Omniscient von lady_j (YuKa) ================================================================================ Kapitel 6: Sydney ----------------- F-Sangre vs. Barthez Soldiers Neo Borg vs. Baihuzu BBA Revolution vs. PPB All Starz „Kai! Hey Kai, warte mal!” Er erkannte die Stimme nicht, die nach ihm rief, doch als er sich umdrehte sah er das Sports-News-Duo, das das Turnier begleitete, winkend auf ihn zurennen. Die beiden hießen Mike und Makoto und waren das einzige Team, das Berichte übers Beybladen produzierte. Wann immer sie eine Moderation brauchten, holten sie DJ dazu, was das Ganze nicht erträglicher machte. Alle Blader, die bei mindestens einer Meisterschaft angetreten waren, kannten die beiden persönlich. Trotzdem konnten sie schlimmer sein als Paparazzi. „Gut, dass wir dich treffen!”, sagte Mike, als sie bei ihm angekommen waren, und Makoto nickte eifrig. „Kommt schon, Leute”, entgegnete Kai, „Heute ist unser freier Tag, lasst uns ein bisschen Privatsphäre.” Bisher war er von Interviews verschont geblieben, da Yuriy tatsächlich auf ihn gehört und das Genehmigungsformular nicht ausgefüllt hatte. Inzwischen tauchte er nicht einmal mehr zu den Pressekonferenzen auf. Umso mehr legten sich die beiden Fernsehleute ins Zeug, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln: „Hör dir doch erstmal an, was wir zu sagen haben…” Er seufzte und fuhr sich durchs Haar, das noch immer etwas feucht war. Er hatte sich eine Runde Schwimmen im Pool gegönnt, bevor die anderen Teams auf den gleichen Gedanken kamen. Es war Mikes und Makotos Glück, dass er sich dadurch endlich einmal wieder etwas ausgeglichener fühlte, denn anstatt sie abblitzen zu lassen erlaubte er ihnen tatsächlich, weiterzusprechen. „Pass auf, wir haben wirklich etwas Großes vor”, sagte Mike, „Sogar Daitenji-kacho hat zugestimmt. Wir drehen eine Reportage über Takao Kinomiya! Und natürlich sollen seine engsten Vertrauen auch zu Wort kommen!” Sein Gesicht zeigte nichts als pure Begeisterung für das Projekt. „Die Abschlusssequenz wird am Uluru gedreht. Rei und Max sind auch dabei, und Takao wird euch eine ordentliche Kampfansage machen. Was sagst du? Wir bringen es zur besten Sendezeit im Fernsehen und endlich könnt ihr den Fans den Kern eurer Rivalität zeigen!” „Unglaublich”, entgegnete Kai trocken. „Wann bringt ihr denn mal eine Reportage über mich, hm? Ich bin immerhin schon ein paar Jährchen länger im Geschäft als Kinomiya.” Er verkniff sich ein spöttisches Grinsen, als Mikes Gesichtsausdruck bei dieses Worten sogar noch seliger wurde. „Das wäre ja großartig! Ich sehe es schon vor mir - der große Kai Hiwatari: jetzt sagt er, was er wirklich denkt!” „Ja, sicher, lasst uns das machen”, sagte Kai, „Sprecht halt vorher alles mit meinem Teamchef ab.” Mike sackte zusammen und auch Makotos Mundwinkel fielen nach unten. Sie wussten beide, dass an Yuriy kein Vorbeikommen war. Er würde sie mit ihrer Kamera niemals auch nur in die Nähe seines Teams lassen. „Vielleicht kannst du ja ein gutes Wort für uns einlegen”, schlug Makoto vor und Kai hob nur unbestimmt die Schultern. „Wir werden sehen. Jetzt entschuldigt mich bitte.” Er schob sich an ihnen vorbei und nahm die Stufen zum Hoteleingang. Sobald sich die gläsernen Schiebetüren hinter ihm schlossen, war es wieder kühl. Im Frühstücksraum saßen inzwischen die meisten der anderen Teams. Baihuzu redeten laut durcheinander und Kiki schwenkte etwas, das wie ein Prospekt für einen Zoo aussah. Die PPB hatte sich um Miss Judys Laptop versammelt und sahen sich wahrscheinlich die Daten des Doppelmatches an. Bei F Sangre schien die Stimmung gedrückt, die Geschwister schwiegen sich an. Barthez Soldiers hingegen wirkten gelöst wie nie und Kai vermutete, dass dies zu einem nicht geringen Teil an der Abwesenheit ihres Coaches lag. Gerüchten zufolge hatte Barthez, nun da es unwahrscheinlich geworden war, dass sein Team ins Finale kam, alles hingeschmissen und Miguel die Verantwortung überlassen. Der schien sich auf den ersten Blick schnell an seine neue Rolle zu gewöhnen. Als er Kai sah, winkte er ihm aufgeregt zu - eine Geste, die unerwidert blieb. Stattdessen wurde er sich anscheinend bewusst, was er da eigentlich gerade tat, ließ die Hand wieder sinken und wirkte peinlich berührt. Kai hob belustigt die Augenbrauen. Er hatte schon gemerkt, dass Miguel seit ihrem Match - und vor allem nach dem Lob, das er erhalten hatte - etwas starstruck war. Er wandte sich schließlich seinem eigenen Team zu, das wie immer etwas abseits saß. Sergeij hatte eine Zeitung vor dem Gesicht aufgeschlagen, er wollte sein Englisch durch Lesen verbessern. Boris beugte sich über ein paar Dokumente und kritzelte wilde Berechnungen auf ein leeres Blatt daneben. Und Yuriy, der wohl gerade vom Laufen gekommen war, nippte an seinem Kaffee. Der Blick, den der Kai zuwarf, sagte ihm, dass sein Teamchef Miguels Patzer genau beobachtet hatte. Er war noch immer nicht gut auf Barthez Soldiers zu sprechen und Kai konnte sich nun erst recht keinen Reim darauf machen. Schließlich hatten sie sie sehr eindeutig besiegt, also wo war Yuriys Problem? Selbst Eifersucht hatte er schon in Erwägung gezogen - aber sein Leader war nie und nimmer eifersüchtig auf jemanden wie Miguel. Kai holte sich ebenfalls einen Kaffee und setzte sich zu den anderen. „Morgen, Gentlemen.” Er wollte eine spitze Bemerkung in Yuriys Richtung machen, doch Boris kam ihm zuvor. „Hiwatari, gib mir deinen Blade, ich will da noch ein bisschen was tunen”, sagte er und sah dabei nur kurz von seinen Berechnungen auf. „Kannst du das auch heute Abend machen?”, entgegnete Kai, „Ich brauche Dranzer vorher noch.” „Dann mache ich Wolborg zuerst. Yuriy?” „Ist okay.” Mit diesen Worten stand der Rothaarige auf und nahm seine Tasse. „Ich bringe ihn dir nachher.” „Warte mal”, unterbrach Kai. Yuriy, der im Begriff war, zu gehen, drehte sich noch mal zu ihm. „Können wir davor noch mal zusammen trainieren?” Sein Leader hob eine Augenbraue. „Dass ich diese Worte noch einmal aus deinem Mund hören würde…”, meinte er. „Ja, sicher. In einer Stunde? Ich besorge einen Raum.” „Na dann erzähl mal”, sagte Yuriy Schlag sechzig Minuten später, als er einen der Trainingsräume aufschloss und das Licht anschaltete. „Was verschafft mir die Ehre, von dir nach einem Trainingsdate gefragt zu werden?” Kai ging zur Bowl, doch anstatt sich für ein Battle bereit zu machen, setzte er sich auf das Podest und klopfte einladend auf den Platz neben sich. „Komm her, ich muss mit dir reden.” „Hast du etwa schon genug von mir?” Kai verdrehte die Augen. „Darum geht es nicht.” Der Rothaarige schien neugierig geworden zu sein, denn er sagte nichts, sondern kam der Aufforderung nach und setzte sich. Es war der Moment, auf den Kai schon eine ganze Weile gewartet hatte. Aus verschiedenen Gründen hatte er dieses Gespräch immer wieder hinausgezögert, aber wenn sie jetzt nicht darüber sprachen, war es zu spät. Dennoch fühlte er sich nicht im Mindesten vorbereitet. Er konnte nicht einmal ahnen, wie sein Leader reagieren würde. Vielleicht wies er ihn von sich, vielleicht wurde er aggressiv - vielleicht würde es alles kaputt machen. Doch Kai konnte es sich nicht leisten, seinen Plan zu verwerfen. Er hatte schlicht keinen besseren. „Okay, pass auf”, begann er und drängte alle Zweifel zurück. „Es geht um Attacken. Du kennst den Blazing Gig - ich meine, jeder kennt ihn. Und ich denke, du weißt so gut wie ich, dass er inzwischen kaum noch stark genug sein wird, um Matches zu gewinnen.” Yuriy nickte nur. „Ich habe eine zweite Attacke entwickelt”, fuhr Kai fort, wenn auch etwas zögerlich. „Ursprünglich wollte ich sie erst im Finale anwenden. Die bisherigen Battles waren allerdings anspruchsvoller, als ich erwartet habe. Da wir als nächstes gegen Baihuzu antreten, bin ich nicht sicher, ob ich sie noch länger unter Verschluss halten kann. Und das bringt mich zum eigentlichen Problem.” Yuriy wusste auf Anhieb, was er meinte. „Du brauchst eine neue Attacke”, sagte er, „Eine noch stärkere. Für den Fall, dass es nach Baihuzu noch härter wird.” „Ja. Ich denke darüber schon seit einer Weile nach. Und ich habe da eine Idee, doch ich fürchte, sie wird dir nicht gefallen.” Yuriy verzog kurz den Mund. „Bin ganz Ohr.” Kai sah auf seine Knie hinab. Er verschränkte die Finger und schob die Hände zwischen die Oberschenkel. „Du musst mir zeigen, wie man die Holy Beast Weapon aufbaut”, sagte er schließlich. Yuriy blieb still. Als Kai den Kopf hob, um ihn anzusehen, war kaum eine Regung in seinem Gesicht zu erkennen. Er schien wie erstarrt. Dann jedoch gab er ein langes, tiefes „Hmm” von sich. „Ich ahne, was du denkst”, fing Kai wieder an, „Die Holy Beast Weapon ist keine Attacke, sondern eine von Volkov entwickelte Waffe. Trotzdem - sie hätte nie funktioniert, hättest du nicht gewusst, wie die Energien der Bit Beasts gebündelt werden können. Und genau das muss ich auch wissen. Ich muss Suzakus Energie für einen einzigen Schlag konzentrieren.” Yuriy stand auf. Kais Hände verkrampften sich ineinander, während sein Leader ein paar Schritte ging, sich dann zu ihm umdrehte und sich seufzend durch die Haare fuhr. „Du weißt nicht, was du da von mir verlangst, Kai. Diese Attacke - ich habe mir geschworen, sie nie wieder einzusetzen.” „Das musst du ja auch nicht!”, entgegnete er prompt, denn er hatte mit so einer Aussage gerechnet. „Ich brauche nur einen Teil der Technik. Und ich will sie ja auch nur mit einem einzigen Bit Beast einsetzen, mit Suzaku.” „Darum geht es nicht”, entgegnete Yuriy, „Nicht nur. Es geht auch um Volkov.” Als er diesen Namen aussprach, manifestierte sich sein ganzes Unbehagen in seiner Körperhaltung. Er schlang die Arme um sich und rieb mit einer Hand seine Schulter. „Er hat sich damals wirklich Mühe gegeben, mich auf dieses Level hochzupushen, damit ich in der Lage war, diese Attacke zu kontrollieren. Das Training war...unmenschlich.” „Aber du warst ein Kind”, wandte Kai ein. Seine Worte klangen bei Weitem nicht so überzeugend, wie er sie gerne vorgebracht hätte. Ganz aufgeben wollte er aber auch nicht. „Natürlich warst du zu schwach. Aber jetzt sind wir älter. Und stärker. Meinst du nicht, es ist jetzt sicherer für uns?” „Du kapierst es nicht, oder, Kai?”, fuhr Yuriy ihn an, „Die Holy Beast Weapon - der Krasnaja Kometa, den alle sahen - ist wie ein Geschoss, die Munition. Dir ist klar, was man benötigt, um Munition zu verwenden, oder?” „Eine Waffe”, antwortete Kai leise. „Richtig. Nur, dass in diesem Fall nicht dein Bit Beast diese Waffe ist. Nicht einmal dein Blade. Sondern du selbst.” „Das habe ich verstanden.” „Nein, du hast gar nichts verstanden. Was passiert, wenn du eine Schusswaffe abfeuerst? Es gibt einen Rückschlag. Je größer dein Gewehr desto heftiger der Rückschlag. Bei Krasnaja Kometa ist es genauso. Zuerst würdest du zulassen müssen, dass Suzaku sich so fest mit deinem Geist verbindet, dass du den Schuss lösen kannst. Doch das ist der einfache Teil, denn danach musst du, dein Körper, den Rückschlag abfangen.” „Was passiert, wenn ich nicht - „ „Es zerreißt dich”, unterbrach Yuriy ihn. Kais Augen weiteten sich, doch der Rothaarige fuhr unbeirrt fort. „Entweder, du fängst die geballte Energie ab oder sie vernichtet dich. Als ich dafür trainiert habe, hätte Wolborg mich jederzeit beim kleinsten Fehler töten können. Und wenn es mir nicht gelungen wäre, sie zu lenken, hätten später die Bit Beasts, die du für Volkov gestohlen hast, mich umgebracht.” In seinen Augen lag ein Schmerz, den Kai so noch nicht an ihm gesehen hatte. „Ich hatte keine Wahl. Ich wollte die Holy Beast Weapon niemals entwickeln oder gar anwenden, aber ich musste es.” „Aber-” „Und jetzt willst du, dass ich dir genau das zeige? Wie du dich mit einer Macht verbindest, die so stark ist, dass dein Körper sie unmöglich halten kann?” „Wenn wir ins Finale kommen und gewinnen wollen, gibt es keine Alternativen!”, unterbrach Kai ihn laut, „Denkst du, wir kommen durch dieses Turnier, ohne Risiken einzugehen? Alle unsere Rivalen sind furchtbar stark, und sie werden kontinuierlich stärker. Wir haben beide gewusst, dass er so enden wird. Und deswegen sind wir doch jetzt in einem Team, oder?” Er war nun ebenfalls aufgestanden und ging einen Schritt auf Yuriy zu. „Wir haben uns zusammengetan, weil wir beide nur eines brauchten - einen Partner, dem egal ist, wie hoch der Preis für den Sieg ist.” In Yuriys Mimik ging etwas vor sich, das Kai absichtlich überging. „Mach jetzt bitte keinen Rückzieher, Yuriy.” „Wie stellst du dir das vor?”, entgegnete der Rothaarige leise, „Dir mag egal sein, ob du verletzt wirst, oder Schlimmeres. Du warst schon immer so. Ich gebe zu, du überraschst mich immer wieder mit der Kraft, die in dir steckt - aber sieh dich doch mal an. Wir sind kurz vor dem Ende des Turniers und Suzaku frisst dich förmlich auf. Denkst du, dass wir das nicht bemerken?” Leider hatte er durchaus recht. Je länger sie so intensiv mit ihren Bit Beasts verbunden waren wie jetzt, desto schneller bauten sie körperlich ab. Das ging jedem Blader so. Doch genau deswegen musste Kai genau jetzt das Können sammeln, um Kinomiya zu schlagen! War Yuriy das denn nicht bewusst? Sein Leader hatte ihn eine Weile gemustert, bevor er weitersprach: „Mich musste Volkov mit Medikamenten vollpumpen und in den Inkubator stecken, damit ich es aushielt. Und ob ich es heute noch schaffe, wage ich zu bezweifeln. Nicht einmal Sergeij würde alledem standhalten, und er ist fast doppelt so breit wie du. - Kai. Wenn dir was passiert… Du verlangst von mir, dich geradewegs in eine Katastrophe rennen zu lassen.” Es war schwer, die Wirkung, die diese Worte hatten, zu ignorieren. Sein Ehrgeiz hatte ihn nicht vollständig blind gemacht. Er wollte Yuriy nicht verletzen, und noch weniger wollte er, dass der andere für ihn an diesen dunklen Ort seiner Vergangenheit zurückkehrte. Wenn ihm in diesem Moment eine andere Möglichkeit eingefallen wäre, hätte er gern darauf zurückgegriffen. Aber es gab sie schlichtweg nicht. Mit der Entwicklung seiner noch geheimen Attacke, dem Blazing Gig Tempest, war er an die Grenzen des für ihn Machbaren gegangen. Die einzige Möglichkeit, das noch zu steigern, war, Suzaku noch mehr in sich aufzunehmen - und die Konsequenzen zu ignorieren. Borg war die einzige Organisation, die überhaupt jemals so weit gegangen war. Jetzt würden diese verdammten Experimente endlich ihren Nutzen bringen. Er ging zu Yuriy und zog sanft dessen Arme auseinander. Nur zögerlich lösten sich die Finger des Rothaarigen aus seiner Jacke, in die er sie gekrallt hatte, womöglich ohne zu wissen, was er tat. Kai hielt seine Oberarme in einem festen Griff und sah zu ihm auf. „Es tut mir leid”, sagte er, „Ich habe nicht geahnt, dass du dadurch in so einen Konflikt geraten würdest. Aber du bist der einzige, der mir helfen kann.” Er hätte ihn geschüttelt, wenn es nötig geworden wäre, doch stattdessen zog Yuriy ihn zu sich heran und umarmte ihn. Für eine Weile standen sie einfach so da und Kai fragte sich, was in dem anderen vorging. „Warum jetzt, Kai?”, erklang Yuriys Stimme dicht an seinem Ohr, „Hättest du mich in Irkutsk gefragt oder in Rom, hättest du mich wahrscheinlich überzeugen können. Aber jetzt ist alles...anders zwischen uns. Ich will einfach nicht, dass dir was passiert.” Kai fühlte deutlich, wie sein Herz in seinem Brustkorb schlug und drückte ihn unbewusst fester an sich. Er war innerlich aufgewühlt, denn er wollte nicht beschützt werden, hatte ja nie darum gebeten, und gleichzeitig wollte er in diesem Augenblick einfach alles hinschmeißen. Mit sanftem Druck schob er Yuriy ein Stück von sich weg. Er hatte keine Argumente mehr, bis auf eines: „Yuriy, ich weiß, du willst dieses Turnier genauso sehr gewinnen, wie ich. Keine Ahnung, was dein Grund ist, aber die ganzen letzten Wochen über hat es für dich nur dieses eine Ziel gegeben. Willst du das jetzt wirklich aufgeben?” Sein Gegenüber schloss resigniert die Augen. „Nein. Natürlich nicht.” „Dann denk daran, was für dich auf dem Spiel steht. Es geht hier nicht um … um uns, es geht darum, dieses Match zu gewinnen.” Er hoffte, mit diesen Worten an den Yuriy zu appellieren, der in der Abtei gelernt hatte, alle Sentimentalitäten hintanzustellen. Es war unfair, aber es war notwendig. „Für diese Finale müssen wir stark sein”, murmelte sein Leader und es klang wie ein Mantra. „Dann hilf mir, stark zu werden.” Zwischen Yuriys Augenbrauen entstand eine steile Falte. Für eine Weile war dies die einzige Reaktion, die von ihm kam. Was in seinem Inneren vor sich ging, war nicht zu erkennen. Dann nickte er kaum merklich. Kai atmete aus und lockerte endlich den Griff, denn seine Hände hatten sich in Yuriys Arme gegraben. „Danke.” „Aber dann gibt es kein zurück. Ich hoffe, das ist dir klar”, sagte Yuriy, „Und uns bleibt nicht viel Zeit. Wir müssen sofort beginnen.” „Ich bin bereit.” „Nein, das bist du nicht. Das ist niemand.” Endlich öffneten sich die blauen Augen wieder, doch jetzt war die Unsicherheit aus ihnen verschwunden. Yuriy musterte ihn grimmig. „Aber vielleicht habe ich mich geirrt. Du bist anders als ich. Du hast diesen Willen, und vor allem bist du - ungebrochen.” „Yuriy…”, sagte Kai leise, denn bei diesem letzten Wort durchfuhr ihn ein kurzer Schmerz. Doch der Rothaarige regte sich nicht. „Es ist okay”, sagte er und atmete einmal tief durch, „Beweise mir einfach, dass du das schaffst, Kai. Denn anscheinend muss es so sein: Wir werden ihnen einen neuen roten Kometen bringen.” In Kai stieg triumphaler Übermut auf - gemischt mit Angst. Das ging auch an Suzaku nicht unbemerkt vorbei. Ihre Flammen züngelten in ihm, nervös, aber