Der Tag, an dem Viktor Nikiforov meinen ersten Kuss stahl von DragomirPrincess ================================================================================ Kapitel 1: ----------- St. Petersburg, Russland, 2013 Er vergrub die Hände tief in den Taschen, obwohl sie bereits in dicke Handschuhe gehüllt waren, den Blick gesenkt und unter einer gefütterten Kapuze verborgen, die Augen noch immer gerötet von den Tränen, die er vergossen hatte, versteckt hinter einer schwarzen Sonnenbrille. Es waren immer Reporter dort, selbst am Hintereingang, den der Eiskunstläufer heute benutzte, um nicht am Eingang Fans zu begegnen. Heute hatte er kein Lächeln für sie übrig. Wie auch, nach dem, was gestern auf den Straßen dieser Stadt, die er seine Heimat nannte, geschehen war, weitab von den Blicken der Bevölkerung und der Medien? Niemand hatte sich auch nur die Mühe gemacht, darüber zu berichten, nicht einmal in der Zeitung, geschweige denn im Fernsehen, aber er, Viktor Nikiforov, hatte es bemerkt, denn es war sein bester Freund gewesen, dem eine Gruppe von Männern in einer Seitenstraße aufgelauert hatte, um ihm eine Lektion zu erteilen. Eine Lektion dafür, dass er anders war; dafür, dass er schwul war. Er hatte die Nachricht nicht einmal von seiner Familie erhalten, sondern vom Krankenhaus, denn Alexander hatte nicht seine Eltern oder seine Schwester als Notfallkontakt angegeben, sondern ihn, weil seine Familie ihn ebenso verstoßen hatte, als er öffentlich machen wollte, dass er mit Frauen nichts anfangen konnte. Er hatte alles stehen und liegen gelassen, war vom Eis geeilt, egal, was Yakov dazu meinte, und zum Krankenhaus gefahren. Alexander war zu diesem Zeitpunkt bereits im OP, doch Viktor hatte dort auf den harten Plastikstühlen ausgeharrt und hatte abgewartet, Stunde um Stunde, bis irgendwann eine Schwester zu ihm kam und ihn zu einem Zimmer führte, in dem Alexander in einem Krankenbett lag. Und doch hatte er ihn kaum erkennen können unter alle den Bandagen, den Schwellungen und blauen Flecken. Er hatte noch mehrere Stunden im Schnee gelegen, bevor jemand ihn fand und auch heute Morgen war er kaum in der Lage gewesen mit ihm zu sprechen, hatte ihm nur leise und gebrochen ins Ohr geflüstert, was geschehen war. Viktor spürte noch jetzt, wie das Entsetzen über seine Haut kroch und sich seinem Gesicht bemächtigte, wenn er nur daran dachte, dass es solche Übergriffe wirklich gab, dass es Menschen gab, die einen Menschen verurteilen konnten, mit dem sie noch nie ein Wort gewechselt hatten und ihn dann halb tot geprügelt in einer Seitenstraße liegen ließen. Er hätte wohl seine Haare besser auch unter der Jacke verbergen sollen, die jetzt in einem Zopf auf seiner Brust lagen, denn das schien für die Journalisten schon genug zu sein, um sich wie die Krähen auf ihn zu stürzen. Was dachten sie denn, was er ihnen noch erzählen könnte, was die Medien nicht längst wussten? Trug er sein Leben nicht bereits auf einem Silbertablett vor sich her? Kannten sie nicht längst alle Mädchen, die er mit zu irgendwelchen Veranstaltungen nahm, all die Models, die ihn irgendwann einmal zum Training begleitet hatten? Wussten sie nicht längst, was er heute gefrühstückt hatte? Dass er die Nacht im Krankenhaus verbracht hatte? Genau danach fragten sie jetzt, doch er drängte sich ohne den Blick zu heben durch die Menge, verbarg sich vor ihren Blicken und Aufnahmegeräten und antwortete auf keine ihrer Fragen. Es gab nur eine Sache, die sie nicht über ihn wussten und ihm wurde gerade unangenehm bewusst, dass er es auch niemals würde teilen können, weil er in einem Land lebte, in dem man dafür totgeprügelt werden konnte, wenn jemand davon erfuhr. Schmerzhaft brannte sich dieses Bewusstsein in sein Herz, bildete Knoten in seinem Magen und er konnte es kaum ertragen. Nur mit Mühe konnte er sich zusammenreißen, um nicht das Temperament zu verlieren, als sich einer der Reporter dreist in seinen Weg stellte und doch ernsthaft wagte ihm eine schwangere Partnerin zu unterstellen, die er versuchen würde, vor der Öffentlichkeit versteckt zu halten. Natürlich sprangen die Reporter augenblicklich darauf an und fragten nach Namen und Hochzeitsplänen und der junge Russe konnte spüren, wie seine eigenen Nägel sich in seine Handflächen bohrten. „Kein Kommentar“, meinte er harsch, harscher als er sich selbst erinnern konnte, je gesprochen zu haben. Er wusste, dass das die Gerüchteküche erst anfachen würde, aber er hatte keinen Nerv dafür. Er hatte sich noch nie so sehr in seiner Persönlichkeit angegriffen gefühlt wie seit dem gestrigen Abend, noch nie so… gefangen in einem Land, auf das er immer stolz gewesen war. Hart schob er sich an dem Reporter vorbei, zog die Schlüsselkarte aus der Tasche und war froh, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, nur um sich direkt dagegen fallen zu lassen und angespannt, den zittrigen Atem auszustoßen. Er liebte Eiskunstlauf, aber jetzt, zum ersten Mal in seinem Leben hatte er keine Lust zu den Umkleiden zu gehen und die Schlittschuhe anzuziehen. Nicht weil er übermüdet war, nicht weil die Frage des Journalisten ihn wütend gemacht hatte, nicht