassen würde. „Genug Zeit verschwendet.“ Pfahlhammer trat einen Schritt zur Seite und enthüllte damit den Durchgang zum Nebenraum. „Nach euch.“ „Ich bin noch gefesselt“, warf Julius ein. „Das weiß ich.“ „So kann ich nicht laufen.“ Mit einem abschätzigen Zungenschnalzen zog Pfahlhammer einen eleganten Dolch aus ihrer offensichtlich gut bestückten Handtasche und warf ihn zu Tom. „Keine Sperenzchen. Schneid ihn frei und lass den Dolch dann liegen. Andernfalls …“ Die Mündung ihrer Waffe zielte exakt zwischen Toms Beine. „Verstanden?“ „Verstanden.“ Fieberhaft überlegte Tom, wie sie aus der Nummer herauskamen. Verflucht, er war soeben in den Besitz eines scharfen Messers gelangt, irgendwie musste er das doch nutzen! Doch nur Leere füllte seinen Kopf und seine Hände zitterten so erbärmlich, dass es seine gesamte Aufmerksamkeit brauchte, Julius bei dem Versuch ihn zu befreien nicht noch schlimmer zu verletzen. „Es ist in Ordnung.“ Julius‘ Lippen berührten beinahe Toms Ohr, seine Stimme so leise, dass Pfahlhammer sie unmöglich hören konnte. „Alles wird gut.“ „Sagst du das, weil deine tollen Fähigkeiten für einen Blick in die Zukunft reichen, oder einfach nur, um mich zu beruhigen?“ „Letzteres“, räumte Julius nach ein paar Sekunden ein. „Und um mich selbst zu beruhigen.“ „Funktioniert’s?“ „Nein.“ „Bei mir auch nicht.“ „Genug getuschelt“, unterbrach Pfahlhammer. „Hopp, hopp, wir haben nicht ewig Zeit.“ Tom half Julius aufzustehen – unsicher, wer wen stärker stützte – und humpelte vorwärts; stets begleitet von Pfahlhammer und ihrer Schusswaffe. So sehr er auch danach suchte, er fand keine Lücke; keine kleine Unaufmerksamkeit, die er für sich nutzen konnte. Als er den Nebenraum betrat, vergaß er, danach zu suchen. Leichenhalle. Das war Toms erste Assoziation. Weiße Fliesen bedeckten Boden und Wände, Utensilien, deren Funktion er sich lieber nicht vorstellte, reihten sich penibel auf Regalen aus Edelstahl, ein Lüfter pumpte eisige Luft in den Raum, in dessen Zentrum ein blanke OP-Liege stand. Auf ihr … „Ist er tot?“ Tom wünschte sich, weniger entsetzt zu klingen, doch offenbar hatten die Erlebnisse der vergangenen zwölf Stunden gerade genügt, ihm jede Hoffnung zu rauben, ohne ihn dabei komplett abstumpfen zu lassen. „Der letzte Wirt meines Mannes“, antwortete Pfahlhammer, ohne auch nur einen Blick auf den reglosen Körper zu werfen. „Bedauerlicherweise hat er nicht lange gehalten. Im Gegensatz zu diesem Schätzchen hier.“ Zärtlich strich sie über ihre/Sunnys Hüften. „Ein zugegebenermaßen ungeplanter Glücksgriff. Eigentlich wollte Martin nur seinen neuen Wirtskörper ausprobieren, während ich unterwegs war, aber das dumme Ding musste ja unbedingt im Haus herumschnüffeln. Was blieb ihm da schon anderes übrig? Immerhin ein hübsches Willkommensgeschenk nach meiner Rückkehr.“ Blut rauschte in Toms Ohren. Hatte Sunny gewusst, was die Pfahlhammers hier trieben? Sie musste, oder? Permanent wechselnde Körper ließen sich schon dann nur schwer übersehen, wenn man nicht mit ihnen vögelte. Nein. Unmöglich. So ein Mensch war Sunny nicht. Julius mochte sich in Batiste getäuscht haben, Tom täuschte sich ganz sicher nicht in Sunny. Sicher hatten die Pfahlhammers ihr irgendeine Story aufgetischt. Eine kurze Pause entstand, als erwartete Pfahlhammer eine Reaktion von Tom und Julius. Für die Stille, die ihr stattdessen entgegenschlug, hatte sie lediglich ein Schulterzucken übrig. „Wir hatten große Hoffnungen, Batiste könnte herausfinden, weshalb manche Körper schneller verfallen als andere. Das habt ihr uns allerdings mit eurer Schnüffelei gehörig versaut.