zuversichtlich. Gemeinsam würden sie an einer Macht teilhaben, die sie so noch nie gespürt hatten - und das Gefühl von Macht hatte sie schon immer beflügelt. Und Yuriy? Er schien nicht ganz fassen zu können, worauf er sich eingelassen hatte, denn er schüttelte leicht den Kopf. Doch dann sah er Kai wieder an und der Tatendrang griff langsam auf ihn über. Auch ihm war klar, dass sie im Begriff waren, etwas wirklich Großes zu tun. Sein Leben in der Abtei hatte ihn gelehrt, nach Macht zu greifen wenn sich die Gelegenheit bot. Und so waren sie jetzt hier. Auf ihren Gesichtern breitete sich gleichzeitig ein gefährliches Grinsen aus. Eines war klar: Bei dieser Weltmeisterschaft gab es niemanden, der bereit war, so viel zu riskieren wie sie. „Wir sind verrückt”, urteilte Yuriy. „Überrascht dich das?”, entgegnete Kai. „Nicht im Geringsten. Aber du bringst alle meine schlechten Seiten zum Vorschein.” „Gut. Ich brauche den Yuriy, der einen Dom aus Eis errichten kann.” Sein Leader schubste ihn leicht in Richtung der Bowl. „Du willst meinen Partytrick sehen? Kannst du haben.” Kai schnaubte belustigt und drehte sich um. Er erwartete, dass Yuriy ihm folgen würde, doch als er auf das Podest kletterte, stieß der andere hinter ihm einen sehr lauten, sehr derben Fluch aus. Erstaunt blickte Kai zu ihm zurück und sah, dass er sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Stattdessen ging sein Blick zur Decke. „Das Finale mit Volkovs eigener Waffe gewinnen!”, rief Yuriy, „Oh, das wird gut!” Es war Nachmittag geworden, als sie den Trainingsraum wieder verließen. Kai fühlte sich, als wäre er durch die Mangel gedreht worden, körperlich wie geistig. Seine Beine zitterten bei jedem Schritt, er war zerzaust und verschwitzt. In seinem Schädel pochte der Schmerz. Suzaku sandte heiße Stiche durch seinen Körper, von seinem Unterbauch bis hinauf in die Brust. Manche waren so heftig, dass sein Blick kurz verschwamm. Yuriy ging es etwas besser, doch auch er sah arg mitgenommen aus. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe eingegraben. „Kannst du alleine laufen?” Kai nickte stumm, stellte aber bald fest, dass er sich zumindest an der Wand festhalten musste, um voran zu kommen. Irgendwann ließ Yuriy ihn sich auf seine Schulter stützen und legte ihm die Hand leicht auf den Rücken. Langsam kamen sie dem Ausgang näher. „Wir sollten erstmal nicht weitermachen”, fing Yuriy wieder an, „Du brauchst deine Kraft noch für das Halbfinale.” Sein Griff wurde fester, weil Kai in diesem Moment stolperte. „Trotzdem”, urteilte er, „Es ist ein Wunder, dass du überhaupt noch stehen kannst.” „Ich fasse das...als Kompliment auf.” „Darfst du. Du bist verdammt zäh, Kai.” Zum Glück lag das Hotel nur wenige Schritte vom Stadion entfernt. Sie kamen ungesehen dort an, doch auf dem Weg in ihr Zimmer trafen sie auf Michael und Emily. Die beiden starrten sie schockiert an. „Was ist denn mich euch passiert?” „Training, Emily, Training”, ächzte Yuriy und zog Kai weiter den Flur entlang, ohne die PPB-Blader zu beachten. „Braucht ihr irgendwie einen Arzt oder sowas?”, rief Michael ihnen hinterher. „Ich sag dir was wir nicht brauchen - eure Hilfe!”, gab der Rothaarige über die Schulter zurück. Kai bekam von diesem Austausch nur am Rande etwas mit, er war mit sich selbst beschäftigt. Als sie bei ihrer Tür angekommen waren, musste er sich an die Wand lehnen. Plötzlich war ihm schwindelig geworden. Er legte die Hand über die Augen. „Ist dir schlecht?”, fragte Yuriy, der in seinen Taschen nach der Schlüsselkarte suchte. „...ja.” Die Tür ging auf und sein Leader packte ihn am Ellenbogen, denn sobald er sich von der Wand abgestoßen hatte, schwankte er auf der Stelle. „Ich warne dich mal vor, es wäre nicht ungewöhnlich, wenn du dich übergeben musst”, sagte er und Kai stöhnte. Zwei Minuten später hing er hustend über der Kloschüssel. Es ging ihm immer noch beschissen, aber immerhin drehte sich nicht mehr alles um ihn herum. „Keine Sorge, das geht schnell vorbei”, sagte Yuriy hinter ihm, dann fühlte er seine kühle Hand auf der Stirn. „Du glühst ja!” Doch Kai winkte ab. „Das ist nur Suzaku.” „Das kann auf Dauer aber nicht gut für deinen Körper sein.” „Ist Wolborg etwa gut für deinen Körper?”, stellte er die Gegenfrage und Yuriy blieb ihm eine Antwort schuldig. In diesem Augenblick stieg ihm das letzte Mal die Galle hoch. Danach war es endlich vorüber. Während er die Spülung betätigte, ging Yuriy zurück ins Zimmer, um eine Flasche Wasser aus der Minibar zu holen. Kai hörte, wie er irgendetwas aus dem Weg schob. Noch immer war er zu schwach, um aufzustehen. „Hey Yuriy”, sagte er und schaffte es nicht, so laut zu sprechen wie er wollte. „Hm?” „Geht es dir gut?” Yuriy tauchte wieder in seinem Blickfeld auf. Er reichte ihm das Wasser und lehnte sich in den Türrahmen, während Kai trank. „Mir geht es gut”, sagte er dann. „Es ist seltsam, irgendwie… Ich glaube, unser Training könnte mir helfen, darüber hinwegzukommen, was passiert ist.” „Konfrontationstherapie”, sagte Kai schwach und seine Mundwinkel zuckten. Yuriy lachte müde. Einen Augenblick später hielt er inne und sah über die Schulter zurück. Auch Kai hörte es nun - ein leises, rhythmisches Vibrieren. „Kai, dein Handy leuchtet”, stellte Yuriy fest, „Ich glaube, dich ruft gerade jemand an.” „Kannst du sehen, wer?” „Da ist ein Bild von einem Beyblade-Maskottchen auf dem Display.” „Scheiße”, ächzte Kai schwach, „Das ist Kinomiya.” „Takao Kinomiya? Soll ich rangehen?” Er überlegte kurz, bevor er Ja sagte. Kinomiya hatte absolut keinen Grund, einfach nur einen Plausch mit ihm halten zu wollen. Also musste es wichtig sein. Er hörte, wie Yuriy den Anruf entgegennahm. „Ja?” Er sprach Englisch. „Nein, der ist gerade...hm, verhindert.” Es entstand eine Pause, wahrscheinlich redete Kinomiya gerade auf seinen Leader ein. Dann kam Yuriy zu ihm zurück und reichte Kai das Handy. „Ist wohl besser, wenn du mit ihm redest”, sagte er, dieses Mal wieder auf Russisch. Kai nickte nur ergeben und nahm ihm das Gerät ab. Dann lehnte er den Kopf gegen die geflieste Wand. „Kinomiya?” „Wow, du hörst dich scheiße an.” „Du klingst auch nicht gerade besser.” Und das stimmte: Kinomiyas Stimme war schleppend und monoton. „Ist ja gut”, sagte er. „Kai, hör zu. Du hast bestimmt von dieser Reportage gehört, die über die BBA Revolution gemacht werden sollte.” Er brummte. Tatsächlich hatte er seit heute Morgen keinen Gedanken mehr daran verschwendet. „Also - wir haben sie gecancelt. Es war eine blöde Idee. Aber bevor du jetzt wieder sagst, dass du das alles sowieso gewusst hast und mich einen Idioten nennst -“ Bei diesen Worten konnte Kai ein Grinsen nicht unterdrücken. Wäre er nicht immer noch so zittrig hätte er wohl genau das gemacht, was Kinomiya ihm gerade vorwarf. „Ich muss mit euch reden. Mit dir, Max und Rei. Können wir uns treffen? Heute Abend beim Hawkesbury Lookout?” „Warte”, sagte Kai und ließ das Handy sinken. Schwerfällig kam er auf die Beine und ging zu Yuriy, der sich aufs Bett gelegt hatte. „Ich muss heute noch mal weg”, sagte er zu ihm, wobei er vom Japanischen zurück ins Russische wechselte. Sein Gehirn hatte in diesem Moment einige Schwierigkeiten, die Sprachen auseinanderzuhalten. „Ich treffe die anderen am, äh, Hawkesbury Lookout. Wo immer das ist.” „Wie willst du dort hinkommen?”, fragte sein Leader, eine Frage, die Kai in seiner jetzigen Verfassung überforderte. „Keine Ahnung”, antwortete er, „Bus?” Yuriy setzte sich auf. „Ich fahr dich.” „Was?” „Du hast mich doch gehört. Also guck nicht so.” „Okay…”, stammelte Kai und hob den Hörer wieder ans Ohr, um Kinomiya zuzusagen. „Was zur Hölle habt ihr gemacht?” Auf Boris’ Gesicht stand ein Ausdruck puren Horrors, als Yuriy und Kai ihm ihre Blades übergaben. Es war ihm nicht zu verdenken - Dranzer und Wolborg hatten bei ihrem Training ganz schön gelitten. Die Worte ihres Teamkollegen bezogen sich allerdings nicht nur auf den Zustand ihrer Blades, sondern auch auf sie selbst. Kai wusste, dass er noch immer kreidebleich war und Yuriy wirkte, als hätte er drei Nächte lang nicht geschlafen. „Ich erkläre es dir später”, sagte er, „Machst du sie wieder fit? Kai und ich müssen noch mal los.” „Ins Bett gehen müsst ihr, weiter nichts, Yuriy - habt ihr mal in den Spiegel geguckt?” Angelockt von diesen Worten kam nun auch Sergeij hinzu. Er tauchte hinter Boris auf und blinzelte überrascht, als er sie sah. „Hör auf, Mama zu spielen, es geht uns schon wieder besser.” Ihre beiden Teamkollegen wechselten einen Blick. „Ich kann sie auch einfach rüberbringen und einsperren”, schlug Sergeij vor und Boris verzog zustimmend das Gesicht. „Woah - wehe du packst mich an!”, sagte Kai und hob abwehrend die Hände. Dabei merkte er, dass er immer noch unsicher auf den Beinen war. Doch Yuriy kam ihm zur Hilfe und überzeugte die anderen beiden