einmal weil er einfach keine Lust hatte, sondern weil er in diesem Moment sein eigenes Leben so sehr wie nie zuvor für eine Lüge hielt, für ein zerbrechlich gebautes Kartenhaus, das noch nie so sehr wie in dieser Nacht ins Wanken geraten war. Er spürte, seine Augen brennen unter der dunklen Sonnenbrille, zog sie wie die Kapuze vom Kopf und wischte sich über die übermüdeten, gereizten Augen, bevor er sich doch in Bewegung setzte, die Schlittschuhe anzuziehen. Er setzte die Sonnenbrille dann doch lieber wieder auf, als er sich im Spiegel sah und wandte sich angespannt der Eisfläche zu. Er war zu spät. Er war verdammt zu spät, mehrere Stunden, aber er konnte sich kaum darum kümmern. Immerhin war er gekommen und das, obwohl er Alexanders Seite nicht verlassen wollte. Irgendwie fürchtete er beinah, dass die Männer zurückkehren und ihr Werk zu Ende bringen würden, während er ihn allein und hilflos zurückließ. „Viktor?“ Er konnte nicht einmal genau sagen, welche der weiblichen Eiskunstläuferinnen ihn gerade ansprach. Es war ihm eigentlich auch egal, aber sie schaffte es sofort alle Blicke auf ihn zu ziehen. Wahrscheinlich lag das aber auch darin begründet, dass seine bloße Abwesenheit seltsam gewesen war. Seine Sonnenbrille half nicht wirklich dabei, seinen Auftritt weniger bizarr zu machen. Er konnte die Sekunden beinahe runterzählen, bis Yakov bei ihm auftauchte, um ihn anzuschreien, weil er zu spät war. „Wo zur Hölle warst du, Viktor? Das Training hat vor Stunden begonnen! Du kannst nicht einfach kommen und gehen wie es dir beliebt! Nur weil die Wettkampfsaison vorbei ist, kannst du dich nicht einfach so hängen lassen! Wir müssen das Programm für die nächste Saison vorbereiten! Außerdem verkaufen wir bereits die Karten für die Festivitäten, um deine Siege zu feiern. Deine Fans erwarten, dass du neben der Grand Prix-Kür auch etwas Neues zeigen kannst, einen Ausblick aufs nächste Jahr!“ Er schien bis zu diesem Zeitpunkt nicht geatmet zu haben. „Und was soll diese bescheuerte Sonnenbrille überhaupt?! Nimm sie ab!“ Bevor er sich versah hatte sein Trainer die Brille gegriffen und sie von seiner Nase gezogen. Er wandte sich sofort ab, verbarg das Gesicht vor den anderen Eisläufern und doch konnte wohl jeder sehen, dass er die Brille nicht aus modischen Gründen getragen hatte und sogar Yakov verstummte für den Moment. „Also stimmt es doch, was die Reporter sagen? Viktor war im Krankenhaus?“, flüsterte eine der Läuferinnen von der Eisbahn aus hinter vorgehaltener Hand. Es war dennoch laut genug für alle, um es zu hören. Viktor spannte sich ein wenig an, denn die Gerüchte sprudelten sofort über. „Bist du verletzt?!“, wollte Yakov augenblicklich wissen. Als würde er das nicht sofort erzählen müssen! „Nein“, antwortete er also sofort, wich der Berührung aus, als sein Trainer ihn an der Schulter greifen wollte. Es ging niemanden etwas an! „Ein Freund von mir.“ Dann griff er die Sonnenbrille, aber sie aufzusetzen hatte wohl eh keinen Sinn, nachdem alle wusste, wieso er sie trug, also legte er sie mit den Kufenschonern auf die Bank und ging zur Tür der Umrandung. „Tut mir leid, dass ich deswegen zu spät bin, aber ich bin da, also lasst uns trainieren.“ Natürlich behandelten sie ihn anders. Wie auch nicht? Er fuhr ja auch anders, konnte die Gedanken an Alexander nicht verdrängen und fiel einige Male sogar, obwohl er sonst beim Eislaufen eigentlich zumindest in der Lage war sich wieder abzufangen, wenn er einen Fehler machte, auch wenn das ohnehin nicht oft passierte, zumindest, wenn er sich mit den anderen hier auf dem Eis verglich. Er konnte nicht wirklich sagen, dass er irgendetwas aus dem heutigen Training mitnahm, außer dass das Eis verdammt kalt und hart war und dass er darauf verzichten konnte, weiterhin damit Bekanntschaft zu machen. Yakov war allerdings allzu schnell wieder in seinem Element gewesen und hatte rumgeschrien und gemeckert und an allem etwas auszusetzen gehabt. So auch jetzt als Viktor als letzter seiner Schützlinge vom Eis kam und seine Füße aus den Schlittschuhen befreite, um wieder ins Krankenhaus zurückzukehren. Als würde er den Gedanken lesen können, stoppte sein Trainer ihn: „Du musst nach Hause gehen und schlafen, Viktor. Morgen Nachmittag ist das Treffen mit dem Gouverneur, die Medien werden dort sein, du musst bei dem Empfang gut aussehen. Immerhin bist du der Stolz der Stadt.“ Er macht eine kurze Pause, mustert ihn. „Wird Natasha dich wieder begleiten?“ Vikor blickte ihn verwirrt an, war schon abgeneigt genug von dem Verbot seinen Freund zu besuchen. „Wer?“ Jakov erwiderte seine Geste. „Natasha Petrov? Das Model, das dich zu dem Essen letzten Monat begleitet hat?“ Mal davon abgesehen, dass auch sie im ganzen Land bekannt war, war es auch für ihn ziemlich befremdlich, wie oft Viktor seine Partnerinnen zu wechseln schien. „Oder hast du schon wieder eine Neue?“ „Ach die.“ Sie war jetzt die letzte, an die er denken wollte. „Keine Ahnung, ich hab‘ seitdem nicht mehr mit ihr gesprochen.“ Und das sogar ehrlich. Wo hatte er sie überhaupt hergehabt? Wahrscheinlich hatte Yakov sie vorgeschlagen und er hatte sie gefragt, damit er Ruhe gab. „Kann ich nicht einfach alleine gehen?