Blutflecken im Schnee von DragomirPrincess ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Die Stille lag wie ein sanfter Schleier über der Stadt. Die eigentlich viel befahrenen Straßen des Stadtzentrums lagen in einem weißen Mantel, die Autos am Straßenrand waren nur noch kleine Hügel. In großen Flocken fiel der Schnee aus dem grauen Himmel, der trotz den eisigen Temperaturen ruhig über der verschneiten Silhouette einer Stadt lag, die eigentlich nie schlief. In der Ferne konnte der junge Mann die Zwiebeltürme erkennen, selbst die eigentlich so kitschigen goldenen Lichter schienen abgeschwächter, dumpfer, ruhiger und damit irgendwie sanfter als sonst. Er kannte die Stadt inzwischen zu jeder Jahreszeit gut, obwohl er eigentlich in Almaty, an der südöstlichen Grenze von Kasachstan aufgewachsen war. Wieso war er damals von dort weggegangen? Vielleicht lag es einfach in seiner Natur… Er suchte nicht nach Gefährten, er war ein Einzelgänger und auch wenn er seine Familie liebte, so hatte er einfach das Gefühl gehabt, dass er wandern sollte, die Welt kennen lernen, bevor er irgendwann Teil der Zuchtprogramme werden würde, die versuchten aussterbende Arten zu schützen. Braunbären gehörten bekanntermaßen dazu, auch wenn die Situation inzwischen weniger kritisch war. Otabek Altin hatte eigentlich kein wirkliches Interesse daran eine Familie zu gründen, weder mit einem Bären noch mit irgendjemand sonst – Aber das würde der Staat ja wohl ohnehin nicht zulassen. Vielleicht sollte er doch über die Samenspende-Lösung nachdenken… Dann musste er sich zumindest nicht mit dieser ganzen Partnerschaftssache auseinandersetzen und der Staat würde sich um Mutter und Kind kümmern. Natürlich sah der Staat das nicht gerne. Die Fruchtbarkeit nahm rapide ab, wenn es sich um künstliche Befruchtungen handelte. Vielleicht würde er auch an dem Vermittlungsprogramm teilnehmen und mit einer der wenigen Bärinnen zusammenziehen… Bären banden sich nicht ein Leben lang an einen Partner. Aber eigentlich sollte er Seinesgleichen suchen wollen, richtig? Vielleicht war er ja auch einfach schwul oder so, aber vermutlich widerstrebte auch das der Natur eines Bären… Otabek war rastlos und das schon seit Jahren und irgendwie konnte nicht einmal er selbst sagen, wieso dem so war. Er hatte seinen Schulabschluss gemacht und hatte einen Studienplatz in Almaty. Dennoch trieb es ihn in den Semesterferien immer wieder herum. Er setzte sich einfach auf sein Motorrad und fuhr ziellos los. In den letzten Jahren war es wieder und wieder nach Russland, Moskau, St. Petersburg, manchmal auch kleinere Städte. Irgendetwas hielt ihn hier und er wusste doch nicht wirklich, was das war. Heute war er ohne sein Motorrad unterwegs, er hatte ein Zimmer in einer Wohnung nahe dem Stadtzentrum mieten können, das die Familie vermietete, um sich etwas Geld dazu zu verdienen, nachdem ihr Sohn zum Studieren weggezogen war, und lief ziellos durch die verschneiten Straßen. Er hatte gegen elf in einer Bar halt gemacht um sich ein wenig aufzuwärmen, jetzt war es schon lange nach Mitternacht und irgendwie trieb ihn doch nichts wirklich zurück ins Bett. Er mochte die Stille. Vielleicht war das einfach seine Art, Winterschlaf zu halten. Einige Bären berichteten von wortwörtlicher Schläfrigkeit in den Wintermonaten, manche hatten die tierischen Instinkt für Winterspeck übernommen oder verließen nur, wenn es wirklich nötig war noch das Haus, legten zum Teil ihre ganzen Urlaubstage in diese Zeit, nur um nicht rausgehen zu müssen. Irgendwo hatte er mal gehört, dass jemand ganz kuschlig geworden sei, aber irgendwie glaubte er daran nicht. Er hatte sowieso nicht wirklich eine Affinität zu körperlicher Nähe. Zumindest nicht zu Menschen, zu denen er keine psychische Nähe empfand und die letzte Person bei der das der Fall gewesen war, war seine Mutter und das war mit der Pubertät auch vorbeigewesen. Vielleicht war er einfach asexuell oder so etwas… Das würde das KAE – das weltweite Komitee zur Artenerhaltung – ihm nur nicht durchgehen lassen. Otabek sah sich um. Er hatte Glück, dass er einen ziemlich guten Orientierungssinn hatte, denn sonst hätte er sich in seinem ziellosen Wandern wohl schon längst verlaufen. So konnte er ohne sich Sorgen machen zu müssen, in eine kleine Seitenstraße einbiegen, weil er in der Ferne bereits eine vielbefahrene Hauptstraße sah, die auch bei Schneefall und der späten Uhrzeit nie ganz still stand. Das orangene Licht von Schneeflügen erleuchtete die Hausfassaden und er wollte nicht so nahe heran, dass er auch den Lärm der Straße hören würde. Vielleicht gab es hier in der Nähe ja noch einen Park oder so etwas? Vielleicht sollte er einfach mal sein Handy herausholen und auf eine Karte schauen… Alles war vergessen, als er die roten Spuren im Schnee sah. Er musste nicht erst schnuppern, um zu wissen, dass es Blut war. Sofort wurde er aufmerksam. Er hatte schon immer einen ausgeprägten Beschützerinstinkt gehabt, auch wenn es selten jemanden gab, den er hatte beschützen wollen. In der Schule hatte es mal einen Jungen gegeben, eine Maus oder ein Kaninchen, irgendein Nagetier jedenfalls, der von allen rumgeschubst worden war. Otabek hatte klar gemacht, dass jeder, der ihm wehtun wollte, erst an ihm vorbeimüsse, aber er hatte zum Ende des Schuljahrs die Schule gewechselt, keine Ahnung wohin. Otabek konnte sich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern. Seine Mutter behauptete, dass er schon im Kindergarten sich immer den schwächeren angenommen hatte, aber ehrlich gesagt erinnerte er sich an keinen von ihnen, und noch ein wenig ehrlicher, konnte er nichts so wenig leiden wie Menschen, die sich in ihrer Schwäche auf andere verließen. Ihm war klar, dass nicht jeder körperlich ein Bär war, natürlich nicht, es konnte auch nicht jeder ein Raubtier sein, aber jedes Tier auf der Welt hatte seine eigenen Verteidigungsmechanismen und diejenigen Gestaltwandler, die verlernt hatten, ihre eigenen zu verwenden – und sein es nur die spitzen Zähnchen einer Maus oder die Flinkheit, die sie besaßen, um zu verschwinden –, dann konnte er kaum weniger Respekt für sie empfinden. So oder so waren es jetzt die Blutspuren, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Am Anfang der Gasse waren es nur kleine Spritzer, aber sie wurde größer und größer und dann verschwanden sie im Schatten einer Mülltonne. Otabek zog den Container mühelos beiseite und dann hörte er es das erste Mal, dieses leise, verletzte, aber so wütend-kämpferische Fauchen, das ihn fast ein wenig zurückweichen ließ. Am Boden lag ein Junge, körperlich vielleicht sechzehn Jahre, in einem zu großen schwarzen Pullover und wie Otabek erschrocken feststellte, trotz eisigen Temperaturen ohne Hose und Schuhe. Unter dem Pullover schaute ein geringelter Schwanz hervor und in dem blutverklebten hellblonden Haar, waren zwei deutlich aufgestellte, ebenso gemusterte Katzenohren zu sehen. Eine Hauskatze, auch wenn es auf den ersten Blick auch ein Tiger hätte sein können, wenn seine Statur ihn nicht verraten hätte. In jedem Fall strahlte der Junge eine Angriffshaltung aus, die gegen all die Verletzlichkeit, die sein verletzter, schwacher Körper ausdrückte, in den Augen eines anderen lächerlich erschienen wäre. Otabek beeindruckte sie, hielt ihn aber nicht davon ab, sich vor ihn zu knien und die Hand nach ihm auszustrecken. Die Katze schlug sie weg und fauchte, wenn er auch den Schmerz nicht ganz verbergen konnte. „Fass mich nicht an.