davon, dass sie schon nicht verlorengehen würden. Außerdem würde mindestens Boris wahrscheinlich die ganze Nacht brauchen, um Dranzer und Wolborg wieder zu reparieren, und Sergeij würde ihm sicher zur Hand gehen. Das ließ sich nicht wegargumentieren, und angesichts des nahen Halbfinales nahmen sie zähneknirschend ihre neue Aufgabe an. Nachdem das erledigt war, besorgten sie sich einen Wagen. Yuriy war zwar erst im Februar achtzehn geworden, hatte aber beinahe sofort seinen Führerschein gemacht und ein wenig mehr Geld in die Hand genommen, um auch eine internationale Fahrerlaubnis zu bekommen. Diese kam ihnen nun zugute. Das Hotel vermietete einige Kleinwagen, von denen sie einen bekamen. Mit diesem reihten sie sich nur wenig später in den Feierabendverkehr ein. Kai setzte seine Sonnenbrille auf, während Yuriy auf einen Highway bog und ordentlich beschleunigte. Er war ein ziemlich guter Fahrer und hatte sich auch schnell an das Automatikgetriebe gewöhnt, obwohl er bisher nur mit manueller Schaltung gefahren war. Kai legte den Kopf zurück und entspannte sich. Seine Kräfte waren schon beinahe wieder hergestellt. Sie hatten die Fenster heruntergefahren, anstatt die Klimaanlage einzuschalten, und das Radio ziemlich weit aufgedreht. Wahrscheinlich wirkten sie wie die letzten Checker. Als sie in einem kurzen Stau steckenblieben, zündete Yuriy sich eine Zigarette an und stützte den Ellenbogen an der Tür auf. Kai rutschte in seinem Sitz nach unten und presste die Knie ans Armaturenbrett. „Da sind wir ja richtig weit gekommen“, murmelte er. Sein Leader grinste und nahm die Hand vom Lenkrad, um sie wie selbstverständlich auf seinen Oberschenkel zu legen. „Keine Sorge, wir sind eh früh dran.” Er beobachtete, wie Yuriys Daumen auf seiner Hose hin und her strich, bis die Hand von seinem Bein verschwand, als der Verkehr wieder stockend in Bewegung kam. Kai ertappte sich dabei, wie er die Berührung vermisste. Kurz darauf löste sich der Stau auf und sie fuhren auf beinahe freier Straße in Richtung Stadtgrenze. Es stellte sich heraus, dass der Hawkesbury Lookout ein Aussichtspunkt westlich von Sydney war, von dem man sowohl die Stadt als auch die sie umgebende Natur betrachten konnte. Tagsüber mochte es ein sehr touristischer Ort sein, jetzt am Abend war der Parkplatz kurz unterhalb des Plateaus so gut wie leer. Die ganze Szenerie war in das orangefarbene Licht des Sonnenuntergangs getaucht und am Himmel spielte sich ein ziemlich spektakulärer Wechsel von Hellblau, Gelb und Rosa ab. Sie stiegen aus, setzten sich nebeneinander auf die Motorhaube und blickten eine Weile versonnen nach oben. Es war kühl, doch Kai empfand dies nach dem Training als sehr angenehm. Er räusperte sich, um Yuriys Aufmerksamkeit zu bekommen. „Ich bin dir wirklich dankbar für das, was du heute getan hast”, sagte er, „Also - danke nochmal.” Yuriy hob die Mundwinkel, doch es war kein Lächeln. „Was ich vorhin gesagt habe, war ernst gemeint”, entgegnete er, „Du bist wirklich zäh. Die meisten anderen hätten allein von dem, was ich heute mit dir gemacht habe, genug. Und wir sind auch viel weiter gekommen als ich dachte. Womöglich wirst du tatsächlich bis zum Finale deinen eigenen Kometen haben.” Kai erwiderte zunächst nichts, denn er wusste nicht, ob die Frage, die ihm auf der Zunge lag, angebracht war. Vor seinem inneren Auge stand ein Bild, das er vor dem heutigen Tag zum letzten Mal im Stadion in Russland erblickt hatte. Eine riesige Kuppel aus Eis, die hoch über ihm aufragte. Jeder Laut versickerte in den verwinkelten, glatten Wänden und kaum ein Lichtstrahl gelangte durch sie hindurch. Seine Erinnerungen an das Turnier in Moskau waren noch immer klar, doch es gab einen Unterschied: Damals hatte er das Eis nur von außen gesehen. „Was ich heute von dir gesehen habe, war ziemlich beeindruckend”, fing er schließlich vorsichtig an. „Warum nutzt du diese Techniken nicht in deinen Battles?” Yuriy hob den Blick erneut zum Himmel und ließ sich Zeit mit der Antwort. „Ich habe diese Techniken angewendet, um Menschen zu verletzen”, sagte er dann. „Und irgendwie waren es nie meine Techniken, sondern Volkovs. Momentan bin ich vielleicht nicht so stark, wie ich sein könnte, aber zumindest kommt alles was ich tue von mir selbst. Trotzdem. Inzwischen finde ich den Gedanken gut, dass du einen roten Kometen haben wirst. Vielleicht gelingt es uns, die Holy Beast Weapon in etwas zu verwandeln, das … zumindest nicht den gleichen Schrecken verbreitet.” Kai nickte nur und legte den Kopf in den Nacken. Das war es wohl, was Neo Borg ausmachte: Die Unabhängigkeit von Volkov. Natürlich wollte Yuriy das Turnier ohne die alten Tricks gewinnen. Es hätte ihm vorher klar sein können. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der andere sich ihm zuwandte und ihn von der Seite betrachtete. Ihm wurde ein wenig mulmig unter diesem Blick, doch Yuriy machte keine Anstalten, zu sprechen. „Möchtest du ein Foto?”, fragte er schließlich sarkastisch. „Hm. Vielleicht?” Nun drehte er sich zu Yuriy. „Dein Ernst?” „Was? Du siehst hübsch aus in dem Licht. Gar nicht mehr so grau wie vorher. Warte…” Und bevor Kai realisierte, was gerade geschah, hatte der andere sein Handy aus der Tasche gezogen und ein Foto gemacht. Dann drehte er das Gerät herum, um ihm das Display zu zeigen. „Siehst du?” Kai hatte schon bessere Fotos von sich gesehen, aber darauf ging er nicht ein. „Dir ist klar, dass ich jetzt auch eins von dir mache, oder?”, fragte er und holte nun ebenfalls sein Telefon hervor. Es war ein wenig moderner und konnte aufgeklappt werden, dadurch hatte es einen größeren Bildschirm. „Wir können eins von uns beiden machen!”, schlug Yuriy vor. „Das kriegen wir doch nie hin…” „Ach was, gib schon her. Und komm ein bisschen ran zu mir, sonst wird das nichts.” Die ersten Versuche gelangen tatsächlich nicht, denn es war schwieriger als gedacht, das Handy umgedreht so vor sich zu halten, dass sie wirklich beide im Bild waren. „Oh Gott, Yuriy, jetzt hör halt auf!”, rief Kai, konnte sich aber angesichts des wirklich ungünstigen Bildausschnitts, den sie gerade betrachteten, ein Prusten nicht verkneifen. Der Rothaarige hob noch einmal das Handy. „Komm schon, eins noch, na los! - Verdammt, das war der falsche Knopf, was zur Hölle… Lach mich nicht aus!” Doch Kai konnte sich nicht länger zurückhalten und steckte am Ende Yuriy mit an. Der legte einen Arm um ihn und drückte ihn an sich, sodass Kai den Kopf in seine Halsbeuge legen konnte. Es tat gut, sich so nahe zu sein, gerade nach einem Tag wie diesem. „Aah, Yuriy.” „Hm?” „Scheiße romantisch ist das.” „Jep.” Kai zögerte kurz. „Ich mag dich”, sagte er dann. Yuriy lehnte den Kopf an seinen. „Ich dich auch, Zalatoj.” Später lehnte er an der Sonnenuhr, die am höchsten Punkt des Plateaus errichtet worden war, skippte durch die misslungenen Fotos auf seinem Handy und musste immer noch schmunzeln. Es wurde sehr langsam dunkel, doch noch immer waren die anderen nicht aufgetaucht. Bis er schließlich Schritte hinter sich hörte, leicht und sicher. Es war Rei. „Kai?“, sprach er ihn an, „Bist du wegen Takao hier?“ „Ich weiß nicht, wovon du sprichst”, entgegnete er und klappte wie nebenbei sein Handy zu. Rei lächelte müde. „Wie geht’s dir so?“, fragte er dann, „Ich meine, mit Neo Borg. War ziemlich…überraschend. Gelinde gesagt. Du solltest dir wirklich mal angewöhnen, den Leuten Bescheid zu sagen, bevor du das Team verlässt.“ Stirnrunzelnd drehte Kai sich zu ihm. Er hatte jetzt wirklich keine Lust, diese ganze Geschichte noch einmal durchzukauen. „Rei. Bitte.” „Ist ja gut.” Rei schob die Hände in die Taschen und ließ den Blick schweifen. „Tja. Halbfinale, was?”, fing er dann wieder an. Kai brummte. „Ist Lai wieder fit?”, fragte er. „Er hat ja zwischenzeitlich etwas geschwächelt.” „Das gleiche könnte ich von deinem Partner auch behaupten”, entgegnete Rei. „Keine Sorge, Yuriy ist bereit, euch in den Hintern zu treten.” „Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet.” Zum ersten Mal klang Reis Stimme nicht mehr gepresst. „Weißt du, egal was das Halbfinale bringt, wir sollten uns danach treffen“, sagte er, „Mit den Teams, meine ich. Lass uns irgendwas machen. Es ist dann aus sportlicher Sicht sowieso alles geklärt zwischen uns. Und, ganz ehrlich, in einem Team, wo dir jeder stundenlang in den Ohren liegen kann, vermisse ich die Gespräche, pardon, die Monologe, die ich in deiner Anwesenheit halten kann.“ Kai zuckte die Schultern. Seine Mundwinkel hatten sich bei Reis letztem Satz ein Stück gehoben. „Okay.