“ Sie betrachtete Julius und Tom wie Dreck, der den Frevel besaß, an ihren überteuerten Pumps zu kleben. „Batiste wird die nächsten Wochen wohl im Krankenhaus verbringen und danach eine nicht unerhebliche Zeit im Gefängnis. Also brauchen wir Ersatz für sie.“ Ihre Aufmerksamkeit schwenkte zu Julius. „Du. Setz dich da rüber.“ Der Stuhl, auf den sie deutete, sah aus wie die Requisite eines schlechten Horrorfilms. Massives Eisen, umwickelt mit stabilen Lederriemen. Wie der Rest des Raums war auch er vollständig in Weiß gehalten; so ließen sich die rostroten Verfärbungen auf den Lederriemen noch schwerer ignorieren. Nichts an Julius‘ Mimik gab preis, ob er die Flecken bemerkte. Sein Gesicht glich einer Maske, als er auf darauf zuging, doch kurz vor dem Stuhl versagten ihm seine Beine den Dienst und er strauchelte. Tom fing ihn auf. Emotionen jagten durch ihn hindurch. Kummer. Furcht. Verzweiflung, die möglicherweise ihm selbst gehörte, denn unter all den fremden Gefühlen, die durch ihn hindurchflossen, lag auch eiserne Entschlossenheit. Lauf! Hatte Julius geflüstert? Bildete sich Tom die Stimme in seinem Kopf nur ein? Oder– „Los jetzt!“, fauchte Pfahlhammer. Julius folgte ihrem Befehl, glitt von Toms Armen in den Stuhl. „Und weiter?“ Pfahlhammer nickte zu Tom. „Fessle ihn.“ „Was? Nein!“ Er zuckte zurück, als Pfahlhammer mit dem Fuß auf den Boden stampfte. „Du tust was ich sage, wenn ich es sage! Verstanden? Sonst sind die hübschen Fingerchen ab!“ Einen wundervollen Augenblick lang gab sich Tom der Vorstellung hin, nach vorne zu schnellen und dem Miststück seinen Ellenbogen in den Magen zu rammen. Genauso schnell verwarf er den Gedanken wieder. Er hätte mindestens drei Kugeln – oder womit auch immer diese Waffe schoss – in der Brust, bevor er auch nur in ihre Nähe gelangte. Als ahnte sie seine Überlegungen, trat Pfahlhammer einen weiteren Schritt zurück. Die Waffe in ihrer Hand zitterte dabei nicht einmal. „Nur um das klarzustellen. Wenn du nicht sofort tust, was ich sage, wirst du einen Finger verlieren. Das heißt aber nicht, dass ich mich davor scheue, dir zusätzlich ins Bein zu schießen. Du solltest dir wirklich zweimal überlegen, ob du weiter meine Geduld strapazieren möchtest.“ „Tom.“ Sachte strich Julius über Toms Unterarm. „Das ist es nicht wert. Tu einfach, was sie sagt.“ Betend, dass Julius einen besseren Plan hatte, als einfach bei dem Spiel der Pfahlhammers mitzumachen, bis einer oder beide von ihnen starben, schlang Tom die Lederriemen um seine Brust und fixierte seine Hand- und Fußgelenke. „Das geht fester“, merkte Pfahlhammer hinter ihm an. „Deutlich fester.“ „Noch fester und sie schneiden ein.“ „Ist mir egal.“ „Mir nicht!“ „Tom …“ Julius suchte seinen Blick, eine stumme Bitte in den Augen. „Okay.“ Tom schluckte. Angst drohte ihn zu überwältigen. „Okay. Ich mach ja schon.“ Er zog die Riemen fest, bemüht, Julius‘ schmerzerfülltes Stöhnen zu ignorieren. „So. Hier. Wahrscheinlich fallen ihm in der nächsten Stunde die Gliedmaßen hab. Zufrieden?“ Pfahlhammer spannte Sunnys Lippen zu einem Lächeln. „Sehr.“ Sie richtete die Waffe auf Toms Stirn. „Dann brauchen wir dich ja nicht länger. Ein bisschen schade ist es ja schon, aber du machst mir eindeutig zu viel Ärger. Und so heiß bist du dann doch nicht.“ „Warte!“ Die Lederriemen knarzten, als sich Julius dagegenstemmte, gaben jedoch keinen Millimeter nach. „Wenn ihr ihn tötet, könnt ihr meine Hilfe vergessen!“ Pfahlhammer hob eine Braue. „Ich bin neugierig. Denkst du wirklich, du könntest dich uns verweigern? Dann glaub mir, wenn ich dir sage, dass wir dir wesentlich Schlimmeres antun können, als dich an einen Stuhl zu fesseln. Und was ihn angeht“, sie nickte zu Tom, „ein rascher Tod wird eine Gnade für ihn sein.