Verlorene Sonne von Noxxyde ================================================================================ 2 - Kapitel 2 „Was soll das heißen, ihr könnt da nichts tun?“ Instinktiv zog Tom den Kopf ein. Sunny klang alles andere als glücklich. Moment. Sunny! Tom hetzte den Gang herunter. Der Schwung, mit dem er durch die Tür schlitterte, hätte ihn beinahe von den Füßen gefegt, aber tatsächlich, mitten im Agenturbüro – eine Hand in die Hüfte gestemmt, den Zeigefinger der anderen anklagend auf Solveig gerichtet – stand Sunny! „Gekauft hat er euch, darum geht’s! Na los, spuck’s schon aus: Wie viel ist das Leben meiner Schwester wert?“ Toms Herz sank ein Stockwerk tiefer. Er hätte es gleich bemerken sollen. Sunny würde nie ihr feuerrotes Haar zu einem strengen Dutt zusammenbinden. Oder Turnschuhe tragen. Oder Solveig anbrüllen, bis diese mit den Tränen kämpfte. „Hi, Marlene.“ Marlene wirbelte herum, bereit, den Störenfried bei lebendigem Leib zu verspeisen. Glücklicherweise erkannte sie Tom, bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzte. Der Blick, mit dem sie ihn musterte, hätte trotzdem um ein Haar gereicht, ihn in die Flucht zu schlagen. „Hallo.“ „Bitte sag mir, dass du nur hier bist, weil Sunny wieder aufgetaucht ist und du auf sie wartest.“ Im Grunde wusste er, dass das nicht der Fall war, aber Marlenes Kopfschütteln kam dennoch einem Schlag in die Magengrube gleich. „Es ist fast zwei Wochen her, dass ich etwas von ihr gehört habe. Und jetzt erzählt mir die da“, wieder der angriffslustige Finger, der auf Solveig deutete, „dass Sunny laut ihrem letzten Kunden die Schnauze voll von ihrem Leben hatte und er ihr daraufhin mal eben einen Flug nach Übersee spendiert hat. Ich soll ernsthaft glauben, meine Schwester zieht gerade mit dem Rucksack durch Südamerika!“ Tom runzelte die Stirn. „Das klingt wirklich nicht nach Sunny.“ Letztes Jahr noch hatte sie sich geweigert, mit ihm zusammen auf ein Festival zu fahren, weil sie Dixi-Klos widerlich fand. Doch für diesen Einwand hatte Solveig lediglich ein hilfloses Kopfschütteln übrig. „Ich kann dir nur sagen, was man mir erzählt hat.“ „Und jetzt?“ „Können wir nichts mehr tun. Tom, du weißt, wie das hier läuft. Diskretion ist alles. Geld ist alles.“ Tom war so angewidert wie Marlene aussah, aber er wusste, dass Solveig hier nur die Botin spielte. Andere hatten seinen Zorn viel mehr verdient. Er wandte sich an Marlene. „Warst du schon bei der Polizei?“ Sie schnaubte. „Nein, ich bin nämlich total doof und brauche einen Kerl, der mir sagt, was ich tun soll.“ Nach einem tiefen Atemzug wurden ihre Züge weicher und so etwas wie eine Entschuldigung trat in ihre Augen. Naja, jedenfalls ansatzweise. „Ich war bei der Polizei. Zweimal. Die haben gesagt, Sunny wäre eine erwachsene Frau und sie hätten keinen Grund anzunehmen, dass eine Straftat vorliegt.“ „Sie tun also absolut nichts.“ „So sieht es aus.“ Tom bemühte sich, sich nicht der Hoffnungslosigkeit hinzugeben. „Sunny ist seit zwei Wochen verschwunden, ohne dass irgendwer auch nur einen Mucks von ihr gehört hätte. Irgendwann müssen die doch tätig werden, oder?“ „Deshalb wird das auch mein nächster Stopp sein.“ „Nimmst du mich mit?“ „Von mir aus.“ Die Aussicht, endlich etwas Sinnvolles zu tun, ließ Tom sogar vergessen, weshalb er überhaupt in die Agentur gekommen war. Später sollte ihn ein Blick auf seinen Kontostand wieder daran erinnern, aber im Augenblick war er mit anderen Dingen beschäftigt. Zum Beispiel herauszufinden, wo zur Hölle seine beste Freundin steckte.   ~~~~~~~~~~   Obwohl Tom und Marlene die einzigen Zivilisten auf dem Polizeirevier zu sein schienen, dauerte es gute zwanzig Minuten, bis sich einer der Beamten erbarmte und sie zu sich winkte. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ Im Hintergrund rannten seine Kollegen geschäftig durch den Raum, wobei es auf Tom wirkte, als schoben sie lediglich Aktenstapel von A nach B. „Meine Schwester wird vermisst“, erklärte Marlene. „Ich bin deshalb jetzt das dritte Mal bei Ihnen und es wird Zeit, dass sich etwas tut.“ Der Beamte hob beschwichtigend die Hände. „Selbstverständlich. Ich nehme gleich ihre Daten auf.