“ Kurz darauf stieß Max zu ihnen. Seine Anwesenheit lockerte die Stimmung zwischen ihnen, sowohl von Kai als auch von Rei fiel die letzte Anspannung ab. „Ich hab Rick unten bei Yuriy gelassen, ich hoffe, sie schlagen sich nicht die Schädel ein”, sagte Max und wies mit dem Daumen über die Schulter. „Rei, sag mir bitte nicht, dass du hergetrampt bist oder sowas verrücktes.” „Ich hab ein Taxi genommen!”, antwortete Rei entrüstet, als könnte er nicht glauben, was Max ihm da zutraute. Kai schmunzelte, denn dieser Austausch allein führte ihn zurück zu den vielen Tagen und Nächten, die sie als Team miteinander verbracht hatten. Rei reiste tatsächlich ziemlich oft per Anhalter, wenn es keine andere Möglichkeit gab, und Max machte sich selbst im Nachhinein immer viel zu viele Sorgen, sobald er davon erfuhr. „Habt ihr eigentlich vor heute miteinander gesprochen?”, fragte Kai. Seine ehemaligen Teamkollegen sahen sich pikiert an. „Nicht wirklich”, gab Rei zu, „Ich...hatte viel zu tun mit Baihuzu. Habt ihr?” „Ja”, antwortete Max ungerührt, „Ein paarmal sogar. Was ist mit Takao? Bis auf Madrid hatte ich so gut wie keinen Kontakt zu ihm.” „Nur ganz flüchtig”, sagte Rei und Kai seufzte. „Er hat mich heute angerufen, wegen des Treffens. Ansonsten - nichts.” Rei verzog den Mund und auch Max machte ein vielsagendes Gesicht. Er wusste, was ihnen auf den Zungen lag: Kai hatte ebenso keine Anstalten gemacht, sich bei Takao zu melden. „Das war ziemlich uncool, Leute”, sagte Max schließlich, „Wir waren zwei Jahre lang ein Team. Das hätten wir besser lösen können.” Ob Rei sich ebenfalls am liebsten mit ein paar Ausreden verteidigt hätte, wusste Kai nicht. Sie gaben beide nur ein wenig aussagekräftiges Brummen von sich. „Ich glaube nicht, dass es gut ist, vor dem Finale noch irgendein Drama vom Zaun zu brechen”, meinte Rei, „Wir sollten abwarten, wie die Stimmung nach dem Turnier ist.” Er sagte es zwar nicht, doch Kai wusste, was er meinte: Die wirkliche Frage war, ob die Bladebreakers noch einmal zusammenkommen würden oder ob das, was passiert war, zu schwer wog, um noch mal zusammenzuarbeiten. Kai hätte zu diesem Zeitpunkt keine Antwort darauf gewusst. „Leute.” Max deutete den Hügel hinunter. „Dort kommt Takao.” Unbewusst richtete Kai sich auf, stellte sich gerader hin. Es war unverkennbar Takao mit dem Basecap und der roten Jacke. Etwas jedoch war anders im Vergleich zu den letzten Tagen. Takao war nicht er selbst gewesen, sondern müde und launisch und uninspiriert. Er hatte wie abgestumpft gewirkt, als hätte ein schmutziger Nebel ihn eingehüllt. Dieser Nebel war nun verschwunden. Als er sich vor ihnen aufbaute, erkannten sie, dass sein Elan zurückgekehrt war. Er ließ Dragoon von seinem Starter zischen und der Blade drehte rasend schnell Kreise vor ihnen. Kai hob die Augenbrauen. Es schien, als hätte der Weltmeister sich wieder gefangen. „Ich verspreche euch, ich werde alles geben!”, sagte Takao und viel mehr musste auch nicht gesagt werden. Ein Schwur hing in der Luft. Kai spürte, wie Suzaku auf die anderen drei Bit Beasts reagierte. Byakko, Genbu, Seiryu - er konnte ihre Auren in der Luft fühlen und wie Suzaku sich mit ihnen verband. In diesem Moment waren sie wieder ein Team und jeder von ihnen konnte ahnen, was die anderen drei dachten. Sie alle wollten sich beweisen, sie alle wollten diese Rivalität, die zwischen ihnen herrschte. Es musste geklärt werden, ein für allemal. Dann konnten sie, vielleicht, wieder als eine Einheit Kämpfen. Kai senkte den Kopf, sodass ihm die Haare vors Gesicht fielen, und schloss kurz die Augen. Ihm war schwindelig, hinter seinen Lidern tanzten bunte Flecken, in seinen Ohren war ein Rauschen, das nur sehr, sehr langsam wieder verklang. Er spürte Suzaku, und auch wenn sich der Rauch im Beystadium noch nicht vollständig gelichtet hatte wusste er, dass Dranzer noch immer rotierte. Hatte er gewonnen? So schnell? Viel Zeit konnte nicht vergangen sein, auch wenn sein Körper geschunden war wie nach mehreren Stunden intensiven Trainings. Rei hatte ihm keinen einzigen Augenblick gelassen, um nachzudenken, eine Strategie aufzubauen. Sobald er meinte, eine Lücke in der Verteidigung des anderen zu sehen, musste er dies sofort ausnutzen, bevor sie sich wieder schloss. Keine Zeit, um zwei Züge vorauszuplanen oder auch nur zu versuchen, ein Muster in den Angriffen des anderen zu erkennen. Rei war verdammt gut. Endlich drangen wieder Geräusche zu ihm durch. Das Stadion war in Lärm getaucht und DJ brüllte unmittelbar neben ihm irgendetwas ins Mikro. Kais Augen fokussierten Dranzer, der nun zu erkennen war, und dann bemerkte er Driger, der ebenfalls noch immer Kreise zog. Ein ungläubiger Laut entwich ihm. Rei war nicht geschlagen. Aber wo war er? Vorsichtig hob er den Blick. Dort waren Baihuzu, aufgelöst wie er sie noch nie gesehen hatte. Und das wollte etwas heißen, waren sie doch ein Team, das seine Emotionen wie auf einem Banner vor sich her trug. Mao diskutierte heftig mit DJ und erst jetzt dämmerte Kai, dass dieser gerade versuchte, ihn zum Sieger des Matches zu erklären. Warum? Driger war doch noch da… Und dann sah er ihn. Rei. Er lag bäuchlings auf der anderen seite der Bowl und rührte sich nicht. Lai stand hinter ihm und es schien ihn seine gesamte Willenskraft zu kosten, nicht zu seinem Partner zu laufen. Denn wenn er das Podest betrat, würde sein Team disqualifiziert werden. Wie lange lag Rei schon dort? Hatte wirklich er, Kai, ihn so zugerichtet? Kai spürte Panik in sich aufsteigen. Sein Atem begann zu zittern. Dieser Anblick - die zerstörte Bowl, Rei dort mit dem Gesicht im Dreck - und die Schreie, diese verdammten Schreie um ihn herum, zogen Parallelen, die nur in seinem Kopf existierten. Kämpfe bis zum Tod. Beybattles, nach denen niemand sagen konnte, wohin die Verlierer gebracht wurden - und niemand fragte, warum diese Jungen dann nie wieder gesehen wurden. Die Angst, mit der sie angetreten waren und die während des Battles in den eigenen Eingeweiden wütete, und dann die Erleichterung, gewonnen zu haben, die irgendwann alle Sorge um das Schicksal des Gegners überwog. Kai wusste, dass diese verzweifelte Angst ihn noch heute beeinflusste. Wenn er in die Ecke getrieben wurde, brachte sie ihn dazu, anzugreifen, sich so lange zu wehren bis er wieder frei war. Er musste diese Gedanken stoppen. Sein Atem ging unruhig und zischend und es war nur dem Geräuschpegel zu verdanken, dass niemand es bemerkte. Und dann regte Rei sich. Sein Team bemerkte es als erstes und zunächst erkannte er nur dank ihrer überschwänglichen Reaktion, dass sein Gegner wieder zu sich kam. Kurz darauf sah er es selbst. Unendlich langsam kam Rei wieder auf die Beine, machte einen unsicheren Schritt zur seite, dann stand er fest. Kai fixierte ihn, atmete einmal tief durch. Er war froh, dass der andere es geschafft hatte. Gleichzeitig bereitete er sich so gut es ging auf das vor, was nun kam. Rei war wie Kinomiya. Mochte er auch beinahe geschlagen sein - wenn er sich wieder aufrappelte, war sein Konter stärker als alles zuvor. Er hatte die Eigenschaft, seine Kraft sprunghaft zu vergrößern. Das war das Gefährliche an ihm. Kais Haut begann zu kribbeln. Die Luft um ihn herum knisterte, während Rei Energie für eine Attacke sammelte. Dann schoss Driger davon, beseelt von Byakko, zuckte leuchtend durch die Bowl. Unbewusst hielt Kai den Atem an, jeder Nerv war auf Dranzer ausgerichtet, seine ganze Aufmerksamkeit galt den Ausweichmanövern, die er fahren musste, um Driger zu entkommen. An Angriff war noch nicht einmal zu denken. Natürlich funktionierte das nicht lang. Rei kesselte ihn ein und landete schließlich einen mächtigen Schlag. Im letzten Moment stemmte Kai sich gegen die Druckwelle - ausweichen war nicht möglich. Eine Wolke aus Staub und Rauch hüllte ihn ein, winzige Steinsplitter bohrten sich in seine Haut. Wahrscheinlich hatte Dranzer bei seinem Aufprall die Bowl beschädigt. Auf einmal knickten seine Knie ein, ein kurzer Anflug von Schwäche. Er fing sich mit beiden Händen ab und verhinderte so, ganz zu Boden zu gehen. Dann hörte er das Sirren seines Blades vor sich. Er war also noch immer ungeschlagen. Gut. Der Rauch verzog sich und Kai kam wieder auf die Beine. Ihm gegenüber war Rei, schwer atmend, und schien seinen Augen nicht trauen zu können. Sie musterten sich stumm. In diesem Moment wurde Kai klar, dass er tatsächlich alles in diesen Kampf investieren musste, was er hatte. Keine Geheimnisse mehr, keine Asse im Ärmel. Rei hatte es geschafft, das Letzte aus ihm herauszuholen. Also schön. Er griff an seinen Hals und nahm seinen langen, weißen Schal ab, der ihn merklich beengte. Es war mehr eine symbolische Geste, doch die Bewegungsfreiheit war nötig für das, was als nächstes kam. Spätestens jetzt wussten alle im Stadion, dass es ernst wurde. Stille trat ein. Doch auch Rei hatte noch nicht alles gezeigt. Er startete einen neuen Angriff. Byakko hüllte ihn in schillerndes, grünes Licht, das Kais gereizten Augen weh tat. Dann war Driger verschwunden. Seine Rotation hatte sich derart erhöht, dass niemand mehr imstande war, seinen