“ Es war leise, aber voller Hass und Otabek stockte sogar kurz. „Du blutest“, meinte er dann kurz angebunden, suchte seinen Körper nach der Wunde ab und entdeckte eine Platzwunde an seiner Stirn. Es war zu viel Blut um nur davon zu stammen, aber das würde er auch später noch prüfen können. Er hob den schmalen Körper einfach hoch, auch wenn der Junge sich wehrte, um sich schlug, kratzte. Der Kasache ließ sich davon nicht abhalten, sagte nicht einmal etwas dazu, zog sich mehr oder minder geschickt die Jacke von den Schultern, ohne ihn wieder absetzen zu müssen und hüllte den Jungen, das Kind mit den grünen Augen, in denen der Kampfgeist eines Soldaten brannte, beinahe vollständig darin ein. Er war beinahe erschreckend dünn. Die kalte Luft brannte auf seiner Haut. Wie lange mochte der Junge hier schon sitzen? Seine Lippen waren blau, aber das wunderte Otabek schon gar nicht mehr, wenn er seine Haus so berührte. Er war sich sicher, dass der Junge trotz allem Kampfinstinkt hier heute Nacht erfroren wäre. Er drückte ihn gegen seine Brust und eilte durch den Schnee zurück, an der Hauptstraße entlang zu der Wohnung, in der er im Moment allein war, da die Gastfamilie auf einer Familienfeier oder so etwas Ähnlichem war. Erst kurz vor der Wohnung fiel Otabek auf, dass das Bündel in seinem Arm aufgehört hatte, sich zu bewegen. Sorge überkam ihn und er joggte die Treppe nach oben, schloss die Tür auf und lief sofort zum Badezimmer, um warmes Wasser in die Wanne zu geben, während er die Jacke, die jetzt wohl Blutflecken hatte, mit dem Jungen auf dem Boden ablegte. Er war kein Mediziner oder so etwas, also tat er einfach, was ihm instinktiv zuerst einfiel und prüfte, ob er noch atmete. Vielleicht hätte er ihn in ein Krankenhaus bringen sollen, aber daran hatte er nicht einmal gedacht. Er atmete. Die Wunde an seiner Stirn hatte längst zu bluten aufgehört, auch wenn er sie wohl dennoch verbinden sollte... Er  zog dem vor Kälte oder Anstrengung wohl bewusstlos gewordenen Jungen den Pullover über den Kopf, drehte die Heizung noch ein wenig höher und begutachtete den viel zu schmalen Körper unter sich. Es war nicht schwer, die zweite Blutungsquelle ausfindig zu machen, die allerdings auch schon nicht mehr blutete und dennoch alles andere als gut aussah. Seine Oberschenkel waren von Nägeln aufgerissen. Otabek sparte sich einen weiteren Blick. Er wusste längst, was dem Kind passiert war. Er war bewusstlos, also konnte er ihn wohl nicht einfach allein in die Wanne mit dem lauwarmen Wasser setzen – Er wusste es besser als vollkommen heißes zu nehmen – und so zog er sich die Kleider vom Körper, der inzwischen auch ziemlich durchgefroren war, und nahm den Jungen wieder auf den Arm, um in die Wanne zu steigen und dann gemeinsam mit ihm langsam ins Wasser zu sinken. Er kam nicht zu Bewusstsein, also hielt Otabek ihn mit einem Arm über Wasser, während der zweite einen Waschlappen vorsichtig ins Wasser tauchte und begann die Blutspuren von seiner Schläfe und nach und nach auch aus den Haaren herauszuwaschen. Er war vorsichtig und dennoch war er mehr als froh, dass die Wunde nicht wieder zu bluten begann. Er hatte Glück, dass er den Erste-Hilfe-Kasten schon zuvor entdeckt hatte, denn so konnte er, nachdem das Wasser abgelaufen, Haare und Körper gewaschen und der Junge in ein weiches Handtuch gehüllt war, direkt die Verbände herausholen und einen Druckverband um die Platzwunde an der Stirn machen, auch wenn sie auch nach dem Bad nicht wieder zu bluten begonnen hatte. Bei den Beinen und … nun, darüber war er unsicherer, fand dann aber eine Jodcreme, von der er ein wenig auf die Kratzer gab und dort verteilte. Vermutlich würde er dafür seiner Gastfamilie noch ein wenig mehr Geld zukommen lassen als geplant, aber das würde er dann mit ihnen und sich klären. Er verband sie dann auch, hatte aber keine Idee zu der letzten Verletzung, hoffte, dass es auch so verheilen würde… Vielleicht würde er ihn auch ins Krankenhaus bringen, sollte das nicht passieren. Der Katzenjunge wachte nicht auf, während Otabek schweigend arbeitete und wahrscheinlich war das auch recht gut so, auch wenn er ihm gerne warmen Tee oder so etwas zutrinken gegeben hätte, um ihn auch von innen aufzuwärmen, aber seine Lippen hatten auch so schon etwas Farbe zurückgewonnen. Vielleicht könnte er ihm morgen etwas anbieten, obwohl er da wohl auch einen Teebeutel von den Hausbesitzern nehmen müsste… Er selbst war eher der Kaffee-Typ. Er führte eine Liste, was er benutzte, auch wenn das ältere Paar, das hier lebte, gesagt hatte, dass er sich ruhig ein wenig bedienen dürfte, also würde auch das mit dem Tee wohl glatt gehen. Für den Moment trug Otabek den namenlosen Jungen in sein Bett, das wohl einst de, Sohn der Familie gehört hatte, bevor dieser ausgezogen war. Es war ein 2 Meter mal 1,40 Bett, also versank der Junge fast darauf, aber es hatte auch den Vorteil, dass der Kasache wohl auch dort schlafen könnte, ohne ihm zu nahe zu kommen, denn ein Sofa hatte er hier nicht und ins Wohnzimmer wollte er nicht eindringen und der Boden war bei diesem Wetter echt zu kalt. Natürlich war es schwierig, wenn man bedachte, was dem Jungen zugestoßen war, aber Otabek hatte ihm Boxershorts und ein Shirt von sich übergezogen, auch wenn beides viel zu groß war und würde auch selbst genug anziehen. Zwei Decken hatte er auch, also würde das schon irgendwie funktionieren, richtig? Vielleicht dachte er da zu simpel, denn als er am Morgen aufwachte, war der Junge fort und das große Bett neben ihm leer. Die Bettdecke lag halb über ihn gebreitet, von seinem nächtlichen Gast fehlte jede Spur, dabei hatte Otabek noch so einen versöhnlichen Traum gehabt, in dem sich der Kratzenjunge unter seine Decke schob und sich an ihm wärmte. Dass er völlig verschwunden sein würde, hatte er dennoch nicht erwartet. Und trotzdem zuckte er hoch, nicht weil er sich sorgte, dass der junge Mann wohlmöglich das Haus leergeräumt haben könnte und mit seinem Diebesgut verschwunden wäre, sondern aus Sorge, denn immerhin hatte er am letzten Tag sehr viel Blut verloren und besaß außer dem Pullover im Bad keine Kleider. Und als er sich gerade aufrichten wollte, spürte er die kleinen Stiche auf der Brust, die sich wie kleine Stecknadeln anfühlten und ihn in die liegende Position zurückbrachten. Ein Blick nach unten zeigte ihm, worum es sich dabei handelte, doch es war bereits zu spät, die getigerte Katze war aufgewacht und richtete sich auf, nur um ihn hasserfüllt anzufauchen. Otabek erwartete in den geschlitzten Pupillen Angst, weil ihm ein Fremder so nahe gekommen war, aber da war nichts als dieser unterschwellige Hass und der ausgeprägte Kampfinstinkt, den er schon gestern bemerkt hatte. Weiterhin bohrten sich die scharfen Krallen durch sein Schlafshirt in die Haut, die sich über den Muskeln seiner Brust spannte. Er verzog das Gesicht, versuchte es aber für den Moment zu übersehen und den Jungen, der sich offensichtlich in der Nacht in seine Tiergestalt gewandelt hatte – Was gerade bei Kindern oft geschah, wenn sie krank oder verletzt waren –, erst einmal zu beruhigen. Obwohl er ihn irgendwie gerne berührt, gestreichelt oder ihm irgendwie sonst Trost geboten hätte, ließ er die Hände unbewegt auf der Matratze liegen und blickte nur auf das Kätzchen, dessen gesamte Haare sich aufgestellten hatten und das aussah wie ein Tiger kurz vor einem tödlichen letzten Angriff. „Keine Sorge, ich will dir nichts tun“, meinte er ruhig. Seine Mutter hatte manchmal gemeint, dass er, wenn er sprach, irgendwie gelangweilt oder abgeneigt klang, möglicherweise auch jetzt. Eigentlich meinte er es aber sogar recht affektioniert. Er war kein Mensch großer Worte, machte nicht viele Erklärungen, ließ seine Taten sprechen und wartete ab. Was sollte schon passieren? Vielleicht würde er ihm, wenn er nicht schnell genug reagierte, das Gesicht zerkratzen, aber auch damit würde er umgehen können, wäre ja dann immerhin seine eigene Schuld. Die Katze blieb skeptisch, aber sprang nicht ab, was vermutlich schon ein gutes Zeichen war. Vielleicht sank sein Buckel auch schon wieder ein wenig hinunter. Otabek hob langsam die Hand, hielt sie ihm aber erst einmal einfach hin, so wie man ein Tier zuerst an seine Hand gewöhnen musste, bevor man es füttern konnte. „Du wärst da draußen erfroren“, meinte er langsam, wartete wieder ab und langsam bewegte sich die Katze auch, machte sich auf den Weg über seine Brust – Und bohrte dabei bei jedem Schritt die Krallen durch den Stoff hindurch in seine Haut – und begann zögerlich an der Hand zu riechen. Otabek fragte sich, ob er den Geruch eines Bären wohl erkennen könnte, da er ja nicht wirklich weit verbreitet war. Das Tier schien auch nicht sofort zu reagieren, vielleicht gerade weil es den Geruch nicht kannte. Dann sank sein Rücken endgültig ab und auch Otabek konnte ein wenig ruhiger werden. Ihm fiel gar nicht auf, dass er so direkt auf diesen doch eigentlich fremden Jungen reagierte. Er schob ihm die Hand entgegen und berührte den Punkt, kurz unter seinem linken Ohr, an dem das ausgedünnte Fell die Spuren der Wunde zeigten, die er als Mensch zugefügt bekommen hatte. Die tierischen Körper heilten auf nicht ganz erklärte Art und Weise schneller. Dennoch zuckte das Tier zurück und verpasste ihm einen Schlag mit Pfote und Krallen. Otabek zog die Hand wieder weg, verzog etwas das Gesicht. „Es scheint auch ohne Verband gut geheilt zu sein.“ – Die waren bei der Verwandlung wohl von seinem Körper gerutscht und lagen jetzt als Haufen unter der Decke – „Hast du Schmerzen?“ Langsam zog sich die Katze ganz zurück, schob sich seiner Absicht sehr bewusst unter die zweite Decke, die sich bewegte und dann von einem menschlichen Körper nach oben gedrückt wurde. Der Junge zog die Decke fest um sich, konnte sich völlig darin einwickeln, bis nur sein Kopf daraus hervorblickte, dieses Mal ohne die spitzen Ohren. „Was glaubst du denn?“, knurrte er und schien nicht einmal über die persönliche und eigentlich ziemlich unhöflichen Ansprache nachzudenken. „Wer bist du?“, wollte er dann wissen, brummte dabei beinahe ein wenig und das mit einem Körper, der dafür einfach zu klein wirkte. „Was bist du?“ „Otabek Altin“, stellte er sich ohne zu zögern vor. „Ein Braunbär“, offenbarte er auch die Antwort auf die zweite Frage. „Dein Name?“ „Yuri“, sagte er langsam, immer noch aufmerksam. „Wo sind wir?“ „In einer Wohnung nahe der Innenstadt.“ „Deine Wohnung?“ „Ich komme aus Kasachstan, aber ich habe das Zimmer hier gemietet, ja.“ Otabek konnte sich nicht wirklich erinnern, wann er das letzte Mal freiwillig so viel gesagt hatte, vor allem gegenüber jemandem, der noch weniger sprach als er selbst im Moment. „Wo sind meine Kleider?“ Er klang die ganze Zeit so aufmerksam, skeptisch, auf der Hut und seine Augen waren so verdammt aufmerksam dabei, schienen jede Bewegung wahrzunehmen und als gefährlich oder als ungefährlich einzustufen. Hierbei brauchte Otabek ein wenig länger für eine Antwort: „Dein Pullover“, begann er dann, „liegt im Badezimmer. Er war voller Blut. Soll ich dir etwas zum Anziehen geben?“ Obwohl das vermutlich alles viel zu groß wäre… „Ich will meinen Pullover.“ Otabek hatte ihn gewaschen, dennoch war er vermutlich noch klitschnass. „Er muss noch trocknen. Ich habe ihn gewaschen.“ Langsam setzte er sich vollständig auf, bewegte seine Schultern, die ein wenig zu knacken begannen. Dann stand er auf, ging zum Kleiderschrank, bewegte sich nie zu schnell, um Yuri nicht zu erschrecken und nahm von einem Stuhl daneben einen Pullover, den er schon gestern herausgelegt hatte. Es war der kleinste, den er noch besaß. Er war von seinem Sportclub aus der Mittelschulzeit, blau-weiß mit goldenem Besatz. Er hatte damit zu viele Erinnerungen verbunden, um ihn wegzutun, als er daraus herausgewachsen war. Dazu auch noch eine Hose, aber bei der war er sich ziemlich sicher, dass sie zu groß sein würde, selbst wenn sie ziemlich schmal geschnitten war und vor allem einen Gummizug oben hatte. Wenn er sich an sein Becken erinnerte, fragte er sich überhaupt, wo er Hosen kaufen wollte. In der Kinderabteilung? „Wie alt bist du?“, fragte er kurzerhand, blickte über seine Schulter, ohne Hintergedanken, einfach aus Interesse, und griff dabei nach warmen Socken, die ich ebenfalls schon rausgelegt hatte. Er runzelte immer noch die Stirn und kurz fragte ich mich, wie er wohl aussehen würde, wenn er einmal lächeln würde. Den Gedanken wieder in den Hintergrund schiebend, trat er mit den Kleidern zum Bett herüber, beobachtete dabei Yuris Augen, hinter denen beinahe sichtbar Überlegen stattfanden, auch wenn der Kasache sich nicht ganz vorstellen konnte, bei welchem Teil davon er wohl nachdenken musste. Außer natürlich er dachte darüber nach zu lügen… Zuvor hatte Otabek gedacht, dass er angegriffen, vergewaltigt worden war, was er sicherlich auch irgendwie war, aber jetzt kam ihm erstmals der Gedanke, dass er es vielleicht eigentlich wegen Geld tat und es eskaliert war. Dann würde das Überlegen zumindest Sinn ergeben. Er konnte also sich nur fragen, ob die Antwort, die er bekommen würde, eine ehrliche wäre. „Siebzehn.“ Yuris Blick auf die Kleider in seiner Hand war mehr als skeptisch, doch Otabek legte sie in Ermangelung einer Reaktion der Hauskatze einfach vor ihm auf den Decken ab. Er vermutete, dass es keine Lüge war, denn, wenn er in ihm einen potentiellen Freier gesehen hätte, hätte er sein Alter wohl auf achtzehn angegeben. Nicht dass das Prostitution legalisiert hätte, aber es gab den meisten Menschen wohl ein Gefühl als wäre es nicht ganz so verboten. Hätte Yuri älter ausgesehen als das, was er behauptete zu sein, hätte Otabek vermutet, dass er sich genau damit vor einem weiteren Übergriff schützen wollte. „Möchtest du etwas Warmes trinken? Tee? Kaffee?“ Er beschloss, dass er ihm sein Alter nicht nannte, obwohl er eigentlich vermutete, dass mehr Informationen über ihn selbst Yuri beruhigt hätten, fand er, dass das zu sehr nach Freier klang. Yuri nickte leicht und Otabek war froh, dass der Junge nicht so misstrauisch war, dass er fürchtete, dass er ihn mit K.O.