TITANIC von YukiKano ================================================================================ Kapitel 1: 10. April 1912 - Teil 1 ---------------------------------- Haruka wälzte sich unruhig im Bett, als der Wirt durch die Gänge ging und alle Titanic Passagiere mit seinem lauten Geschrei weckte. Haruka hatte eigentlich gehofft zu verschlafen und so die Abfahrt zu verpassen. Aber der Wirt würde wohl nicht eher Ruhe geben, bis sie alle wach waren. Als hätte die White Star Line ihn dafür bezahlt. Das Bett knarrte, als Haruka sich schmatzend aufsetzte. Er sah die vielen gepackten kleinen und großen Koffer vor seinem abwertend an. Seine Mutter hatte sie für ihn packen lassen. Bestimmt waren sie deswegen vollgestopft mit allerlei Dingen, die Haruka in den nächsten zwei Wochen nicht annähernd gebrauchen konnte. Die Augen verdrehend schwang er die Beine aus dem Bett und suchte das Waschzimmer auf. Er ließ sich ein heißes Bad ein. Bevor er sich in den Frühstücksraum bewegen würde, brauchte er ein langes, entspannendes Bad. Direkt über der Wanne war ein kleines Fenster. Haruka sah durch die schmale Scheibe einen blauen, wolkenlosen Himmel. Na super - jetzt verhöhnte ihn auch noch das gute Wetter. Schlecht gelaunt tauchte Haruka unter. Wenn er könnte, würde er sich selbst ersaufen. Haruka blieb solange in der Wanne, bis das Wasser eiskalt war und er blaue Lippen bekam. Durch die, von der Feuchtigkeit aufgequollenen Dielen, stieg ein himmlischer Geruch von Kaffee und gebratenem Speck, der Haruka schließlich aus der Wanne lockte. Er trocknete sich mit einem saubereren Leinentuch ab und stieg in eine bequeme Hose aus leichtem Stoff. Den - von seiner Mutter - vorgesehenen Anzug würde er erst anziehen, wenn das Automobil vorfährt. Vielleicht fiel ihm bis dahin ja noch eine Möglichkeit ein, wie er sich mit seiner Fliege selbst erdrosseln konnte. Der Frühstücksraum des Gästehauses war gut besucht. Anhand der vornehmen Kleidung ließ sich erkennen, dass es sich fast ausnahmslos um Titanic Passagiere der 1. und 2. Klasse handelte. Und es schienen vorwiegend Leute zu sein, die nicht aus Southampton kamen. Denn als Haruka höflich grüßte, bekam er die Antwort in den verschiedensten Dialekten. Liverpool, Manchester und Yorkshire. Haruka setzte sich an seinen Tisch und alsbald stand ihm eine recht junge Bedienung gegenüber und reichte ihm die Frühstückskarte. Der Olympia-Sieger studierte kurz das Angebot und anschließend seine Bestellung auf. Das junge Fräulein bedankte sich und verschwand mit einem kleinen Knicks. Während Haruka wartete, warf er einen Blick durch das Fenster nach draußen. Gefühlt ganz Southampton war heute auf den Beinen und in Richtung Hafen unterwegs. Das Auslaufen der Titanic wollte sich schließlich niemand entgehen lassen. Haruka war schon beinahe neidisch. Er würde dem Schiff am liebsten auch vom Pier aus hinterherwinken - und nicht dem Pier von der Reling aus. Doch bevor er seinen trüben Gedanken weiter nachhängen konnte, kam das Fräulein mit seiner Bestellung zurück. Sogleich wandte er den Blick von der Straße ab und konzentrierte sich auf seinen Kaffee und die richtige Dosierung der Milch. ∞ Charles Hall ist ein großer, bulliger Mann, mit kurzem Hals und einem Kopf, der so rund ist, wie ein Ball. Asahi war zwei Stunden vor der Fabrik auf und ab gelaufen, bevor er sich hinein getraut hatte. Mister Hall war aufgebracht, als Asahi sein Büro betrat. Zum einen, weil er nicht pünktlich an seinem Arbeitsplatz war und zum anderen, weil Asahi ihm mit zittriger Hand einen Brief entgegenhielt. »Was soll das sein?«, blaffte Mister Hall wütend und riss seinem Arbeiter das Schreiben aus der Hand. »Meine Kündigung - zu heute«, antwortete Asahi ohne seinen Chef anzusehen. Er hatte Angst, Mister Hall hatte es doch irgendwie geschafft, die Fähigkeit, mit Blicken töten zu können, zu entwickeln. Mister Hall las mit angestrengtem Blick die wenigen Zeilen. Schon bevor er das letzte Wort gelesen hatte, begann er lauthals zu lachen. »Hast wohl was Besseres gefunden? Willst Schuhe putzen oder wie?« - Mister Hall schleuderte Asahi die Kündigung entgegen - »Sieh zu, dass du Land gewinnst, bevor ich die Hunde auf dich hetze! Und lass dich hier bloß nie wieder blicken!« Asahi sammelte überflüssigerweise seinen Brief vom Boden auf und hastete nach einer leisen Verabschiedung aus dem Büro und der Fabrik. Kaum, dass er draußen war, warf er jubelnd die Arme in die Luft und lenkte seinen Blick in Richtung Titanic. »Jetzt steht nichts mehr zwischen uns und du kannst mich mitnehmen!«, schrie er in Richtung des Dampfers, als könnte dieser ihn verstehen. Hinter ihm räusperte sich jemand und Asahi drehte sich erschrocken um. Makoto stand dort, in seinem besten Hemd und seiner besten Hose. Die Ballonmütze, die Asahi ihm einst zum Geburtstag geschenkt hatte, hing ihm schief auf dem Kopf. »Ich hoffe doch sehr, dass dein Angebot von gestern noch steht und du mich auch mitnimmst?« - Makoto klang ganz eingeschüchtert und wurde puterrot um die Nasenspitze. Asahi ließ in Sekundenschnelle seinen Seesack fallen und fiel seinem besten Freund um den Hals. »Ich könnte dich glatt küssen, vor Freude«, murmelte Asahi an Makotos Ohr und drückte ihn noch etwas fester an sich. Makoto machte sich sanft von seinem Freund los. »Eine Hürde habe ich aber noch vor mir! Und Mister Hall wird bestimmt nicht erfreut sein, wenn seine einzigen Kohle Schaufler kündigen«, sagte Makoto und klang dabei schon beinahe etwas zu ängstlich. Asahi erschauderte, wenn er an das zurück dachte, was er gerade erlebt hatte. »Leg ihm am besten einfach nur den Brief auf den Tisch und verschwinde dann - mir wollte er die Hunde auf den Hals hetzen!«, erzählte Asahi und sah sich im selben Moment panisch um, als wäre der Wahrhaftige hinter ihm her. »Dann wünsch mir Glück mein Freund!«, antwortete Makoto erhaben. Er fischte seine Kündigung aus seiner Tasche und trat dann auf die breite Eisentür der Fabrik zu. Er schluckte schwer, als er den Griff packte. Drei Jahre seines Lebens hatte er hier Tag ein, Tag aus, geschuftet und geackert. Alles nur, dass seine Familie ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen auf dem Tisch hatte, und dafür, dass Ren und Ran weiterhin die Schule besuchen konnten. Mister Hall hatte nie sonderlich gut bezahlt und die Arbeitszeiten waren grauenvoll, aber Mister Hall hatte sie nie unter Druck gesetzt oder ihnen mit einer Kündigung gedroht - das musste man ihm zu Gute halten, auch wenn er sonst ein grausamer Mensch war. Es erschien Makoto nicht richtig, seinem Chef so vor den Kopf zu stoßen, nur weil sie unbedingt auf dieses Schiff wollten. Aber er hatte sich dafür entschieden - einen Rückzieher konnte er jetzt nicht mehr machen. Also straffte er die Schultern und öffnete die Tür. Asahi zog seinen Seesack über den Boden zu Makotos Tasche, zündete sich eine Zigarette an und ließ sich auf seine Tasche fallen. Während er wartete und rauchte, genoss er die Wärme und das Licht der Aprilsonne und starrte ein paar Arbeiter aus Halls Brass Factory an, die gerade eine Raucherpause machten. Asahi grinste zufrieden vor sich hin. Er bereute es nicht, sich für die Titanic und gegen diesen Job entschieden zu haben. Als Asahi nur ein paar Züge später die Zigarette auf dem Boden austrat, trat Makoto schon wieder aus der Fabrik heraus. Ein panischer Ausdruck lag in seinen Augen. »Lauf! LAUF!«, schrie er Asahi zu. Bevor er fragen konnte warum, hörte er ein dunkles Knurren. Asahi schluckte schwer. Titan und Brutus - der Rottweiler und die englische Bulldogge von Mister Hall. »Oh Scheiße!« - Asahi schnappte hektisch nach dem Riemen seines Seesacks. Strauchelnd sprang er auf und rannte in Richtung Hafen davon. Makoto auf Schritt und Tritt hinter ihm. Und die Köter leider auch! Die Freunde schlugen Haken, rannten Zickzack, wichen anderen Fabrikarbeitern aus. Die Schornsteine der Titanic blitzten immer wieder zwischen den Hallen auf und dienten Asahi als optimaler Wegweiser. »Wir müssen es nur bis zum Dock schaffen, dann können wir im Getümmel verschwinden!«, schrie Asahi über seine Schulter hinweg, in der Hoffnung es würde bei Makoto ankommen. »Ich hoffe da hast du recht!«, antwortete Makoto in derselben Lautstärke. Das Knurren und Bellen von Titan und Brutus war immer noch direkt hinter ihnen. Das dicht bebaute Gewerbegebiet endete abrupt an einer breiten kopfsteingepflasterten Promenade, auf der die Menschen eng aneinander gedrängt standen und auf das Auslaufen der Titanic warteten. Asahi zog während des Rennens die Fahrkarten - welche er heute in aller Früh bei der Rederei gekauft hatte - aus der Jackentasche und hielt sie hoch in die Luft. Unsanft bahnte er sich seinen Weg durch die Schaulustigen und schwenkte die Karten über seinem Kopf hin und her. »Lasst uns durch!«, rief er laut. »Wir sind Passagiere und müssen zum Schiffsarzt!