“ „Mich zu foltern wird euch nicht helfen. Ich brauche Kraft und einen klaren Verstand, wenn ich für euch arbeiten soll, aber vor allem meinen freien Willen. Ohne ihn funktionieren meine Kräfte schlicht nicht.“ „Ist das so?“ „Könnt ihr es riskieren, mir nicht zu glauben?“ Julius wartete nicht auf eine Antwort. „Wenn ihr Toms Körper übernehmt, werde ich euch nicht helfen. Wenn ihr ihm Schmerzen zufügt, auch nicht. Schon gar nicht, wenn ihr ihn tötet. Lou kann euch nicht mehr helfen. Ich bin eure einzige Chance. Entweder, ihr macht mir ein sinnvolles Angebot, oder dein Mann darf erleben, wie es sich anfühlt, wenn die Metastasen in seiner Lunge so richtig loslegen.“ Die Lippen, die einmal Sunny gehört hatten, verzerrten sich zu seinem Lächeln, das genauso gut ein Zähnefletschen hätte sein können. „Na schön, nehmen wir mal an, du sagst die Wahrheit. Ist sein Leben dir wirklich mehr wert als das deiner Freundin Batiste?“ „Es ist nicht Lou, auf die eine Waffe gerichtet wird.“ Leider, fügte Tom still hinzu. „Ist dir nie in den Sinn gekommen, Batiste könnte einen guten Grund haben, uns zu helfen?“, fragte Pfahlhammer, noch immer dieses schaurige Lächeln auf den Lippen. „Macht, nehme ich an. Geld vermutlich auch.“ „Oh, das ganz sicher. Dass mein Mann nicht der einzige ist, der sich mit einer unheilbaren Krankheit herumschlägt, dürfte allerdings ebenfalls recht motivierend gewesen sein.“ Pfahlhammer beobachtete Julius wie ein Jäger, dessen Beute soeben die schützende Deckung verließ. „Du wusstest nicht, dass sie krank war, oder? Wie tragisch.“ „Lou und ich sind geschiedene Leute. Sie hat ihre Entscheidung getroffen und was auch immer ab jetzt passiert, ist ganz allein ihre Sache.“ Doch Tom sah den Schmerz in Julius Gesicht, als er diese Worte aussprach, und erinnerte sich an das Häufchen Elend, zu dem er zusammengesackt war, nachdem er sie niedergeschlagen hatte. „Ich helfe euch nur, wenn ihr Tom freilasst.“ Darüber hätte Tom sogar beinahe selbst gelacht. Wenn Julius pokerte, pokerte er offensichtlich hoch. Auch Pfahlhammer wirkte amüsiert. „Ich denke, uns allen ist klar, dass das keine Option ist.“ „Wieso?“, fragte Julius. „Was kann Tom schon tun? Zur Polizei gehen? Bisher haben die kein besonderes Interesse an dem Fall gezeigt und eine abenteuerliche Geschichte über Magie und Körpertausch wird daran kaum etwas ändern. Für den ausgesprochen unwahrscheinlichen Fall, dass doch mal jemand nachfragt, gebe ich einen ziemlich passablen Sündenbock ab. Lou wird sicher gerne bezeugen, dass ich sie kaltblütig niedergeschlagen habe und mehr als ein Polizist hatte mich ganz oben auf der Liste der Verdächtigen, nachdem ich Emmas Leiche ohne wirkliche Hinweise im Wald aufgespürt habe. Selbst wenn Tom zur Polizei gehen sollte, schadet er damit also mehr mir als euch.“ Still musterte Pfahlhammer Julius. „Ich gebe zu, dass ich diese Argumentation schlüssiger finde als erwartet.“ „Dann lasst ihr ihn gehen?“ Lächelnd hob Pfahlhammer die Waffe. „Nein.“ Ein Knall zerriss die Stille. 11 -- Kapitel 11 Tom sackte zusammen. Der Boden unter seinen Füßen bebte, seine Ohren klingelten und jeder Atemzug kostete mehr Kraft als der vorherige. In der Ferne hörte er Schreie, in sich selbst seinen Herzschlag. Flatternd, aber stabil. Noch ein Knall, mehr Geschrei. Pfahlhammer. „Was habt ihr getan? Was habt ihr nur getan?“ Atmen. Einfach ruhig atmen. Mit jedem Schwung frischen Sauerstoffs in seinen Lungen, klärte sich Toms Welt. Das Schrillen in seinen Ohren entpuppte sich als Feueralarm. Pfahlhammers Stimme entfernte sich, begleitet vom Geklapper ihrer Highheels. Eine Tür schlug zu, dämpfte Alarm und Stöckelschuhe. Blieb noch das Klagen neben ihm. „Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid.“ Ungläubig tastete Tom über seinen eigenen Körper, um sicher zu gehen, dass Schock und Adrenalin ihn keine falschen Schlüsse ziehen ließen. Aber nein. Er fand keine Wunde und sah kein Blut, das allmählich zu einer Pfütze um ihn herum zusammenfloss. Er war schlicht okay. „Es geht mir gut.“ Doch Julius hörte ihn nicht. Die Augen zusammengekniffen, hing er in diesem grauenhaften Stuhl, während sich seine Lippen in einer steten Litanei bewegten. „Es tut mir leid. Es tut mir leid. Ich dachte, ich könnte sie stoppen. Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht in das alles reinziehen. Es tut mir leid.“ „Julius!“ Mit einer Hand an dessen Kinn, zwang Tom Julius, ihn anzusehen. Mit Mühe blockierte er dabei den überschwappenden Strudel dunkler Hoffnungslosigkeit, der ihn fortzureißen drohte. „Ich bin okay. Julius blinzelte. Einmal. Zweimal. Ein paar Tränen entkamen seinem Wimpernkranz und rannen über seine Wangen. Tom wischte sie weg. „Ist ja gut“, flüsterte er. „Es ist alles gut.“ War es natürlich nicht, aber für den Anfang half es schon, wenn sich Julius endlich beruhigte. „Hat sie nicht …?“, fragte Julius heiser. „Bist du nicht …?“ „Tot? Nope, ich lebe noch. Tut mir leid, du hast nicht unerwartet die Fähigkeit entwickelt mit Geistern zu sprechen.“ Ein krächzendes Schluchzen entkam Julius‘ Kehle, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Der Strudel aus Verzweiflung verkam zu einem dünnen Rinnsal. „Hat sie dich verfehlt?“ „Ich glaube, sie hat gar nicht auf mich geschossen. Was auch immer dieser Knall war, es war kein Schuss. Hat sich eher nach einer Explosion angefühlt.“ Ein Rumpeln wie von herabstürzenden Felsen unterstützte Toms Worte. Hektisch zerrte er an Julius‘ Fesseln. „Lass uns von hier verschwinden, bevor das Haus einstürzt.“ Ein erneutes Rumpeln motivierte ihn zu Höchstleistungen. Es half sogar, das feine Prickeln zu ignorieren, das durch seine Nerven jagte, als er Julius vom Stuhl zog. „Nichts wie weg.   ~~~~~~~~~~   Eine zwischen zwei raumhohen Edelstahlregalen versteckte Tür öffnete den Weg in einen Gang, an dessen Ende eine Treppe wartete. Hand in Hand hasteten Tom und Julius die Stufen hinauf, folgten dem schrillendem Alarm, der ihre keuchenden Atemzüge übertönte. Am oberen Treppenabsatz empfing sie eine weitere Tür, die zu Toms unermesslicher Erleichterung bereits einen Spalt offenstand. Gemeinsam platzten hindurch, zurück in die Empfangshalle, in die Pfahlhammer sie vor einer gefühlten Ewigkeit geführt hatte. Chaos empfing sie. Was einst eine beeindruckende Bücherwand gewesen sein musste, lag in Splittern, Trümmer versperrten den Weg in den angrenzenden Raum. Im ersten Stock schrie Herr Pfahlhammer nach seiner Frau. Über allem hing schwarzer Rauch und ein ekelerregend süßer Geruch nach Lakritz. „Was ist hier passiert?“, krächzte Tom. Schon jetzt brannte sein Hals, Asche sammelte sich auf seiner Zunge. Wie schnell fing man sich eigentlich eine Rauchvergiftung ein? Julius musste einen ähnlichen Gedanken gehabt haben. Einen Ärmel vor Mund und Nase gepresst, nuschelte er: „Das können wir uns später noch überlegen. Nichts wie raus hier!“ Hektisch blickte sich Tom um. Wo war die verfluchte Eingangstür? Beißender Qualm stach in seinen ohne Kontaktlinsen ohnehin nur eingeschränkt funktionierenden Augen und raubte ihm das letzte bisschen Orientierung. Nahezu blind tastete er nach Julius‘ Hand, die er – dumm wie er nun einmal war – zuvor losgelassen hatte, griff jedoch ins Leere. Okay. Okay. Alles okay. Nur keine Panik. Alles ist o– Gebrüll, das sogar den Alarm der Rauchmelder übertraf, durchdrang die Trümmerwand. „–getan? Es ist alles zerstört!“ „Das ist Pfahlhammer.“ Der Stimme nach stand Julius keine zwei Meter von Tom entfernt. „Aber wer ist bei ihr?“ „Ist das wichtig?