-Tropfen ausknocken wollte. Der bloße Gedanke war absurd und irgendwie war es besorgniserregend, dass er die Möglichkeit, dass er daran dachte, überhaupt in Betracht zog. „Tee“, murmelte er und es erschien beinahe als wäre er verlegen, weil er Kaffee ablehnte, wenn er jetzt so wegschaute. Dem Kasachen war es ziemlich egal, stimmte zu und ging Richtung Küche davon. So könnte sich das Kätzchen wohl auch etwas anziehen. Es war nicht leicht für Otabek mit Yuri umzugehen. Der Junge vertraute ihm nicht und eigentlich überraschte ihn das nicht einmal. Dennoch ließ er zu, dass Otabek sich die Verletzung am Kopf noch einmal ansah, obwohl er ablehnte, zu einem Arzt zu geben, um sich auf eine Gehirnerschütterung untersuchen zu lassen. Er griff so plötzlich nach der heißen Tasse mit dem Tee, dass er einiges über Otabeks Hand verschüttete, der diese wohl auch etwas zu schnell wegzog, weshalb sie noch mehr verschütteten und der Kasache sich die Hand verbrühte und sie anschließend kühlen musste. Yuri bot nicht von sich aus ein Gespräch an, aber zu Otabeks Überraschung wollte er auch nicht direkt wieder gehen. Vermutlich hatte er auch einfach keinen Ort, wo er hinkonnte, und, als der Junge aufstand, um ins Bad zu gehen – Wobei er beinahe über die an ihm weiten Hosenbeine stolperte –, bemerkte er noch etwas, was der Grund sein mochte. Er… humpelte, wenn das das richtige Wort war, um zu beschreiben, dass er seine Beine ein wenig breiter bewegte als es zu seinem Körper gepasst hätte. Letztlich war er aber wohl auch einfach froh, ein Dach über dem Kopf zu haben, und allzu bald verriet der schmale Körper auch, dass er Hunger hatte. Das schlimmste daran war, dass der Junge sich beinahe auf das Essen, das sie bestellt hatten, stürzte, mit Appetit aß und damit offensichtlich nicht wegen Ermanglung dessen so dünn war. Er konnte sich kein Essen leisten und das schmerzte ihn. Dennoch fragte Otabek nicht. Er fragte nie, gab dem Russen sogar den Rest von seinem Essen ab und beobachtete ihn schweigend und Yuri fühlte sich dabei – anders als alle anderen, die Otabek sonst traf – scheinbar überhaupt nicht unwohl. Er schwieg einfach mit ihm. Da war allerdings noch ein anderes Problem, denn, als er Yuri in seinem Pullover versinkend, in der viel zu großen Hose und mit diesem irgendwie wütenden Blick in den grünen Augen, gesehen hatte, fühlte er sich zu ihm hingezogen; nicht sexuell, sondern einfach als Mensch, als jemand, den er gerne näher kennen würde, jemanden, mit dem er gerne befreundet wäre. Es war ein schmerzlicher Gedanke, das er ihn gehen lassen müsste, denn noch nie hatte er sich so sehr nach jemandes Gesellschaft gesehnt wie in diesem einen Moment mit diesem fremden Jungen, den er auf der Straße gefunden und ihn vor dem Erfrierungstod bewahrt hatte. Es war so viel schwerer dieses Gefühl herunterzuschlucken als jemals zuvor. Er freute sich auch ein wenig zu sehr, als er auch noch zum Essen blieb und doch versuchte er sich keine Hoffnung zu machen. Es war Yuri, der das Gespräch suchte, nachdem sie nach der Arztfrage eine ganze Weile geschwiegen hatten. „Wenn du aus Kasachstan kommst, was machst du dann hier?“ Er klang ein bisschen schnippisch, aber Otabek konnte es gut ignorieren. Es störte ihn sogar nicht einmal wirklich. „So etwas wie Urlaub“, antwortete er einfach. „Ich fahr in den Ferienzeiten mi dem Motorrad durch die Gegend, meistens nach Russland.“ Und dabei passierte etwas, mit dem Otabek nicht gerechnet hatte, denn plötzlich leuchteten Yuris Augen auf und… lehnte er sich ein wenig vor? „Du fährst Motorrad?“ Er klang begeistert und da war ein Glänzen in seinen Augen, ein Strahlen in seinem Blick, das seine Mundwinkel hob und es war so schön, dass der Kasache kurz vergaß zu atmen oder zu schlucken. Er dachte nicht nach, bevor er als nächstes sprach. Er tat es einfach, denn dieses Andeuten eines Lächelns – Mehr konnte man es wirklich nicht nennen – ließ sein Herz aufflackern und es hätte ihn wohl verwirrt, wie leicht es sich plötzlich anfühlt, wenn er nicht viel zu gefangen von dem Anblick gewesen wäre. „Ja, möchtest du einmal mitfahren?“ Natürlich würde er ablehnen, sie kannten sich ja kaum und- „Ja, unbedingt!“ Kurz stockten sie beide, blickten sich einfach an, dann nickte Otabek leicht, wollte ihm die Freude gerne machen. Und dann lächelte er ein wenig unsicher, aber herzlich, bevor er vielleicht etwas dümmlich das Wort ergriff. „Darf…“ Er räusperte sich kurz, „Darf ich dir dafür eine Hose kaufen, die dir auch passt?“  Er fuhr sich verlegen mit der Hand durch den Nacken, irgendwie klang das komisch, oder? Yuri wirkte einen Moment verwirrt, dann senkte er den Blick, wirkte irgendwie ein wenig enttäuscht. „Es… es wär mir lieber, wenn du nichts für mich kaufst.“ Er schluckte sichtbar und Otabek konnte spüren, worum es hier ging. Er wollte sich nicht kaufen lassen, egal ob das seine Absicht war oder nicht. Aber bevor die Stille das tauende Eis zwischen ihnen wieder hätte einfrieren könnte, sprach der blonde Junge weiter: „Außerdem habe ich eigene Klamotten.“ Und dann fügte er noch etwas leiser hinzu, als würde er sich schämen: „Zu… zuhause.“ Es überraschte Otabek, denn nach dem, was er gestern gesehen hatte, hatte er nicht damit gerechnet, dass Yuri ein Dach über dem Kopf besaß, obwohl er für einen Obdachlosen wohl noch zu sauber aussah… „Ist sie… in der Nähe?“, fragte er dann also nach. „Dann könnte ich dich rüberfahren?“ Irgendwie klang das viel zu sehr nach Abschied… Er hatte keinen Gürtel gehabt, den man eng genug hätte schnallen können, also hatten sie einen Schal genommen, um die Hose zumindest irgendwie oben zu halten, die Hosenbeine dreimal hochgeschlagen, damit er nicht drauftrat. Das Gebiet, in das Yuri Otabek führte, war… absolut nicht, was er erwartet hatte. Ehrlich gesagt hatte er überhaupt nicht mit einer Wohnung gerechnet, aber letztlich war er für einen Obdachlosen wohl zu sauber gewesen… Es war jedenfalls keine schlechte Gegend. Sichelich es war kein Reichenviertel, aber es war eben auch kein heruntergekommenes Apartmenthaus mit zehn Wohnungen an jedem Flur. Viel mehr standen sie vor einem kleinen Laden, einer Bäckerei, die scheinbar klassisch-russische Backwaren verkaufte. Es war ein Wohnviertel und wohl auch nicht allzu weit zum nächsten Supermarkt, aber in einem Land, das so stolz auf seine Kultur war, verkauften sich Pierozki sicherlich ziemlich gut. Allerdings war der Laden geschlossen und das obwohl sich schon einige Frauen durch den Schnee kämpften, wenn er sich so umsah. Yuri sah sich kurz um, dann griff er in einen großen Blumentopf und zog einen Schlüssel hervor. Kurz fragte Otabek sich, ob ihm sein Schlüssel wohl gestern wohl gestohlen worden war, aber vielleicht nahm er ihn auch genau deshalb gar nicht erst mit. Der Schlüssel glitt ins Schloss und mit einem Klicken öffnete sich die alte Tür. Kurz verharrte Yuri in der Tür, blickte zu Otabek zurück, der selbst grad überlegte, ob er jetzt einfach fahren musste, doch dann winkte der blonde Junge ihn herein und legte den Schlüssel nach dem Abschließen in einer Schale hinter dem Verkaufstresen ab, was wohl für die zweite Theorie sprach, die Otabek diesbezüglich gehabt hatte. Der Laden wirkte alt und hier und da hätte er sicherlich neue Farbe brauchen können, aber die Regale waren leer und er konnte nicht genau sagen, ob das sich überhaupt noch änderte oder ob das Geschäft aufgegeben worden war. Yuri war still, beobachtete Otabek dabei, wie dieser den Laden betrachtete und ging erst nach einer kurzen Weile in Richtung der Treppe, die wohl in die Wohnung über die Backstube führte. „Willst du mit hochkommen?“, schlug er dann erstaunlich unsicher vor, auch wenn er es doch recht gut verborgen halten konnte. Otabek nickte leicht und folgte ihm dann. „Schuhe?