« Makoto hielt sich an Asahis Jacke fest und hangelte sich so gemeinsam mit ihm durch die Menschenmassen. Nervös warf er einen Blick nach hinten, weil er befürchtete, dass die beiden Köter immer noch hinter ihnen her waren. Doch Brutus und Titan blieben ganz brav hinter den Schaulustigen stehen und fletschten kampfbereit die Zähne. Zu Schade, dass sie heute nicht mehr die Gelegenheit dazu bekommen würden, Asahi und Makoto zu zerfleischen. Beruhigt wandte Makoto den Blick wieder nach vorne. Asahi blieb abrupt stehen und Makoto knallte gegen ihn, doch davon nahm der Rothaarige gar keine Notiz. Seine Aufmerksamkeit galt einzig und alleine einer Sache: der RMS Titanic. Sie wartete schon seit zwei Wochen hier im Hafen auf Ihre Abfahrt, aber Asahi war dem Schiff noch nie so nah, wie jetzt im Moment. Aufgeregt zeigte Asahi auf den Atlantik-Dampfer. »Siehst du das? Wie groß sie ist und wie herrlich sie aussieht. Sie ist wirklich eine Schönheit - die Königin der Meere!«, rief Asahi begeistert und zupfte aufgeregt an Makotos Jackenärmel. Makoto verdrehte in einer Mischung aus Leiden und Belustigung die Augen. Asahi würde das Schiff vermutlich heiraten, wenn er könnte, dachte er beiläufig. ∞ Rin starte gelangweilt aus dem Fenster der Kutsche, welche ihn und seine Familie zur Titanic brachte. Er war schlecht gelaunt, weil seine Mutter ihn heute in Herrgottsfrühe aus dem Bett geholt hatte. Und Rin war wahrlich kein Morgenmensch. Kisumi, der neben ihm saß, war hingegen ganz euphorisch. Wahrscheinlich hatte der Spinner gar kein Auge zugemacht, in der vergangenen Nacht, dachte Rin und blies geräuschvoll die Luft aus seinen Lungen. Aufgeregt zeigte Kisumi auf zwei junge Männer, die in den Massen völlig verloren wirkten. »Schau dir mal den an«, kicherte Kisumi belustigt. Er stieß Rin seinen Ellenbogen in die Seite, um ihn auf einen Jungen mit feuerroten Haaren aufmerksam zu machen. Dieser zeigte auf die Titanic, wie ein Kind zu Weihnachten auf sein Geschenk zeigte. »Also wirklich Kisumi«, tadelte Rins Mutter kopfschüttelnd. »Für das einfache Volk gibt es beinahe keine größere Sensation als so ein Schiff. Und wenn sie genug Geld haben, um sich eine Fahrkarte zu kaufen, dann wird das die Reise ihres Lebens sein. Dafür sollte man sie nicht auslachen!« Kisumi errötete peinlich berührt und sank ganz tief in sein Sitzpolster hinein. Rin drehte sich wieder weg und sah aus dem Fenster zu seiner Rechten. Die Menschen auf dieser Seite der Kutsche machten nicht so einen Aufriss um das Schiff. Sie tuschelten untereinander in kleinen Grüppchen. Die meisten von ihnen waren Arbeiter aus den umliegenden Fabriken, die in ihrer Mittagspause noch ein letztes Mal die Titanic bestaunen wollten, bevor diese aus dem Hafen auslief. »Ich freue mich schon auf die vielen neuen Bekanntschaften. Und wer weiß, vielleicht findet ihr auf diesem Schiff ja die Liebe eures Lebens!«, schwärmte Rins Mutter und klatschte begeistert in die Hände. Kisumi und Rin verzogen beinahe gleichzeitig das Gesicht. »Also wenn ich ein junges Mädchen wäre, dann würde ich mich nicht in einen dieser Trampel verlieben! Auf der Titanic rennen mindestens 200 bessere Junggesellen herum!«, sagte Rins Vater grinsend. »Pass lieber Mal auf, dass ich mir keinen von denen angle, du Tölpel!«, entgegnete Rins Mutter pikiert. Eins ihrer Kinder zu beleidigen, war beinahe so schlimm, wie den König zu verleugnen. »Wie froh du sein musst Mutter, dass wenigstens Gou in absehbarer Zeit gedenkt, dir Enkelkinder zu schenken!«, stichelte Rin und grinste frech. Ihn störte der Kommentar seines Vaters nicht im geringsten. Sich eine Frau zu suchen, gehörte im Moment noch nicht zu seinen großen Zielen. Er wollte Spaß haben und das Leben genießen - so lange wie möglich! »Ich bin eher froh, wenigstens ein normales Kind meins nennen zu können. Bei dir habe ich die Hoffnung schon vor langer Zeit aufgegeben!«, erwiderte Rins Mutter frech. Rin verzog beleidigt das Gesicht und Kisumi und Mister Matsuoka brachen in schallendes Gelächter aus. »Ich hoffe, ihr beide habt euch nicht während der gesamten Überfahrt in den Haaren! Sonst könnt ihr in euren Kabinen schmoren!«, mahnte Rins Vater mit angehobenen Mundwinkeln. »Sei du mal ganz still!« - Rins Mutter plusterte sich auf wie eine kleine Kohlmeise - »Du bist doch daran schuld, dass er so geworden ist. Du, mit deinen Trunkenbolden und deinen Kneipen-Ausflügen!« Miss Matsuoka klang so, als hätte ihr Mann sie persönlich beleidigt. Sie nahm es ihm nicht übel, dass er ihren Sohn in einen Troll, der partout nicht alt werden wollte, verwandelt hatte. Nach außen hin musste sie immer so tun, als wäre sie mit dem Lebensstil ihres Sohnes nicht einverstanden. Aber eigentlich fand sie seine kindliche Einstellung erfrischend. Rin brachte sie zu jeder Gelegenheit zum Lächeln und erheiterte sie mit seinen frechen Bemerkungen. Nicht selten fing sich Miss Matsuoka komische Blicke ein, weil ihr 18-jähriger Sohn noch nicht verheiratet war, aber das störte sie nur an den wenigstens Tagen. Rin war eben anders, aber darauf war Miss Matsuoka stolz. Die Kutsche kam ruckartig zum Stehen und ein Mitarbeiter der White Star Line trat an sie heran. »Meine Herren, die Dame; bis Sie an Bord gehen, bin ich für Sie zuständig. Ich werde Sie nun zum Schiffsarzt bringen. Während der Untersuchung wird ihr Gepäck verladen, damit bei ihrer Ankunft auf der Titanic alles für sie bereitsteht«, sagte der junge Mann höflich. Rins Vater lächelte und nickte, dann öffnete er die Tür und stieg aus der Kutsche. Er reichte seiner Frau die Hand. Sie raffte schnell den Rock ihres Kleides zusammen und folgte ihrem Mann. Bevor sie sich jedoch von der Kutsche entfernte, drehte sie sich noch einmal zu ihrem Sohn und dem Bruder ihres Schwiegersohns um. Beide fixierte sie mit einem ernsten Blick. »Ihr beide habt eine sehr lockere Erziehung genossen und könnt dafür dankbar sein. Aber ich bitte euch inständig: Benehmt euch auf diesem Schiff bitte, als wärt ihr nach englischer Etikette erzogen. Ich möchte nicht schon vor meiner Ankunft in New York dort in Verruf geraten!« Rin und Kisumi nickten ehrfürchtig. Vor allem Kisumi hatte recht schnell gelernt, dass man sich mit Miss Matsuoka lieber nicht anlegte. Wenn die Frau sauer wurde, war sie gruseliger als ein Friedhof bei Vollmond und grausamer als der Teufel selbst. Als Rin die Schlange des Schiffsarztes sah, seufzte er verzweifelt und wünschte, er könnte mit seiner Schwester sofort die Plätze tauschen. Denn Gou verbrachte gerade ihre Flitterwochen im schottischen Hochland. Das war groß und weitläufig. Perfekt um einander aus dem Weg zu gehen und mit Sicherheit spannender als auf der Titanic. Kisumi stöhnte genervt. »Wir legen niemals pünktlich um 12 Uhr ab, wenn ich diese Massen sehe!« »Man könnte meinen, du wärst der Sprössling von Miss Prick, du Meckerziege«, stichelte Rin grinsend. Miss Prick ist Rins Nachbarin. Eine griesgrämige alte Frau, die ständig etwas zu meckern hat. Es gab vermutlich nichts und niemand auf dieser Welt, der sie zufriedenstellen konnte. Miss Prick würde vermutlich immer und ewig etwas auszusetzen haben - selbst am Himmel und Gott höchstpersönlich. Die Kutsche fuhr davon, nachdem Rin und Kisumi ausgestiegen waren, und hielt erst am anderen Ende des Piers wieder an. Dort wurden alle Koffer und Taschen gekennzeichnet und anschließend verladen. Rin und Kisumi sahen dem Schiffspersonal eine ganze Weile zu, ehe Rin schwer seufzte und den Blick abwandte. »Los komm, wir sollten uns auch beim Schiffsarzt einreihen!«, brummte er und zupfte barsch an Kisumis Hemdärmel. Kisumi verzog das Gesicht. »Warum bist du denn so schlecht gelaunt? Gestern war doch noch alles in Ordnung?« »Ich habe das Gefühl, irgendetwas stimmt mit diesem Schiff nicht!«, antwortete Rin skeptisch und warf der Titanic einen zweifelnden Blick zu. »Kein Schiff ist unsinkbar!« Rin ging weiter, Kisumi blieb stehen. Er hatte eine Gänsehaut am ganzen Körper und ihm war schlagartig speiübel. Hatte Rin etwa eine böse Vorahnung oder wollte er Kisumi bloß Angst einjagen? ∞ Nagisa hantierte gerade mit einem Schrankkoffer, der größer war, als er selbst, als Rei aus dem Restaurant spazierte und ihn entdeckte. »Nagisa, guten Morgen - kann man Ihnen zur Hand gehen?« Nagisa erschrak sich so sehr, dass ihm beinahe der Koffer auf den Fuß fiel. Nervös lächelnd sah er Rei an und kratzte sich am Hinterkopf. Er war zwar ein Matrose, aber während seiner Ausbildungszeit beim Militär hatte er es nie mit so großen Gepäckstücken alleine zu tun gehabt. Ob man es glaubte oder nicht, aber der General hatte seine kleine Körpergröße immer berücksichtigt. Den Menschen hier war das allerdings egal und Nagisas Stolz ließ es nicht zu, dass er zu Offizier Moody ging und nach einer einfacheren Aufgabe verlangte. Er würde diesen Schrankkoffer dorthin bringen, wo er hingehörte - ohne Wenn und Aber. Selbst, wenn er sich den Arm dabei auskugeln sollte. »Nein, es geht schon - die Besitzerin dieses Koffers hat wohl versucht ihren gesamten Kleiderschrank einzupacken«, witzelte Nagisa und bemühte sich um ein breites Lächeln. »Na dann will ich Sie nicht weiter stören - man läuft sich sicher wieder über den Weg!« Rei wandte sich bereits zum Gehen um, als Nagisa über den Koffer hinweg nach seinem Ärmel griff. »Warten Sie - ähm«, begann Nagisa zögerlich, »ich habe heute Abend keinen Dienst. Wollen wir vielleicht heute Abend einen Spaziergang über das Deck machen?