Bewegungen zu folgen. Jedoch war er noch immer zu hören. Kais Sinne waren nun bis zum Äußersten angespannt. Manchmal schien die Luft zu flirren oder etwas schimmerte plötzlich im Licht der Scheinwerfer. Driger. Er wartete ab, ob sich sein Verdacht bestätigte. Ja! In seiner Brust regte Suzaku sich triumphierend. Sie wollte fliegen, sie wollte kämpfen. Es war soweit: Die Wochen in Irkutsk, das ewige Anrennen gegen den Felsen, das Training während des Turniers - alles fand in dieser Sekunde sein Ende: Durch seine Adern schoss Hitze, dann ließ er Suzaku frei. Sie legte ihre Flügel um ihn, ihre Präsenz war wie ein sicherer Kokon. Er spürte die zarten, warmen Federn über seine Arme und sein Gesicht streichen, ein kurzer Moment, den sie nur in Kämpfen wie diesen teilten, wenn sie sich manifestierte. Sie nahm sich immer Zeit für diese Begrüßung, wenn sie in seine Welt trat, immer. Dann hüllte sie ihn in ihre Flammen. Kai liebte dieses Gefühl. Es war, als würde er tatsächlich verbrennen, in Suzakus Energie aufgehen. Sie war überall, füllte die ganze Umgebung aus, und vor allem war sie gleichzeitig in ihm. Es war ein Rausch, sie waren eins und er hatte für einen Augenblick Anteil an ihrem unendlichen Wissen und ihrer Kraft. Wie sollte dieses Band noch verstärkt werden? Er spürte, dass sie seinen Körper mit Leichtigkeit vernichten konnte, und es wäre okay gewesen, denn was bedeutete schon ein irdisches Leben angesichts dieser Macht? Das alles dauerte nur wenige Sekunden an - dann sandte er den Blazing Gig Tempest in Reis Richtung. Suzaku breitete ihre Schwingen aus und fuhr auf das Stadium nieder. Und Byakko musste sich vor ihr beugen. Ihre Euphorie durchfuhr Kai wie ein Schauer, während Driger in die Höhe geschleudert wurde und Rei beim Herabstürzen nur knapp verfehlte. Sein Haarband zersprang und das schwarze Haar fiel kaskadenartig hinab. Kai hatte gewonnen. Suzaku war verschwunden, sie zog sich langsam in ihn zurück. Es war kaum auszuhalten. So gut es sich anfühlte, wenn er sie fliegen ließ, so schrecklich war es, sie wieder in sich aufzunehmen. Sein Körper brannte, und dieses Mal war da keine Euphorie, sondern nur nackte Erschöpfung. Ein Würgreiz kroch seine Kehle hinauf und er presste die Lippen fest aufeinander, um ihn zu unterdrücken. Dranzer schoss hoch, damit er ihn auffangen konnte, dann drehte er sich abrupt um. Er musste weg von hier. „Kai!” Das war Reis Stimme, schwach und dennoch fest und stolz. Der Ruf ließ ihn innehalten, doch er hatte nicht die Kraft, zurückzublicken. „Viel Glück für das Finale!” Er reckte die Faust, in der er noch immer seinen Blade hielt, in die Luft. Zu mehr war er nicht mehr imstande. Dann stieg er die Stufen hinab und lief an seinem Team vorbei. Boris und Sergeij standen direkt neben der Bowl und schienen etwas zu ihm zu sagen, doch ein hohes Rauschen breitete sich in seinem Kopf aus und verschluckte alle Geräusche. Yuriy sah er nicht. Es kostete den verbleibenden Rest seiner Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen, bis er schließlich im dunklen Gang zu den Umkleidekabinen stand. Dort brach er zusammen. Sein Körper schlug hart gegen die Wand und er rang panisch ein paar Mal nach Luft. Erst dann öffnete er die Hand, um zu sehen, wie viel Schaden Dranzer genommen hatte. Der Blade hatte einige tiefe Kratzer. Je länger er ihn ansah, desto schlimmer wurde die Übelkeit, die in ihm aufstieg. Ein Klopfen riss ihn aus dem Schlaf. Müde blinzelte Kai gegen die Dunkelheit an, doch sie verschwand nicht. Es war Nacht geworden und Yuriy war nicht da. Wieder ein Klopfen. Schwerfällig richtete er sich auf, stieg aus dem Bett und ging, unsicher vor Müdigkeit, zur Tür. Als er öffnete, standen Boris und Sergeij vor ihm. „Wir müssen reden“, sagte Boris und Kai ließ sie ein, schaltete nebenbei auch gleich das Licht an. „Wo ist Yuriy?“, fragte er und rieb sich noch einmal die Augen. In seinem Körper breitete sich langsam der dumpfe Schmerz aus, den das Match gegen Rei hinterlassen hatte. „Das tut nichts zur Sache“, entgegnete Boris, der sich inzwischen in einen der Sessel gesetzt hatte und auffordernd zu Kai hochsah. Sergeij lehnte sich neben dem Fenster an die Wand. „Während du hier herumgekomat hast, haben wir uns mit ihm unterhalten. Über euch.“ Diese Worte ließen Kai seine Müdigkeit vergessen. Es war unmissverständlich, warum die beiden hier waren. Kurz wurde er wütend. Warum passierte das ausgerechnet jetzt, nach diesem Match? - Doch er hatte damit gerechnet, dass es irgendwann so kommen würde. Es war jetzt genauso gut wie zu jedem anderen Zeitpunkt. Er suchte Boris‘ Mimik und Körperhaltung nach Anzeichen für Aggression ab, doch er fand keine. „Er…hat euch alles erzählt?“, fragte er schließlich zögernd und nahm wieder auf seinem Bett Platz. „Ja“, antwortete Boris, „Zumindest alles Nötige, denke ich. Nicht, dass ich Details wissen will.” „Und warum seid ihr dann hier?” Dabei wanderte sein Blick zu Sergeij, der ihn ausdruckslos erwiderte. Boris seufzte und lehnte sich vor, stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel. „Die Sache ist die, Kai…ich war nicht wirklich verwundert, als er mit der Sprache rausgerückt ist. Um ehrlich zu sein mache ich mir schon länger Gedanken darüber, warum er sich so wenig für…Frauen interessiert.“ Kai sagte nichts und ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Er war müde, er hatte keine Lust auf eine Grundsatzdiskussion. Doch es war klar, dass es irgendetwas gab, das Sergeij und Boris durch den Kopf ging, es wollte nur keiner aussprechen. Also ging Kai irgendwann in die Offensive: „Was ist los? Sind wir in euren Augen jetzt keine richtigen Männer mehr?” „Verdammt, Hiwatari, das bist du sowieso nicht!”, entgegnete Boris prompt. Doch dann war es Sergeij, der versuchte, alles in Worte zu fassen. Und das war gut so, denn Kai hätte am liebsten die Faust in Boris’ Gesicht versenkt. Es war sein Glück, dass er zu erschöpft dafür war. Sergeij kam einen Schritt näher und setzte sich auf die Armlehne des Sessels. „Yuriy hatte generell nie viel Interesse an anderen Menschen”, sagte er, „Wahrscheinlich ist Volkov daran Schuld. Yuriy und er standen sich sehr nahe. Vielleicht hat Yuriy ihm vertraut, wir wissen es nicht. Er spricht nicht darüber. Und das ist das Problem.” Seine Kiefermuskeln traten hervor. „Yuriy vertraut niemandem so einfach, doch inzwischen scheint er dir zu vertrauen, und das viel zu sehr.” Für Kai wurde in diesem Augenblick klar, warum seine Teamkollegen ihn allein aufgesucht hatten. „Ihr denkt, ich bin ein schlechter Einfluss”, stellte er fest. „Ihr schiebt es auf Yuriys verdorbene Kindheit, dass er gar nicht anders kann, als sich mir in die Arme zu werfen - einem treulosen, männerfressenden Arschloch.” Er verzog den Mund. „Selbst ihr müsstet doch wissen, dass das so nicht funktioniert.” „Es passt nicht zu Yuriy, sich Hals über Kopf in so etwas reinzuwerfen”, fuhr Boris ihn an, „Ganz gleich, ob er jetzt tatsächlich … schwul wäre oder was auch immer. Es passt nicht zu ihm und deswegen haben wir uns gefragt - was hast du mit ihm gemacht?” Kai hob die Augenbrauen. Ein bisschen konnte er die beiden ja verstehen. Es musste sie verwirren. Boris’ letzte Frage war so ehrlich hilflos gewesen, dass er beinahe etwas Mitleid bekam. „Habt ihr Yuriy denn mal direkt danach gefragt?”, sagte er, „Ob er Männer mag, meine ich.” Boris seufzte und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. „Ja”, antwortete er, „Und es war sehr viel Vodka nötig, um das zu tun. Er hat damals verneint, aber… Yuriy hat schon immer Dinge verschwiegen.” „Er hat nicht verneint”, brummte Sergeij da, „Du hast nur ein Nein hören wollen. Er hat gesagt, er macht sich über so etwas keine Gedanken.” Kai schwieg, denn er wusste nicht, was er hätte beitragen können. Boris wirkte in diesem Moment sehr pikiert und Sergeij hatte auf vielsagende Weise den Mund verzogen. Wäre es keine so ernste Situation gewesen, hätte er vielleicht lachen mögen. Neo Borg konnten manchmal solche Idioten sein. „Erwartet ihr jetzt von mir, dass ich die Sache beende?”, sagte er, obwohl das für ihn erst recht nicht in Frage käme, wenn es ihm irgendwer zu befehlen versuchte. Und vor allem wäre das keine Lösung. Doch dieses Mal überraschten die anderen beiden ihn wirklich. Sie warfen sich einen kurzen Blick zu, dann räusperte Sergeij sich. „Ich glaube, ja, im Grunde wollten wir das”, sagte er, „Aber ich glaube, uns ist allen klar, dass … das so nicht funktioniert, wie du so schön gesagt hast.” „Ganz ehrlich, Hiwatari, ich kann mir absolut nicht vorstellen, was er an dir findet”, fügte Boris hinzu, „Aber fest steht auch, dass er Frauen nie so angesehen hat, wie dich. Und als er dich nicht umgebracht hat, als du ihm nach der Sache mit Barthez hinterhergelaufen bist, wurde uns einiges klar.