“, fragte er, als sie oben angekommen waren und die etwas windschiefe Tür wieder hinter ihnen geschlossen war. „Behalt sie an. Der Boden ist kalt.“ „Yuratchka? Bist du das?“ Es war ein ziemlich schwache Stimme, aber sie war in der kleinen Wohnung doch ziemlich gut zu hören. Es überraschte Otabek dennoch. „Ja, bin ich, Großvater.“ Das Schlurfen schwerer Schritte und das Klacken einer Gehhilfe waren zu hören und dann kam ein alter Mann an die Tür. Er sah müde aus, krank, aber er lächelte dennoch offen, als er Otabek sah. „Ein Freund?“ Das Kratzen in der Stimme war beinahe schmerzhaft mitanzuhören. Es klang nach Schleifpapier und Metallsplittern. Und trotzdem lächelte er herzlich, offenherzig. Yuri nickte leicht. „Ja, sowas in der Art.“ „Otabek Altin“, stellte er sich vor, blieb aber dann doch eher still, obwohl er instinktiv darüber nachdachte, was dieser Mann wohl einmal gewesen war, als er noch jünger gewesen war, denn trotz der gebrechlichen Statur konnte er doch deutlich etwas spüren, was er nur als Raubtieranmut bezeichnen konnte. Ein genaues Ergebnis fand er nicht, aber irgendwie war er eh die ganze Zeit mehr auf Yuri konzentriert. Alles an dem jungen Mann faszinierte ihn einfach. „Solltest du nicht besser im Bett sein? Geht es dir heute besser?“ Da war etwas so Sanftes in seiner Stimme, dass es Otabek beinahe erschreckte, denn alles, was er bis jetzt von dem Jungen gesehen hatte, war deutlich Kämpferischer, Stärker. Und doch war auch diese sanfte Seite etwas, was Otabek mochte, denn, als er jetzt zu Yuri sah, konnte er es das erste Mal sehen, dieses sanfte Lächeln, auch wenn es von Sorge geprägt war. Wie zur Antwort hustete der alte Mann, kratzig, atemlos. „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Yura. Wo warst du heute Nacht?“ Ohne darüber nachzudenken antwortete Otabek für Yuri: „Er hat spontan bei mir geschlafen. Tut mir leid, wenn Sie sich deshalb Sorgen gemacht haben.“ Kurz war da Überraschung, dann nickte die Katze leicht, nahm scheinbar dankbar diese Antwort an. „Du hast den Laden heute wieder zugelassen?“ Es war eine Feststellung, nichts Schlechtes. Viel mehr schien er froh darüber. „Die Treppen sind zu steil, das weißt du doch, Yuratchka.“ Er seufzte deutlich, drehte sich dann in Richtung der Tür um, aus der er kam. „Soll ich euch Tee machen?“ Es fühlte sich schlecht an, das von einem Mann zu verlangen, der so erschöpft zu sein schien, aber bevor sie antworten konnten, sprach der ältere Herr bereits weiter: „Du willst dich bestimmt erst einmal umziehen, nicht wahr?“ Erst jetzt wurde Otabek klar, dass er Yuris Outfit nicht einmal kommentiert hatte, obwohl es alles andere als gut aussah und es wohl irgendwie auch skeptisch machen sollte, wenn er fremde Kleider trug. Den Mann schien es jedenfalls nicht zu stören. Sie verborgen die Verletzungen zum Glück auch ziemlich gut, einen Verband an der Stirn hatte er schon gar nicht mehr gebraucht, scheinbar war es nur eine oberflächliche Verletzung gewesen, und der Schorf lag jetzt unter dem blonden Haar verborgen, das wie Gold über sein rechtes Auge zu fließen schien. „Ruh dich lieber aus, Großvater. Otabek und ich wollten nachher noch einmal los. Morgen helfe ich dir wieder beim Backen, okay? Tut mir leid wegen heute.“ Er winkte einfach ab, sagte nichts dazu, dass er gehen wollte und wirkte dabei einfach sehr… sympathisch. Allerdings konzentrierte Otabek jetzt gerade auch eher darauf, dass Yuri scheinbar Zeit mit ihm verbringen wollte. Und so waren sie einen Moment später in Yuris Zimmer, wo Yuri seine Kleider aus dem Schrank sammelte und Otabek Bild um Bild von Tigern an den Wänden bewundern konnte. Der Blonde ließ sich viel Zeit, betrachtete beinahe bedrückt seine Finger. „Weißt du…“, begann er dann irgendwann langsam, nachdem Otabek auch dem Bett Platz genommen hatte, „Wenn du mir einen guten Preis machst, kann ich…“ Die Worte verloren sich im Nichts, aber das Angebot war klar. Wie auch nicht nach dem Zustand, in dem Otabek ihn gefunden hatte. „Machst du es für seinen Großvater?“, fragte Otabek stattdessen und stand langsam auf, kam zu ihm hinüber. Er hatte keine Absicht, dieses oder irgendein Angebot dieser Art anzunehmen. Wirkte er so? Yuri verzog das Gesicht, betrachtete die Kleider in seiner Hand. „Er kann nicht mehr arbeiten“, antwortete er wage. „Er weiß nichts davon, oder?“ Nein, dass dieser Mann seinen Enkel auf den Strich gehen ließ, war absolut unvorstellbar. Er wirkte wie jemand, der selbst in Krankheit noch alles für seine Familie tun würde. Ein leichtes Nicken. „Er hat mich schon als Kind aufgenommen und sich all die Jahre um mich gekümmert. Meine Schulausbildung gezahlt und alles.“ Dabei trat in seine Augen eine beinahe schmerzhafte Trauer, die viel tiefer zu sitzen schien, als es oberflächlich erschien. „Er kriegt etwas Geld vom Staat, aber es ist lange nicht genug und ich habe keinen Job oder so… Seit der Supermarkt um die Ecke aufgemacht hat, kommt auch kaum jemand mehr hier vorbei, also bleibt der Laden oft zu. Wenn jemand etwas bestellt, helfe ich meinem Großvater so gut es geht, aber das sind eigentlich auch nur noch Freunde der Familie…“ Es überraschte Otabek irgendwie, dass Yuri ihm all das einfach so anvertraute, aber ebenso schien es auch ihn zu überraschen, dass er so viel erzählte. Für einen kurzen Moment sahen sie sich einfach an. Otabek wusste nichts zu sagen, konnte ihn mit derart guter Absicht nicht dafür verurteilen, auch wenn es definitiv zu gefährlich war… Yuri ging in der Zwischenzeit etwas ganz anderes durch den Kopf, während er seine Klamotten anblickte und sich dann zu einer Entscheidung durchringen konnte. Er griff nach dem Reisverschluss der Sportjacke und zog ihn runter, entblößte die nackte Haut darunter. Es war Otabek, den das aus dem Konzept brachte, der sich daran störte und der sich eilig räusperte. „Ich kann rausgehen oder so“, murmelte er, überraschend verlegend, aber Yuris Blick war kühl, kalkulierend und seine Worte waren wohlbedacht, denn sie waren ihm bereits zuvor durch den Kopf gegangen. „Wir sind beide Männer. Ist ja nicht so als wäre da irgendetwas, was du nicht eh schon gesehen hast.“ Den leichten Rotschimmer auf seinen Wangen konnte er dennoch nicht verbergen, auch wenn er es gut zu ignorieren wusste und einfach weitermachte, sich ein schwarzes T-Shirt mit einem Löwenprint überzog und dann begann die viel zu große Hose auszuziehen. Otabek wandte den Blick trotzdem ab, als die milchig weißen Beine unter dem dunklen Stoff hervorkamen. Er war so unendlich zart und trotzdem hatte Otabek Muskeln gespürt, hatte Kraft in ihm wahrgenommen, die er jemandem mit einem so zarten, kleinen und fragilen Körper nicht zugetraut hätte. Und so fiel sein Blick auf die Bilder an der Wand, Poster um Poster mit demselben Motiv, keine Bandplakate oder sexy Schauspielerinnen, immer nur Tiger. Er dachte an die kleine Tigerkatze, die er am Morgen in seinem Bett gefunden hatte, an die Ohren, den Schwanz mit den Tigermuster, die sich so angespannt bewegt hatten, als er ihn das erste Mal getroffen hatte. „Wieso Tiger?