“ Tom wollte einfach nur nach Hause, sich die Bettdecke über Kopf ziehen und alles vergessen, was ihm dieser Tag so vor die Füße gekotzt hatte. Vielleicht abgesehen von Julius. Wen auch immer Pfahlhammer da anbrüllte, es war ihm– „–mich los!“ Mit einem Mal wusste Tom sehr genau, wer Pfahlhammer gegenüberstand. „Marlene!“ Er jaulte auf, als ein unbedachter Schritt in ihre Richtung ein Trümmerstück tief in seine nackte Fußsohle trieb. Julius schlang stützend einen Arm um seine Taille. „Wo willst du hin?“ „Wir müssen Marlene helfen!“ Julius wollte widersprechen. Völlig egal, dass er dabei kein Wort verlor und Toms Augen viel zu stark tränten, um irgendeinen Gesichtsausdruck zu entschlüsseln – er wusste, dass Julius ihn davon abhalten wollte, zu Marlene zu rennen. Doch er tat es nicht. Der Arm um Toms Taille blieb, die Hand an seiner Hüfte griff allenfalls noch fester zu. „Hier entlang. Da liegen weniger Splitter.“ Weniger Splitter war nicht gleichbedeutend mit keinen Splittern und schon nach wenigen Schritten hinterließ Tom rote Spuren auf dem ehemals weißen Marmorboden. Das Schrillen der Rauchmelder bohrte sich in seine Trommelfelle, drang in sein Hirn. Er biss die Zähne zusammen und stolperte vorwärts, hin zu den zwischenzeitlich verstummten Stimmen. Bitte lass sie leben. Bitte lass Marlene am Leben sein. Mit Julius‘ Hilfe quetschte er sich durch einen Spalt des zertrümmerten Torbogens in den nächsten Raum; vorbei an scharfen Kanten, die weiteren Blutzoll forderten. Auf der anderen Seite waberte ein menschlicher Schemen durch den Qualm. „Da liegt jemand am Boden.“ Tom erschrak über das unerwartete Flüstern an seiner Seite und noch mehr darüber, dass Julius richtig lag. Was er hinter Rauchschwaden sah, war nicht ein einzelner Mensch, sondern zwei. Allerdings stand nur einer von ihnen aufrecht, der andere lag reglos zu seinen Füßen. „Marlene?“ Nicht zum ersten Mal arbeiteten Toms Lippen schneller als sein Gehirn. So viel zu ihrem Überraschungselement. Es war die aufrechte Gestalt, die antwortete: „Ich bin hier.“ Anstelle eines Jubelschreis stieß Tom seinen angehaltenen Atem aus. Eilig humpelte er vorwärts. Hin zu Marlene und weg von diesem unerträglichen Qualm. „Bist du okay?“ „Ja, ja.“ Ungeduldig wedelte sie mit der Hand. „Habt ihr Sunny gefunden?“ Und einfach so, zerbrach Toms Herz. „Ja.“ „Ist sie …?“ Toms Schweigen war Antwort genug. Die Lippen zu einem schmalen Strich gepresst, nickte Marlene knapp, als wollte sie sich mit dieser Geste zwingen, die Wahrheit zu akzeptieren. „Wo?“ „Ich denke nicht, dass–“ „Wo?“ „Marl–“ „Vor dir.“ Julius ignorierte Toms vorwurfsvollen Blick. „Die Pfahlhammers haben einen Weg gefunden, die Körper anderer Menschen zu übernehmen. Sunny war eines ihrer Opfer.“ „Vor mir …“ Wie in Zeitlupe ging Marlene auf die Knie und wischte über Pfahlhammers rußverschmiertes Gesicht, das am Ende immer noch das ihrer Schwester war. „Sunny.“ „Das ist nicht mehr Sunny.“ Julius sprach sanft, aber bestimmt. „Im Keller konnte ich ihr Echo hören. Das hier ist nur noch ihr Körper.“ „Wir haben keine Chance sie zurückzubringen?“ „Tut mir leid.“ „Verstehe.“ Ohne ihren Blick von Sunny/Pfahlhammer zu nehmen, stand Marlene auf. Tom sah nicht, woher sie die Schusswaffe zog, erkannte nur, dass er ihr vor wenigen Minuten noch selbst entgegengestarrt hatte. „Dann sollte ich es an dieser Stelle beenden.“ „Nicht!“ Schützend warf sich Tom über Pfahlhammer. Julius‘ erstickter Aufschrei ließ ihn zusammenzucken, aber keine Kugel bohrte sich in sein Fleisch. „Geh da weg.“ Marlene schaffte es, alle Verachtung dieser Welt in diese drei Worte zu legen. Tom rührte sich nicht. „Ich lasse dieses Miststück nicht im Körper meiner Schwester rumlaufen! Oder sie noch andere Opfer finden!