TITANIC von YukiKano ================================================================================ Prolog: 9. April 1912 --------------------- Es gab am heutigen Tag nichts, was die Bewohner von Southampton mehr in Begeisterung versetzte, als die RMS Titanic, die im Hafen lag und morgen auslaufen sollte. Der riesige Luxusdampfer wirkte zwischen den vielen Frachtschiffen und Schleppern etwas deplatziert, verlor dadurch aber nicht einen Funken Schönheit. Eine schaulustige Familie, die sich eine Überfahrt nicht leisten konnte, bestaunte den Koloss vom Pier aus. Das Nesthäkchen, das auf den Schultern des Vater saß, staunte mit großen Augen. »Schau Mal Papa«, sagte sie. »Das ist doch das hübscheste Boot der Welt oder nicht?« Ihr Vater lachte und nickte. »Ja Cherry, es ist das schönste Schiff der Welt!« »Fahren wir auch mal mit so einem weg?« »Oh ja Cherry! Irgendwann fahren wir auch mal mit so einem Boot!« Das kleine Mädchen rutschte ihrem Vater vor Freude beinahe von den Schultern. Nicht weit entfernt vom Liegeplatz des Luxusdampfers lehnten zwei junge Männer am Geländer der Feuertreppe einer Fabrik. Sie starrten das Schiff an, als gäbe es nichts Schöneres auf dieser Welt. Der kleinere von beiden – er hieß Asahi – nahm den letzten Zug seiner Zigarette und drückte sie dann am Geländer aus. Er warf der Titanic einen sehnsüchtigen Blick zu. »Ich wünschte wir könnten unsere Familien einpacken und den Rest unseres Lebens auf diesem Schiff verbringen!«, sagte er zu seinem Freund und Arbeitskollegen, der mit ihm auf der Treppe stand. Makoto – ein großer junger Mann mit breiten Schultern und einer Haarfarbe die man hier noch nie zuvor gesehen hatte – rieb sich etwas Asche von der Nase. »Ich glaube meine Mutter würde mir mit ihrer Bratpfanne eins überziehen, wenn ich sie auf so ein Schiff bringen würde! Vater ist auf so einem gestorben, weißt du nicht mehr?«, sagte Makoto nachdrücklich und richtete dabei die Mütze auf seinem Kopf. Doch Asahi wusste noch ganz genau wovon sein Freund da sprach. Sofort hatte er die schrecklichen Bilder aus der Zeitung vor Augen. Makotos Vater starb 1909 an Bord der Laurentic, wo er als Heizer beschäftigt war. Seitdem hasste Makotos Mutter jede Art von Schiff und versuchte auch Ihren Sohn weitestgehend davon fernzuhalten. Asahi sah wieder zum Luxusdampfer im Hafen. »Ich würde alles dafür geben, einmal nach New York zu kommen! Und du wirst sehen«, sagte Asahi, legte einen Arm um Makotos Schultern und zeigte auf die Titanic, »genau mit diesem Schiff wird es passieren!« Makoto lachte – laut und offenherzig. So, wie er es immer tat, wenn Asahi mal wieder zu viel träumte. »Und wie willst du das bezahlen? Selbst ein Ticket in der dritten Klasse kostet beinahe mehr, als wir in einem Jahr verdienen!« Asahi zog einen Schmollmund. »Las mich doch wenigstens träumen, du alter Spielverderber!«, antwortete er pikiert und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du bist ein alberner Spinner und jetzt lass und zurück an die Arbeit, bevor der alte Hall uns noch feuert, weil wir zu viel träumen!«, entgegnete Makoto und ging zurück in die Fabrikhalle. Die Tür ließ er mit Absicht sperrangelweit offenstehen. Asahi seufzte schwer, als er dem Schiff noch einen letzten Blick zu warf. »Du wirst mich mitnehmen, dass weiß ich – und du wirst mich sicher nach New York bringen, du majestätische Unsinkbare!« sagte er verschwörerisch und folgte seinem Freund dann zurück in die Halle. ∞ »Morgen geht es los – seid ihr schon sehr aufgeregt?