“ An seinen Nasenflügeln entstanden kleine Falten; er wirkte befremdet, aber nicht angeekelt. „Ich wünschte, du hättest ihn da irgendwie … reingezogen, denn dann könnte ich dir einfach die Fresse polieren. Es scheint nun aber so, als ob Yuriy bei klarem Verstand ist.” „Kam mir bisher auch so vor”, entgegnete Kai trocken. „Wie dem auch sei”, sagte Sergeij, „Ich weiß auch nicht, was das ist mit euch. Vielleicht eine Spielerei, vielleicht habt ihr nur ein bisschen Spaß. Was auch immer, ich will nur sagen - pass ein bisschen auf mit ihm. Eben weil … weil es Yuriy ist.” Kai sah von einem zum anderen, wie sie vor ihm aufragten, müde und doch wachsam. Sie hatten bei diesem Turnier ebenfalls schon einiges durchgemacht, auch ohne selbst gekämpft zu haben. Wahrscheinlich wurde das viel zu wenig gewürdigt. Und nun wurde ihm auch etwas anderes bewusst: Nicht nur Yuriy sorgte sich um das Team, Boris und Sergeij trugen ebenfalls ihren Teil dazu bei, dass die Einheit nicht zerfiel. Sie passten auf ihren Teamchef auf. „Ihr werdet mir wahrscheinlich nicht glauben, aber ich will tatsächlich nichts Böses”, sagte Kai, „Und ich glaube schon, dass Yuriy weiß, was er tut.” „Mag ja sein”, erwiderte Boris, „Aber das heißt noch lange nicht, dass ich dir nicht den Hals brechen kann, wenn du ihn verletzt.” Kai schmunzelte. „Nun, ich denke, ich habe verstanden”, sagte er. Kai hatte Rei immer für einen ziemlichen Beau gehalten, beinahe schon für eine ästhetische Erscheinung, der kein äußerer Umwelteinfluss etwas zuleide tun konnte. Er hatte sich wohl geirrt. Als sie sich ihm und dem Team näherten, erkannte Kai deutlich die Blessuren, die ihr Kampf auch auf ihm hinterlassen hatte. Rei war außerdem noch recht blass, so wie er selbst, nur dass es bei ihm aufgrund seiner normalerweise sonnengeküssten Haut gleich noch ein wenig ungesünder aussah. Trotzdem lächelte er ihnen fröhlich entgegen, ganz so, wie Kai ihn kannte, nicht, wie er sich den Kameras während der letzten Wochen präsentiert hatte. Unerbittlich und stark. Jetzt schien ihm die sprichwörtliche Last des Turnieres von den Schultern genommen worden zu sein. Unwillkürlich fühlte Kai leisen Neid in sich aufsteigen. „Wie geht es dir?“, fragte er unverbindlich nach einer kurzen Begrüßung und Rei tat alles mit einem Wink ab, erzählte stattdessen, dass es Lai weitaus schlimmer getroffen hatte und er froh war, dass dieser sich nun endlich eine längere Pause gönnen durfte. Dieses Turnier zehrte an ihnen, auch wenn sie nicht direkt an den Battles beteiligt waren: Ein kurzer Blick auf Mao verriet Kai, dass auch sie Nächte durchwacht haben musste, genauso wie Gao und Kiki, die permanent zwischen Ärgerlichkeit und Zufriedenheit schwankten. Schließlich war die Weltmeisterschaft nun für sie vorbei. Da die meisten von ihnen noch zu jung waren, um das Nachtleben auszukosten, beschlossen sie, in einen nahegelegenen Park zu gehen und sich dort einen Platz im Gras zu suchen. Während die Baihuzus vorauseilten, schlenderten die Neo Borgs ein wenig hinterher. Allerdings fanden Lai und Mao sich irgendwann bei den Russen ein, während Kai und Rei in der Mitte liefen und sich leise unterhielten. „War es für dich auch so schwer, Teamchef zu sein?“, fragte Rei, „Manchmal denke ich, die Verantwortung ist zu groß, und das trotz Taos, der uns ja schon viel von dem organisatorischen Kram abnimmt.“ „Ihr wart schwerer zu hüten als ein Sack Mücken“, sagte Kai, „Aber man konnte sich daran gewöhnen. Und ich hab euch ja auch immer etwas stiefmütterlich behandelt.“ „Untertreib nicht; du warst eine ziemliche Rabenmutter.“ „Ja, weil ihr es auch jedes Mal sofort geschafft habt, irgendwie Mist zu bauen, sobald ich euch aus den Augen gelassen hab!“ Rei lachte, doch als er „Das stimmt!“ hinzufügte, sah er etwas trübsinnig aus. Kai sprach ihn nicht darauf an, er konnte sich denken, woran der andere gerade dachte. „Es war vieles leichter damals“, sagte Rei schließlich. Kai hob unverbindlich die Schultern. Bei sich dachte er, dass Rei es sich selbst nicht leicht machte mit seinem Ehrgeiz und den Ansprüchen, die er dadurch an Lai und die anderen stellte. Aber wer war er, dass ausgerechnet er ihm das vorhielt? Schließlich hatte er gerade erst seinen eigenen Teamchef förmlich dazu gezwungen, ihm eine potenziell tödliche Attacke beizubringen… Aus den Augenwinkeln sah er, wie Rei einen Blick zurück warf. „Du bist zufrieden mit deinem Team, oder?“, stellte der Schwarzhaarige fest, „Mit Neo Borg. Yuriy ist ein guter Tagteampartner für dich. Das sieht man an euren Battles.“ „Ja, weil wir nie im Tagteam spielen“, entgegnete Kai belustigt, „Und nicht viel reden. Zumindest nicht während der Matches.“ „Aber ihr streitet auch nicht.“ Darauf erwiderte Kai nichts. Er wusste, dass Rei und Lai Schwierigkeiten gehabt hatten – jeder wusste das. Es lag wohl auch an den Rängen, die sie im Team Baihuzu einnahmen und vielleicht auch an der veränderten Hierarchie. Schließlich war auch Lai Teamchef gewesen. „Yuriy und ich haben oft gestritten“, sagte Kai leise, „Am Anfang. Er hat mir eins aufs Maul gegeben.“ „Uh, was?“ Das Geräusch, das von Rei kam, schien ein mühsam in Schnaufen umgewandeltes Auflachen zu sein. „Ich hatte ein Veilchen“, ergänzte Kai. Jetzt lachte Rei wirklich. Ein paar Minuten später fanden sie einen Platz auf der Wiese im Park, der groß genug für sie alle war. Es stellte sich heraus, dass beide Teams zuvor für Kekse und andere Snacks gesorgt hatten, sodass ein großer Haufen knisternder Tüten in der Mitte ihres Kreises entstand; doch als Boris eine Plastikflasche hervorzauberte, die, wie er kurz darauf gestand, Wodka enthielt, wurde er von Mao mit einem bösen Blick gestraft und empfing die pflichtschuldig von Yuriy ausgesprochene Rüge mit theatralisch zwischen die Schultern eingezogenem Kopf. Die Flasche wurde trotzdem kurze Zeit später geöffnet und machte die Runde. Die aufkommende Dunkelheit wurde mit Kerzen verscheucht. Sobald Team Baihuzu bemerkte, dass die Russen ihnen nicht bei jeden zu laut gesprochenem Wort den Kopf abreißen würden und tatsächlich über Gesichtsmuskulatur verfügten, taute es merklich auf. Wahrscheinlich tat auch der Alkohol sein übriges. Rei erzählte, schon leicht lallend, ein paar Anekdoten aus dem Turnier im China Tower von vor zwei Jahren. Spätestens, nachdem er detailverliebt erläuterte, wie er Takao eines schönen Tages mit einer Chilischote geweckt hatte, war jede Anspannung verflogen. Irgendwann stieß Boris Yuriy und Kai an und deutete verstohlen auf Sergeij, der sich tatsächlich mit Mao in gebrochenem Englisch über Gemüsepfannenrezepte unterhielt. „Schön, sie so zu sehen”, murmelte Rei, sodass Kai glaubte, es als einziger gehört zu haben. Vielleicht meinte der andere sein gesamtes Team, doch seine Augen ruhten auf Mao. Er kannte eigentlich die ganze Geschichte von Rei und Mao. Es hatte damit angefangen, dass er Rei eines Tages wegen mangelnder Konzentration beim Training zur Seite genommen hatte. Bei einer Tasse Tee hatte der ihm lang und breit von einer Beziehung, die keine sein konnte, erzählt – es war ein Problem, dass Rei nur noch selten Zeit in seiner Heimat verbrachte, und irgendwie hatten anscheinend beide Angst, dass ihre Freundschaft leiden könnte, wenn sie einen Schritt weiter gingen. Kai jedenfalls war irgendwie froh gewesen, dass sein einziges Problem zu diesem Zeitpunkt die Balance seines Blades war. „Seid ihr immer noch nicht zusammen?”, fragte er daher unumwunden. Daraufhin errötete Rei und griff hastig nach der Wodkaflasche, die just in diesem Moment an ihn weitergereicht wurde. Er nahm einen viel zu großen Schluck, zwang diesen aber hinunter, anstatt sich vor den anderen die Blöße zu geben. Boris, der das bemerkt hatte, machte ein beifälliges Geräusch, bevor er ihm die Flasche abnahm. „Kai, so einfach ist das nicht!”, sagte Rei schließlich. „Ich glaube, sie hat auch ein wenig Angst vor Lais Reaktion.” „Wieso das denn; ihr Bruder weiß doch seit Jahren, dass sie in dich verschossen ist. Und du in sie.“ „Keine Ahnung… Ich denke, sie hat Angst, dass meine Freundschaft mit Lai dadurch beeinflusst werden könnte oder so.