Verlorene Sonne von Noxxyde ================================================================================ 4 - Kapitel 4 Marlene saß mit verschränkten Armen vor Mr. Magicks Schreibtisch. „Ich weiß beim besten Willen nicht, warum ich mich dazu habe breitschlagen lassen.“ Weil wir nicht wissen, was wir sonst tun sollen. Anstatt diesen Gedanken laut auszusprechen, richtete Tom seine Aufmerksamkeit auf Mr. Magick. Dieser hatte sich nicht von der Stelle gerührt, seit Tom mit einer wenig begeisterten Marlene in sein Büro zurückgekehrt war, doch nun lagen seine Arme über den Schreibtisch gestreckt, beide Handflächen nach oben gerichtet. „Legen Sie Ihre Hände in meine“, bat er, zuckte jedoch zurück, als Tom seiner Aufforderung folgte. „Nur Frau Fichtner, bitte.“ „Oh. Okay. Sorry.“ Im Gegensatz zu Tom, zeigte sich Marlene wesentlich weniger bereitwillig zum Händchenhalten. Kühl musterte sie Mr. Magick. „Ist das wirklich nötig? Ich wäre nämlich sehr froh, wenn wir das Spektakel auf ein Minimum reduzieren und einfach meine Schwester finden könnten.“ Zur Antwort erhielt sie ein geduldiges Lächeln, das Mr. Magicks Augen nicht erreichte. „Das ist der Plan. Aber dafür muss ich eine Verbindung zu Ihrer Schwester aufbauen und das geht am einfachsten durch einen mit ihr verbundenen Menschen.“ Seine Finger – lang und feingliedrig, bemerkte Tom, obwohl er selbstverständlich nicht auf die diversen körperlichen Qualitäten mysteriöser Männer mit lächerlichem Namen und Katzenpostern achtete – zuckten ungeduldig. „Ihre Hand. Bitte.“ Tom blickte ebenso bittend zu Marlene. Wenn es auch nur die geringste Chance gab, Sunny heil oder wenigstens lebendig zu finden, mussten sie sie nutzen. „Was haben wir schon zu verlieren?“ Ergeben seufzend legte Marlene ihre Hand in Mr. Magicks. Stille breitete sich aus und möglicherweise waren Toms Nerven strapazierter als er ahnte, denn nichts daran fühlte sich natürlich an. Darum bemüht, das unangenehme Prickeln in seinem Nacken abzuschütteln, sah er sich in dem Büro um, das ebenso einer lieben Oma aus einem Kindermärchen hätte gehören können. Erst bei genauerem Hinsehen realisierte er, dass das nicht ganz stimmte. Die zarten Muster der Spitzendeckchen entpuppten sich als Sigillen; nicht Lavendel, sondern Eisenhut füllte die beiden Vasen auf dem Fensterbrett und die cremefarbene Tapete war von Symbolen überzogen, die Tom trotz seiner obsessiven Phase nächtlichen ‚Pendel, Puppen, Plusquamperfekt – Paranormale Phänomene‘-Guckens nicht zuordnen konnte. Lediglich bei den Katzenpostern handelte es sich um genau das: Poster von Katzen. Am Ende seiner Inventur kehrte Toms Blick zu Mr. Magick zurück. Dessen Stirn hatte sich in der vergangenen Minute eine beachtliche Menge neuer Falten zugelegt. „Ich bekomme keine Verbindung.“ Er musterte Marlene, als machte er sie dafür verantwortlich. „Sind Sie sicher, dass Sie blutsverwandt mit Ihrer Schwester sind?“ „Andernfalls wäre unserer Mutter ein ziemliches Kunststück gelungen. Eineiige Zwillinge sind Ihnen ein Begriff?“ „Warum kann ich dann nicht …“ Ohne seinen Satz zu beenden, schloss Mr. Magick seine Augen und vertiefte die Falten auf seiner Stirn in absoluter Konzentration. Dieses Mal war Tom überzeugt, Ozon zu riechen. Abrupt ließ Mr. Magick Marlenes Hand los. „Ich muss mich mit jemandem beraten. Sobald ich mehr weiß, melde ich mich bei Ihnen.“ Mit einem flapsigen Winken bedeutete den beiden, sein Büro zu verlassen. Marlene bewegte sich keinen Millimeter. „Dann wäre es wohl gut, wenn Sie meine Telefonnummer aufschreiben.