« Haruka sah seine zukünftige Schwiegermutter an, als wäre sie das größte Monster auf Gottes selenruhiger Erde. Plötzlich griff seine Verlobte Mika ganz euphorisch nach seiner Hand und verkrampfte ihre behandschuhten Finger um seine. »Oh ja, ich bin sehr aufgeregt! Ich freue mich auf den Luxus, die Feste und die vielen neuen Menschen. Aber vor allem auf das Essen. Ich habe gehört sie haben extra einen Koch aus London für diese Reise arrangiert!«, erzählte Mika voll gespielter Freude. »Ein besseres verfrühtes Hochzeitsgeschenk hättest du uns nicht machen können, Mutter!« Haruka verzog das Gesicht. Mika hasste Schiffe und Mika hasste das Wasser. Sie würde schon beim kleinsten schaukeln einen Kübel benötigen und das ach so tolle Essen hineinbefördern. Haruka begann zu lächeln. Dieser Gedanke amüsierte ihn. Seine Mutter ihm gegenüber schien den selben Gedanken zu haben, denn sie kaschierte ihre zuckenden Mundwinkel geschickt hinter einer Tasse schwarzem Tee. Haruka wandte den Blick ab. Er hasste seine Mutter, hasste sie aus tiefstem Herzen. Nur ihretwegen saß er hier neben Mika. Und nur wegen ihr musste er morgen auf dieses vermaledeite Schiff steigen. Er solle sich ausruhen, hatte seine Mutter gesagt, sein Olympia Gold gebührend feiern. Und wenn es nach ihr ging, eignete sich dafür keine Location besser als die RMS Titanic. Mit all ihrem Prunk und übertriebenen Schnick-Schnack. Wenn Haruka könnte, würde er am liebsten eine Krankheit vortäuschen und in Southampton bleiben. Was sollte er als Sportler auf so einem Schiff? »Haruka würde mit Sicherheit lieber hinterher schwimmen, statt das Wasser nur anzuschauen – nicht wahr?«, sagte seine Schwiegermutter und alle anwesenden Frauen begannen zu lachen. Haruka nickte aus Höflichkeit wortlos und nippte an seinem Tee. Mika stand auf. »Mutter du solltest mir unbedingt beim Packen der Koffer helfen. Du bist bestens informiert, über das, was bei den Reichen und Schönen gut ankommt. Ich will uns ja nicht blamieren!«, sagte das junge Mädchen mit glitzernden Augen. Harukas Schwiegermutter machte ein Gesicht, als würde ihr größter Wunsch in Erfüllung gehen. Sie erhob sich ebenfalls vom Tisch und verabschiedete sich von Harukas Mutter. Kaum hatten Mutter und Tochter den Raum verlassen, herrschte gedrückte Stimmung im Salon. »Sie ist ein tolles Mädchen«, sagte seine Mutter und setzte ihre Tasse wieder ab. Haruka schnaubte spottend. »Du musst es ja wissen, immerhin hast du sie ausgesucht!« Seine Mutter erwiderte dies mit einem strengen Blick und den Worten: »Du hast für die Krone gesiegt und drei Mal Gold in den olympischen Spielen gewonnen – das macht mich als Mutter unglaublich stolz. Aber die Leute interessieren sich nicht dafür. Sie fragen nur wann u mit einem jungen Mädchen vor den Altar trittst. Und mit deinen 18 Jahren bist du – zu gegeben – schon etwas spät dran!« Haruka starrte ausdruckslos in seinen Tee. Seine Mutter tischte ihm schon wiedereine ihrer Lügen auf, so wie sie es schon sein ganzes Leben lang tat. Und sie versuchte nicht sein Ansehen zu retten, sondern ihr eigenes. Seit dem plötzlichen Fiebertod seines Vaters, kämpfte Familie Nanase jeden Tag um Ruf und Ehre. Da kam es Miss Nanase gerade recht, dass sich ihr Sohn als begabter Sportler entpuppte und wenigstens den Ruf wieder aufpolierte. Haruka stand auf. »Wenn du mich dann entschuldigst Mutter, aber ich würde jetzt gerne in meine Unterkunft zurückkehren«, sagte er vornehm. Seine Mutter blinzelte überrascht. »Moment, ich dachte du würdest die heutige Nacht im Gästezimmer verbringen?