“ Er warf ihm einen missmutigen Blick zu. „Es ist halt nicht so einfach, wenn man miteinander aufgewachsen ist. Das kannst du nicht vergleichen mit so Sachen wie - wie You Know Who.” „Rei, jetzt fang doch bitte nicht wieder- ” „Wer ist You Know Who?”, wurde er unterbrochen. Von ihnen unbemerkt hatte Yuriy sich zu ihnen gebeugt. Wahrscheinlich lauschte er ihrem Gespräch schon seit einer ganzen Weile - sie waren der Einfachheit halber bei Englisch geblieben. „Kais Ex”, entgegnete Rei und Kai, der zwischen beiden saß, zuckte kurz zusammen. Yuriy hob eine Augenbraue. „Kais Ex ist Lord Voldemort?” „Mann! Er hat dir nicht davon erzählt?” Reis Hand fuhr auf Kais Arm nieder. „Okay, nimm dir Popcorn und lehn dich zurück - Von mir erfährst du alles!” Wahrscheinlich kam es ihm gelegen, dass er endlich von seinem eigenen Beziehungsdrama ablenken konnte. Oder es war die schiere Schadenfreude; immerhin gab es nicht oft Gelegenheiten, Kai bloßzustellen. Jedenfalls wurde er plötzlich ziemlich eifrig. „Ich glaube nicht, dass das nötig ist”, sagte Kai, „Du verträgst den Wodka wohl nicht…” „So schlimm?”, kam es leise von Yuriy, doch Rei missverstand die Frage. „Schlimm? Also, der Typ an sich eigentlich nicht - eigentlich überhaupt nicht, wenn du mich verstehst”, sagte er und zwinkerte Yuriy zu. „Ich meine, ich glaube schon, dass ich ganz objektiv beurteilen kann, ob Männer attraktiv sind. Und lass mich dir sagen, Kai hat da bestimmt den heißesten Jurastudenten des ganzen Jahrgangs gefunden.” „... Ein Student?”, fragte Yuriy langgezogen, „So, so.” Kai konnte ihn lediglich hören, denn er hatte, als er erkannte, dass Rei nicht aufzuhalten war, eine Hand über seine Augen gelegt und den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Dies war einer der seltenen Momente, in denen er wirklich gern im Erdboden versunken wäre. „Jaja, ich weiß schon, was du denkst”, fuhr Rei fort, „Aber er war noch gar nicht sooo alt - zweites oder drittes Semester, oder, Kai? Wie lange lief das eigentlich genau? Wir haben ja auch erst davon mitbekommen, als die ganze Sache schon wieder den Bach runtergegangen ist. Und das, mein Lieber, war wirklich Drama!” „Hm. Erzähl mir mehr.” Kai gab Yuriy einen Hieb gegen den Oberarm, doch sein Teamchef ignorierte das. Vielleicht sollte er sich stattdessen auf Rei stürzen? „Oh, der Typ hat ihn ständig angerufen und SMS geschickt. Am Anfang war das ziemlich nervig während des Trainings, weil sein Handy auf laut gestellt war. Hat ständig geklingelt. Der hat ganz schön an dir gehangen, oder, Kai?” „Kann ich mir gar nicht vorstellen”, kam es scheinheilig von Yuriy und Rei lachte. „Ich auch nicht! Aber You Know Who war ganz vernarrt in ihn. Krieg ich noch einen Schluck?” Wieder streckte er die Hand nach dem Wodka aus, der just wieder bei ihnen gelandet war, doch Yuriy war klug genug, die Flasche wie beiläufig in die andere Richtung weiterzureichen. „Das reicht jetzt, Rei”, sagte Kai endlich, und zum Glück hörte der andere auf ihn. Daraufhin konnte er das Gespräch wieder in eine andere Bahn lenken. In den nächsten Minuten wurden die Stimmen um ihn herum lauter und ausgelassener. Kai schloss die Augen, denn die paar Schlucke Alkohol, die er getrunken hatte, machten seine Glieder angenehm schwer. Doch dann beugte Yuriy sich zu seinem Ohr und raunte: „Lass uns ein Stück spazieren gehen.“ Damit war er mehr als einverstanden. Als sie aufstanden, hoben nur Rei und Boris, die direkt neben ihnen saßen, kurz den Blick, die anderen bemerkten wahrscheinlich nicht einmal, wie sie gingen. Nach ein paar Schritten hatte sie die Dunkelheit verschluckt. Selbst die Parkwege waren nur mit wenigen Laternen erhellt. Sie waren nicht die einzigen hier, denn man hörte ab und zu Stimmengewirr von kleinen Gruppen auf dem Rasen. Hier und da leuchtete Glut in einem Grill. Nach einer Weile bogen sie in einen schmaleren Weg ein, wo es immer ruhiger wurde. Zu beiden Seiten wuchs nun dichtes Gebüsch, in dem Zikaden zirpten. Ihre Hände fanden sich ganz von allein, Yuriys Finger verschränkten sich mit Kais und er konnte nicht anders, als, wenn auch ungesehen, zu lächeln. Sie verlangsamten ihren Schritt und schlenderten nebeneinander her. „Boris und Sergeij waren bei dir, nicht wahr?”, fragte Yuriy unvermittelt. „Es tut mir leid, wenn sie dich überrumpelt haben. Nach dem Match gegen Baihuzu haben sie mich ausgefragt. Und ich wollte sie nicht anlügen.” „Schon gut”, sagte Kai. Er dachte an das Gespräch mit ihren Teamkollegen zurück. „Ich bin froh, dass sie es wissen”, fuhr er stattdessen fort, „Obwohl sie, glaube ich, sehr skeptisch sind.” Yuriy verzog den Mund, während sie unter einer Laterne hindurchschritten. „Sie scheinen davon auszugehen, dass sich die Sache nach der Weltmeisterschaft sowieso im Nichts verliert.“ Kai runzelte die Stirn und versuchte, seinen Puls zu ignorieren, der plötzlich schneller ging. Yuriys Griff wurde ein wenig fester - vielleicht bildete er sich das auch nur ein. „Sag mal…”, fing er an, „Was macht ihr dann eigentlich, nach der Weltmeisterschaft?” Bevor der ander jedoch antworten konnte, zog er ihn mit sich zu einer Bank, die in einer Nische zwischen den Büschen stand. Sie setzten sich nebeneinander, doch ihre Blicke gingen nach unten. „Das ist noch nicht ganz klar”, sagte Yuriy schließlich. „Nun. Vanja muss noch seinen Abschluss machen. Sergeij und Boris überlegen, die Aufnahmeprüfungen in Archangelsk zu machen. Vielleicht mache ich das auch. Aber das steht alles noch nicht fest, weil die Studiengebühren ziemlich hoch sind. Das geht jedenfalls nicht ohne Nebenjob.” „Wieso Archangelsk?”, fragte Kai ehrlich verwirrt. Diese Stadt war meilenweit von Moskau entfernt. „Uhm … haben wir wirklich nie darüber gesprochen?” Yuriy wirkte etwas pikiert. „Wir sind vor zwei Monaten umgezogen. Nach Severodvinsk. Moskau ist etwas zu teuer für uns geworden.” Darauf wusste Kai erst einmal nichts zu erwidern. Er hatte tatsächlich immer einfach angenommen, dass die anderen noch in Moskau lebten. Von dort waren sie ja auch nach Irkutsk gekommen. Das war jedoch kein Grund, denn natürlich hatte die Hauptstadt die besten Flugverbindungen. Es war leider auch nicht verwunderlich, dass Moskau zum Wohnen zu teuer wurde. Er kannte die Summen, die im Prozess gegen Borg als Entschädigung ausgezahlt worden waren. Sie reichten aus für ein gutes Leben in einer russischen Kleinstadt und eine ordentliche Grundausbildung. Das Studium war da schon nicht mehr eingerechnet. Und darüber hinaus waren erst recht keine weiten Sprünge möglich. „Aber”, sagte er schließlich langsam, während er im Kopf die Optionen durchging, die seinen Teamkollegen dann noch blieben, „Wenn ihr nicht studiert … dann können sie euch einziehen, oder?” Daraufhin lachte Yuriy kurz und freudlos. „Oh, nein. Wir haben Atteste von Kyrill Pavlowitsch bekommen. Das ist tatsächlich die eine Sache, die ich ihm wirklich nie vergessen werde.” Er beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel. „Ganz ehrlich, ich würde lieber sterben als noch eine militärische Ausbildung zu machen”, murmelte er und es klang fast, als würde er eher mit sich selbst sprechen. Als hätte er diesen Satz schon mehr als einmal gesagt. Kai nickte nur. Es war nicht einfach, den Wehrdienst zu umgehen, schon gar nicht, wenn die Finanzen nicht stimmten. Er hatte von einigen Abteijungen gehört, die zum Militär gegangen waren - einfach, weil sie nichts anderes kannten. Oder keine andere Möglichkeit hatten. Es war keinesfalls die beste Lösung, und so war er froh, dass seine Teamkollegen das verhindern konnten. Yuriy drehte sich zu ihm um. „Was ist mit dir? Du gehst doch noch in Moskau zur Schule, oder?” „Bei Moskau. Auf ein verdammtes englisches Jungeninternat“, brummte er, „Und auch nur dort, weil die Abschlüsse weltweit anerkannt werden.” „Nun, immerhin ist es in Russland.“ „Es könnte auch auf dem Mond sein. Wir haben einen Besuchstag im Monat.“ „Woah“, machte Yuriy und Kai nickte noch einmal ungesehen. „Jemand darf zu mir kommen, aber mich lassen sie dort nicht weg“, sagte er, „Also bin ich noch für ein ganzes Jahr eingesperrt. Furchtbar praktisch für Großvater.” „Hm. Und die Zugfahrt nach Moskau dauert fast einen Tag. Mal ganz abgesehen von den Preisen“, sagte Yuriy. Kai verbiss sich, zu ergänzen, dass es wohl zu teuer wäre. Flüchtig dachte er an seinen Großvater, doch ihn um Geld zu bitten war aus mehreren Gründen keine Option. Natürlich sorgte er dafür, dass Kai standesgemäß ausgebildet wurde, daher ja auch die Eliteschule, aber Bares sah er von dem Alten kaum einmal. Durch den Sport ließ sich auch nichts verdienen, sie waren nur Amateure. „Schon ironisch”, meinte er, „Man könnte meinen, es ist einfacher, wenn man im selben Land ist.” Yuriy setzte sich nun wieder gerade hin und legte einen Arm um seine Schultern. Diese Geste war ihnen beiden inzwischen vertraut geworden. Kai rutschte ein bisschen näher an ihn heran. „Weißt du”, sagte Yuriy, „Vielleicht sollten wir uns erst Gedanken darüber machen, wenn es soweit ist.” Kai wusste, was er meinte: Lass uns nicht unsere Köpfe darüber zerbrechen. Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun. Einerseits begrüßte er das, denn auch er wollte sich viel lieber auf das Finale konzentrieren - es war eine einfache, erfüllbare Aufgabe. Andererseits schlug sein Herz immer noch unangenehm deutlich und eilig. Und dann war da noch dieser Gedanke, den er eigentlich nicht zu Ende bringen wollte. Es war ihm nicht egal, was nach dem Turnier aus ihnen wurde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)