« »Sehr gerne - mein Dienst endet gegen 11 Uhr; holen Sie mich ab?« »Aber selbstverständlich Mister Ryugazaki!« Rei nickte zum Abschied und verschwand dann in den langen Gängen des Decks. Nagisa seufzte verträumt. Dann hievte er den Schrankkoffer, ermutigt durch die Begegnung mit Rei, in die Höhe und brachte ihn in die Suite. Als er anschließend wieder an Deck trat, entdeckte er einen Angestellten der White Star Line, der an der Reling lehnte und die Menschenmenge ansah. Er blies den Rauch seiner Zigarette in die Luft und nahm, ohne einzuatmen den nächsten Zug. Nagisa rauchte nicht, aber er war von Natur aus ein geselliger Mensch. Deswegen ging er zu dem Mitarbeiter, der so alleine ein wenig verloren wirkte, und fragte ihn nach einer Zigarette. Der Brillenträger blinzelte überrascht, dann reichte er Nagisa aber wortlos die Zigarettenschachtel. Sie war zerknittert und zerknickt, genauso wie der Stängel, den Nagisa sich nahm. Daraus schloss er, dass sein Gegenüber das Rauchen nicht sehr ernst nahm. Nagisa lieh sich auch das Feuerzeug des Fremden und zündete mit zittrigen Fingern die Kippe an. Er hatte schon Mal geraucht. Während seiner Zeit beim Militär, als er abends gemeinsam mit seinen Kollegen in einen der vielen Pubs gewesen war. Sie hatten ihm die Schachtel unter die Nase gehalten und kein "nein" geduldet. »Nur rauchende Männer sind richtige Männer«, hatten sie gesagt und Nagisa aufmunternd auf die Schulter geklopft. Und Nagisa wollte nie mehr, dass jemand an seiner Männlichkeit zweifelte. Das hatte er in seiner Kindheit und frühsten Jugend schon durchgemacht und nur deswegen war er überhaupt zum Militär gegangen. Der Fremde steckte sein Feuerzeug in die Tasche seines Jacketts und wandte sich wieder der Menschenmenge auf dem Pier zu. »Ziemlich viele Menschen - wird bestimmt eine Heiden Arbeit, die alle zufrieden zu stellen!«, sagte der Unbekannte Nagisa lehnte sich auch an die Reling. »Deswegen bin ich Matrose geworden. Keine Passagiere die man rund um die Uhr bedienen muss und keine launischen Chefs, die einem ständig sagen, wie man was zu machen hat!«, sagte er, wollte dabei aber keineswegs schnippisch oder hochnäsig klingen. Doch der Fremde fasstet es dennoch falsch auf. Er schnaubte verächtlich und schnipste den Zigarettenstummel achtlos ins Meer. »Wer die Wahl hatte, kann sich glücklich schätzen – einen schönen Tag noch!«, sagte der Fremde und verschwand unter Deck. Nagisa fühlte sich schlecht und nahm sich vor, sich zu entschuldigen, sobald er den Fremden das nächste Mal über den Weg laufen sollte. Doch bevor er dazu kam, weiter über dieses seltsame Gespräch nachzudenken, verlangte jemand lautstark nach seiner Anwesenheit. Nagisa schnipste die beinahe verqualmte Kippe ebenfalls achtlos über die Reling und verschwand sofort unter Deck. ∞ Seine Mutter hatte extra ein Dienstmädchen in seine Unterkunft geschickt, das darauf achten sollte, dass er sich ordentlich einkleidete. Nur deswegen trat er bei fast 25 Grad Celsius in dickem Mantel und mit akkurat sitzendem Zylinder auf die Straße hinaus. Und er schaute nicht schlecht, als vor dem Automobil, dass ihn zur Titanic bringen sollte, sein Trainer Nao auf ihn wartete. »Was machst du denn hier?«, fragte Haruka überrascht. »Willst du mir noch einen Übungsplan aushändigen, bevor ich abfahre?« Nao gluckste verlegen. »Der Vertreter von Olympia behielt es für gut, dich auch während deiner Reise an deine täglichen Konditionsübungen zu erinnern. Außerdem verfügt die Titanic über ein Schwimmbecken. Es wird nicht so groß sein, wie das Olympia Becken, aber für ein bisschen Wassergymnastik wird es hoffentlich reichen.« Haruka verzog das Gesicht. »Ich dachte, ich könnte auf dem Schiff mal ein wenig zur Ruhe kommen und etwas entspannen!« »Das sollst du ja auch. Deswegen werde ich dich auch begleiten, damit du dich nicht überanstrengst!« Haruka konnte kaum glauben, was er da hörte. »Wie? Seit wann weißt du, dass du auf dieses Schiff steigen wirst? Du hättest mich ruhig vorwarnen können!« Nao lächelte verlegen und kratzte sich am Kinn. »Erst seit gestern. Der Vertreter von Olympia stand gestern plötzlich ich meinem Büro und legte mir eine Fahrkarte für die zweite Klasse auf den Schreibtisch. Ich bin mit dem Nachtzug hergekommen und erst vor einer Stunde in Southampton eingetroffen. Die Zeit hat leider nicht gereicht, um dich vorher mit einem Brief zu informieren!«, erklärte sich Nao verlegen. »Das ist zwar nicht die feine englische Art, aber nicht weiter wichtig. Du rettest mir das Leben mit deiner Anwesenheit. Andernfalls hätte ich mich vermutlich bereits heute Abend von der Reling gestürzt!«, brummte Haruka und verdrehte beim Gedanken an seine Mutter und seine Verlobte die Augen. Nao, dem die Abneigungen seines Schützlings bekannt waren, schmunzelte geräuschlos. Er selbst war ein Waisenkind aus London, ohne nennenswerte Abstammungen. Viele, viele Jahre seiner Kindheit hatte er auf der Straße verbracht, zusammen mit anderen Straßenkindern. Dann wurde er von der Polizei verhaftet, als er gerade ein paar Äpfel stehlen wollte und in ein Waisenhaus gesteckt. Dort lebte er auf engstem Raum mit fünf anderen Jungen zusammen. Naos einziges Ziel war, auszubrechen und zu verschwinden. Er wollte London für immer den Rücken kehren. Doch dann kam Andrew Mc Millan ins Waisenhaus. Er war zur Hälfte Ire, hatte leuchtend rote Haare und smaragdgrüne Augen. Er war ein Tölpel. Vorlaut, bäuerlich, ohne Manieren. Aber er war auch mutig, entschlossen und manchmal wirkte er schon sehr erwachsen, dafür das er erst zwölf Jahre alt war. Nao mochte Andrew nicht. Aber eigentlich mochte Nao niemandem im Waisenhaus, deswegen war es nicht weiter verwunderlich. Eines Tages, als Nao dreizehn war und von einem Bad am See zurückkehrte, bauten sich plötzlich drei große, schmächtige Jungen vor ihm auf. Nao kannte sie aus der Schule. Dort schikanierten und tyrannisierten sie ständig alle anderen – ihn eingeschlossen. Der größte und dickste von ihnen, hieß William Devonport. Und er war auch der schlimmste von ihnen und an diesem Tag anscheinend besonders schlecht drauf. Nao stellte sich schon auf eine besonders schlimme Tracht Prügel ein, als plötzlich Andrew Mc Millan vor ihn sprang und sich vorlaut wie eh und je mit William Devonport anlegte. Am Ende verprügelten William und seine Freunde Andrew und Nao gemeinsam. Und als die beiden aus den Nasen blutend, mit aufgeschürften Knien im Gras lagen, kam Nao zum ersten Mal der Gedanke, dass Andrew Mc Millan vielleicht doch nicht ganz so übel war. Andrew wurde mit der Zeit sogar Naos bester Freund und steckte ihn mit seiner Begeisterung für Wasser und das Schwimmen an. Und als sie beide vierzehn waren, nahmen sie sich vor so lange und so hart zu trainieren, bis sie beide in Olympia schwimmen durften. Das besiegelten sie sogar auf einem Blatt Papier mit einem blutigen Fingerabdruck, der als Unterschrift dienen sollte. Doch kurz bevor sie ihr Ziel erreicht hatten, kam alles ganz anders. Es war ein Tag im Herbst, den die beiden wie auch sonst am See verbrachten. Sie schwammen von einer Uferseite zur anderen und kehrten dann wieder um. Nao lag, wie so oft, meilenweit vorne. Er kam an der anderen Seite an, riss jubelnd die Arme in die Luft und freute sich wie ein kleines Kind an Weihnachten. Doch als er sich umdrehte, um Andrew schadenfrohe Sprüche an den Kopf zu werfen, war sein bester Freund nirgendwo zu sehen. Und ein paar Tage später wurde sein lebloser Körper ans Ufer geschwemmt. Der Arzt, der die Obduktion vornahm, kam zu dem Schluss, dass Andrew vermutlich einen Krampf hatte und nicht mehr in der Lage dazu war, sich über Wasser zu halten. Für Nao brach eine Welt zusammen und er machte sich für eine schrecklich lange Zeit die größten Vorwürfe. Hätte er sich nur öfter nach Andrew umgedreht, hätte er ihn retten können. Dann wäre er heute noch am Leben. Nao fiel nach Andrews Tod in ein tiefes Loch. Er verlor den Antrieb, hatte plötzlich kein Ziel mehr vor Augen. Als ihm nach einer Bindehautentzündung das Schwimmen untersagt wurde, wusste er gar nichts mehr mit sich anzufangen. Sein Leben bis zum Ende auf der Straße zu verbringen erschien ihm als beste Lösung und war gleichzeitig der einzige Ausweg. Ein paar Monate später wurde in sein Zimmer ein neunjähriger Junge einquartiert, der Nao stark an Andrew erinnerte, obwohl Sie sich gar nicht ähnlich sahen. Doch der kleine Junge – James Higgle – war genauso vorlaut und tölpelhaft. Und er war genauso begeistert vom Wasser, obwohl er gar nicht schwimmen konnte. James war schließlich der Grund dafür, dass Nao beschloss eine Laufbahn als Schwimmlehrer einzuschlagen, wenn er schon nicht selbst Schwimmen konnte und er träumte davon, als Trainer bei Olympia Karriere zu machen. Es klappte, es klappte reibungslos und Nao war sich sicher, dass Andrew seine Hand vom Himmel aus schützend über ihn legte. Heute, war Nao nicht nur in Olympia Kreisen angesehen. Viele nationale Schwimmvereine rissen sich um ihn. Doch Naos Herz schlug für Olympia – und auch ein kleines bisschen für Haruka, den er nicht einfach sich selbst überlassen konnte. »Hast du noch Gepäck auf deinem Zimmer?