« »Du sagtest ich solle mich ausruhen – unter demselben Dach wie du zu schlafen wäre für mich eher eine Tortur!«, sagte er mit kühler Stimme. Dann verschwand er im Vorsaal und blendete seine schimpfende Mutter einfach aus. Draußen zog ein frischer Wind auf, weswegen Haruka seinen Mantel enger um sich zog und mithilfe des dazugehörigen Gürtels fest zu band. Dann trat er den Rückweg zu seiner Unterkunft – ein altes Hotel im Süden von Southampton – an. Und während er lief, überlegte er sich, wie er dieser stinklangweiligen Überfahrt entgehen konnte. ∞ Nagisa Hazuki – ein junger, wendiger, kleiner Mann – war einer von sechs Ausgucks, die morgen mit der Titanic in See stechen würden. Gerade begingen sie unter der Aufsicht von Offizier James P. Moody das Schiff. Der Offizier erklärte mit ruhiger Stimme alles, wies ihnen Kajüten zu und händigte ihnen ihre Dienstpläne aus. Nagisa, der ganz frisch vom Militär kam und seine Ausbildung erst vor einem Monat beendet hatte, konnte es kaum noch erwarten. Die Besatzungsmitglieder brachten ihre Seesäcke in die Kajüten und wurden anschließend gebeten, beim Beladen des Schiffes zu helfen. Nagisa verschlug es zu allererst in das Luxusrestaurant der 1. Klasse. Es war ein zusätzliches Restaurant und ausschließlich der 1. Klasse zugänglich. Es wurde nicht von der White Star Line betrieben, sondern von einem italienischen Koch. Mister Moody hatte ihnen erklärt, dass das Personal nicht zur Besatzung gehörte und deswegen als Passagier anzusehen war, wenn sie nicht im Dienst waren. Nagisa staunte über den Speiseraum. Selbst die weißen Tischdecken begeisterten ihn. Obwohl er aus wohlhabendem Haus kam, hatte er noch nie so viel Luxus auf kleinstem Raum gesehen. »Kann ich Ihnen behilflich sein Sir?« Erschrocken drehte sich Nagisa in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Dort stand ein Junge, nicht älter als er selbst, aber wesentlich größer. Er trug eine schmalglasige Brille und hat blauschimmernde Haare. »Ich wollte mich nur ein wenig umsehen – nicht mal in meiner Ausbildung war ich auf einem Schiff von solcher Größe!«, antwortete Nagisa ohne den Blick von seinem Gegenüber abzuwenden. Der junge Mann mit den schmalen Schultern lachte. »Da die Titanic das größte Schiff der Welt ist, dürfte das auch kaum möglich gewesen sein!«, antwortete er mit einem schmalen Lächeln. Nagisa verschränkte die Arme hinter dem Rücken und machte einen Schritt auf den Mann mit den schwarzblauen Haaren zu. »Mein Name ist Nagisa Hazuki – Matrose, 5. Ausguck«, er verbeugte sich beim Sprechen leicht und blickte sein Gegenüber von unten aus an. »Und Sie sind?« »Rei – Rei Ryugazaki. Ein mittelloser Amerikaner der einfach nur noch Hause will und als Kellner anheuern musste, um sich diesen Wunsch zu erfüllen!« Nagisa richtete sich lächelnd wieder auf. »Das klingt nach einer spannenden Geschichte und ich brenne darauf sie zu hören! Auf Reis Wangen legte sich ein zarter Rotschimmer. »Ich gehe davon aus, dass Sie als Matrose eine höhere Weisungsbefugnis haben als ich. Und es wäre töricht sich dem zu widersetzen, bevor wir ausgelaufen sind – Außerdem habe ich nie etwas gegen neue Freunde einzuwenden!«, antwortete Rei mit fester Stimme. Das Lächeln des Ausgucks wurde um einen ganzen Zoll breiter. »Dann treffen wir uns heute Abend um acht auf dem Pier?