“ Mit unverhohlener Ungeduld diktierte Marlene ihm Sunnys vollständigen Namen („Susanne Fichtner“), ihr Alter („30, aber wenn Sie sie fragen, wird sie 25 sagen“) und beschrieb ihr Äußeres („Sehen Sie mich an. Gut, und jetzt geben Sie mir größere Möpse und eine schmalere Taille. Fertig.“). „Wann hatten Sie zuletzt Kontakt?“ „Vorletzten Sonntag waren wir brunchen, seitdem herrscht Funkstille.“ „Ich habe am Tag darauf noch mit ihr geschrieben“, warf Tom ein. „Sie hat spontan einen Kundentermin übernommen. Danach wollten wir eigentlich was Trinken gehen, aber sie ist nie aufgetaucht.“ „Was für einen Kundentermin?“ „Escort. Unsere Agentur kann Ihnen den Namen des Kunden sicher heraussuchen.“ „Escort …“ Der Polizist hörte auf zu schreiben. „Ach, es geht um die verschwundene Nutte? Da können wir ni–“ Er quiekte auf, als Marlenes Hand auf die Tischplatte donnerte. „Meine Schwester“, zischte sie, „ist eine intelligente, sensible und witzige Frau, die möglicherweise tot in irgendeinem Straßengraben liegt.“ Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. „Beten Sie, dass ich nur paranoid bin. Beten Sie, dass Sunny nichts passiert ist. Und dann machen Sie Ihren beschissenen Job und sehen zu, dass Ihnen in meiner Anwesenheit nie wieder so eine Respektlosigkeit rausrutscht!“ Zu Beginn von Marlenes Tirade hatte noch ein sichtbares ‚Sonst was?‘ auf der Zunge des Polizisten gelegen, das allerdings mit jedem weiteren ihrer Worte tiefer in seine Kehle zurückgekrochen war – nun sah er aus, als versuchte es durchs andere Ende aus seinem Körper zu entkommen. „Ich kann nichts für Sie tun“, würgte er hervor. Das Zittern in der Stimme des Polizisten verschaffte Tom kaum Genugtuung. „Wir sollen also einfach weiter abwarten?“ Der Polizist zuckte mit den Schultern. „Hängen Sie Suchzettel auf, wenn Sie sich damit besser fühlen.“ Er beugte sich vor, trat bei Marlenes Bick jedoch gleich darauf wieder einen Schritt zurück. „Hören Sie, wir haben mit der Nuttenvermittlung, äh, der Escort-Agentur gesprochen und auch mit dem letzten Kunden Ihrer Schwester. Nach allem, was wir wissen, zieht sie mit dem Rucksack durch Südamerika. Da können wir absolut nichts tun. Dummheit liegt nun mal nicht in unserem Aufgabenbereich.“ Tom zerrte Marlene aus der Wache, bevor sie durch das Sicherheitsglas hüpfen und einen Mord verüben konnte. Draußen angekommen atmeten die beiden zunächst tief durch. Tom war der erste, der seine Sprache wiederfand. „So eine dreimalgefickte Kackscheiße!“ „Warum will ihr niemand helfen?“ Zum ersten Mal seit Tom sie kannte, erlitt Marlenes harte Schale einen Sprung. „Warum will niemand meiner Schwester helfen?“ Sie blickte ihn an, als hoffte sie, er wüsste die Antwort. „Weil sie sich mit den falschen Leuten eingelassen hat.“ Der Polizist, der ihnen unbemerkt aus dem Gebäude gefolgt war, war ein anderer, als der, der sich geweigert hatte, die Vermisstenanzeige aufzunehmen. Er war jung, mit weichen Gesichtszügen und einem Ausdruck in den Augen, der weder zum einen noch zum anderen passte. Nun hob er beschwichtigend die Hände, vermutlich in der Hoffnung, einer weiteren Schimpftirade zu entgehen. „Bitte hören Sie mir kurz zu. Niemand hier wird Ihnen helfen Ihre Schwester zu finden, weil sich niemand mit dem Mann, der sie mutmaßlich zuletzt lebend gesehen hat, anlegen möchte. Aus gutem Grund, übrigens. In der ganzen Stadt verschwinden Menschen und–“ Er schüttelte den Kopf. „Sie sollten die Sache lieber vergessen.“ „Diese Sache ist meine Schwester“, zischte Marlene. Der Polizist seufzte. „Ich hatte befürchtet, dass sie das sagen. Deshalb wollte ich Ihnen das hier geben.“ Zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner ausgestreckten Hand klemmte eine Visitenkarte. „Wenn Ihnen jemand helfen kann, dann er.“ Da Marlene nicht reagierte, nahm Tom die Karte entgegen. „Danke, schätze ich.“ „Wenn Sie mir danken wollen, vergessen Sie, dass wir uns begegnet sind.“ Ohne weitere Abschiedsworte verschwand der Polizist zurück in die Wache. Ratlos blickte Tom zu Marlene. „Und jetzt?“ „Jetzt“, sie rupfte ihm die Karte aus der Hand, „besuchen wir diesen“, ihre linke Augenbraue wanderte eine Etage nach oben, „Mr. Magick.“ Mehr oder minder leise darüber schimpfend, dass nicht einmal mehr auf geheimnisvolle Dei ex machina Verlass sei, schleifte sie Tom hinter sich her. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)