“ Er war dazu übergegangen, sich die Haare zu kämmen, da das hier ein längeres Gespräch zu werden schien. Wieder und wieder führte er die Bürste durch die langen Haare und beobachtete dabei die Reaktionen seines Trainers. „Dann werden die weiblichen Fans dir die Tür einrennen und das weißt du. Du willst doch nicht behaupten, dass du im Moment wirklich single bist. Du wechselst deine Freundinnen doch so oft wie deine Klamotten.“ Er schien kurz nachzudenken. „Sonst frag sie doch einfach, ob sie dich noch einmal begleiten würde; als Freunde.“ „Wir sind nicht wirklich im Guten auseinandergegangen.“ Zumindest erinnerte er sich vage an einige wirklich unschöne Nachrichten, die er kaum mehr als überflogen hatte. Allerdings wusste er, dass Yakov keine Ruhe geben würde, bevor er nicht eine Partnerin gefunden hatte, die er morgen mitnehmen konnte, um die Reporter und damit die Fans zufrieden zu stellen. „Ich find schon wen, der mitkommt“, meinte er also eher dahingesagt, auch wenn er nicht die geringste Idee hatte. Er wollte keine der Eiskunstläuferinnen von hier fragen. Das würde nur unangenehm werden und wohlmöglich noch die falschen Vermutungen wecken, – Der bloße Gedanke war wie ein Ziehen an dem Knoten, den seine Eingeweide gebildet hatten –, also würde er vermutlich einfach durch seine Instagram-Follower scrollen, bis er jemand halbwegs Bekannten fand und diejenige fragen, ob sie Zeit und Lust hätte, ihn zu begleiten. Er würde ihr Blumen besorgen und falls sie sich beschwerte, dass sie nichts Anzuziehen hatte, das neue Kleid bezahlen, und anschließend nie wieder mit ihr sprechen, so wie er es immer tat. Er würde flirten und das frischverliebte Paar geben und sie nach Hause bringen und galant den Kaffee ablehnen, den sie ihm anbieten würde, so wie er es immer tat. Es war ihm noch nie so zuwider gewesen wie heute, auch nur daran zu denken, dabei wusste er schon vor seinem Senior-Debut, dass er mit Frauen nichts anfangen konnte, genau genommen wusste er es nach einem sehr gescheiterten Versuch mit einer der anderen Läuferinnen zu schlafen, bei dem weder er noch sie am Ende annähernd befriedigt gewesen waren, obwohl zumindest ihn jugendliche Neugier getrieben hatte und er es wirklich versucht hatte, irgendeine Reaktion zu zeigen, als sie, die doch einige Jahre älter als er gewesen war, mit geschickten Bewegungen seine Männlichkeit liebkoste. Dass sie darüber nie auch nur ein Wort verloren hatte, konnte er bis heute nicht verstehen, auch wenn er ihr dafür sehr dankbar war. Dennoch war sie nach der nächsten Saison zu einem anderen Trainer gewechselt und er hatte sie seitdem nicht mehr gesehen. Er konnte sich ja nicht einmal mehr an ihren Namen erinnern, wahrscheinlich Tatjana oder Natasha oder sowas, irgendwie hießen ja alle Frauen, die er jemals eingeladen hatte, so. Er hatte es noch einige Male mit Frauen versucht, hatte gehofft, dass es an ihr gelegen hatte, nicht an ihm – Hatte dabei aber darauf achtgegeben, dass er sie nicht beim Training kennengelernt hatte und dass sie ihn am besten überhaupt nicht kannten –, aber, obwohl er eigentlich Spaß an den Dates davor gehabt hatte, war die Reaktion seines Körpers im Bett dieselbe geblieben. Dass er sich dann getraut hatte, in eine dieser Bars zu gehen, war eine ziemliche Verzweiflungstat gewesen, um sich auf den anstehenden Junior-Grand Prix konzentrieren zu können. Er war damals noch nicht ganz 18 gewesen, aber er hatte trotzdem Alkohol an der Bar bekommen und das hatte ihm und seinen Nerven auch ein wenig geholfen, während er versuchte sich unauffällig umzusehen. Eigentlich erschien es ihm wie eine ganz normale Bar, auch wenn er nicht wirklich behaupten konnte, dass er schon in vielen gewesen war. Vielleicht waren die Gerüchte, die er im Internet gefunden hatte, auch gar nicht wahr – Ihm war auch damals schon durchaus bewusst, dass in Russland keine Bar einfach damit hausieren gehen konnte, wenn sie ein homosexuelles Publikum ansprach. Er betrachtete sein Glas und beschloss es zu leeren und zu gehen. Wenn Yakov erfuhr, dass er Alkohol auch nur angesehen hatte, würde er ihn vermutlich steinigen. Besonders wenn es so kurz vor einem so großen Wettkampf wie dem Grand Prix war. Das Ganze war ohnehin eine dumme Idee gewesen. Wenn ihn hier jemand erkannte, war seine gesamte Karriere ohnehin ruiniert. Naja, er konnte immer noch behaupten, dass er sich verlaufen hätte, dass jemand sich einen Spaß mit ihm gemacht hätte und ihn hierhergeschickt hätte, um ihm eins auszuwischen, aber er nahm es sich schon in seinen eigenen Gedanken nicht ab. „Hey, bist du alleine hier?“, durchbrach dann plötzlich eine ziemlich… warme Stimme seine panischen Gedanken und Viktor blickte zwar ertappt und besorgt, aber irgendwie auch hoffnungsvoll neugierig auf. Der Mann vor ihm war nicht viel älter als er selbst, vielleicht gerade zwanzig. Hellbraun fielen ihm kinnlange Strähnen über die goldbraunen Augen und aus einem zu einem Lächeln sanft geöffnetem Mund blitzten ihm weiße Zähne entgegen. Er war sportlich gebaut, soweit Viktor das unter dem dünnen Pullover und dem Hemd darunter erkennen konnte, auch wenn er nicht die Statur für einen Eikunstläufer hatte, und alles in allem war er einfach nicht, was er sich unter einem Schwulen vorgestellt hatte, auch wenn ihn das vielleicht selbst beleidigen mochte. Für einen Moment war er sprachlos, dann schluckte er und versuchte eine Antwort zu finden. „Ja… Nein, also, schon, aber ich muss gleich wieder gehen und…“ Der Fremde lächelte einfach sanft. „Du bist zum ersten Mal hier?