« Nagisa musste die Worte „gemeinsames Abendessen“ nicht erwähnen, damit Rei wusste was gemeint war. Der Kellner nickte überschwänglich. Nagisa trat an Rei heran, nahm seine Hand und hauchte einen Kuss auf den Handrücken. Man könnte ihn dafür einsperren, dass wusste er. Aber bei Rei hatte er ein gutes Gefühl. Deswegen machte er sich keine Sorgen, als er anschließend mit einem breiten Grinsen im Gesicht über das Bootsdeck lief und die sanfte Frühlingssonne auf seiner Haut prickeln ließ. ∞ Rin wünschte, die Näherin würde das Frack schneller abstecken. Er stand bereits seit einer halben Stunde auf dem Podest und ließ sie an sich herumwerkeln. Er verstand noch immer nicht, warum sein Vater darauf bestand, dass er dringend eine neue Garderobe brauchte. Er hatte genügend Hemden und Anzüge und Schlafanzüge und Mäntel. Und genügend Schuhe hatte er auch. Sein Schwippschwager und guter Freund Kisumi saß auf einem der grünen Ledersessel ihm gegenüber und trank schwarzen Tee mit Zucker und Milch, während er Rin auslachte. Kisumi hatte seine Titanic-Garderobe – wie seine Mutter es nannte – schon letzte Woche erhalten. Und seine sechs Koffer hatte man auch schon für ihn gepackt. Wenn ihn Rin nicht mit einer guten, französischen Zigarre bestochen hätte, dann würde er jetzt in einem Rauchersalon sitzen und bei einem Glas Brandy vor sich hin philosophieren – so, wie es alle gestandenen Männer am Nachmittag taten. Eine weitaus angenehmere Beschäftigung, als sich hier von der Schneidergehilfin lüstern anstarren zu lassen. Er konnte nur hoffen, dass Rins Anprobe bald vorbei war. Das Bedürfnis nach frischer Luft machte sich in ihm breit. Der einnehmende Geruch von Tee, Sandelholz und Lavendel ließ Übelkeit in seinem Inneren emporsteigen. Noch eine halbe Stunde, sagte sich Kisumi, dann pfeif‘ ich auf die blöde Zigarre! Am Ende wartete er doch anderthalb, bis die Anprobe abgeschlossen war und Rin wieder von dem Podest stieg. Die Näherin notierte sich etwas in ihrem Buch und riss dann einen Abholschein aus ihrem Kassenbuch. »Meine Gehilfin wir ihnen die Sachen morgen nachhause bringen – gegen neun sollte Ihnen recht sein oder?«, fragte sie, während sie den Abholschein ausfüllte. »Ja, ja!«, antwortete Rin, während ihm Kisumi wieder in seinen Mantel half. »Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag und vor allem eine angenehme Reise!« Rin und Kisumi bedankten sich höflich und verließen dann den Salon. Nachdem sie außer Sichtweite waren, schlug Kisumi, Rin unsanft auf die Schulter. »Aua – wofür war das?«, beschwerte sich dieser auch sofort. »Hast du die Blicke von diesem Mädchen gesehen? Sie hätte mir ihre Unschuld geschenkt, wenn sie gekonnt hätte – ihr Vater sollte ihr ein wenig Vernunft und Anstand eintrichtern!«, beschwerte sich Kisumi kopfschüttelnd. »Du schuldest mir mindestens zwei Zigarren, weil ich das drei Stunden ertragen musste!« »Du hast das doch genossen, gib es zu!«, neckte Rin ihn spielerisch und knuffte seinem Freund in die Seite. Man erwartete eigentlich, dass sie sich wie erwachsene Gentlemans benehmen, Zylinder tragen, wenn sie das Haus verlassen und einen Gehstock mit sich herumtragen. Und eigentlich sollten sie mit ihren 18 Jahren schon so gut wie verheiratet sein. Aber für die beiden gab es zum heutigen Zeitpunkt nicht einmal potentielle Kandidatinnen. Rin und Kisumi hatten sich bisher auch erfolgreich gegen eine Zwangsehe gewehrt. Sie konnten von Glück reden, dass ihre Familien dieses unschickliche Verhalten tolerierten. Von der Reise mit der Titanic blieben sie deswegen trotzdem nicht verschont. Rins Mutter hatte den beiden klar zu verstehen gegeben, dass sie keine Ausrede dieser Welt gelten