«, fragte Nao und öffnete gleichzeitig die Tür des Wagens. Haruka warf dem Dienstmädchen einen strengen Blick zu. Sie raffte schließlich den Rock ihres Kleides und verschwand in der Pension. »Ich bin auf dem Weg hierher am Hafen vorbeigefahren? Dort sind so viele Menschen, es ist schon beinahe etwas beängstigend«, tat Nao ängstlich kund. Haruka klopfte seinem Trainer aufmunternd auf die Schulter. »Bis wir da sind, sind die bestimmt schon alle wieder weg«, sagte er. Nao mochte keine großen Ansammlungen von Menschen. Selbst bei offiziellen Turnieren begleitete er Haruka selten in die Schwimmhalle. Er konnte sich dort eh schlecht konzentrieren, wegen dem beißenden, chemischen Geruch und den lauten Zuschauern. Da musste er nicht noch eine Ohnmacht riskieren. Das Dienstmädchen kam mit Harukas Koffern wieder, die von zwei Pagen getragen wurden. »Ich hoffe, du hast nicht allzu viel Gepäck dabei. Sonst könnte das Ganze ein wenig knapp werden«, sagte Haruka und verfluchte innerlich seine Mutter. Nao lächelte sanftmütig und stieß mit dem Fuß eine Tasche zu seiner Rechten an. »Da ist alles drinnen, was ich brauchen werde!« Haruka wunderte sich nicht darüber. Nao war schon immer jemand gewesen, der mit wenig Gepäck verreiste. »Laden Sie die Koffer auf, damit die Herren aufbrechen können!«, herrschte das Dienstmädchen die Pagen an und scheuchte sie mit wehenden Röcken in Richtung Wagen davon. Nao warf Haruka einen vielsagenden Blick zu, dann stiegen sie in den Wagen und nannten dem Fahrer die Route zum Pier. ∞ Für die Untersuchung durch den Schiffsarzt wurde eigens eine leerstehende Fabrikhalle von der White Star Line angemietet. Es gab nur eine Schlange, in der die Passagiere der 2. und 3. Klasse anstanden. Die Passagiere der 1. Klasse hatten bereits in der letzten Woche eine Bescheinigung von ihrem Leibarzt vorgelegt. Asahi und Makoto standen soweit hinten, dass die Tür von ihnen aus die Größe eines Mauselochs hatte. Asahi zappelte herum und zog damit den Blick aller Anwesenden Wachleute auf sich. Nervös zupfte Makoto an seinem Ärmel und zog ihn zurück in die Reihe. »Kannst du dich mal zusammenreißen? Oder willst du verhaftet werden und der Titanic vom Pier aus hinterher winken?«, zischte Makoto und trat seinem besten Freund auf den Fuß, damit dieser endlich aufhörte zu zappeln wie ein Zitteraal. Asahi sah seinen Freund daraufhin böse an. »Bist du von Sinnen?«, keifte er. »Du hättest mir den Fuß brechen können!« »Dann zappelst du wenigstens nicht mehr!«, erwiderte Makoto unbeeindruckt. Hinter den beiden war plötzlich ein verhaltendes Lachen zu hören. Asahis Ärger auf Makoto war binnen weniger Sekunden verraucht. Er drehte sich sprunghaft um und funkelte die Person hinter sich böse an. Ein schlanker junger Mann grinste spöttisch zurück. »Was gibt es zu lachen – Sir?«, fragte Asahi verhalten. Asahi hasste die Klassengesellschaft. Er kam nicht oft mit Menschen aus anderen Kreisen in Berührung, aber wenn es sich nicht vermeiden ließ, zeigte er jedem wie wenig er sich um höfliche Floskeln und Etikette scherte. Makoto, der die meiste Zeit mit ihm verbrachte, war das immer besonders peinlich. Der schlanke junge Mann stemmte kampflustig die Hände in die Hüften und funkelte Asahi nun kampflustig an. »Dein Benehmen ist tadelhaft! Hat man dir keine Manieren beigebracht?«, entgegnete der junge Fremde herausfordernd. Makoto musterte ihn aufmerksam. Kleidung und Haltung entsprachen zweifelsohne einem Mann aus höheren Gesellschaftsschichten; nur die Haare waren ein wenig zu unordentlich für einen waschechten Gentleman. Der atypische Zylinder fehlte auch, genauso wie der Gehstock. Irgendwie wirkte der Mann unvollständig, beschloss Makoto. »Mir wurden anscheinend mehr Manieren beigebracht, als Ihnen«, schnaubte Asahi aufgebracht. »Immerhin besitze ich den Anstand fremde Menschen zu Siezen. Und ich lache auch nicht lauthals über sie!« Der junge Mann mit den zerzausten Haaren wollte noch etwas zu Asahi sagen, doch er wurde von einem weiteren jungen Mann rechtzeitig davon abgehalten. Makoto sah einen Anzug, Ausgehschuhe und sogar einen Zylinder. Ein Gentleman wie er im Buche steht! Makoto war beeindruckt. »Kisumi«, mahnte der zweite Fremde, »wenn meine Mutter merkt, dass du dich schon jetzt mit anderen Passagieren anlegst, wird sie dir die Überfahrt zweifelsohne zur Hölle machen!« Es war ein schneidender Tonfall, gepaart mit einem bösen Blick aus kastanienbraunen Augen. Der junge Mann mit den zerzausten Haaren – Kisumi – wandte sich von Asahi ab und dem jungen Gentleman zu. »Würdest du dich von so einem bäuerlichen Trampel in aller Öffentlichkeit beleidigen lassen?« Makoto brauchte Asahi nicht anzusehen, um zu wissen dass er Wut gleich explodieren würde und qualmte und dampfte, wie ein alter Heizkessel. Makoto musste sofort etwas unternehmen, wenn er keinen Skandal riskieren wollte. Also drängelte er sich zwischen Kisumi und Asahi. »Bitte entschuldigen Sie das Benehmen meines Freundes; er hat in der letzten Nacht vor Aufregung nur sehr wenig Schlaf bekommen!«, erklärte sich Makoto abgehetzt. »Ich denke es wäre eine angemessene Entschuldigung sie in der Schlange aufrücken zu lassen! Also bitte meine Herren; treten Sie vor uns ein!« Der Mann mit dem Zylinder und dem Anzug runzelte die Stirn. Makoto konnte sich denken warum. Schon als kleiner junge musste Makoto lernen, dass die Welt zweigeteilt war. Es gab Menschen, die in großen Häusern ganz alleine lebten, jeden Tag einen anderen, neuen Anzug trugen und den lieben langen Tag lang nur gepflegte Konversation führten. Seine Mutter arbeitete für solche Leute. Diese Menschen hatten genug Geld um den Buckingham Palace zu kaufen und brauchten sich um nichts zu sorgen. Makotos Familie hatte schon immer zur anderen Seite gehört, selbst als sein Vater noch am Leben gewesen war. Er hatte nie ein Zimmer nur für sich gehabt; in ganz schlechten Zeiten musste er sich sogar ein Bett mit seinen Eltern teilen. All seine Kleidung, waren abgelegte Stücke seines Vaters. Geflickte Hosen, die seine Mutter umgeschlagen und gekürzt hatte, damit sie Makoto passten. Wo er aufgewachsen war, ging man nicht immer höflich miteinander um. Es herrschte ein rauer Umgangston, dessen Vokabular aus vielen, unschönen Wörtern bestand. Makotos Mutter schnappte, bedingt durch ihre Arbeit, hin und wieder auf, wie die reichen Menschen miteinander sprachen und umgingen. Und sie bemühte sich stets darum, dass ihre Kinder genauso mit den Menschen umgingen, egal wer vor ihnen stand und sich gar nicht erst angewöhnten, wie ein großmäuliger Fischer aus Southampton zu sprechen. Trotzdem gelang es Makoto nicht immer, sich wie ein Mann aus gehobener Klasse auszudrücken. Also musste sich seine Ausdrucksweise für einen waschechten Gentleman befremdlich anhören. Der Mann mit dem Zylinder nahm seine Kopfbedeckung ab und sah Makoto direkt an. »Ich denke, da mein Freund mit der Unhöflichkeit begonnen hat, wäre es nur fair, ihre höfliche Wiedergutmachung auszuschlagen«, sagte er. »Bleiben Sie also auf ihrem Platz und ich werde dafür Sorge tragen, dass meine Begleitung ab sofort Ruhe bewahrt!« Makoto nickte zustimmend. Kisumi und Asahi funkelten sich gegenseitig noch einmal wütend an, dann zog der Mann mit dem Zylinder seine Begleitung hinfort. »Das blöde Grinsen würde ich ihm am liebsten aus dem Gesicht schlagen!«, knurrte Asahi, die Hände zu Fäusten geballt. Makotos Augenlid begann gefährlich zu zucken. Makoto wütend zu machen, bedarf harter Arbeit. Wer ihn zur Weißglut treiben wollte, musste eine ganze Menge Zeit mitbringen. Und es ab nur eine einzige Person auf der ganzen weiten Welt, die dieses Werk regelmäßig vollbrachte: Asahi! Wütend baute sich Makoto vor seinem besten Freund auf. »Du kannst froh sein, dass das Ganze so glimpflich ausgegangen ist! Es hat nicht mehr viel gefehlt und du hättest der Titanic hinterher winken können!«, schimpfte Makoto so leise, dass nur Asahi ihn hören konnte. Asahi setzte bereits dazu an, zu widersprechen aber ein wütender Blick von Makoto brachte ihn dazu, jedes Wort unausgesprochen hinunter zu schlucken. »Und wehe, ich höre von dir heute noch ein Wort bezogen auf diesen Gentleman. Ich schwöre beim Leben des Königs, ich leihe mir vom Schiffsarzt Nadel und Faden und nähe dir den Mund zu!«, fauchte Makoto und Asahi nickte daraufhin schwer schluckend. Kisumi lauschte angestrengt, während er von Rin ebenfalls eine geflüsterte Standpauke erhielt. Er bekam zu kichern, nachdem Makoto seine Ansprache beendet hatte. »Die beiden benehmen sich wie ein altes Ehepaar – findest du nicht?«, fragte Kisumi Rin lachend. Rin zog die Augenbrauen zusammen und sah seinen Schwager fragend an. »Höre ich da ein gewisses Maß an Eifersucht heraus?« Kisumi wurde rot bis zu den Ohren und wich Rins forschendem Blick mit einer ruckartigen Kopfbewegung aus. »Du spinnst! Vielleicht solltest du deine Ohren vom Schiffsarzt gleich mit untersuchen lassen; irgendetwas scheint damit nicht zu stimmen!