“ Er hängte seinen Mantel über die Rückenlehne des freistehenden Stuhls, schob sich dann langsam ihm gegenüber auf die Bank und gönnte ihm dabei genug Platz, damit er nicht sofort aufsprang. „Ich hab‘ nicht vor, dich anzuspringen oder so etwas, keine Sorge.“ Damit war die Option wohl raus, zu behaupten, dass er nicht wusste, wo er hier war. Vielleicht wollte er es auch gar nicht so sehr. Immerhin quälte ihn die Ungewissheit schon wirklich zu lange und erkannt hatte er ihn ja scheinbar auch nicht, sonst wäre die Begrüßung anders abgelaufen. „Außerdem wage ich zu behaupten, dass ich für das erste Mal hier die bessere Alternative zu einem Vierzigjährigen bin.“ Er musterte ihn kurz. „Außer natürlich du suchst einen Sugar Daddy.“ Viktor hatte keine Ahnung, was ein Sugar Daddy war, aber er bezweifelte, dass er das suchte. Er war sich ja nicht einmal sicher, ob er überhaupt einen Mann suchte oder ob vielleicht einfach etwas mit seinem Körper nicht stimmte und er deshalb nicht… Für den Moment starrte Viktor einfach auf seine eigenen Hände, hatte noch nie solche Probleme damit Worte zu finden und leckte sich unruhig über die Lippen, während er nicht wusste, was er dem anderen Mann antworten sollte, den er doch zumindest äußerlich ansprechend fand. Im Moment dachte er nicht einmal daran, dass er eigentlich zu eitel war, um jemanden hübscher als sich selbst zu finden. „Mein Name ist Alexander. Und deiner?“ Sie hatten sich anschließend einfach unterhalten, Alexander war wirklich nur 2 Jahre älter als er und studierte an der Universität. An diesem Tag war nichts weiter passiert, aber sie hatten sich noch einmal verabredet und dann wieder und wieder und obwohl ihn mehr als einmal ältere Männer mit schlechten Zähnen angegraben hatten, waren die Abende mit ihm immer amüsant abgelaufen und er hatte ihm vor dem Grand Prix auch erzählt, was er tat und wohin er fahren würde. Alexander schrieb ihn seit damals bei jedem Wettkampf eine Nachricht mit aufbauenden Worten und einem niedlichen Bild mit Makkachin, auf den er aufpasste, während er unterwegs war und Medaille um Medaille gewann. Letztlich war es auch Alexander gewesen, mit dem er das erste Mal Sex hatte, auch wenn er sich nur ungern daran erinnerte, wie verdammt dumm er sich dabei angestellt hatte. Und obwohl sie sich noch einmal so getroffen hatten, hatte es einfach nicht gepasst. Mit ihm war es jedoch ganz leicht gewesen, befreundet zu bleiben, obwohl es sonst nicht klappte, anders als mit den Frauen, bei denen Beziehungen gescheitert waren und mit denen er zumeist kein Wort mehr sprach. Mehr als Sex hatte er aber auch mit keinem Mann danach mehr gehabt und auch das eher nur sporadisch. Russland war kein Land einer blühenden Schwulenszene, aber schon nach dem ersten Abend mit Alexander wusste Viktor eines sicher: Er war schwul. Nur dass er das in seiner Heimat und in seiner öffentlichen Position niemals würde ausleben können. Allerdings könnte er das in einer weniger öffentlichen Position genauso wenig, wenn er sich an den Anblick von seinem besten Freund in seinem Krankenhausbett erinnerte. Frustriert schob er die Haare wieder in einem Zopf zusammen, auf die er nur allzu gerne viel Zeit verwendete, wenn er duschte, auch wenn er das heute Morgen nicht hatte tun können, bevor er sich zum Training aufmachte. Er würde es wohl heute Abend nachholen, denn er wusste ja selbst, dass er nicht noch eine Nacht im Krankenhaus verbringen konnte. Schon die letzte hatte seinen Rücken umgebracht. Er würde dennoch noch einmal- „Noch etwas, Viktor.“ Scheinbar hatte er seinen ausweichenden Vorschlag bereits akzeptiert, wenn er seine Aussage so begann. Viktor blickte also zu ihm und wartete darauf, was er noch sagen wollte. „Ich werde demnächst einen Termin mit dem Friseur machen. Dieses ganze feminine Ding wird langsam alt und deine Züge sind dafür auch nicht mehr so geeignet wie vor fünf Jahren. Du solltest zu einem männlicheren Stil übergehen.“ Er meinte es todernst und offensichtlich war das kein Vorschlag mehr, sondern ein feststehender Entschluss. „Deine Fans wird es sicherlich beeindrucken“, winkte er dann noch ab. „Sei morgen pünktlich beim Training, damit wir rechtzeitig loskönnen. An die entsprechende Kleidung brauch ich dich wohl nicht mehr erinnern.“ Er wandte sich ab um zu gehen, als die Erkenntnis, was er gerade gefordert hatte, langsam in Viktors Verstand durchsickerte. „Nein!“, sagte er dann plötzlich. „Ich will meine Haare nicht schneiden!