lassen würde – nicht mal ein abgehackter Fuß oder eine tödliche Krankheit. Rin störte es nicht, mal ein paar Tage Urlaub auf der anderen Seite der Welt zu machen. Aber Kisumi, der so schnell seekrank wurde, wollte nicht unbedingt auf diesen prunkvollen Luxusdampfer. Rin und Kisumi gingen die Hauptstraße bis zum Ende hinunter und standen dann vor ihrem Lieblings-Rauchersalon. Der beste Tee und die schönste räumliche Atmosphäre in ganz Southhampton. »Wir sollten unsere Zigarren bei einem Tee genießen«, schlug Rin schwärmerisch vor. »Ein Brandy ist mir lieber – und für die Quälereien wirst du die Rechnung übernehmen!«, grinste Kisumi und öffnete bereits die Tür des Lokals. »Du Trunkenbold wirst mich verarmen – dann muss ich unter der Brücke schlafen!«, beschwerte sich Rin spielerisch. »Oder in der 3. Klasse!«, antwortete Kisumi lachend. Die Tür zum Lokal fiel hinter Ihnen ins Schloss. ∞ Die untergehende Sonne tauchte die Titanic in ein sanftes oranges Licht. Halls Brass Factory hatte schon seit geschlagenen zwanzig Minuten geschlossen. Und Asahi und Makoto würden erst morgen früh ab 6.00 Uhr wieder Kohle schaufeln müssen. Trotzdem standen sie noch immer auf der Feuertreppe und bestaunten den Giganten im Hafen. Eigentlich wollten sie nur noch eine Zigarette gemeinsam rauchen und danach den Heimweg antreten. Doch Asahi konnte sich einfach nicht vom Luxusdampfer losreißen. Makoto fand diese Besessenheit beinahe etwas gruselig, aber vor allem lästig. Selbst nachdem der Horizont die Sonne verschluck hatte, konnte Asahi nichts von dieser Feuertreppe bewegen. »Asahi wir müssen los, meine Mutter reißt mir den Kopf ab, wenn ich nicht in einer halben Stunde zuhause bin!«, jammerte Makoto und zog an Asahis Hosenträger. »Außerdem tun mir die Beine weh und ich will endlich die Füße hochlegen und was essen!« »Es gibt noch Tickets«, antwortete Asahi zusammenhangslos. »Und du hast Geld auf der Straße gefunden oder wie?«, entgegnete Makoto mit zusammengezogenen Augenbrauen. Wenn er Asahi nicht schon von klein auf kennen würde, hätte er ihn einfach stehen gelassen. Doch unter diesem Umstand gestattete, dass seine gute Erziehung nicht. »Ich habe ein wenig angespart. Wir können morgen früh kündigen und gehen – unsere Familien werden genug Geld haben. Und wenn wir wieder da sind, suchen wir uns neue Arbeit!«, sagte Asahi begeistert und griff nach Makotos Handgelenken. »Bist du dabei?« »Makoto bekam bei der Sache ein ganz ungutes Gefühl. Nicht nur, weil die Besessenheit in Asahis Augen grenzenlos war, sondern auch, weil Makoto befürchtete, dass sein Freund vor nichts zurückschrecken würde, um auf dieses Schiff zu gelangen. »Ich kann meine Mutter nicht alleine lassen. Das würde sie umbringen!«, entgegnete Makoto sorgenvoll. Selbst an Tagen, an denen Makoto seine Mutter selbstlos unterstützt, brach sie beinahe vor Erschöpfung zusammen. Er konnte jetzt nicht einfach für zwei Wochen verschwinden. Entschieden schüttelte Makoto mit dem Kopf. »Ich kann von dir nicht verlangen, dass du dein hart verdientes Geld dafür ausgibst, meine Familie durchzufüttern! Außerdem ist meine Mutter nichts körperlich in der Lage, zwei Wochen meine kleinen Geschwister zu hüten!« Asahi seufzte schwer und ließ den Kopf hängen. »Du bist mein ältester und bester Freund. Wäre die Situation eine andere, würde ich dich liebend gerne begleiten. Aber unter diesen Umständen, kann ich dir nur eine schöne Reise und einen schönen Aufenthalt in New York wünschen«, sagte Makoto beschämt und traute sich nicht, seinem Freund in die Augen zu sehen. Die bittere Enttäuschung erfasste Asahis Gesicht. Er zog sich seine Kappe tief ins Gesicht und steckte die Hände in seine Jackentaschen. »Danke«, sagte Asahi, ebenfalls ohne seinem Gegenüber in die Augen zu sehen. »Wir sehen uns in zwei Wochen – ich bring dir was mit!