“ Mr. Magick rezitierte eine Nummer, die Tom nichts sagte, Marlene aber das letzte bisschen Farbe aus dem Gesicht trieb. „Korrekt?“ Sichtlich um Fassung ringend, funkelte Marlene ihn an. „Wie sind Sie an diese Nummer gekommen?“ „Google. Sie steht auf Ihrer Firmenhomepage. Und jetzt bitte.“ Er deutete zur Tür. „Je früher Sie gehen, desto eher kann ich mich auf die Suche nach Ihrer Schwester machen.“ Tom beeilte sich Marlenes Protest zuvorzukommen, indem er ihren Unterarm packte – fest, aber hoffentlich nicht schmerzhaft – und sie zur Tür schleppte. „Alles klar! Vielen Dank schonmal!“ „Tom!“ Marlene stemmte sich gegen ihn. „Lass mich los!“ „Nur, wenn du versprichst, den armen Mann seine Arbeit machen zu lassen.“ Den Rücken exakt jenem zugewandt, hauchte er ein ‚Vertrau mir‘ hinterher. Für einen Moment sah es aus als würde Marlene diese Bitte ignorieren, doch nach ein paar Sekunden nickte sie grimmig. In stummer Einigkeit traten die beiden aus dem Büro. Bedauerlicherweise bot die Lobby im Erdgeschoss keine guten Versteckmöglichkeiten – das vollgestopfte Café auf der anderen Straßenseite allerdings sehr wohl.   ~~~~~~~~~~   Tom saugte an seinem Karamell-Minz-Frappuccino. Dickflüssige Zuckermasse glitt vom Strohhalm über seine Zunge, die Speiseröhre hinab, bis in seinen Magen. „Woher wusstest du, dass dieser Pfahlhammer etwas mit Sunnys Verschwinden zu tun hat? Und warum hast du mir das nicht früher gesagt?“ „Weil ich es eben nicht wusste.“ Marlene nippte an ihrem Dreifachespresso. „Ich konnte Sunny nicht erreichen und alle anderen haben sich einen Dreck für sie interessiert, also habe ich angefangen selbst zu recherchieren. Und massig ähnliche Fälle gefunden. Sexarbeiter leben gefährlich.“ Sie stürzte den Rest ihres Espressos herunter. „Aber dir muss ich kaum einen Vortrag über die Risiken deines Jobs halten.“ „Musst du tatsächlich nicht.“ „Jedenfalls gibt es zwar auch viele Berichte über Körperverletzung und so weiter, zurzeit scheinen sich aber besonders die Vermisstenfälle zu häufen. Manchmal tauchen die Vermissten wieder auf, manchmal ist es falscher Alarm. Aber oft genug bleiben sie verschwunden und wenn man tief genug gräbt, stolpert man immer wieder über denselben Namen.“ „Pfahlhammer.“ „Genau der. Hauptsächlich im Zusammenhang mit einem kleinen Mädchen, das man vor ein paar Wochen tot in einem Waldstück gefunden hat, nachdem es davor monatelang verschwunden war. Gerüchteweise hat der Mann noch sehr viel mehr Dreck am Stecken, aber bisher konnte man ihm nie etwas nachweisen. Trotzdem dachte ich, es kann ja nicht schaden, den Namen mal einzuwerfen und zu gucken, wie dieser Mr. Magick reagiert.“ Tom verschluckte sich beinahe an seinem Alibikaffee. „Du hast geblufft!“ „Und es hat sich ausgezahlt.“ Plötzlich betrachtete Tom Marlene mit völlig anderen Augen.   ~~~~~~~~~~   Tom war bei seinem zweiten Karamell-Minz-Frappuccino angekommen, als Mr. Magick das Bürogebäude verließ. Weder zügig noch gemächlich, sondern wie jemand, der sein Ziel kannte und wusste, dass es nicht davonlief. Zeit, herauszufinden, was der Kerl plante. Marlenes Fingernägel gruben sich schmerzhaft in Toms Unterarm. „Warte!“, zischte sie. „Ist ein bisschen auffällig, wenn du ihm nachläufst wie ein Welpe, der Leckerchen wittert, denkst du nicht?“ Widerwillig sank Tom zurück auf seinen Sitzplatz. „Wusste nicht, dass du jetzt auch noch Beschattungsprofi bist.“ „Ich denke einfach nur weiter als von zwölf bis Mittag. Wir warten, bis er ums Eck ist, dann folgen wir ihm.