“ Wie kam er darauf überhaupt plötzlich? Plötzlich brannte Wut in ihm auf, angespannte Wut, die mit einem Mal den Knoten in seinem Magen auflöste und schäumend überkochen ließ. „Und ich hab‘ auch keine Lust, mir für jede Veranstaltung eine neue Partnerin zu suchen, von der ich nichts will und mit der ich auch nicht zusammenbleiben werde. Ich hab‘ überhaupt keine Lust vorzugeben, ich sei-“ Er stoppte sich gerade noch rechtzeitig, starrte seinen Trainer wütend an, packte sich seine Jacke und machte auf dem Absatz kehrt, um die Halle zu verlassen. Er würde sich seine Haare definitiv nicht schneiden lassen, egal was Yakov sagte. Sie waren ein Teil von ihm und irgendwie fühlte er sich wie Samson, wenn es darum ging sie zu schneiden. Das Schlimmste war aber, dass er ein Blick auf sein Handy – Auf den Newsticker achtete er dabei bewusst nicht – ihm zeigte, dass die Besuchszeiten längst vorbei waren und er seinen Freund heute nicht einmal mehr besuchen konnte, obwohl er es am Morgen noch versprochen hatte. Entsprechend früh klingelte sein Wecker am Morgen. Er hatte sich keine Begleitung gesucht, sollte Yakov sich doch aufregen. Er würde mit den Fans schon klarkommen, auch wenn er nicht einmal mehr einen Blick auf seine Social Media geworfen hatte, kein grinsendes Gute Nacht- Bild, wie seine Fans es sonst bekamen, wenn er nach dem Training geduscht hatte und ins Bett gehen wollte, kein heiterer Spruch und keine Entschuldigung, dass es auch gestern schon nichts Dergleichen gegeben hatte. Selbst den Anzug für den Abend nahm er nur unwillig mit, als er sich auf den Weg zum Krankenhaus machte, vor den Trainingsstunden, um nicht noch einmal zu spät zu kommen, egal wie sauer er auf Yakov eigentlich war. Womit er nicht rechnete, war die Polizei, die in Alexanders Krankenzimmer stand und mit seinem Freund sprach. Eigentlich freute er sich allerdings darüber, denn diese Ärsche hatten es wirklich verdient, Stress mit der Polizei zu bekommen! Und dann hörte er Alexanders Antwort: „Ich weiß wirklich nicht, wer das war, oder warum sie mich angegriffen haben. Ich kann mich kaum erinnern, wo das eigentlich passiert ist.“ Und Viktor entgleisten alle seine Gesichtszüge. „Was redest du denn da?!“ Das war definitiv nicht, was er ihm gestern erzählt hatte! Er hatte Leute beschreiben können, Gesichter, hatte sogar Namen nennen können, die sie benutzt haben und wenn es nur Vornamen gewesen waren! Warum behauptete er jetzt nichts zu wissen?! „Viktor!“, meinte Alexander überrascht. Er saß aufrecht im Bett, aber gut sah er deshalb definitiv nicht aus, sein Gesicht war geschwollen, die schönen Augen kaum zu sehen und das goldbraune Haar kaum sichtbar unter den Verbänden, die Lippen aufgeplatzt, verschorft und dann war da etwas, was er erst jetzt bemerkte: Ihm fehlte ein Zahn, genau genommen einer der oberen Schneidezähne, der knapp oberhalb der Wurzel abgebrochen war. Deshalb hatte er also bereits gestern so genuschelt. „Schön, dass du gekommen bist“, meinte er dann sanft, lächelte wohl, doch es entstand nur eine entstellte Grimasse. „Setz dich doch. Du hast doch etwas Zeit mitgebracht, oder?“ Und bevor der Eiskunstläufer sich noch einmal einmischen konnte, meinte er zu dem Polizisten: „Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr sagen konnte.“ Er erhielt gerade noch so eine Karte, dann verließ er das Krankenzimmer und die beiden Freunde blieben allein zurück. „Warum hast du ihm nichts gesagt?! Du weißt doch, wieso sie dort waren! Du kanntest ihre Gesichter, ihre Namen!“ Viktor drehte sich schon halb zur Tür. „Ich gehe ihm nach, hole ihn zurück!“ Aber der Student dort im Bett, griff nach seinem Handgelenk und hielt ihn fest. „Viktor, nicht.“ Sein Blick war verletzlich, aber ehrlich und Viktor gehorchte, auch wenn er es absolut nicht verstehen konnte. „Wieso?“ Jemand hatte ihn beinahe totgeprügelt und er wollte einfach still bleiben?! „Setz dich“, bat er und unwillig gehorchte der zweimalige Grand Prix-Gewinner ihm. „Wenn ich gegen sie aussage und sie sie finden, weißt du, was dann passieren wird?“ „Sie kommen hoffentlich ins Gefängnis für mutwillige Körperverletzung?“, schlug er ungehalten vor. „Nein, Vik. Sie werden aussagen, dass ich öffentliche Propaganda für meine, für unsere Sexualität betrieben hätte. Am besten sie treiben noch ein Kind auf, das für sie lügt und behaupten, dass ich versucht hätte, ihn zu begrabschen und dann bin ich es, der im Gefängnis landet.“ Er sprach leise, aber doch war jedes Wort glasklar, doch das Schlimmste folgte erst noch. „Ich… ich denke, es wäre besser, wenn wir uns nicht mehr sehen. Ich will nicht, dass du hier mit reingezogen wirst. Ich will nicht deine Karriere ruinieren und du solltest dich auch von solchen Bars fernhalten.“ Die Worte verletzten Viktor, aber mindestens genauso sehr verletzten sie Alexander und das schmerzte noch mehr, als er dabei seine Hand drückte und seinen Blick suchte. „Ich…“ Er schluckte sichtbar, auch wenn es ihm Schmerzen zu bereiten schien. „Ich habe überlegt, ob ich… die Stadt verlasse. Vielleicht … finde ich ja ein nettes Mädchen, das sich damit zufriedengeben kann, mir fremdzugehen.“ Das war wie ein Tritt in seine Magengegend und er brachte keine Antwort hervor. „Dasselbe solltest du auch tun.“ Alexander blickte weg, ließ seine Hand los. „Die Auswahl hast du ja.