«, entgegnete Kisumi gehässig und lenkte gleich darauf mit einer faden Bemerkung zu einem älteren Ehepaar vom Thema ab. ∞ Harukas Wagen hielt direkt vor der Gangway, die die Passagiere ins Innere der Titanic bringen sollte. Harukas Mutter, seine Verlobte und seine baldige Schwiegermutter standen vor einem Scheiterhaufen hohen Stapel aus Gepäckstücken. Seine Mutter herrschte eine Schar Stewards an, die Koffer schneller zu verladen, damit auch ja nichts vergessen werden würde. Mika hielt den Sonnenschirm fest umklammert und musterte die Titanic, als wäre das größte Schiff er Welt nichts weiter, als ein schaukelndes Ruderboot, dass bei der ersten Welle in Seenot geriet. »Verzeih, wenn ich auf eine Begegnung mit deiner Mutter verzichte. Aber ihre falschen Weisheiten über den Schwimmsport ertrage ich zu so früher Stunde noch nicht«, sagte Nao, kurz nachdem Haruka und er das Gefährt verlassen hatten. Haruka strich seinen Mantel glatt und richtete seinen Zylinder. »Also sehe ich dich erst an Deck wieder?« Nao nickte. »Ich habe noch eine Verabredung mit dem Schiffsarzt, aber danach stehe ich dir für den gesamten Zeitraum der Überfahrt uneingeschränkt zur Verfügung!« »Du wirst mich nie wieder mit so viel Elan und Leidenschaft trainieren sehen, wie in den kommenden Tagen!« »Als dein Trainer muss ich dir mitteilen, dass ich davon ausgehe, dass du immer voll Leidenschaft trainierst!«, neckte Nao seinen Schützling. »Ich wette, meine Strafe für diese unbedachte Äußerung bekomme ich während der Überfahrt?« »Du wirst untergehen«, prophezeite Nao spaßend, bevor er sich in der Schlange zum Schiffsarzt einreihte. Haruka zog seinen Schrankkoffer von der Ladefläche und ließ sich von einem Steward bei den restlichen Taschen helfen. Dann wandte er sich wenig begeistert seiner Mutter zu. Der Wagen fuhr davon und gab die Sicht auf ihn vollends frei. In diesem Moment bemerkte ihn auch Mika. Sie informierte ihre Mutter über Harukas Ankunft und setzte sich bereits ein paar Sekunden später in Bewegung, den Sonnenschirm munter hin und her drehend. »Guten Morgen mein Liebster; weißt du, was mir heute widerfahren ist?« - sie lächelte und hielt Haruka ihre behandschuhte Hand vor die Nase. Sie erwartete ihren standesgemäßen Handkuss. Widerwillig hauchte Haruka einen Kuss auf ihren Handrücken und sah sie anschließend auffordernd an. »Während wir auf die Verladung unseres Gepäcks warteten, trafen wir auf eine Schneiderin, die auch Hochzeits-Mode entwirft! Und sie hat mir versprochen eine Teezeit auf der Titanic mit mir zu verbringen – ist das nicht großartig?« Haruka stellten sich bei dem Gedanken sofort die Nackenhaare auf. Sie hatten ihre Verlobung erst vor ein paar wenigen Wochen verkündet. »Wollen wir nicht erst einmal diese Reise genießen, ohne einen Gedanken an eine Ehe zu verschwenden?«, fragte Haruka hoffnungsvoll. »Wir sollten uns erst einmal an einander gewöhnen, findest du nicht auch?« Einen kurzen Moment sah Mika so aus, als würde sie ernsthaft über das nachdenken, was Haruka gesagt hatte. Doch dann lächelte sie breit und vielleicht sogar ein wenig spöttisch. »Wir haben noch ganz viel Zeit!«, beteuerte Mika. »Vor Juli gebe ich dir das Ja-Wort nicht. Ich möchte garantiert schönes Wetter an meinem besonderen Tag haben!« Keine lange Galgenfrist und kaum Möglichkeiten einer Hochzeit doch noch zu entkommen. Haruka sollte sich mit dem Gedanken abfinden, ab diesem Jahr einen Ring am Finger zu tragen. Vielleicht war der Strick um den Hals ja doch bessere Alternative. Mika griff nach der Hand ihres Verlobten und zog ihn zu seiner Mutter. Mika mochte ihre zukünftige Schwiegermutter und eiferte ihr bereits nach so kurzer Zeit nach. Beim Nachmittagstee überschlug sie die Beine auf die selbe Art und Weise und spreizte den kleinen Finger in einem ähnlichen Winkel ab. Haruka konnte dafür sogar ein klein wenig Verständnis aufbringen. Seine Mutter war eine gestandene und imposante Frau. Sie hatte das Textilunternehmen ihres verstorbenen Mannes erfolgreich vor dem Bankrott gerettet und anschließend für Teuer Geld verkauft. Seine Mutter war streng, dass spiegelte sich in ihrem Aussehen und ihrer farblosen Kleidung wieder. Haruka hatte in seiner Kindheit nicht viel Liebe von ihr erfahren. Doch trotz ihrer beeindruckenden Leistung, hatten die Nanases nach dem Verkauf des Unternehmens eine ganze Menge Ansehen verloren. Mrs. Nanase besaß zwar noch ein großes Herrenhaus in Southampton und ein Ferienhaus an den Stränden von Yorkshire, aber ohne ihren Mann und dessen Firma hatte sie nichts mehr vorzuweisen bei der feinen Gesellschaft von Southampton. Dabei konnten ihr nicht mal die Goldmedaillen ihres Sohnes helfen. In Southampton waren die Nanases nun ein Niemand, was Haruka nicht im geringsten störte, seine Mutter aber beinahe auffraß. Während Haruka ein paar Monate in London lebte, traf seine Mutter bei einem Einkaufsbummel auf Mika und deren Mutter. Mrs. Nanase kannte ihre Gesichter aus der Tageszeitung. Mikas Vater hatte in jungen Jahren ein sehr ertragbringendes Kaufhaus gegründet. Im Juni 1911 nutzte er die Jungfernfahrt der Olympic und fuhr mit ihr bis nach New York, wo er vor wenigen Wochen ein weiteres Kaufhaus eröffnete. Diese Familie schwamm geradezu in Geld und Ansehen und Mister Miller kannte bestimmt ein paar Witwer, die Mrs. Nanase durch eine erneute Heirat zu ihrem alten Ansehen verhelfen konnten. So beschloss sie kurzerhand, dass Mika Miller die Frau ihres Sohnes werden sollte. Und Sie konnte von Glück reden, dass Mister Miller nichts gegen diese Verbindung einzuwenden hatte. Als Haruka ein paar Wochen später aus London nachhause zurückkehrte, saß Mika Miller im Salon seines Elternhauses und begrüßte ihnen mit den Worten »Hallo mein Liebster«. Haruka war noch nie zuvor so verwirrt gewesen und glaubte schon, sich im Haus geirrt zu haben. Dann kam seine Mutter hinzu, doch mehr als »Dieses Mädchen wirst du heiraten« bekam er nicht aus ihr heraus. Haruka würde am liebsten fortlaufen und seiner Mutter für immer den Rücken zukehren, doch dafür war sein Gesicht zu bekannt. Seine Mutter würde ihn überall auf der Welt finden und ihn erst in Frieden lassen, wenn er Mika Miller das Ja-Wort gegeben hatte. Der Strick wurde ihm immer sympathischer. »Guten Morgen Sohn« - seine Mutter musterte ihn streng - »Wer ist da gerade mit dir aus dem Wagen gestiegen?« »Nao Serizawa«, antwortete Haruka knapp und hievte seinen Schrankkoffer zu den anderen. »Und was will er hier? Dich verabschieden?«, hakte seine Mutter neugierig nach. Sie konnte Nao nicht leiden; dass konnte sie von Anfang an nicht. Sie tolerierte ihn nur notgedrungen, weil sie niemanden kannte, der gut genug war um ihren Sohn für Olympia zu trainieren. »Die Titanic hat ein Schwimmbecken, deswegen dachte der Vertreter von Olympia, es wäre von Vorteil für mein Training, wenn mein Coach mich begleitet«, antwortete Haruka in einem Tonfall, der das ganze als Lappalie abtat. Seiner Mutter hingegen entgleisten für einen kurzen Moment sämtliche Gesichtszüge. In sekundenschnelle hielt sie sich einen glitzernden Fächer vors Gesicht, damit niemand ihre grässlich zusammengepressten Lippen sah. »Diese Reise soll deiner Erholung dienlich sein; du kannst trainieren, wenn wir wieder zurückgekehrt sind!«, knurrte seine Mutter böswillig. »Ich und du sind nur auf diesem Schiff, damit du dein Ansehen zurückbekommst und jeder, der Rang und Namen hat sehen kann, dass dein Sohn Mika Miller heiratet. Und das hast du nur eingefädelt, damit du noch mehr Ruhm erhältst. Von Erholung kann hier nicht die Rede sein!«, giftete Haruka zurück und kehrte dann seiner Mutter den Rücken zu. ∞ Rei und Sosuke standen in der Küche und polierten die letzten Teller, damit bei Abfahrt alles seine Richtigkeit hatte und perfekt war. Die Passagiere sollten an Luigi Gattis Restaurant nichts auszusetzen haben. »Ich freue mich auf Amerika«, sagte Sosuke. Er fand die Stille schon seit geraumer Zeit unerträglich, doch bis gerade eben war ihm nichts eingefallen, was er hätte sagen können. Rei stellte einen sauberen Teller in den Schrank. Danach lächelte er Sosuke milde an. »Es wird dir gefallen«, sagte Rei. »Dort lebt man ganz anders! Ich weiß, weswegen dein Bruder nie zurückgekehrt ist. Ich bereue auch so manches mal, nach England gekommen zu sein!« »Aber wärst du es nicht, hättest du diesen übermütigen Ausguck nicht kennengelernt und könntest ihm jetzt auch keine schönen Augen machen!«, neckte Sosuke ihn. Rei bekam sofort puterrote Wangen und wandte beschämt den Blick ab. »Ja, vermutlich hast du recht.« Sosuke warf Rei einen verwirrten Seitenblick zu. »Habe ich etwa falsches gesagt?« »Nein, es ist nur – ich …«, Rei geriet ins stocken und seufzte schwer, »Ich werde nicht mehr nach England zurückkehren. Und Nagisa wird wegen mir nicht in Amerika bleiben. Ich will nicht … Nun ja – mein Herz an jemanden verschenken, den ich dann wieder verlassen muss!« Rei wirkte ehrlich bedrückt. »Du solltest den Ausguck deswegen aber nicht gänzlich ablehnen. Nehme dir während dieser Reise alles von ihm, was er bereit ist dir zu geben. Wenn du es dir versagst, aus Angst um dein Herz, bereust du es vielleicht irgendwann noch mehr, als deine Reise nach England!