“ „Und wenn er bis dahin nochmal abbiegt? Oder in den Bus einsteigt. Oder–“ „Das“, unterbrach Marlene Toms Angstschwall, „überlegen wir uns, wenn es so weit ist. Los jetzt!“ Während Toms Hirn Horrorszenarien ausgespien hatte, war Mr. Magick in eine Seitengasse eingebogen und damit effektiv aus ihrer Sicht verschwunden. So gelassen Marlene ihren Plan noch vor wenigen Augenblicken dargelegt haben mochte, ihre mit jedem Meter schneller werdenden Schritte verrieten, dass sie sich bei weitem nicht so sicher fühlte, wie sie vorgab. „Da“, raunte Tom, als er einen Rücken erspähte, der nach einem einzigen Treffen nicht so vertraut aussehen sollte. Auf leisen Sohlen folgten sie Mr. Magick. Gar nicht so ungeschickt offenbar; auch nach fünfzehn Minuten zügigen Fußmarsches ahnte er nichts von ihrer Existenz. Ohne sich ein einziges Mal umzublicken betrat er ein Geschäft, dessen Schaufenster von schwarzen Samtvorhängen verdeckt wurden. Über der Tür hing ein eisernes Schild, das den Laden als Knochenmark & Blut auswies. „Gehen wir rein und gucken, was es mit dem Laden auf sich hat?“, fragte Tom. „Lieber nicht. Wenn der so klein ist, wie er von außen aussieht, bleiben wir keine drei Sekunden unentdeckt.“ Stumm stimmte Tom Marlenes Bedenken zu. Glücklicherweise hatte die allgemeine Franchise-Welle auch ihre Stadt vor einigen Jahren geflutet und so fanden sie keine zehn Meter entfernt ein Café, das dem, das sie vor einer Viertelstunde verlassen hatten, aufs Haar glich. Bei dem Gedanken an ein weiteres aromatisiertes Heißgetränk rumorten Toms Magen und Geldbeutel, doch was tat man nicht alles, um seine Tarnung aufrechtzuhalten. Und so warteten sie. Und warteten. Und warteten. „Was zur Hölle treibt der Kerl so lange da drin?“ Wie um ihren Missmut zu unterstreichen, schlürfte Marlene die Reste ihres Eistees extra laut aus dem Strohhalm. „Vielleicht gibt es einen Hinterausgang?“ Bisher hatte sich Tom verkniffen, diese Befürchtung laut auszusprechen, aber er vermutete, allmählich war die Zeit für Zurückhaltung vergangen. „Vielleicht.“ Oh, toll. Nur nicht zu optimistisch. „Und jetzt?“ „Gehen wir rein. Viel zu verlieren haben wir ja nicht mehr.“ Keine Glocke mit zarter Melodie kündigte ihre Ankunft an, kein Verkäufer hieß sie mit gerade so viel Enthusiasmus willkommen wie man für Mindestlohn eben kaufen konnte. Stattdessen betraten sie Stille. „Igitt!“ Okay, Stille und den alles umhüllenden Gestank von Patschuli. Tom verzichtete darauf, es Marlene gleichzutun und sich mit einer dramatischen Geste die Nase zuzuhalten, musste dafür jedoch den Anflug eines herzhaften Niesers bekämpfen. „Wo ist er hin?“ „Shh!“ Anstatt auf ihre Nase, presste Marlene ihre Finger nun gegen ihre Lippen. „Hör hin.“ Zunächst verstand Tom nicht, worauf sie hinauswollte, doch nach einigen Atemzügen angestrengten Lauschens registrierte er das heisere Murmeln aus dem Lagerraum hinter der Verkaufstheke. Zwei Stimmen, eine davon vage vertraut. Gänsehaut kroch über Toms Arme, als er näher schlich. „–nicht, dass es möglich wäre?“, fragte Mr. Magick seinen Gesprächspartner. „Möglich ist vieles.“ Die Frau, mit der sich Mr. Magick unterhielt, sprach mit dem Hauch eines Akzents, den Tom nicht richtig platzieren konnte. Ihre Vokale klangen gerundet und die Konsonanten schienen in ihrer Kehle auf Watte zu treffen, bevor sie in die Außenwelt schwebten. „Aber du glaubst nicht daran.“ „Ich glaube nicht, dass du daran glaubst.“ Tom konnte das Schulterzucken von Mr. Magicks Gegenüber beinahe hören. „Sonst wärst du nicht bei mir, um nach Rat zu fragen.