“, fragte er dann einfach. War es ein Vorbild? War es, was er gerne sein wollte? Raubkatzen waren sicherlich deutlich stärker und hatten die Tendenz dominanter zu sein, aber war es wirklich wünschenswert, wenn du zu einer vom Aussterben bedrohten Rasse gehörtest? Aus der Perspektive von jemandem, der an eigener Haut spürte, wie es war, wenn alle wollten, dass du Kinder zeugst, sicherlich nicht, aber für einen Außenstehenden? Für jemanden der nicht normaler hätte sein können als eine Hauskatze? Yuri sah ihn an, während er die Hose über seinen eigenen Boxershorts schloss. Kurz sah er skeptisch aus, beinahe wütend, so als würde er ihm gerade eine Abneigung gegen diese Tiere vorwerfen, aber dann legte sich das wieder und stattdessen trat ein Leuchten in die grünen Augen, eine Begeisterung, die beinahe zu deutlich war. „Tiger sind einfach stark majestätisch, gefährlich und-“ Er schien sich davon abhalten müssen in weiteres überschwängliches Lob auszubrechen, räusperte sich ein wenig und wurde wieder ernster. „Du meinst, weil ich eine Katze bin, oder? Es ist nicht so, dass ich gerne einer wäre, aber Großvater ist einer und deshalb…“ Mit einem hörbaren Quietschen ließ er sich auf den Schreibtischstuhl fallen, legte die Arme auf der Lehne ab und legte ihm dann sein ganzes Herz zu Füßen. „Meine Mutter war ein Tiger…“ Er war kurz in Gedanken, dann fuhr er fort. „Sie wurde vom Staat weggeholt, obwohl sie noch mitten in ihrer Ausbildung war. Sie sollte an so einem beschissenen Zuchtprogramm teilnehmen, damit die Rasse erhalten wird.“ Er fluchte ungehalten und irgendwie fand Otabek das sympathisch, obwohl er selbst nicht wirklich der Mensch dafür war, die Emotionen gegenüber diese Schutzprogrammen oder Gebieten oder was auch immer sie sich jetzt wieder ausdachten nur allzu gut verstehen. „Da hat sie meinen Vater kennen gelernt oder auch nicht mein Vater, keine Ahnung. Er ist jedenfalls der Vater meiner Geschwister. Eigentlich ist ‚kennen gelernt‘ vermutlich auch ein Euphemismus.“ Er seufzte hörbar, lehnte den Kopf zurück. „Ist ja auch egal. Sie haben jedenfalls geheiratet, was zumindest besser ist als mit jedem Typen schlafen zu sollen, der rollig genug ist, sie zu bespringen.“ Otabek hörte schweigend zu, saß inzwischen auf der Bettkante und beobachtete das schöne Gesicht vor sich, lauschte seiner Geschichte und musste sich doch kurz wundern, ob er die Schmerzen durch die Verletzungen an seinen Beinen überhaupt nicht spürte. Er bewegte sich jedenfalls erschreckend geschmeidig. Konnte er es schon so sehr gewohnt sein? War das bereits seine Art sich eingeschränkt zu bewegen? „Ich hab noch drei Schwestern. Sie sind alle Tiger und wahrscheinlich inzwischen auch schon wieder mit irgendwem in diesem Reservat-Ding verheiratet ohne eine Chance auf eine Karriere oder so. Ich weiß es aber nicht. Ich hab keinen Kontakt zu ihnen. Mein Vater hat mich nicht haben wollen.“ Wieso war wohl relativ klar, aber er erklärte es dennoch. „Ich weiß nicht, ob es einfach ein Gensprung oder sowas war oder ob meine Mutter wirklich fremd gegangen ist, aber wie du ja schon gesehen hat, bin ich eine dumme, kleine, nutzlose Hauskatze.“ Die Art, wie er diese Worte aussprach machte deutlich, dass er sie wiederholte und er schien sie wie Säure ausspucken zu wollen. „Ich will mich ehrlich gesagt nicht wirklich dran erinnern. Meine Mutter hat irgendwie durchgesetzt, dass sie mich zumindest großziehen kann. Ich schätze sie hat ihm mit Trennung oder sonst was gedroht. Es war jedenfalls ätzend. Er hat mich gehasst, ich hab ihn gehasst. Ich war froh, als Großvater angeboten hat, mich aufzunehmen, ich konnte nicht schnell genug dort weg.“ Er lehnte sich wieder nach vorn auf die Lehne, die blonden Haare fielen ihm in die Stirn. „Ist es komisch, dass ich trotzdem auf Tiger stehe? Wahrscheinlich sollte ich sie hassen, aber Ded hat mir gezeigt, wie anders es sein kann, wenn man nicht in diesen Zuchtstationen ist.“ Otabek nickte leicht.  „Ich find es verständlich“, meinte er dann einfach. „Ich verstehe ja, dass sie nicht wollen, dass die Arten aussterben, aber was bringt es denn Wildtiere in einem Käfig aufzuziehen. Wer von ihnen würde denn in der Natur noch überleben.“ Er selbst war früher mit seiner Familie noch jagen gegangen in den Wäldern und auch wenn er es jetzt nicht mehr tat, so hatte er doch immer Gefallen daran gefunden. „Ehrlich gesagt hab ich in deinen Augen mehr Tiger gesehen als in den Augen von diesen Zuchthengsten.“ Er sagte es ruhig, scheinbar unberührt, aber es war eindeutig ein Kompliment. „Du hast noch diesen natürlichen Kampf- und Überlebensinstinkt.“ Er hob leicht die Mundwinkel. Yuri sah ihn überrascht an und dann lächelte er, wirklich, offen und vielleicht mit einem leichten Rotschimmer auf den Wangen. Sie hatten sich noch eine ganze Weile einfach unterhalten, bis es zu spät war, um noch Motorrad zu fahren, also hatten sie Nummern ausgetauscht und sich noch einmal verabredet zum Motorradfahren. Es tat Yuri gut, einfach einen Freund um sich zu haben und bevor Otabek sich versah, war sein Browserverlauf voller Informationsseiten über ein Auslandssemester in Russland. Er würde dafür auf jeden Fall noch einmal zurück nach Almaty müssen, aber er konnte es dennoch nicht erwarten, es Yuri zu erzählen. Nikolai Plisetsky hatte Otabek immer wieder zum Essen eingeladen und obwohl er immer irgendwie ein schlechtes Gewissen hatte wegen dem Geld, hatte der ältere Herr sein Geld nicht annehmen wollen. Der Mann hatte einfach immer gelächelt und das Thema gewechselt. Auch an diesem Tag, kurz vor Otabeks Rückkehr nach Kasachstan hatte er ihn über seinen Enkel zu sich eingeladen und kochte jetzt im sitzen ein traditionell russisches Essen. Yuri hatte ihm wohl bei den Vorbereitungen geholfen, aber jetzt verbot er den beiden auch nur in der Küche zu sein, bis das Essen fertig wäre. Die beiden jungen Männer sollten lieber noch ein wenig spazieren gehen oder was auch immer man heutzutage so tut, wenn man befreundet ist. Das kam Otabek sogar ziemlich gelegen. Sie hatten gemeinsam mehr als einmal auf dem Motorrad die Stadt erkundet, soweit die Straßen denn geräumt waren, aber heute gingen sie einfach durch die Straßen zu einem Park, der unter der weißen Schneedecke verborgen lag. Sie gingen dicht beieinander, eingehüllt in warme Jacken. Vielleicht ein wenig zu dicht beieinander, aber es war niemand da, um darüber zu urteilen und ihnen fiel es kaum auf. Stattdessen sprachen sie über Motorräder, Sport, Otabeks Studiengang und seine Absicht einmal ein Semester hier zu verbringen – Dass es vermutlich schon das nächste Semester sein würde, wollte er beim Essen später beiden erzählen. Ein erschrockenes ‚Irgs‘ von Yuri durchbrach sie mitten im Satz, als er wie angewurzelt stehen blieb. Otabek sah verwirrt zu ihm zurück, während sich die Scham über Yuris Gesicht ausbreitete. „Was ist los?“, fragte Otabek gerade, als er es sah: Zwischen Hose uns Jacke ringelte sich der getigerte Schwanz hervor und unter der Mütze zeichneten sich deutlich spitze Katzenohren ab. Es wunderte ihn, denn eigentlich passierte das Erwachsenen nicht, nicht unabsichtlich zumindest. Er hatte gehört, dass es manchen Frauen bei starken Gefühlsausbrüchen passierte und wenn er ganz ehrlich war, hatte er vielleicht auch schon den einen oder anderen Porno in diese Richtung gesehen, weil ihn der Gedanke, dass er jemanden so auflösen konnte, dass derjenige so die Kontrolle verlor, irgendwie erregte, aber darum ging es hier sicherlich nicht. „Ist alles gut?“, fragte er, kam die paar Schritte, die er weiter vorwärts gemacht hatte, zurück und betrachtete den Katzenschwanz  ein wenig überrascht. Yuri vergrub das Gesicht in den Händen. „Verfluchte Kälte!