«, ermutigte Sosuke ihn. »Und vielleicht irrst du auch und Nagisa bleibt doch bei dir!« Rei bemühte sich um ein Lächeln. »Hast du überlegt Philosoph zu werden? Das würde gut zu dir passen!«, sagte Rei; klang dabei schon wieder viel fröhlicher. Während er auf eine Antwort wartete, zog er den vorvorletzten Stapel Teller zu sich heran. »Oh nein!«, stieß Sosuke pikiert aus. »Ich sehe mich nicht bei den Dichtern und Denkern.« »Und was willst du machen, wenn wir Amerika erreichen? Irgendwie musst du dich ja über Wasser halten?«, fragte Rei neugierig. Das Angebot, Sosuke eine Weile auf der Plantage seiner Eltern unterzubringen, stand nach wie vor. Aber Rei bezweifelte, dass Sosuke lange bei ihnen bleiben würde. Er wollte nach seinem Bruder suchen und Amerika war groß; viel, viel größer als England. Sosuke würde eine ganze Weile unterwegs sein. Rei würde ihn vermutlich nie wieder sehen, wenn er erst einmal losgezogen war. »Ich denke, ich werde mich mit der ein oder anderen Farmarbeit durchschlagen. Kühe füttern, Mist schaufeln, Schafe scheren. Das sollte genügen um durchs Land zu kommen.« - Sosuke zuckte mit den Schultern. Rei nickte und nahm den nächsten Teller vom Stapel. Plötzlich klopfte jemand von außen gegen den Personaleingang. Rei erschrak sich so sehr, dass ihm beinahe der teure Porzellanteller aus der Hand gefallen wäre. Das wäre ein Unglück gewesen. So ein Teller kostete bestimmt doppelt, wenn nicht sogar drei Mal so viel, als das, was er in einer Stunde verdiente. Sosuke und Rei warfen sich nun gegenseitig fragende Blicke zu. »Wer könnte das sein?«, flüsterte Rei ängstlich. Sosuke zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm plötzlich egal. »Soll ich die Tür öffnen?« - Rei sah unsicher zwischen ihr und Sosuke hin und her - »Was, wenn es Antonio ist? Er wird toben, wie ein Stier, wenn er sieht, dass wir noch nicht fertig sind!« »Dann lass ihn toben. Er wird uns zwei Stunden vor dem Ablegen wohl kaum von Bord werfen!« - Sosuke zuckte wieder mit den Schultern. Zögerlich ging Rei auf die Tür zu, drehte sich aber kurz davor wieder zu Sosuke um. »Willst du nicht lieber öffnen; Antonio respektiert dich«, sagte Rei unsicher. Sosuke zog die Augenbrauen hoch. Er glaubte nicht, dass Antonio ihn respektierte, eher dass er Angst vor ihm hatte. Antonio war der Chefkoch und ein persönlicher Freund von Luigi Gatti, dem Betreiber des Restaurants. Ähnlich wie alle Italiener war er ziemlich klein geraten und reichte Sosuke - dem Riesen - gerade Mal bis zur Brust. Er hatte einen Kugelrunden Bauch und ein speckiges Gesicht. Wenn er wütend wurde – was recht schnell passierte – lief er in einem Atemzug scharlachrot an und hatte große Ähnlichkeit mit einem Feuermelder. Rei hatte sich schon am ersten Tag unbeliebt bei ihm gemacht. Er hatte ihn aus versehen angerempelt; Antonio stieß gegen einen Suppentopf und kippte ihn um. Das Ausmaß der Sauerei konnte man sich kaum vorstellen. Nach diesem Zusammenstoß ließ Antonio durchblicken, dass er auch vom übrigen Küchenpersonal wenig hielt. Außer von Sosuke, weil der bedrohlich auf ihn wirkte und eben ein Riese war. Deswegen hatte Antonio in den vergangenen anderthalb Wochen noch nicht einmal die Stimme gegen Sosuke erhoben. Darauf war nicht nur Rei neidisch, sondern auch das restliche Küchenpersonal. Sosuke erbarmte sich schließlich. Er drückte Rei Teller und Poliertuch in die Hand – öffnete anschließend die Tür. Doch vor ihr wartete nicht Antonio, sondern Nagisa. Ganz aufgeregt stürmte er die Küche und riss Rei den Teller und das Poliertuch wieder aus der Hand. »Sie beginnen mit dem Einstieg, dass solltet ihr euch unbedingt ansehen!«, sagte Nagisa euphorisch und zog inbrünstig an Reis Jackenärmel. »Tut mir Leid, aber dieses Spektakel wirst du dir wohl alleine ansehen müssen – Sosuke und ich haben noch eine Menge zu tun«, antwortete Rei und schob im selben Moment die Brille auf seiner Nase zu recht. »Und man wirft uns über Board, wenn wir nicht rechtzeitig fertig werden!« Nagisa machte ein trauriges Gesicht. »Dann gehe ich mal wieder. Nicht, dass ihr meinetwegen noch angezählt werdet, weil ihr nicht rechtzeitig fertig geworden seit!« »Eigentlich«, sagte Sosuke eilig und schob Rei mit einem kräftigen Ruck in Nagisas Richtung, »eigentlich schaffe ich die paar Teller auch alleine. Geh du dir also ruhig das Spektakel ansehen. Aber sei spätestens in einer Stunde zurück. Mister Gatti wird noch einen Rundgang machen wollen und wenn du fehlst, gibt das eine Menge Ärger.« Nagisas Gesicht hellte sich binnen weniger Sekunden wieder auf und auch Rei sah seinen Kompagnon überrascht an. Doch Rei kam nicht einmal dazu, seinen Dank hervorzubringen, da zog Nagisa ihn bereits aus der Küche hinaus, durch die schmalen Gänge in Richtung Bootsdeck davon. Sie rannten durch eine offenstehende Marinetür und wurden erst von der Reling gebremst. Mit tellergroßen Augen starrten sie hinab auf den Pier. »So viele Menschen habe ich noch nie auf so einem kleinen Fleckchen Erde versammelt gesehen«, murmelte Rei eingeschüchtert. Er wartete gefühlt minutenlang auf eine Antwort, bekam jedoch keine. Mit fragender Miene drehte er den Kopf und musste überraschend feststellen, dass Nagisa nicht die einsteigenden Passagiere beobachtete, sondern ihn. »Was ist? Habe ich etwas im Gesicht?«, fragte Rei nervös. »Nein, ich finde Ihren Gesichtsausdruck nur höchst faszinierend. Das Leuchten in Ihren Augen ist unbeschreiblich«, antwortete Nagisa mit einem verzückten Lächeln im Gesicht. Reis Herz schlug ihm nun bis zum Hals. Er hatte so selten ein Kompliment erhalten, dass er nicht wusste welche Reaktion wirklich angemessen war. Deswegen wurden seine Wangen noch röter und er nickte dankend. Schweigend wandte sich Rei wieder der Menschenmasse zu. Er wünschte sich plötzlich, diese Überfahrt wäre bloß der Beginn dieser Romanze, nicht auch gleichzeitig das Ende. Doch er musste sich mit dem Gedanken – der Realität – abfinden: Nagisa würde sich nur für einen recht kurzen Zeitraum an seiner Seite befinden. Nach läppischen elf Tagen würde Nagisa wieder auf die Titanic steigen und für immer aus Reis Leben verschwinden. »Möchten Sie als Matrose alt werden?« - trotz dessen konnte er ihn ja darum bitten, bei ihm zu bleiben. In Amerika, auf der Plantage seiner Eltern. Für immer. Immerhin kostet fragen nichts. »Ich glaube nicht«, antwortete Nagisa nachdenklich. »Ich verdiene gut. Wenn ich mir ein hübsches Sümmchen zusammen gespart habe, werde ich mir etwas anderes suchen. Vielleicht kaufe ich mir eine Farm und eine Schafherde und setze mich im schottischen Hochland zur Ruhe!« Rei blinzelte verwundert. »Vielleicht bestünde ja auch die Möglichkeit, dass schottische Hochland gegen dass amerikanische Mississippi zu tauschen?« »Ja«, entgegnete Nagisa nach ein wenig Bedenkzeit und ließ anschließend seinen Blick über das menschenleere B-Deck schweifen, »Vielleicht ist es dort auch viel schöner, als es hier jemals sein könnte!« Rei wollte etwas erwidern, wurde von Nagisa aber im selben Moment durch die Marinetür zurück ins Innere der Gänge gedrückt und schwungvoll gegen eine der holzvertäfelten Wände gepresst. »Ich will nicht, dass sie mich falsch verstehen Rei, aber noch eine Sekunde länger, ohne von Ihren Lippen zu kosten, überlebe ich nicht.« Nagisa ließ Rei keine Sekunde Zeit zu widersprechen. Er stelle sich auf Zehenspitzen, stützte sich auf Reis Schultern ab und drückte Rei einen keuchen Kuss auf die Lippen. Noch nie zuvor hatte Reis Herz schneller geschlagen und noch nie war ihm in einem Moment heiß und kalt zugleich. Nagisa wippte auf den Fußballen zurück und grinste Rei frech an. »Dafür werde ich hunderte Jahre im Fegefeuer schmoren«, murmelte Nagisa so leise und so berauscht, dass Rei beinahe kein Wort verstand. »Das wir ziemlich schmerzhaft werden«, antwortete Rei. Er war noch immer ganz durch den Wind und war sich nicht im klaren darüber, was er da eigentlich von sich gab. »Und wenn es tausende Jahre wären, für diese sündigen Lippen akzeptiere ich jedwede Strafe – egal wie schlimm oder schmerzhaft«, flüsterte Nagisa und lehnte sich nach vorne, um seine Lippen erneut auf Reis zu drücken. Sosuke gab ihnen eine Stunde, bevor Rei zurück in der Küche sein sollte. Diese 60 Minuten, seien sie auch noch so kurz, mussten sie um jeden Preis auskosten. ∞ Mit Ihrem Gesundheitszeugnis in der Hand, folgten Kisumi und Rin einem Angestellten, der die Passagiere der 2. Klasse zu ihrer Gangway brachte. Rins Mutter erzählte ihrem etwas über New York, was sie ihm in den vergangenen 25 Jahren schon ein dutzend Mal erzählt haben musste. Denn Rins Mutter war Amerikanerin. Als sie zarte 15 Jahre alt war, starben ihre Eltern an einer langen Krankheit, die sie langsam und qualvoll dahinraffte. Nach ein paar Wochen in einem Heim für Waisen, steckte man sie auf ein Schiff und erklärte ihr, sie hätte eine Tante in London, zu der man sie jetzt bringen würde. Doch Rins Mutter kam nie in London an. Als sie ihr Schiff in Southampton verließ, stolperte sie dem jungen Sir Matsuoka vor die Füße. Sie verliebten sich auf den ersten Blick ineinander. Rins Mutter blieb in Southampton und wurde zwei Tage nach ihrem 18. Geburtstag zu einer, der schönsten Bräute, die diese Stadt je gesehen hatte. Aber Rins Mutter wurde trotz dessen nie eine waschechte Engländern. So verlangte sie zum Frühstück stets Kaffee und die ganze Familie musste mit ihr im Herbst Thanksgiving feiern. Und es blieb ihr größter Wunsch, New York noch einmal wiederzusehen. Ein Wunsch, den Mister Matsuoka seiner geliebten Frau nur zu gerne erfüllte. »Das Geplänkel deiner Eltern ist so manches Mal ein wenig zu viel des Guten«, sagte Kisumi lachend und klopfte Rin freundschaftlich auf die Schulter. »Ich freue mich schon darauf, deine Frau und dich einmal so zu erleben!