“ „Denkst du, mir gefällt das?“, rief Tom. Zitternd richtete er sich weit genug auf, um Marlene in die Augen zu sehen. „Aber weißt du, was mir noch weniger gefällt? Dich zur Mörderin werden zu lassen. Tu das nicht. Bitte. Das ist es nicht wert.“ Seine Stimme brach. „Ich will nicht noch mehr Menschen sterben sehen.“ Langsam, viel zu langsam, senkte Marlene ihren Arm. Tränen hinterließen blasse Spuren auf ihren verrußten Wangen. Resolut wischte sie sie weg. „Einverstanden.“ Gerade, als Tom durchatmen wollte, mischte sich ein neues Geräusch unter den Alarm des Rauchmelders. Sirenen. „Shit. Shit, shit, shit. Irgendwelche Ideen, wie wir den Bullen dieses Chaos erklären sollen?“ „Indem wir nicht da sind.“ Marlene zerrte Tom hoch. „Los, da drüben gibt es einen Hinterausgang. Wir verstecken uns im Wald.“ Von zwei Seiten gestützt, stolperte Tom in die Richtung, in die Marlene deutete. „Du kennst dich hier ziemlich gut aus.“ „Ihr habt euch Zeit gelassen, also habe ich mich auf eigene Faust umgesehen.“ Ein willkommener Schwall Frischluft begrüßte sie auf der anderen Seite der Tür. Tom schmeckte noch immer Asche auf seiner Zunge, aber die Angst zu ersticken ebbte mit jedem Atemzug ab. „Und dabei die halbe Villa in die Luft gesprengt?“ „Natürlich. Das ist immer meine erste Reaktion, wenn ich irgendetwas nicht verstehe. Dann zünde ich es einfach an.“ Auch ohne Kontaktlinsen sah Tom Marlene mit den Augen rollen. „Wie gesagt, ich habe mich umgesehen. Da war eine Nische, in der ein …“ Sie überlegte einen Moment. „Ich glaube, Altar trifft es ganz gut. Da stand so eine Art Altar und darauf lag ein Buch. Ich wollte es mir näher ansehen – okay, vielleicht habe ich es dabei hochgenommen und angefasst – da hat es plötzlich Feuer gefangen. Du würdest auch das Weite suchen, wenn dir sowas passiert. Was genau dann zur Explosion geführt hat weiß ich nicht. Da war ich schon im anderen Raum.“ „Ein Buch?“, wiederholte Julius. „Habe ich gerade gesagt, oder? Es sah alt aus. Dünn. In Leder gebunden.“ Julius riss Tom beinahe von den Füßen, als er unvermittelt stehenblieb, während Marlene ihn weiter Richtung Wald zerrte. „Ich muss nochmal ins Haus.“ „Spinnst du?“, zischte Marlene. „Wozu?“, fragte Tom. „Ich muss etwas überprüfen. Geht schon vor, ich komme gleich nach.“ Tom schüttelte den Kopf. „Nein.“ „Los jetzt!“ Julius wandte sich an Marlene. „Bring ihn hier weg.“ „Liebend gern.“ „Hey!“ Tom stemmte seine blutigen Füße in den Boden. „Ich bin kein kleines Kind!“ „Dann hör auf, dich wie eins zu benehmen!“ Tom zuckte unter Julius‘ harschen Worten zurück. Widerwillig, doch ohne weitere Gegenwehr, ließ er sich von Marlene zur Baumgrenze schleifen. Dornen und spitze Zweige stachen in seine geschundenen Fußsohlen, aber er nahm den Schmerz nur noch am Rande wahr. „Das Auto steht ein Stück weg von hier“, sagte Marlene. „Ich habe es umgeparkt, die Einfahrt zum Haus war mir auf Dauer doch zu offensichtlich.“ Der Schatten der Bäume hatte sie schon lange verschluckt, doch sie zerrte Tom immer tiefer in den Wald. Er riss sich los. „Wir müssen auf Julius warten!“ „Der kommt schon zurecht.“ „Was, wenn nicht? Was, wenn die Polizei ihn verhaftet? Oder Pfahlhammer wieder aufgewacht ist? Oder das Haus über ihm zusammenstürzt? Oder er einfach nur das Auto nicht findet?