“ Er klang beinahe neidisch, so als wolle er sagen, dass ihn ja niemand nehmen würde, der noch ganz bei Sinnen war. „Vielleicht ist ja sogar jemand bereit zu akzeptieren, wenn du dir bei den Wettkämpfen im Ausland einen One-Night-Stand suchst, wenn du es vorsichtig angehst.“ Wäre Viktor nicht so aufgebracht gewesen, hätte er vielleicht gehört, wie schwer Alexander atmete, wie er tief einatmete, mit Mühe und Not ein Schluchzen verbergen konnte, aber er hörte es nicht, war aufgewacht und ihn hielt einfach nichts mehr auf seinem Stuhl. „Du kannst doch nicht dein ganzes Leben eine Lüge leben wollen!“ Er warf sich die langen Haare über die Schulter zurück und musste kurz daran denken, dass er heute Morgen eine Nachricht von Jakov bekommen hatte, in der stand, dass er den Friseurtermin auf den Tag vor dem Siegesauftritt im Eispalast gelegt hatte. „Und was soll das überhaupt heißen: ‚Es wäre besser, wenn wir uns nicht mehr sehen‘?! Wir sind Freunde! Du kannst doch nicht einfach-“ „Ich will dich nicht mehr sehen, Viktor!“ Wie ein Fisch starrte er seinen Freund an, öffnete den Mund und sagte doch nichts und dann griff er einfach seine Sachen und ging. Er war nie besonders gut darin gewesen zu streiten, obwohl er gut darin war, nicht auf seinen Trainer zu hören, was Choreografien und alles andere anging. Trotzdem vermied er Streit im Allgemeinen lieber und im Moment war er ohnehin zu verletzt dazu. Vor dem Krankenhaus warf er seine Sachen auf die Rückbank eines Taxis und stieg ein, wütend, verletzt und… unglaublich traurig. „Wohin wollen Sie, Sir?“ „Zur Eisha-“ Dann stockte er und nannte ihm seine eigene Adresse. „Und könnten Sie unten kurz warten?“ „Kein Problem. Wo wollen Sie anschließend hin?“ „Zum Flughafen.“ Mit einem Nicken setzte sich der Fahrer in Bewegung und Viktor entsperrte sein Smartphone, las kurz einige Nachrichten und öffnete dann Instagram im Webbrowser. Bevor er auf seinen Namen oben in der Ecke klickte und unter Profil bearbeiten die allerletzte Option wählte. Er gab keine Gründe an. Wie auch? ‚Ich bin schwul und will deshalb alles von mir für immer loswerden‘, war weder ein Vorschlag, noch etwas, was er in das kleine leere Kästchen schreiben wollte. Dann bestätigte er, dass er sein Konto dauerhaft deaktivieren wollte und beobachtete, wie die Seite neu lud. Noch während der Fahrt, blockierte er Nummern, löschte seine anderen Social Media Seiten und zögerte bei keiner von ihnen. Selbst in seiner Wohnung tat er nicht viel, packte seine Schlittschuhe, ein wenig Kleidung und einige wenige andere Sachen ein, bevor er Makkachin hochhob und zum Taxi zurückkehrte. Vielleicht würde er sich den Rest nachliefern lassen, wo auch immer ihn sein Weg hinführen würde, vielleicht auch nicht, kündigen konnte er die Wohnung per Post. Für den Moment musste er einfach fort, weit, weit fort. Und so absurd es klingen mochte, aber er ließ sich am Flughafen einfach ein Ticket geben, das ihn so schnell wie möglich aus Europa wegbringen würde. Zuerst musste er nach Moskau, aber von da aus, würde er direkt weiterfliegen und sich auf dem Weg überlegen, wo genau er in dem entsprechenden Land hinreisen würde. Er war einen Blick auf sein frisch erworbenes Flugticket, während er sich direkt zum Check-In begeben konnte. Ein Flug mit einmal umsteigen in Moskau. Kein Rückflug. Ziel: Tokyo, Japan. Ice Castle, Hasetsu, Kyushu, Japan Ich war… fertig. Wieso machte ich wieder und wieder diese dummen Fehler, wenn doch im Training noch alles funktionierte? Am liebsten wollte ich mich unter meiner Decke vergraben und mit Vicchan kuscheln und essen und die Scham vergessen, weil ich wieder einmal an der Qualifikation zu den großen internationalen Wettkämpfen gescheitert war, obwohl ich doch mit achtzehn Jahren sicherlich kein Anfänger mehr war, nicht mehr nervös sein sollte. Eher unmotiviert schlurfte ich also über die Brücke zur Eishalle. Ich musste mich einfach ablenken und das konnte ich schon immer am Besten in der Eishalle, auch wenn ich um diese Uhrzeit das Eis sicherlich nicht für mich allein haben würde. Ich würde trotzdem fahren können und dabei über meine Zukunft nachdenken. Ich hatte jetzt bald meinen Schulabschluss in der Tasche. Vielleicht sollte ich anschließend einfach eine Ausbildung machen…? Das Onsen übernehmen? Mir hier ein Leben aufbauen und damit aufhören, einem Mann nachzustreben, der mit zwei Senior Grand Prix Siegen und unzähligen Junior-Titeln und anderen nationalen und internationalen Preisen auf gutem Weg war, einen Rekord zu brechen, wenn er es nicht längst schon getan hatte? War es nicht Wunschdenken, dem ich niemals gerecht werden könnte? Ich war kein Genie, wie konnte ich auch nur hoffen, dass ich jemals auf dem selben Eis fahren könnte wie Viktor Nikiforov? Jemals mit ihm in Konkurrenz treten könnte? Ich hatte mit dem Gedanken gespielt nach Detroid zu gehen, dort das College abzuschließen, dort zu trainieren, aber welchen Sinn hätte das, wenn ich doch eh nur wieder scheitern würde? Ich erreichte inzwischen die Eishalle. Sie war noch geschlossen, aber ich hatte einen Schlüssel bekommen und so schloss ich auf und ging hinein. Wahrscheinlich würde ich Yuuko, die die Eishalle