« Mit diesen Worten und ohne eine Antwort von Makoto abzuwarten, verschwand Asahi von der Feuertreppe. Makoto seufzte schwer und drehte sich wieder zur Titanic. Er zündete sich eine Zigarette an. Während er das Schiff der Träume anstarrte, fragte er sich, was das Leben für ihn bereithielt. Würde er für immer in Halls Brass Factory Kohle schaufeln? Würde er irgendwann einmal heiraten und Kinder bekommen? Würde er jemals New York zu sehen bekommen? Er drückte die Zigarette am Geländer aus und vergrub die Hände in den Jackentaschen. Ein letzter Blick auf die Titanic folgte, dann machte er sich auf den Heimweg. Seine Mutter würde ihm für sein zu spät Kommen wohl oder übel eine fette Standpauke halten. Tja, dachte er sich, ich bin ja selbst dran schuld. ∞ Nervös ging Nagisa auf dem Pier auf und ab. Ein wenig Angst schwang in seinen Schritten mit. Er hielt Rei zwar nicht für jemanden, der ihn an die Polizei meldete, aber wenn man sich nicht kannte, musste man ja mit allem rechnen. Als er am Bug ankam und sich umdrehte, um zum Heck zurück zu laufen, stand plötzlich Rei vor ihm – gemeinsam mit einem großen, schwarzhaarigen Mann, dessen stechend grünen Augen sogar in dieser tiefen Nacht herrlich funkelten. »Schönen guten Abend Nagisa – mussten Sie lange warten?«, fragte der Kellner den Ausguck mit einem breiten Lächeln. Nagisa war im Moment nicht nach grinsen zumute. Verärgert über Reis unerwartete Begleitung, verschränkte er die Arme vor der Brust. »Nein, alles in Ordnung. Wen haben Sie da mitgebracht Rei?« Nagisa versuchte die Eifersucht aus seiner Stimme zu verbannen, doch gelingen tat ihm das nicht ganz. Rei begann zu schmunzeln. »Das ist mein Freund Sousuke Yamazaki – er ist Hilfskoch im Restaurant und wir teilen uns eine Kajüte.« In diesem Moment trat Sousuke hinter Rei hervor und streckte Nagisa die Hand hin. »Schön Sie kennenzulernen«, sagte der Riese mit tiefer, brummiger Stimme. Nagisa ergriff die Hand und nickte Sousuke zu. So schnell wie er die Hand ergriffen hatte, ließ er sie auch wieder los. Er mochte sein Gegenüber irgendwie überhaupt nicht. Dieser Sousuke kam ihm suspekt vor. Um die aufkeimende negative Stimmung gleich wieder im Keim zu ersticken, wandte sich Nagisa mit einem aufgesetzten Lächeln an Rei. »Ich habe ein nettes kleines Fischer-Lokal direkt hier an der Hafenpromenade gefunden – dort wären wir ungestört«, erzählte der Ausguck begeistert. Er konnte es aber nicht unterlassen Sousuke einen bösen Seitenblick zu zuwerfen. Rei lächelte asymmetrisch, dann nickte er und setzte sich in Richtung Hafenpromenade in Bewegung. Sousuke folgte wortlos. Nagisa sah den beiden mit einem zuckenden Augenlid hinterher. Wenn er könnte, würde er Sousuke vom Pier schmeißen. Sie Hafenpromenade begann direkt hinter der Titanic. Sie war nicht besonders lang und wurde nur von der Belegschaft der Schiffe und der Fabriken wirklich besucht. Deswegen waren die meisten Lokale, Kneipen in denen es Brandy und Rum gab. Dort genossen bäuerliche Männer ihren Feierabend, rauchten, tranken und brüllten herum. Manchmal prügelten sie sich auch. Nagisa fand das abscheulich. Umso froher war er darüber, dass es ganz am Ende der Promenade ein kleines Fischerlokal gab, in das sich fast nie jemand verirrte. Während sie die Tianic umrundeten, konnten sie das Schiff in seiner vollen Pracht bewundern. »Was hat sie eigentlich auf dieses Schiff verschlagen?