“, beschwerte er sich laut, nuschelte dann aber eher, als er weitersprach, „Das passiert manchmal, wenn ich friere.“ Verwundert sah Otabek ihn an, dann lächelte er und zog sich den warmen Schal vom Hals um ihm dem Jungen vor sich wie selbstverständlich umzulegen. „Ich verstehe“, sagte er einfach. Er betrachtete kurz den Schwanz. „Willst du ihn unter die Jacke stecken? Sonst wird dir sicher nur noch kälter, oder?“ Auf das leichte Nicken reagierte Otabek vorsichtig, aber ohne viele Sorgen mit einer langsamen Bewegung zum Schwanz hin. Er war vorsichtig, war sich bewusst, dass das ein sehr empfindliches Körperteil war, und dennoch zuckte Yuri nicht weg, ließ es zu, hätte es sonst sicherlich auch selbst tun können. Aus großen Augen beobachtete er die Hand des Älteren, bis sie den Schwanz umschloss. Dann erschauderte er und ein leises Geräusch verließ seine Lippen, bevor er seinen Mund mit einer Hand verbergen konnte, bis man nur noch den roten Hauch auf einer seiner Wangen sehen konnte. Hatte er gerade gestöhnt? Die Berührung war ganz sanft, nie grob oder so etwas und seine Hände waren dabei warm und irgendwie … groß und Yuri spürte, wie er unter ihm bebte und leise Laute gegen seine Hand wimmerte, die er sich selbst nie zugetraut hätte. Er hätte wohl nicht in Worte fassen können, wie froh er war, dass in diesem Moment niemand außer ihnen im Park war. Er wollte eigentlich nur noch im Boden versinken, aber Otabek legte die Hände an seine Hüfte, als er die Jacke wieder runtergezogen hatte und blickte ihn einfach an. Natürlich hatte er sie gehört. Wie hätte er sie auch nicht hören können? Und vielleicht ließ es ihn auch nicht völlig kalt, aber daran dachte er gar nicht. Er sah nur, wie schön diese grünen Augen waren, wenn sie ihn so verletzlich ansahen und zog die Hand von seinen Lippen, bevor er ihn einfach küsste. Vielleicht hatte er das schon lange tun wollen, vielleicht war es eine Entscheidung, die er unbewusst getroffen hatte, aber er tat es einfach und der Kuss war so süß, so unendlich unschuldig und hatte letztlich doch gar nichts mit den leisen Geräuschen zuvor zu tun. Wahrscheinlich hätte Yuri gemerkt, wie wenig Übung Otabek hatte, wenn sich seine eigene Kusserfahrung nicht auf die Male beschränkt hätte, in denen Männer mit zu viel Bier und zu wenig Körperpflege ihm die Zunge in den Rachen geschoben hatten. Otabek ließ die Lippen geschlossen, fuhr leicht mit den Fingerkuppen über Yuris Nacken und massierte dort den Haaransatz und spätestens jetzt fielen dem jungen Russen die Augen zu und er schnurrte beinahe ein wenig gegen die von der Luft ausgekühlten Lippen, die sich sacht gegen seine eigenen bewegten. Einen langen Moment spürten sie einander nur, dann wich Otabek einen Schritt zurück, blickte auf Yuri hinab und lächelte ein seltenes Lächeln, während seine Zunge hervorkam und über seine Lippen glitt. Irgendwie mussten sie in diesem Moment gar nichts sagen, denn trotz der Scham lag auch auf Yuris Zügen ein Lächeln und so lehnte Otabek sich nur vor, bis ihre Stirnen einander berührten. „Versprichst du mir etwas, wenn ich weg bin?“ Er konnte die Bewegung des Schwanzes unter dem Stoff der Winterjacke spüren, als Yuri leicht nickte und den Blick ein Stück nach oben gegen seine Augen wandte. „Hörst du auf?“ Er definierte nicht weiter, womit, aber es war auch so völlig klar. „Ich kann nicht ertragen, wenn jemand es wagt, dir wehzutun.“ Otabek musste seinen Herzschlag hören, da war sich Yuri absolut sicher. Es war völlig unmöglich, dass er es nicht tat! „Versprochen“, flüsterte er, noch bevor Otabek sagen konnte: „Wenn du Geld brauchst, besorg ich etwas, aber dein Großvater wäre sicherlich mehr als unglücklich, wenn er davon wüsste.“ Gott, wenn es denn sein musste, würde er halt doch sein Sperma zu Zuchtzwecken verkaufen oder so. Er wollte sich nur nicht vorstellen müssen, dass irgendein dreckiger Typ von der Straße Yuri anfasste. „Das könnte ich nicht annehmen“, flüsterte Yuri. „Ich werde bald achtzehn, dann kann ich mir eine Ausbildung suchen oder so etwas.“ Sie stritten nicht darüber, Otabek konnte damit gut leben und so küssten sie sich einfach noch einmal, bis plötzlich das Handy in Yuris Jackentasche vibrierte und eine Nachricht von seinem Großvater anzeigte, die ihnen sagte, dass das Essen bald fertig wäre und sie doch zurückkommen sollten. Sie lösten sich von einander und wie von selbst glitten ihre Finger, kalt von der Winterluft ineinander, während sie dem Weg zurückfolgten. Genauso leicht wie sie Freunde geworden waren, waren sie jetzt plötzlich noch mehr und vielleicht sollten sie das sorgen, vielleicht sollten sie es hinterfragen, aber sie taten es nicht, weil es sich einfach richtig anfühlte und ohne gezwungenes Schweigen begannen sie einfach wieder über unwichtige Themen zu sprechen. „Wir sind wieder da“, rief Yuri Richtung Küche. Otabek nahm wortlos seine Jacke und hängte sie neben seiner eignen auf. Die Ohren und der Schwanz waren wieder verschwunden, sobald Yuri wieder warm genug war. Den wissenden Blick bemerkten sie nicht, als sie in die Küche zu einem gedeckten Tisch traten, der gehüllt in den köstlichen Duft von heißem Fleisch da stand. Sie setzten sich einfach, Otabek bedankte sich höflich für das Essen und Yuri begann damit es zu verteilen. „Das ist doch selbstverständlich. Es wird ziemlich einsam sein, wenn du wieder abreist. Du tust Yuri gut.“ Da war keine Scham in seiner Stimme, als er so auf den Dank einging. „Ich sitze hier“, murrte dieser dennoch, aber eigentlich störte es ihn wohl gar nicht wirklich, denn er lächelte vor sich hin und schien das Essen gar nicht abwarten zu können. Otabek griff die Chance jedenfalls beim Schopf und sagte: „Ich muss mich nur noch um ein paar Unterlagen kümmern, dann kann ich bereits das nächste Sommersemester hier verbringen.“  Was bedeutete, dass er vielleicht sogar schon Yuris Geburtstag mit ihm feiern könnte. „Ich muss mich dann natürlich noch um eine Wohnung hier kümmern, aber das wird schon werden.“ Er lächelte und hatte dabei sicherlich keine Hintergedanken, aber Enkel und Großvater warfen sich beinahe sofort einen Blick zu. „Du könntest doch einfach hier ins alte Gästezimmer ziehen!“, meinte Yuri vielleicht ein wenig zu begeistert und vergas dabei beinahe die Ortsangabe auf Gästezimmer zu spezifizieren. Nicolai nickte auf den Vorschlag. „Du wärst sicherlich eine große Hilfe.“ Otabek sah die beiden kurz verwundert an, senkte das Besteck, aber dann lächele er einfach. Die Idee gefiel ihm einfach gut. Alle Gedanken an Einzelgängertum und Ungebundenheit eines Bären waren vergessen. Er konnte sich nicht einmal mehr vorstellen, dass er jemals etwas anderes gewollt hatte. Und dann schien dem älteren Herrn plötzlich etwas einzufallen, denn er stand auf, griff auf der Theke nach etwas und setzte sich wieder. „Wenn wir schon über Ausbildungen sprechen. Der Brief ist heute für dich gekommen, Yuratchka.“ Ein großer, weißer Umschlag aus erstaunlich edlem Papier wechselte den Besitzer, der halbleer gegessene Teller war vergessen. Und dann begannen Yuris Augen zu strahlen, während er den Umschlag kaum schnell genug aufreißen konnte. „Aber ich hab doch gar nicht…!