erst vor wenigen Monaten mit ihrem Mann übernommen hatte, irgendwo finden, aber sie wusste ja, dass ich hier war und trainieren würde, also ging ich direkt zu den Umkleiden, um meine Schlittschuhe anzuziehen. Ich wollte sie ja auch nicht stören. Immerhin war sie Mutter von Drillingen und hatte sicherlich schon genug Stress. Ich war vorhin bereits beim Ballett gewesen, also würde ich mich nicht mehr so sehr warm machen müssen. Natürlich war das Training nicht wirklich erfolgreich gewesen, aber warm war ich zumindest. Ich zog mein Handy aus der Tasche, um nachzusehen, wie spät es gerade war, bevor ich es zu meinen restlichen Sachen in die Tasche packen würde, um zu trainieren. Ich entsperrte es direkt, um noch eine Blick auf Instagram zu werfen. Er musste ja jetzt langsam wirklich mal wieder etwas gepostet haben und dieser seltsame Fehler, der ihm gestern angezeigt worden war, sollte wohl jetzt auch behoben sein. Ich hatte ihn nicht mehr in meiner Liste der gefolgten Accounts gefunden und auch mit der Suchfunktion war v-nikiforov nicht zu finden gewesen… Hatte er wohlmöglich den Namen geändert? Aber selbst dann musste er ihn doch über seine ID finden, nicht wahr? Da waren keine Fotos auf meinem Dashboard von ihm und alle anderen Bilder interessierten mich nicht. Ich scrollte abwärts aber keine Spur, nicht einmal alte Bilder wurden mir angezeigt. Das konnte doch nicht sein! Wieso konnte ich ihn bloß nicht finden?! Er war nicht in der Liste, war nicht bei der Suche zu finden. Ich suchte im Browser danach. Vielleicht lag es an der App-Version? Und dann fiel ich aus allen Wolken, als ich den ersten Eintrag bei Google las. Es war eine dieser Frageseiten. Viktor Nikiforov hat alle seine Social Media gelöscht?! Wieder und wieder drückte ich auf den Link, aber meine mobilen Daten waren zu langsam und luden sie einfach nicht schnell genug. Ich konnte nicht warten! Das war doch unmöglich! Er konnte doch nicht wirklich alles gelöscht haben! Mir sackte das Herz in die Hose, als ich die Anzahl der Kommentare sah, die allesamt zustimmend davon berichteten, dass sie Facebook und Instagram, Twitter und auch sonst jede Seite einfach nicht mehr erreichen konnten und der Support der Seiten ihnen nur die Löschung der Accounts mitgeteilt hatten. Es riss mich beinahe von den Füßen und wie erstarrt saß ich da und starrte auf mein Handy, bis der Bildschirm schwarz wurde. Was… was sollte das denn heißen? Wieso sollte er seine komplette Onlinepräsenz löschen, wo er doch sonst immer mit so viel Freude Bilder von seinem Tag gepostet hatte? Hatte es ihm nicht immer gefallen so mit seinen Fans zu interagieren? Ich… Das konnte doch unmöglich heißen, dass … dass er wohlmöglich aufhören wollte?! Er war doch noch keine vierundzwanzig Jahre alt! Ich ließ mein Handy beinahe fallen, stopfte es irgendwie in die Tasche und schob sie unter die Bank, bevor ich bereits auf meinen Schlittschuhen Richtung Tür nach draußen lief. Dann wurde ich wieder langsamer, denn was sollte ich schon tun? Ich war in Japan. Er war in Russland. Und was war ich denn schon? Ein Versager, der versuchte diesem Mann das Wasser zu reichen, um irgendwann einmal mit ihm auf dem Eis zu stehen. Er kannte mich ja nicht einmal. Ich blieb stehen und starrte auf die Tür, auf den Schnee, der dahinter fiel und wurde mir bewusst, dass ich, wenn er aufgehört hatte, jede Chance verloren hatte, jemals mit ihm zu fahren und mein Idol zu erreichen. Auf zittrigen Kufen drehte ich mich um, ging langsam zur Eisfläche und stieg durch die Tür aufs Eis. Es fühlte sich natürlich an, das Zittern war vergessen, sobald ich diesen Untergrund unter mir spürte, den ich bereits so gut kannte, auf dem ich mich meist sogar wohler fühlte als auf normalem Boden. Dennoch fuhr ich eine Weile lang einfach ziellos im Kreis meine Bahnen, versuchte meine Gedanken zu ordnen und dann war mein Kopf irgendwann einfach leer und ich begann zu springen. Leichte Sprünge, nichts großes, einfach, zweifache Drehungen und dann mehr, Stücke aus alten Choreografien und dann jene Choreografien, die ich als Fan einst auswendig gelernt hatte, Victors Schritt, sein Junior Debut, das bereits eine Choreografie gewesen war, die ich in einem Wettkampf nicht hätte fahren können. Jetzt mit den Gedanken so leer ohne jeden Druck funktionierte es, also versuchte ich mich an den Schritten seiner letzten Choreografie und vergas dabei völlig die Zeit, bemerkte nicht, dass mir jemand zusah, hörte die Kufen nicht, die aufs Eis gesetzt wurden. Dann kam der vierfache Flip, den Viktor so gut springen konnte. Ich schaffte ihn nicht einmal im Training und mein Herz sank mir nach und nach in die Hose, bis ich einfach stehen blieb. „Warum bist du nicht gesprungen? Du hattest die nötige Geschwindigkeit“, stellte dann plötzlich jemand hinter mir in ziemlich perfektem Englisch. Ich erschrak heftig, stolperte über meine eigenen Schlittschuhe und knallte ziemlich unelegant auf Eis und das ohne überhaupt gesprungen zu sein. Und dann lag ich auf dem Eis und blickte direkt auf ein Paar goldener Kufen. Ab und an kamen Touristen hier her, aber etwas so Teures wie goldene Kufen? Erschrocken