«, fragte Nagisa unvoreingenommen. Es schien, als wäre dieser Sousuke ein Freund von Rei. Und weil er Angst hatte, diesen zu vergraulen, musste er sich mich Sousuke gutstellen. Ob ihm das nun passte oder nicht. »Mein Vater ist vor einem Monat an den Pocken gestorben und meine Mutter starb bei meiner Geburt. Ich habe nur noch meinen Bruder, aber der ist vor ein paar Jahren nach Amerika gegangen und nie wieder zurückgekehrt. Ich will ihm jetzt folgen und ihn finden und mir dann in Amerika ein neues Leben aufbauen«, erzählte Sousuke mit ausweichendem Blick. Nagisa senkte den Kopf. »Mein Beileid zu ihrem Vater und ihrer Mutter – es muss eine harte Zeit für sie gewesen sein.« »Es war – erträglich. Mein Vater hatte vor ein paar Wochen Fahrkarten für die Titanic ergattert. Er wollte seinen älteren Sohn auch unbedingt widersehen und hat hart dafür gearbeitet. Es fiel mir unglaublich schwer, sie zu verkaufen. Aber andernfalls hätte ich seine Beerdigung nicht finanzieren können.« Nagisa wollte etwas Aufmunterndes sagen, doch Rei kam ihm zuvor. »Ich habe ihm schon angeboten, dass er in Amerika eine Weile bei mir und meiner Familie bleiben kann. Mein Vater ist über zusätzliches Arbeitskräfte immer sehr erfreut!« »Welche Tätigkeit übt ihr Vater denn aus?«, fragte Nagisa neugierig. Er war froh, dass ihr Gespräch sich einem erfreulicheren Thema zu wendete. Und noch erfreuter war er, weil es dabei um Rei ging. »Er hat kurz nach meiner Abfahrt in Richtung England, eine große Maisplantage übernommen. Der Brief meiner Mutter war beinahe zwölf Seiten lang und muss sie eine Menge Briefgeld gekostet haben. Ich bin sehr gespannt darauf, ob das Stück Land wirklich so schön ist, wie sie es beschrieben hat«, schwärmte Rei. Nagisa rutschte ein Stück an ihn heran. »Vielleicht bekomme ich ja die Möglichkeit die Plantage während unseres Aufenthalts zu erkunden – oder was meinen Sie Rei?« Auf Reis Wangen legte sich ein sanfter Rotschimmer. Er überging die Frage, in dem er auf das Lokal zeigte und fragte, ob sie hier richtig waren. Nagisa bejahte dies höflich, also traten die drei jungen Männer ein. Sie vertrieben sich den Abend mit gebratenem Hering, Bier und ausschweifenden Gesprächen über die Titanic. ∞ Makotos Familie bewohnte eine winzige Wohnung im Herzen Southamptons. In einer Seitengasse, die vom Marktplatz abzweigte, stand das weiß-braune Fachwerkshaus. Im Erd- und Obergeschoss wohnte eine kleine Familie. Der Vater Metzger, die Mutter Angestellte in einer Schneiderei und die zwei Kinder – ein zehnjähriger Junge und ein vierjähriges Mädchen. Makotos Mutter hatte das Dachgeschoss, welches man nur über eine wackelige Außentreppe erreichte, angemietet. Es hatte nur zwei kleine Zimmer und eine kleine Kammer ohne Fenster, in der man sich Waschen konnte. Die Toilette befand sich im Innenhof, auf den insgesamt neun Häuser Zugriff hatten. Als Makoto die Klinke hinabdrückte und die Wohnung betrat, wunderte es ihn das Ren und Ran ihn nicht begrüßen kamen. Doch dann entdeckte er seine Mutter, die aus dem gemeinsamen Schlafzimmer heraustrat und die Tür leise knarrend hinter sich ins Schloss zog. »Guten Abend Mutter – geht es dir gut?