“ Da war so viel Leidenschaft in Yuris Stimme, das Otabek ihm den ein wenig malträtierten Umschlag abnahm und nach dem Absender suchte. Waganowa. Ein Name, den er nicht kannte, der aber Yuri in schiere Aufregung versetzte. Dann langsam senkte Yuri das Papier vor sich und es war beinahe zu sehen, wie ihm das Herz in der Brust langsam in die Hose rutschte. „Hast du die Bewerbungsunterlagen abgeschickt?“ Das richtete sich an seinen Großvater und irgendwie klang er verletzt. „Lilia Baranovskaya hat hier angerufen, als du eine Lieferung weggebracht und mir erzählt, dass du sie nicht abgeschickt hast, obwohl du mir etwas Anderes gesagt hast.“ Ertappt senkte Yuri den Blick, scheinbar hatte er seinen Großvater angelogen. „Sie hat dir selbst ein Empfehlungsschrieben geschrieben und ein Video aus dem letzten Jahr dazugetan, von vor dem Unfall mit der Treppe.“ „Ich war doch gar nicht bei den Prüfungen und ich hab seit einem Jahr nicht mehr getanzt und… ich bin doch schon viel zu alt.“ Da war Unsicherheit in Yuris Stimme und Otabek legte wie selbstverständlich die Hand auf seinen Oberschenkel, auch wenn er immer noch nur Bahnhof verstand. „Dann solltest du die nächsten Wochen dringend wieder zum Training gehen oder du hast keine Chance bei der Nachprüfung.“ „Du hast ihn gelesen?!“ Empört blickte Yuri zu dem Umschlag, den Otabek wieder auf den Tisch gelegt hatte. Und dann senkte er wieder den Blick, krallte die Finger in das bereits zerknickte Papier. „Worum geht es überhaupt?“, durchbrach Otabek dann den Moment und Yuri schob den Brief langsam auf den Tisch. „Die Waganowa-Balettakademie“, flüsterte er beinahe und Otabek konnte den Schmerz in seiner Stimme spüren und irgendwie traf es ihn heftig, dass er bis jetzt nicht einmal wusste, dass Yuri Ballett getanzt hatte. „Sie ist hier in St. Petersburg und meine Lehrerin meinte, dass ich mich bewerben sollte, aber ohne Vitamin B kommt man da eh nicht rein und eigentlich bin ich auch schon viel zu alt und kein… Schwan oder so etwas. Was wollen sie denn schon von einer langweiligen Katze?“ Manchmal war es erschreckend, wie niedrig Yuris Selbstwertgefühl war, also tastete Otabek nach seiner Hand. „Du hast mir überhaupt nicht erzählt, dass du Ballett tanzt.“ Es war keine Anklage, aber doch irgendwie verletzte Überraschung. „Mach ich auch nicht mehr. Schon seit einem Jahr. Seit Ded die Treppe zum Laden runtergestürzt ist, bin ich zuhause geblieben und hab geholfen soweit ich konnte.“ Ein Blick zu Nicolai verriet dessen Meinung darüber: Natürlich war er dankbar, aber es war nicht, was er für ihn gewollte hatte. „Aber es ist egal. Ich werd‘ eh nicht hingehen.“ Als wäre es nichts Besonderes zerknüllte er das Briefpapier in der Hand. Otabek bezweifelte es sehr, denn das, was er bis jetzt gehört hatte, klang alles andere als nichts Besonderes: Es klang als wäre Yuri verdammt gut in Ballett und wenn er an die Muskeln dachte, daran wie er sich bewegte, dann fragte er sich, wie er das bisher nicht bemerkt haben konnte. „Yuratchka, wieso?“ „Es ist viel zu teuer“, flüsterte er leise. „Deshalb wollte ich mich gar nicht erst bewerben. Wir können es uns sowieso nicht leisten.“ Otabek spürte, wie schwer diese Worte auf Yuris Seele lagen und mindestens genauso schwer drückten sie ihn jetzt nieder. Seine eigene Familie war nicht reich, aber er hatte sich nie wegen seiner Ausbildung Sorgen machen müssen und Yuri sollte keine Chance bekommen in etwas, in dem er wirklich gut war? Aber auch ohne die Zahlen zu kennen wusste Otabek, dass auch er da nicht viel machen könnte. Zu seiner Überraschung holte Yuris Großvater noch etwas aus der Tasche. „Das ist nicht ganz richtig, Yuri.“ Und damit schob er ihm ein Sparbuch rüber. „Deine Mutter hat jeden Monat Geld für deine Ausbildung darauf eingezahlt und nach ihrem Tod kam noch eine große Versicherungssumme dazu.“ Yuris Mutter war an Krebs gestorben. Er hatte nicht einmal bei ihrer Beerdigung dabei sein können. Yuri starrte ihn an. Und starrte ihn an. Und starrte ihn an. „Aber was ist mit deiner Hüfte?! Warum haben wir dann nicht das Geld davon genommen als du die Operation brauchtest?!“ Er hatte Otabek von dem Unfall erzählt und von dem Hüftgelenk, das dabei gebrochen war. Die Ärzte hatten klar gemacht, dass es nicht heilen würde und er ein künstliches brauchen würde, aber das Geld hatte gefehlt, und nun humpelte der Mann und kam alleine nicht mehr die Treppe aus der Wohnung hinab. „Weil es für deine Ausbildung ist, Yuratchka. Außerdem wollte sie nicht, dass ihr Mann darauf zugriff hatte, also ist es gesperrt, bis du achtzehn wirst.“ Auch er konnte Yuris Vater oder Nicht-Vater nicht leiden, das sprach nur allzu deutlich daraus, wie er über ihn sprach als hätte er überhaupt keinen Namen. „Aber-“ „Kein aber, Yuratchka. Du gehst wieder zum Training und machst die Aufnahmeprüfung.“ Er warf einen Blick zu Otabek, ganz so als wollte er Zustimmung von ihm. Das Einzige, was ihm zu sagen einfiel, war: „Ich würde dich gerne einmal tanzen sehen.“ Die Stille lag wie ein sanfter Schleier über der Stadt. Die eigentlich viel befahrenen Straßen des Stadtzentrums lagen in einem weißen Mantel, die Autos am Straßenrand waren nur noch kleine Hügel. In großen Flocken fiel der Schnee aus dem grauen Himmel, der trotz den eisigen Temperaturen ruhig über der verschneiten Silhouette einer Stadt lag, die eigentlich nie schlief. In der Ferne ragten die Zwiebeltürme im goldenen Licht, aber Otabek hatte nur Augen für den jungen Mann vor sich, den er gerade von der Akademie abgeholt hatte. Sein Haar war länger als damals, als er ihn kennengelernt hatte, er war noch ein wenig gewachsen, die Muskeln mochten noch zugenommen haben, aber alles in allem war Yuri immer noch beinahe erschreckend dünn. Es war eiskalt und Otabek rechnete beinahe schon damit, als der getigerte Schwanz auch schon zum Vorschein kam und aufgeregt gegen Otabeks Arm schlug, dessen Finger mit Yuris verschränkt waren. Yuri stöhnte genervt auf. Es ärgerte ihn, dass er es noch immer nicht unter Kontrolle hatte. „Ich hasse Schnee! Er ist ätzend und kalt und nass und einfach furchtbar“, beschloss er frustriert. Er war müde, das wussten sie beide, sie hatten dennoch zusammen nach Hause laufen wollen. „Ich mag Schnee“, widersprach der Kasache ihm jedoch. „Hmpf“, schnaubte sein Freund. „Willst du wissen, wieso?“ Er blieb stehen, griff auch Yuris zweite Hand. „Weil ich dich an genau so einem Tag das aller erste Mal getroffen habe.“ Natürlich waren die Umstände nicht wirklich etwas, an das man sicher erinnern wollte. Yuri wurde dennoch ein wenig rot, als Otabek ihn küsste. „Und weil ich dich genau an so einem Tag das erste Mal geküsst habe.“ Er schob wie damals ganz sanft den Schwanz unter Yuris Jacke, verschluckte die leisen Laute in einem Kuss. Es war nicht alles perfekt. Der kasachische Staat wollte es nicht akzeptieren, wollte unbedingt Bären züchten. Yuris Großvater ging es immer schlechter, das Hüftgelenk schmerzte immer stärker, auch wenn er es verbergen wollte. Yuris Vater machte wegen dem Geld Stress und die Ballettakademie war auch alles andere als einfach, aber sie hatten einander und das war mehr als Otabek sich jemals erhofft hatte, mehr als er damals je auch nur gedacht hatte, als er Yuri dort im Schnee gefunden hatte. Er hatte nur helfen wollen, aber zuletzt hatte Yuri ihm wohl mindestens genauso sehr geholfen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)