blickte ich nach oben. Die Stimme hatte es mir völlig verschlagen, weil mir jemand zugesehen hatte, der offenbar diese Choreografie kannte und nicht Yuko war. Und über mir sah ich… eine schwarze Sonnenbrille so groß, dass sie alles, was nicht eh unter einer Mütze steckte verbarg. War er ein Eiskunstläufer? Wer sonst hatte solche Schlittschuhe? Er hielt mir eine Hand hin und verschüchtert griff ich sie, ließ mir aufhelfen. Ich hatte eh schon viel zu lange hier auf dem Eis gelegen und mich dabei völlig blamiert. Er war bestimmt fast zehn Zentimeter größer als ich und ich schluckte angespannt. Irgendetwas fühlte sich seltsam an. „Ich… wollte die Eisfläche nicht blockieren, tut mir leid“, nuschelte ich und wollte an ihm vorbeifahren und das Eis verlassen, doch er griff nach meinem Arm. „Außer mir ist niemand da, mach dir deshalb keine Sorgen.“ Er lächele strahlend. Es fiel mir schwer seinem Englisch zu folgen. Nach Detroit zu gehen wäre vermutlich Selbstmord gewesen, wenn ich das jetzt so sprachtechnisch überdachte. „Das sah wirklich gut aus.“ Er schien kurz zu stocken. Vielleicht war Englisch nicht seine Muttersprache und er wusste das Wort nicht? „Bis zu dem Sprung war alles richtig, wieso hast du aufgehört?“ „Ich… ich… Mein Englisch… ist nicht so gut“, stammelte ich dümmlich, aber gleichzeitig kam doch langsam der Inhalt der Aussage in meinem Kopf an. „Ich kann… keinen… vier…vierfachen Flip?“, antwortete ich dann unsicher und schluckte. „Sorry!“, sagte er sofort und sprach langsamer weiter. „In Japan ist Englisch nicht so weit verbreitet, richtig?“ Er legte den Kopf ein wenig schräg. „Kannst du einen dreifachen?“ Ich nickte unsicher. „Zeig ihn mir!“, forderte er, aber ich blieb wie angewurzelt stehen. Wieso fühle ich mich so komisch dabei? Als ich nicht reagierte, griff er nach meinen Händen und zog mich ein Stück mit sich. „Okay? Hast du mich verstanden? Ich will dir helfen.“ Du… Sie… Sie können einen vierfachen Flip springen?, wollte ich fragen, aber mein Hals brachte keinen Laut heraus also gehorchte ich einfach, holte ein wenig Schwung, sprang ab und knallte direkt aufs Eis. Fantastisch. Ich rappelte mich auf, versuchte es noch einmal, taumelte aber blieb auf den Füßen. Dann atmete ich angespannt aus und tat es noch einmal und noch einmal und noch einmal und dann begann er mir Tipps zu geben. War er überhaupt kein Läufer, sondern ein Coach? Ein Ehemaliger? Warum trug er überhaupt eine Sonnenbrille hier drinnen? Und dann, mein Kopf war noch völlig leer, sprang ich ab und landete einen vierfachen Flipp und starrte danach geschockt auf meine Hände als hätten sie irgendetwas damit zu tun. „Das war gut!“, rief der Fremde plötzlich begeistert. Er kam auf mich zu, hob die Hände meine Wangen und plötzlich nahm ein wildfremder Mann meinen ersten Kuss und alles, was ich tun konnte, war ihn aus riesigen Augen anstarren, als er plötzlich sein Gesicht in meinem Nacken vergrub und schluchzte. Entsetzt legte ich die Hände auf seinen Rücken, klopfte ein wenig beruhigend darauf. Ich hätte ihn schlagen sollen, weil er mich einfach geküsst hatte, aber plötzlich schien er so verletzlich, dass ich einfach nicht anders konnte. „Bist du ein Fan von ihm“, flüsterte er dann leise. „Viktor Nikiforov meine ich.“ Ich spürte seinem Atem auf meinem Hals, erschauderte leicht unter dem fremden Gefühl. Unsicher nickte ich. „Er ist der Grund, wegen dem ich angefangen habe, Eiskunstlauf zu machen“, antwortete ich unsicher, hielt ihn einfach fest. „Würde es daran etwas ändern, wenn er schwul wäre?“ Die Frage verunsicherte mich. Ich musste an den Kuss denken und plötzlich stellte ich völlig unvermittelt meine eigene Sexualität in Frage. Mein Herz machte einen plötzlichen Schlag mehr. Hatte ich darauf gehofft? Nein, das war absolut unmöglich. Ich war nicht schwul… oder? Störte es mich? Ich schüttelte leicht den Kopf. „Nein, ich… denke nicht.“ „Was würdest du sagen, wenn er aufhören würde?“ Ich spannte mich an, hatte mich langsam an die Sprache gewöhnt und dachte jetzt an die sozialen Medien, die gelöscht worden waren. Wieso fragte er mich das? „Ich… wollte immer einmal gegen ihn antreten“, antwortete ich unsicher. „Aber ich schätze dafür bin ich zu schle-“ Doch bevor ich ausgesprochen hatte, richtete er mich plötzlich auf und sah mich an, sah mich an aus großen türkisblauen Augen und ich schrak zurück, stieß ihn von mir, stolperte und fiel auf meinen Hintern, während er langsam die Mütze vom Kopf zog und eine perfekt geflochtene Zopfkrone aus silberweißem Haar entblößte. Mein aller erster Gedanke war: Viktor Nikiforov hatte gerade meinen ersten Kuss gestohlen und überwältigt von dieser Erkenntnis sackte ich nach hinten aufs Eis und wünschte mir einfach wie im Anime ohnmächtig werden zu können. „Lass mich dich coachen!“ Und das, obwohl er noch nicht einmal meinen Namen kannte. Ich schloss die Augen und beschloss, dass ich einfach ohnmächtig spielen würde, bis ich aus diesem furchtbar bescheuerten Traum aufwachte. Ich wachte nicht auf und damit begann an diesem Tag das reine Chaos, das sich mein Leben nannte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)