“ „Womit du dich bisher ziemlich zurückhältst“, entgegnete Mr. Magick missmutig. „Wenn du darauf bestehst, gebe ich dir einen Rat. Lass die Finger von diesem Fall. Sag deiner Kundin, dass ihre Schwester tot ist–“ „–aber sie könnte–“ „–was höchstwahrscheinlich der Wahrheit entspricht. Nur, weil du keine Verbindung zu ihrem Echo aufbauen konntest, bedeutet das nicht, dass sie noch lebt. Vielleicht war dein Träger zu schwach.“ „Zwillingsblut, Lou. Wenn ich damit keine Verbindung aufbauen kann, sollte ich mir einen anderen Job suchen.“ „Wir wissen beide, dass es noch hundert andere Gründe gibt, die ein Echo schweigen lassen.“ Eine kurze Pause. Als die Frau das nächste Mal sprach, schwang Mitgefühl in ihrer Stimme. „Ich weiß, du wünscht dir ein Happy End. Gerade nach deinem letzten Vermisstenfall. Aber vertrau mir, wenn ich dir sage, dass du dich da zu sehr reinsteigerst. Lehn den Fall ab. Verweis sie an jemand anderen. An mich, wenn du dich dann besser fühlst. Nur tu dir selbst das nicht an. Nicht, solange die alten Wunden noch bluten.“ „Das …“ Mr. Magick seufzte fast unhörbar. „Nein, du hast recht. Ist es okay, wenn ich der Kundin deine Nummer gebe?“ „Selbstverständlich ist es das. Jetzt komm, ich muss wieder an die Theke, bevor mir irgendjemand den Laden leerräumt.“ „Als würdest du nicht mehr als genug Methoden kennen, um–“ Der Rest des Satzes ging in Rascheln und eiligen Schritten unter, als Marlene Tom am Kragen packte und ihn zu einer unscheinbaren Tür am anderen Ende des Raums schleifte. Ein Messingschild mahnte der Bereich sei ‚Nur für Personal‘ gedacht, doch das interessierte Marlene herzlich wenig. Sie stieß Tom hinein und schlüpfte hinterher. Dunkelheit umhüllte sie, zentnerschwer und allumfassend. Eine zarte Brise flüsterte über Toms Haut. Das war keine Abstellkammer. Er brauchte kein Licht, um zu erkennen, dass sich dieser Raum meterweit erstreckte. „Hörst du das?“, hauchte Marlene. Tom lauschte. Marlenes Atem bildete ein Echo zu seinem eigenen. Unregelmäßig. Vielfach. Zu weit entfernt, um von der Frau neben ihm zu stammen. Wo auch immer sie gelandet waren, sie waren nicht allein. Schreckensstarr wartete er darauf, dass sich das Atemgeräusch näherte. Eine Hand seinen Arm berührte. Sich um seinen Hals legte. Nichts geschah. Da waren nur sie und das Geräusch von Luft, das in Lungen gesogen und wieder ausgestoßen wurde. Marlene hatte weniger Geduld auf einen von der Dunkelheit geschützten Angreifer zu warten. „Hier ist ein Lichtschalter“, flüsterte sie. „Sekunde.“ Auf ihre Worte folgte ein fast unhörbares Klicken, gleich darauf fluteten Deckenlampen den Raum mit Licht. Gegen die trotz der Warnung plötzlich kommende Helligkeit blinzelnd, brauchte Tom einen Moment, um ihre Umgebung wahrzunehmen. Und noch einen Moment länger, bis sein Gehirn den Anblick der vor ihm aufgereihten Körper verarbeitet hatte. Sie befanden sich in etwas, das früher einmal ein Lagerraum gewesen sein musste. Regale, gefüllt mit Gegenständen, deren Sinn und Zweck sich Tom entzog, bildeten ein wändeverdeckendes Labyrinth. Einige von ihnen wirkten deplatziert. Vermutlich hatte die Ladenbesitzerin sie verschoben, um Platz für die dünnen Matratzen zu schaffen, die nun die Mitte des Raums einnahmen. Auf ihnen lagen acht nackte Männer. „Sind sie tot?“ Marlene machte einen Schritt nach vorne, überlegte es sich jedoch anders und blieb stehen. „Ich denke nicht.“ In der auf seine Worte folgenden Stille hörte Tom erneut dieses sachte Atemgeräusch. „Zumindest nicht alle.