«, entgegnete Rin. Ihn störte das Verhalten seiner Eltern überhaupt nicht. Im Gegenteil, er fand es schön einem Bund der Liebe entsprungen zu sein. Als Kind einer arrangierten Ehe wäre er womöglich strenger und ohne viel Freiraum erzogen worden. Kisumi verzog das Gesicht. »Niemals werde ich dich an solchen Momenten teilhaben lassen!« »Du wirst keine andere Wahl haben, mein Bruder!«, entgegnete Rin spöttisch. Kisumi schüttelte mit dem Kopf und Rin betrat direkt hinter seiner Mutter die Gangway. Es war eine ziemlich wackelige Angelegenheit. Die Gangway schaukelte gefährlich. Rin bekam es mit der Angst zu tun, ins schmutzige Hafenbecken zu stürzen und dort von der herabstürzenden Gangway erschlagen zu werden. Kisumi mussten ähnliche Ängste plagen, denn er klammerte sich von hinten an Rins Mantel und vergriff sich immer fester, sobald die Gangway ein klein wenig schaukelte. Als sie schließlich die Tür passierten, wurden sie von zwei Stewards herzlich Willkommen geheißen. Rins Mutter fragte höflich nach dem Weg, um recht schnell zu ihrer Kabine zu gelangen, während sich Rins Vater nach der geschätzten Auslaufzeit erkundigte. Rin und Kisumi warfen der wackeligen Gangway noch einen bösen Blick zu, ehe sie sich gegenseitig wissend ansahen. Jetzt hatten Sie nur noch ein Ziel: Das Bootsdeck! Den Weg dahin würden sie auch ohne Hilfe finden. Also drängelten sie sich an den Stewards und Rins Eltern vorbei und verschwanden im ersten Gang, der sich vor ihnen auftat. Am liebsten wären sie gerannt und hätten sich, wie die Kinder die sie im tiefsten Innern immer noch waren, ein Wettrennen geliefert. Doch nach einem weiteren, schüchtern ausgetauschten Blick, waren sie sich einig, dass ein Wettrennen die Matsuokas bis aufs tiefste blamiert hätte. Also gingen sie gesittet und Haltung bewahrend durch die Gänge. »Ein wirklich unglaubliches Schiff«, bemerkte Rin nebenbei. Gleichzeitig bestaunte er die getäfelten Wände und den aufwendig bestickten Teppichboden. Ein Jammer. Es musste Stunden gedauert haben, ihn fertigzustellen. Und am Ende würde er keine drei Überfahrten bestehen, weil die Leute ihn achtlos zu Nichte trampelten. »Wenn man der Zeitung Glauben schenken darf, soll die Titanic noch schöner und luxuriöser als die Olympic sein.« - Rin seufzte - »Schade, ich hätte gerne einen Vergleich gehabt!« »Wir könnten die Gelegenheit im Juni nutzen, wenn unsere Eltern im Sommerhaus im Osten sind. Dann kaufen wir Karten für die Olympic und verbringen unseren Sommerurlaub eben auf einem Schiff - was hältst du davon?« Rin warf Kisumi einen zweifelnden Blick zu. »Ohne unsere Eltern oder nennenswerte Eigenleistung eine Überfahrt antreten? Man würde sich vermutlich die ganze Reise lang, über uns lustig machen!« »Wir könnten auch unter falschem Namen in der 3. Klasse reisen! Ich habe gehört, die soll sowohl hier, als auch auf der Olympic sehr gut ausgestattet sein«, schlug Kisumi vor und klang Rin ein wenig zu begeistert, von seiner eigenen Idee. Rin gab einen empörten Laut von sich. »Nur über meine Leiche, reise ich in der 3. Klasse!«, entgegnete er hochnäsig. Er ragte sein Kinn gen Decke und signalisierte Kisumi damit, dass dieses Gespräch für ihn beendet war. »Du bist ein wahrer Gentleman. Genau so unzugänglich und stur, wie all die anderen Stockträger!«, zischte Kisumi erbost und wandte dann den Blick ebenfalls ab. Rin könnte etwas darauf erwidern. Zum Beispiel, dass Kisumi selbst gerne im Luxus schwelgte und vermutlich ein viel größeres Problem mit der 3. Klasse hätte, als er selbst - egal wie gut die Klasse angeblich ausgestattet sein soll. Aber er wollte das Gespräch nicht eskalieren lassen, also hielt er seinen Mund. Der Weg zum Bootsdeck war lang und zugegebenermaßen auch sehr verwirrend. Die Titanic konnte wahrlich mit einem Irrgarten in Konkurrenz treten. Aus allen Richtungen hörte man Schritte und Geplauder; jeder Gang mündete in zwei weiteren und ein wegweisendes Schild hatten sie auch noch kein einziges entdeckt. »Vielleicht sollten wir zurückgehen und einen der Angestellten bitten, uns den Weg zu zeigen?«, schlug Kisumi zögerlich vor. Rin blickte prüfend den Gang entlang. Es sah nicht so aus, als würde dieser sie zum Bootsdeck bringen. Und der Gedanke, sie liefen immer weiter ins Schiffsinnere, ließ ihn nicht los. Schließlich seufzte er schwer. »Wir sollten uns eine Karte anfertigen lassen, damit wir uns nicht nochmal verlaufen!«, sagte er ernst, während er sich umdrehte. Doch vor ihm befand sich nun kein leerer Gang mehr. Da stand ein Mann, mindestens einen halben, wenn nicht sogar einen ganzen, Kopf größer, als er selbst. Unter einer schneeweißen Kochjacke spannten ausgeprägte Brust- und Bauchmuskeln. Die deutlich sonnengebräunte Haut und die dunkelbraunen, fast schwarzen Haare, legten nahe, dass der Mann kein gebürtiger Engländer sein konnte. Rin war fasziniert von dessen Antlitz, aber am stärksten zogen ihn die malachitgrünen Augen an. Er konnte sich von diesen kräftig leuchtenden Iriden unmöglich abwenden. Und seine Zunge hat er wohl auch verschluckt, dachte Kisumi, die Augen verdrehend. In einer schnellen Bewegung drängelte er sich zwischen Rin und den Fremden, um seinen besten Freund vor einer großen Dummheit zu bewahren. »Sir; mein Name ist Kisumi Shigino!«, stellte sich Kisumi kurzerhand vor. »Sie sehen aus wie jemand, der ... Nun ja ... Ortskundig ist. Mein Freund hier und ich suchen schont seit geraumer Zeit verzweifelt das Bootsdeck. Wären Sie so freundlich uns den Weg zu zeigen?« »Tut mir Leid«, antwortete der Fremde. »Ich habe mich selbst verlaufen und suche nach jemandem, der mir den Weg zum Bootsdeck weisen kann.« Die tiefe Stimme des Fremden, jagte Rin einen Schauer über den ganzen Körper. So eine tiefe, aber gleichzeitig leuchtende und melodische Stimme hatte er noch nie zuvor gehört. Er könnte den Erzählungen des Fremden den ganzen Tag lang lauschen. Egal was er sagte, Hauptsache er sprach überhaupt. »Vielleicht könnten wir den Weg ja auch gemeinsam suchen!«, schlug Rin aus dem Hintergrund vor, in der Hoffnung noch etwas mehr Zeit mit dem Fremden verbringen zu können. Doch Kisumi vereitelte seine Pläne jäh. »Ich denke, dass ist keine gute Idee. Deine Eltern suchen uns bestimmt schon. Wir sollten zurückgehen!« Rins Gesicht verzog sich zu einer verwirrten Miene. »Aber gerade wolltest du doch noch zum Bootsdeck?!« »Hätte der Gentleman hier den Weg gekannt, hätte ich auch einen kurzen Abstecher riskiert. Aber wenn wir noch länger verschwunden bleiben, versetzt deine Mutter die ganze Schiffsmannschaft in Aufruhr und schickt einen Suchtrupp los!«, entgegnete Kisumi altklug, so als würde er die Matsuokas besser kennen, als ihr eigener Sohn es tat. »Du bist nicht mehr ganz bei Sinnen!«, sagte Rin spöttisch und hätte Kisumi beinahe einen Vogel gezeigt. Doch er riss sich zusammen, immerhin waren sie hier in der Öffentlichkeit und nicht in ihren privaten Räumen. Wenngleich ihnen in diesen Gängen noch niemand anderes über den Weg gelaufen war. »Zum Glück bist du jemand, der meinen Zustand nur objektiv beurteilen kann und nun komm' endlich!«, antwortete Kisumi pikiert, während er Rin am Fremden vorbeischob. Rin drehte sich jedoch noch einmal zu ihm um. »Einen schönen Tag Sir! Ich hoffe sie haben bei ihrer Suche mehr Glück als wir!«, beeilte sich Rin zu sagen. Kaum hatte die letzte Silbe seine Lippen verlassen, dirigierte Kisumi ihn auch schon um die nächste Ecke und zog ihn im Eiltempo den Gang hinunter. »Bist du bei Trost? Was wolltest du mit der Tat von gerade bezwecken?«, fragte Rin erbost, nachdem er sichergehen konnte, dass der Fremde außer Hörweite war. Gewaltsam riss er sich von Kisumi los und sah seinen besten Freund böse an. »Ich habe dich davor bewahrt einen großen Fehler zu begehen - du solltest mir dankbar sein!«, entgegnete Kisumi Lob heischend. »Wären deine Eltern gerade hier gewesen, würden sie dich vermutlich mit Absicht in New York vergessen! Wir haben doch schon oft genug darüber geredet, dass wir vorsichtig sein müssen!« Rin würde seinem Freund am liebsten widersprechen, doch es gab kein Argument, was dagegen sprach. Kisumi hatte vollkommen recht. Würden seine Eltern von dieser Sache Wind bekommen, war er einmal ein reicher, verwöhnter Junge gewesen. »Ja du hast Recht, es wäre eine Dummheit gewesen«, gab Rin schließlich klein bei. »Am besten schlage ich mir seine grünen Augen sofort wieder aus dem Kopf.