« Makotos Mutter ist eine sehr herzliche Frau, mit einem warmen Lächeln und schokoladenbraunen Augen, die das Herz schmelzen lassen, wenn sie einen ansieht. Makoto hat sie als junge, aufrechtgehende Frau in Erinnerung, die auf der Straße jeden höflich grüßt und mit viel Stolz von ihrer Familie spricht. Und abends, wenn sie sich mit der Öllampe zu ihm ans Bett setzte und Abenteuergeschichten erzählte, dann hatte Makoto immer ganz genau gewusst, dass es auf der ganzen weiten Welt keine bessere Mutter geben konnte, als seine eigene. Doch nachdem sein Vater gestorben war, hatte sich vieles geändert. Seine Mutter ging gekrümmt von ihrer schweren Arbeit durch die Straßen und grüßte die Leute nicht mehr, weil sie sich schämte. Wenn sie mal in ein Gespräch verwickelt wurde, würgte sie es ab, weil sie nach dem Tod ihres Mannes nicht mehr von Stolz erfüllt war. Einschlafgeschichten bekamen sie auch nicht mehr zu hören. Und manchmal dachte Makoto, ihr warmes Lächeln lag zusammen mit seinem Vater auf dem Grund des Meeres. »Du kommst spät«, überging sie seine Frage. Dann warf sie einen Blick zum Ofen. »Die Suppe müsste noch warm sein.« Dankbar nickte Makoto und legte sein schmutziges Hemd neben der Wohnungstür ab. Seine Mutter füllte ihm eine Schüssel und stellte sie dann auf den urigen Esstisch, der beinahe den gesamten Raum einnahm. Makoto aß hastig und gierig, während seine Mutter neben ihm ihre Steuerkarte ausfüllte. Makoto brauchte keine fünf Minuten, um die Schüssel zu leeren. Als er den Löffel ablegte, packte seine Mutter ihren Stift bei Seite. »Asahi hat uns vorhin einen Besuch abgestattet. Er hat sich verabschiedet, weil er morgen auf dieses Schiff steigt«, erzählte seine Mutter mit zittriger Stimme. Makoto seufzte. »Du kennst ihn doch. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann zieht er das auch durch.« »Er hat gefragt ob er dich mitnehmen kann, wenn er mich dafür bezahlt.« Makoto klappte der Mund auf. Besorgt sah er seine Mutter an. Diese legte ihm eine Hand an die Wange und streichelte ihren Sohn sanft, während sie sich mit der anderen Hand Tränen aus dem Auge rieb. »Ich bin die stolzeste Mutter auf alle Kontinenten. Du bist so ein toller Junge. Bevor du an dich selbst denkst, denkst du zuerst an mich und Ren und Ran. Und meistens kommst du selbst dann immer viel zu kurz«, sagte sie weinerlich und bemühte sich um ein schmales Lächeln. Makoto schmiegte si9ch mit geschlossenen Augen in die sanfte Berührung. So harrten Mutter und Sohn einige Momente schweigend aus. »Ich habe sein Geld genommen und ihn gebeten dir eine Fahrkarte zu kaufen«, sagte sie leise und seufzte. »Ich weiß, dass du auf dieses Schiff willst und das es nur Asahi sein darf, mit dem du so eine Reise machst. Also geh – es wird vielleicht das einzige Mal in deinem Leben sein, wo du etwas nur für dich entscheiden darfst. Es wäre dumm diese Chance nicht zu nutzen!« Makoto starrte seine Mutter mit einer Mischung aus Freude und Fassungslosigkeit an. »Aber Mutter, wer kümmert sich um dich und Ren und Ran?« »Mit deinen Geschwistern werde ich schon irgendwie fertig. Außerdem bist du nur zwei Wochen weg. Die werden wir schon irgendwie überleben!« Makoto sprang stürmisch von seinem Stuhl auf und zog seine Mutter gleich mit in die Höhe. »Danke Mutter«, sagte er, während er sie in eine kräftige Umarmung schloss. Seine Mutter lachte mit Tränen erstickter Stimme. Und gleichzeitig betete sie zu Gott. Denn sie hatte bereits ihren Mann auf so einem Schiff verloren, da wollte sie ihren Sohn nicht auch noch verlieren. Hoffentlich würde Gott ihren Wunsch beherzigen, wenn er die Titanic im Meer versenkt … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)