“ Sein Blick huschte über die Körper vor ihm. Allesamt männlich, allesamt jung, allesamt attraktiv. Davon abgesehen, hatten sie wenig gemein. Einer war so blass, dass seine Haut beinahe durchscheinend wirkte, Sommersprossen sprenkelten seine Schultern und kupferfarbene Haarsträhnen umrahmten sein Gesicht. Ein anderer hatte dicht gekräuselte Locken, volle Lippen und dunkle Haut. Einen dritten zierten kunstvolle Tattoos und Piercings, während der Mann neben ihm … „Sam?“ Tom rannte zu dem Freund, mit dem er mehr als eine gemeinsame Nacht verbrachte hatte. „Samuel?“ Erleichtert registrierte er das stete Heben und Senken von dessen Brust und als er seine Finger an Sams Mund legte, strich warmer Atem über sie. „Lebt er?“ Marlene war neben Tom auf die Knie gesunken, die Lippen zu einem schmalen Strich gepresst. Tom nickte. „Aber ich bekomme ihn nicht wach.“ Hatte er zunächst sanft Sams Wange gestreichelt, versetzte er ihm nun fraglos schmerzhafte Klapse, die jedoch keine Reaktion erzielten. „Komm schon, Sam. Wach auf!“ „Erkennst du noch jemanden hier?“ Nur widerwillig löste Tom seine Aufmerksamkeit von seinem Freund, um die anderen Männer näher in Augenschein zu nehmen. „Ich glaube n–“ Er stockte. „Warte. Der Dunkelhaarige da vorne. Wenn ich nicht völlig daneben liege, hat er mal für unsere Agentur gearbeitet. Damals hatte er ein paar Piercings weniger, deshalb habe ich ihn nicht gleich erkannt, aber … Doch, ich bin mir sicher. Wir sind uns ein oder zweimal über den Weg gelaufen.“ „Aber er ist nicht mehr bei Little Secrets?“ Tom schüttelte den Kopf, bereits erneut über Sam gebeugt. „Ist aus der Kartei geflogen, weil er einen Kunden beklaut hat.“ „Und dein Freund hier? Wann hast du das letzte Mal mit ihm gesprochen?“ „Vor ein paar Wochen. Wir wollten uns eigentlich mal wieder treffen, aber dann hat er nichts mehr von sich hören lassen.“ „Ist er sonst auch so unzuverlässig?“ Tom antwortete nicht sofort. Nicht, weil er darüber nachdenken musste, sondern weil er sich für die Wahrheit schämte. Schließlich zwang er sich, sie dennoch auszusprechen. „Nicht wirklich“, räumte er ein. „Aber Sam …“ Er seufzte. „Sam hatte immer mal wieder Probleme mit, äh, nicht völlig legalen Substanzen und ich bin davon ausgegangen, dass die Bullen ihn einkassiert haben. Wäre nicht das erste Mal.“ „Du hast nicht nachgehakt, als du nichts mehr gehört hast?“ „Nein.“ Marlene ließ sich nicht anmerken, was sie von Toms Geständnis hielt, aber wenn er raten sollte, half seine Treuelosigkeit nicht unbedingt, ihre Meinung über ihn zu verbessern. Zurecht. „Gab es abgesehen von dir noch jemanden, der sein Verschwinden bemerkt hätte?“ „Unwahrscheinlich. Soweit ich weiß hatte er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie und ich glaube nicht, dass er in einer Beziehung war. Jedenfalls keiner ernsthaften.“ „Hm.“ Marlene presste die Lippen zusammen. „Was hat er beruflich gemacht?“ „Dasselbe wie ich. Weniger regelmäßig und nicht über eine Agentur, aber …“ Tom zuckte mit den Schultern. „Und der andere, den du erkannt hast, war auch Sexarbeiter, ja?“ Tom nickte. „Vorbestraft?“ „Damals nicht, aber gerüchteweise hat er nach seinem Rausschmiss bei Little Secrets ein paar Monate wegen Betrugs gesessen.“ „Findest du nicht, dass das ein ziemlich auffälliges Muster ist?“ Fand er. „Wir müssen die Jungs hier wegbringen, bevor dieses Miststück wer weiß was mit ihnen anstellt.“ „Ich fürchte, das kann ich nicht zulassen.“ Tom wirbelte herum. Im Türrahmen stand die Ladenbesitzerin, einen Revolver auf seine Brust gerichtet. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)