“ Plötzlich weigerten sich Toms Beine, ihn noch länger zu tragen. Erschöpft sank er auf den Boden, den Rücken gegen einen Baumstamm gelehnt. Marlene verschränkte die Arme vor der Brust, aber ihr Blick fiel weniger streng aus als sie vermutlich geplant hatte. Sie seufzte. „Ist ja gut. Wir warten auf ihn. Aber wenn er in zwanzig Minuten nicht zurück ist, oder die Polizei hierherkommt, dann–“ Sie verstummte. Tom öffnete den Mund, doch da hörte er das Knacken der Zweige bereits selbst. Er drehte den Kopf in Richtung des Geräusches, gerade rechtzeitig, um jemanden auf sie zustürzen zu sehen. Völlig außer Atem und mit hochrotem Kopf stolperte Julius durchs Unterholz. Er hielt etwas gegen seine Brust gedrückt. Keuchend blieb er vor Tom stehen, nur um zwei Sekunden später ebenfalls in die Knie zu gehen. „Ich … bin … da …“ Bemüht, nicht vor Erleichterung in Tränen auszubrechen, strich Tom eine Strähne aus Julius‘ verschwitzter Stirn. „Bist du okay?“ Julius lächelte verlegen. Ein hübscher Anblick. „Alles da, wo es sein soll. Inklusive …“ Er nahm seine Arme weit genug von der Brust, um zu zeigen, was er schützte. Ein schmales, in Leder eingebundenes Buch. „Ist es das, das du gesehen hast, Marlene?“ „Warum ist es nicht verbrannt?“, fragte sie anstelle einer Antwort. „Und warum kannst du es berühren? Bei mir ist es sofort in Flammen aufgegangen.“ „Ich kann es nicht berühren.“ Blaulicht flackerte durch die Bäume und trieb die drei an, ihre Unterhaltung lange genug zu unterbrechen, um sich aufzurappeln und ihren Weg zum Auto fortzusetzen. „Ich benutze meine Kleidung, um direkten Hautkontakt zu vermeiden“, erklärte Julius, nachdem sie ein gutes Stück tiefer in den Wald vorgedrungen waren. „Das Feuer soll das Buch vor falschen Händen bewahren, aber nicht zerstören, deshalb ist es nicht verbrannt.“ „Und die Lösung, damit es gar nicht erst in Flammen aufgeht, ist, es einfach nicht direkt anzufassen?“, fragte Marlene ungläubig. „Magie lässt fast immer eine Hintertür und sie nimmt Dinge gerne sehr wörtlich. ‚Falsche Hände‘ können unter Umständen genau das bedeuten: Hände. Nicht Handschuhe, oder Füße, oder irgendetwas anderes.“ „Hattest du mit sowas vorher schonmal zu tun?“, fragte Tom. Julius schüttelte den Kopf. „Nicht persönlich und ganz sicher nicht in diesem Ausmaß. Auch, wenn er offensichtlich Schwächen hat, habe ich noch nie einen so wirkungsvollen Schutzbann gesehen. Geschweige denn Menschen, die die Körper anderer stehlen. Wenn Lou nicht sehr viel mächtiger ist als ich dachte – und das bezweifle ich – ist sie für keines von beidem direkt verantwortlich.“ Ungeduldig wedelte Marlene mit den Händen. „Komm zum Punkt. Worauf willst du hinaus?“ „Darauf, dass Lou und die Pfahlhammers wahrscheinlich nur die Spitze eines immensen Eisbergs waren.“ Julius betrachtete das Buch in seinen Händen. „Und das hier könnte der Schlüssel zu den Verantwortlichen sein.“ Entschlossenheit vertrieb die Ungeduld auf Marlenes Zügen. „Dann werden wir sie finden.“ „Ich–“, setzte Julius an, doch Tom unterbrach ihn: „Wir. Keine weiteren Alleingänge.“ Julius schien mit sich zu kämpfen, aber am Ende huschte so etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht und nicht einmal der Ruß konnte die Röte auf seinen Wangen völlig überdecken. „Wir.“ Marlene deutete nach vorne. „Wir sollten gleich zu dem Forstweg kommen, an dem ich das Auto geparkt habe.“ Sie schielte zu Tom. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum du nackt bist, aber ich weiß ganz sicher, dass du meine Polster nicht mit deinem Arsch berühren wirst.“ Tom schnaubte und für einen Moment schien es, als könnte daraus ein wirkliches Lachen werden. Am Ende tropften jedoch Tränen auf den Boden. Sie hatten überlebt, aber er würde seine beste Freundin niemals wiedersehen. Nie wieder ihr lachen hören, nie wieder gemeinsam die Nächte unsicher machen, nie wieder über ihre Wünsche, Träume und Ängste sprechen. Er lebte. Sunny nicht. Lange saßen die drei in Marlenes Auto – Tom auf einer alten Wolldecke – und sprachen kein Wort.   ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~   Kommentar: Das war das letzte Kapitel von „Verlorene Sonne“. Nächste Woche gibt es noch einen kurzen Epilog, dann sind wir durch :) Epilog: -------- Epilog Die Sonne in Buenos Aires brannte gnadenlos herunter. Selbst Tom, dessen dunkler Hauttyp ihn in der Regel vor Sonnenbrand schützte, war froh um die Sonnenmilch, die er vor Verlassen des Flughafens auf Stirn und Nasenrücken verteilt hatte. Neben ihm stöhnten Marlene und Julius unisono über die Hitze. „Konnten sich die nicht irgendwo auf der Nordhalbkugel verschanzen? Es ist Januar, da sollte nirgends auf dieser Welt Sommer sein!“, motzte Marlene. Sie stupste Julius in die Seite. „Wenn deine Quelle wieder falsch liegt, trete ich dir in eine sehr empfindliche Stelle.“ Tom verdeckte das wertvolle Körperteil mit seiner Hand. „Nix da. Von der Taille abwärts gehört das alles mir.“ Mit einem schiefen Lächeln schob Julius Toms Hand von seinem Schritt. „Es ist so wundervoll, wie sehr ihr mich wertschätzt.“ Die Berührung seiner nackten Haut übertrug jenen Funken auf Tom, der seit ihrem ersten Treffen vor mehr als einem Jahr im Einklang mit ihrer Beziehung wuchs. Ein Echo aus Zuneigung, Freundschaft und – nicht mehr neu, aber mit jedem Mal intensiver – Liebe. Tom wünschte sich, er könnte sein Glück mit Sunny teilen. Ihr Verlust schmerzte noch immer mehr, als er an manchen Tagen ertragen wollte; doch auch, wenn sie nie wieder auf dieser Welt wandeln würde, konnte er noch etwas für sie tun: Diejenigen fassen, die ihren Mördern die Macht dazu verliehen hatten. Das Feuer im Haus der Pfahlhammers hatte überraschend wenige Reaktionen provoziert. Kein Wort in den Medien, keine offiziellen Ermittlungen. Irgendjemand bemühte sich nach Kräften, keinen Staub aufzuwirbeln. Vermutlich, weil sich ein paar Fragen nur schwer beantworten ließen. Dennoch waren die Vermisstenfälle in der Stadt in den darauffolgenden Wochen merklich gesunken. Tom ging nicht so weit die Straßen als sicher zu bezeichnen – schon gar nicht für Menschen in seinem Berufszweig – aber ohne die Pfahlhammers als stille Macht im Hintergrund, schien die Polizei wenigstens wieder zu versuchen ihren Job zu erledigen. Was die Pfahlhammers selbst betraf … Ohne neue Körper, in die sie schlüpfen konnten, hatten sie bald den Preis für ihre gestohlene Jugend gezahlt. Martin Pfahlhammer war innerhalb weniger Tage dem sich ausbreitenden Krebs erlegen, seine Frau ihm einige Wochen später in Tod gefolgt. Nun blieb von Sunnys Körper nur noch ein Häufchen Asche, begraben unter einem falschen Namen. Wie so oft läutete das Ende eines Kapitels den Beginn eines neuen ein. Das Buch, das Julius aus den Flammen geborgen hatte, verriet seine Geheimnisse nur zögerlich, doch es verriet sie. Es lieferte Namen, Rituale, zentrale Schauplätze und verborgene Stätten; kurzum: All die Hinweise, die Tom, Marlene und Julius helfen würden, die Strippenzieher hinter den Pfahlhammers aufzuspüren. Nicht, dass es ihnen leicht gemacht wurde. Japan, Rumänien und Sizilien hatten sich als Reinfall entpuppt; nach Sizilien war die Spur sogar komplett kalt geworden. Bis gestern. Da hatte sie der Anruf eines Freundes aus dem Bett geklingelt und ein Puzzlestück geliefert, das sich nahtlos in ein Rätsel fügte, über das sich Julius‘ seit Wochen den Kopf zerbrach. Und nun standen sie hier, unter der Sonne Argentiniens. Tom fühlte das Gewicht der Schutzamulette um seinen Hals, um seine Handgelenke, in seiner Hosentasche, zählte im Stillen die Namen ihrer neu hinzugewonnenen Verbündeten auf. Er verschlag seine Finger mit Julius‘. Vor einem Jahr waren sie metaphorisch mit Flip-Flops durch einen Sumpf gewatet. Heute waren sie vorbereitet. Ende   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)