« Kisumi schlug ihm aufmunternd auf den Rücken. »Wir zu sein, ist Fluch und Segen zugleich!«, sagte er. »Wir leben leider zur falschen Zeit!« Rin verzog bei so viel Optimismus nur umso mehr das Gesicht. »Denkst du wirklich so zu sein wie wir, wird irgendwann keine Straftat mehr sein? Bist du einem Jane Austen Roman entsprungen?« Kisumi schürzte die Lippen. »Ich bin fest entschlossen, dass es so kommen wird!« »Du könntest wirklich ein Romanheld sein - oder noch viel besser: Ein Prinz!«, entgegnete Rin lachend, doch wirklich glücklich klang er dabei nicht. Eher so, als müsse er eine ganze Menge Wut und Schmerz und Traurigkeit unterdrücken. »Aber nur, wenn man mich im Turm einsperrt und mir einen Märchenprinzen zur Rettung entsendet!«, flüsterte Kisumi belustigt, aber so leise, dass nur Rin ihn hören konnte. Vermutlich verstanden sich die beiden jungen Männer aus diesem einen Grund so gut. Sie waren eben aus dem gleichen Holz geschnitzt. Und sie wussten, dass das Gesellschaftliche Leben, welches sie in naher Zukunft führen würden, eine Lüge sein würde. ∞ Die Gangway, über die Makoto und Asahi die Titanic bestiegen, befand sich ganz hinten am Heck. Auch sie wurden von zwei Angestellten der White Star Line freundlich begrüßt. Ein Dritter, der ihre Gesundheitszeugnisse entgegen nahm, schaute hingegen sehr schlechtgelaunt drein. Asahi war das sofort ein Dorn im Auge. »Er sollte sich glücklich schätzen; immerhin darf er auf diesem wundervollen Schiff reisen und wird dafür sogar noch bezahlt!«, zischte Asahi Makoto ins Ohr. Makoto zuckte lapidar mit den Schultern. »Wenn ich an seiner Stelle wäre und man mir die 3. Klasse zu teilen würde, würde ich vermutlich auch so dreinschauen!«, antwortete er desinteressiert. »Ach was - hier hat er doch kaum zu arbeiten. Wir sind doch ein recht anspruchsloses Volk, ohne Sonderwünsche, die wir uns - davon mal abgesehen - ohnehin nicht leisten könnten. Oder irre ich mich da?«, entgegnete Asahi spöttisch, klang zugleich aber auch ein wenig von sich selbst verwirrt. Makotos darauffolgendes Seufzen klang schon beinahe etwas genervt. »Lohnt es sich wirklich, Gedanken an jemanden zu verschwenden, den wir niemals unseren Freund nennen werden?«, fragte Makoto drängend, um das Thema ein für alle mal zu beenden. Er wollte in seine Kabine, die Tasche ablegen und danach an Deck. Er wollte das Schiffshorn hören, wenn sie in See stechen; den Jubelschreien der Menschen im Hafen bis zur allerletzten Sekunde lauschen. Er wollte dabei sein, wenn die erste Brise frische Meeresluft die Decks der Titanic erreichte. »Welche Nummer hat unsere Kabine?«, fragte Makoto aufgeregt. »Die 34« - Kisumi prüfte seine Fahrkarte noch ein weiteres Mal - »Wir müssen noch ein Stückchen in Richtung Bug laufen!« Sie liefen vorbei an großen Schlafsälen und Kabinen, die durch Schottwände zwei geteilt wurden. Kreischende Kinder rannten an ihnen vorbei, gefolgt von schreienden Eltern, die versuchten ihre Brut wieder einzufangen. »Hast du schon mal ein so strahlendes weiß gesehen?«, fragte Asahi aufgeregt. Makoto konnte nicht so ganz verstehen, was an den weißen Wänden so besonders sein sollte. »Du übertreibst Maßlos!«, sagte er deswegen zu seinem besten Freund. Dieser wollte gerade erwidern, dass man im Bezug auf die Titanic gar nicht übertreiben konnte, als ihm plötzlich ein kleines, goldenes Schild auf einer strahlend weißen Tür auffiel. Die Nummer "34" war in einer schwungvollen Schrift tiefschwarz eingraviert. »Wir sind da«, sagte Asahi ehrfürchtig, ohne den Blick von der Tür abzuwenden. Makoto stieß erneut ein tiefes, beinahe schon verzweifeltes Seufzen aus. Er hoffte inständig, dass sich Asahis Begeisterung für dieses Schiff in den nächsten Tagen wieder legen würde. Sonst würde ihn diese Überfahrt mehr Nerven kosten, als ihm lieb war. Schließlich war es auch Makoto, der die Kabinentür öffnete und als erster einen Blick hineinwarf. Ihre Kabine war kaum größer, als das Zimmer in dem Makoto gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern schlief. An der linken und rechten Wand stand jeweils ein Doppelstockbett. Ein Bullauge beleuchtete die wenigen Quadratmeter gerade ausreichend genug. Direkt neben der Tür stand ein schmaler Schrank aus Eichenholz und direkt gegenüber - unter dem Bullauge - war ein kleines Waschbecken angebracht. Wenn ein Passagier der 1. Klasse so eine Kabine vorgesetzt bekäme, würde er sie zweifelsohne für eine Gefängniszelle halten. Aber Makoto und Asahi hatten auch schon weniger Platz für sich gehabt. Das Leben kehrte in Asahis Glieder zurück. Er drängelte sich energisch an Makoto vorbei und schmiss sich voller Begeisterung aufs Bett, sein Seesack flog dabei quer durch den Raum. »Das ist der pure Luxus - leg dich auch mal hin«, rief Asahi euphorisch und machte Makoto ein wenig Platz auf der Matratze. Doch dem stand gerade nicht der Sinn nach einmal Probe liegen. In einer kräftigen Bewegung warf er seine Tasche auf das Bett über Asahi. »Wir sollten den Weg zum Bootsdeck suchen, wenn wir die Abfahrt nicht verpassen wollen!«, sagte Makoto mit einer großen Portion Nachdrücklichkeit in der Stimme. Asahi rückte das schmale Kissen zu recht und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Willst du jemand bestimmten zu winken? Oder gibt es einen anderen triftigen Grund dafür, dass du ausgerechnet jetzt auf das ohnehin schon überfüllte Bootsdeck willst?«, fragte Asahi kritisch. »Ich will einfach dabei sein, wenn wir auslaufen!«, entgegnete Makoto. Er würde auch alleine aufs Bootsdeck gehen, wenn Asahi ihn nicht begleiten wollte. Ihm war das gleich. Doch im selben Moment, in dem er diesen Entschluss gefasst hatte, erhob sich Asahi von der Matratze. »Also gut«, sagte er und kramte eine Schachtel Zigaretten aus seinem Seesack. »Aber sobald wir den Hafen verlassen, gehen wir wieder hinein! Es gibt noch mehr zu sehen, als bloß das Deck und unsere Kabine - und ich will nichts auslassen!« »Abgemacht!«, rief Makoto begeistert. Keine Sekunde später hatte er Asahi bereits am Handgelenk gepackt und ihn aus der Kabine gezogen. Sie rannten den Gang hinunter, zurück zum Heck, in der Hoffnung der Zugang zum Bootsdeck befände sich in der Nähe des Schiffszustieg. Glücklicherweise befand sich die schmale Treppe direkt neben der Marinetür, durch die sie eingestiegen waren. Für die Passagiere der 3. Klasse war das niedrig gelegene Bootsdeck am Heck reserviert. Es reichte nicht annähernd für alle Passagiere dieser Klasse aus und war nichts, im Vergleich zu den Decks, die von der 1. und 2. Klasse begangen werden konnten. Aber Asahi und Makoto konnten sich glücklich schätzen, überhaupt Zugang zum Bootsdeck zu haben. Dass war nämlich nicht auf allen Schiffen Gang und Gebe für ihre Klasse. Das Bootsdeck war für Asahis Geschmack schon beinahe etwas zu voll, aber Makoto störte das nicht im Geringsten. Mit ausgestreckten Ellbogen kämpfte er sich bis zur Reling durch und konnte von seinem Platz aus den gesamten Pier überblicken. Er sah sogar Halls Brass Factory und bildete sich ein, Titan und Brutus davor auf und ab laufen zu sehen. Makoto drehte sich nach Asahi um und ließ seinen Blick dabei auch einmal über die höheren Aufbauten schweifen. Asahi kämpfte sich in diesem Moment bis zu seinem besten Freund durch. »Wahnsinn dieser Ausblick - nicht wahr?«, fragte Asahi begeistert, während er seine Augen über alles schweifen ließ, was er von Southampton sehen konnte. »Atemberaubend«, hauchte Makoto, meinte damit aber nicht die Aussicht über den Pier hinweg. Seine Augen klebten am blausten und schönsten Paar Augen, dass er jemals gesehen hatte. Ihr Besitzer machte sich nichts aus dem Treiben auf dem Bootsdeck oder auf dem Pier. Er starrte stur aufs Wasser hinaus, als gäbe es für ihn nichts bezaubernderes auf dieser weiten Welt. Das Schiffshorn ertönte, die Titanic setzte sich schleppend in Bewegung. Die Schreie um Makoto herum wurden lauter und Asahi neben ihm winkte wie ein Verrückter den wildfremden Menschen auf dem Pier zu. Aber Makoto konnte sich einfach nicht von den Augen losreißen, die ihres gleichen auf dieser Erde suchten. Sie waren so blau wie der weite Ozean und strahlten eine so verzweifelte Sehnsucht nach Freiheit und Geborgenheit aus, dass Makoto augenblicklich das selbe Verlangen verspürte. Der Besitzer der blauen Saphire bemerkte, dass er angestarrt wurde. Ruckartig drehte er den Kopf in Makotos Richtung. Einen Moment lang sahen sich beide an, als hätten sie ihr ganzes Leben nur nacheinander gesucht. Dann wandte Makoto den Blick peinlich berührt ab, die Wangen tomatenrot vor Scham. Im selben Moment war ihm Asahi einen fragenden Blick zu. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er seinen besten Freund wenig geistreich. Makoto fixierte die Menschen auf dem Pier, um sich abzulenken und gleichzeitig auf etwas anderes zu konzentrieren. »Ja, alles gut«, antwortete er reichlich spät auf Asahis Frage. Aber irgendwie war gerade gar nichts gut ... An was das wohl lag? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)