Stroboskoplicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 4: Freundschaft ----------------------- Freundschaft   Zeitliche Einordnung: Einige Jahre vor Raupe im Neonlicht. Jonas ist ein typischer Teenager mit großen Augen, knubbeligen Knien und Ohren, in die er erst noch reinwachsen muss.   Freundschaft Erhobenen Hauptes betrat Jonas das Klassenzimmer. Dann musste er eben ein Schuljahr wiederholen. Na und? Besser als diese ganzen Streber, die ihr Leben hinter Schulbüchern verschwendeten. Nicht, dass er auf große Abenteuer zurückblicken konnte – die aufregendsten Erinnerungen seiner Sommerferien bestanden aus einem Besuch im Münchner Zoo mit seiner Familie und einem heimlichen Saufgelage (zwei Bier) mit Clemens in dessen Garage. Großartig. Nun dachte er wieder an Clemens. Wenn er schon eine Extrarunde drehen musste, hätten sie ihn wenigstens in eine Klasse mit seinem besten Freund stecken können. Oder auch nicht. Vermutlich lieber nicht. Neulich Nacht, als sie angetrunken auf der Rückbank des Mercedes von Clemens‘ Eltern gesessen hatten, da … Beherzt schob Jonas die Erinnerung an Clemens‘ Lächeln, den Geruch seines verschwitzten Shirts und die Hitze seiner Haut in eine stille Kammer seines Gehirns, drehte den Schlüssel zweimal im Uhrzeigersinn und warf ihn im Anschluss aus dem Fenster. Da sprachen nur die Teenagerhormone aus ihm, völlig normal in seinem Alter. Höchste Zeit, sich eine Freundin anzulachen. Zurück in der Realität ließ Jonas den Blick über die einzelnen Schulbänke schweifen. Besetzt, besetzt, besetzt, fr– nein, doch besetzt. Das hatte er nun davon, den Wecker fünfzehn Minuten weitergestellt zu haben. So kurz vor Unterrichtsbeginn waren die besten Plätze natürlich alle belegt. Er winkte ein paar Kumpels aus dem Fußballverein, die sich die hinterste Reihe gesichert hatten. Sie winkten zurück, machten jedoch keine Anstalten, ihm zuliebe ihre Sitzordnung anzupassen. Tja. Hinten sitzen konnte er also vergessen. Wie sah es mit der vorletzten Reihe aus? Ebenfalls besetzt. Mitte. Nope, nichts. Zweite von vorne? Hier musste doch … Aber nein, alles besetzt. Einen Scheißdreck werd ich tun, und mich ganz nach vorn hocken! Unglücklicherweise sah es aus, als bliebe ihm keine Wahl. Dann wenigstens irgendwo am Rand. Und tatsächlich: Neben einem roten Haarschopf, der Jonas vage bekannt vorkam, verbarg sich ein freier Platz. Sogar am Fenster! „Jo. Is‘ bei dir noch frei?“ „Nein.“ „Sieht ziemlich frei aus.“ „Warum fragst du, wenn du mir eh nicht glaubst?“ Die Rothaarige funkelte ihn an. Wenn sie ihre Nase nur missbilligend genug kräuselte, erschien eine schmale Furche zwischen ihren Brauen. Diesen Blick hatte Jonas definitiv schon mal abbekommen. Heilige Scheiße! „Maria?“ „Dein Ernst? Du hast bis jetzt gebraucht, um mich zu erkennen?“ „Reg dich ab, jetzt erinner ich mich ja.“ Wer hätte ahnen können, dass Jonas die achte Klasse vermasselte und zur Strafe in derselben wie die nervige Freundin seiner kleinen Schwester landete? Netter Scherz, verficktes Schicksal. „Außerdem bist du, ähm, gewachsen seit ich dich das letzte Mal gesehen hab.“ „Bin ich nicht und jetzt zisch ab.“ „Nee, ich glaub, hier gefällt’s mir ganz gut.“ Achtlos warf Jonas seinen Rucksack auf den Boden und plumpste auf den freien Platz neben Maria. „Wenn dein mysteriöser Sitznachbar noch auftaucht, kann er mich ja wegjagen.“ Niemand tauchte auf und nach ungefähr drei Wochen wechselte Maria die ersten freiwilligen Worte mit ihm.   ~~~~~~~~~~   Frustriert rieb sich Jonas über die Augen, bis die rote Fünf vor ihnen verschwamm. „Ich werd den Scheiß nie kapieren! Wie oft darf man durchfallen, bevor man von der Schule fliegt?“ Oh, fuck, er klang genauso kläglich, wie er sich fühlte. „Du fällst nicht durch.“ Maria klang dagegen wie immer. Nüchtern und selbstsicher, als hielte die Zukunft keinerlei Geheimnisse für sie bereit. „Das war deine erste Fünf dieses Schuljahr. Die gleichst du locker aus.“ „Und wenn nich‘? Ich check diesen Mathescheiß einfach nich‘!“ „Klar tust du das. Du brauchst nur mehr Geduld mit dir selbst und jemanden, der dir alles erklärt.“ „Tolle Idee. Irgendwelche Vorschläge, welcher Pechpilz mir den Scheiß näherbringen soll, ohne nach der ersten Stunde das Weite zu suchen?“ „Na, ich.“ Jonas schielte zu Maria. „Du?“ „Ist nicht das erste Mal, dass wir zusammen lernen, oder? Du hast mir letztes Jahr in Englisch den Hintern gerettet.“ „Da haben wir doch bloß Vokabeln gepaukt. Das kann man kaum miteinander vergleichen.“ Sein Blick wanderte zurück zu der vermaledeiten Fünf. So hatte es in der achten Klasse auch angefangen. Eine einzelne Fünf, nicht weiter schlimm, hatte er eben nicht aufgepasst, das würde er schon wieder reinholen. Doch dann folgte die nächste und die nächste und noch eine. Seine miesen Leistungen beschränkten sich nicht länger auf Mathe, sondern weiteten sich auf sämtliche Naturwissenschaften aus und seine Wissenslücke vergrößerte sich, bis er sich eingestehen musste, unmöglich alles aufholen zu können. Beim zweiten Versuch war es besser gelaufen. Nicht zuletzt wegen Maria, die als strenge Sitznachbarin übermäßige Quasselei während der Stunde unterband und ihn zwar gelegentlich Hausaufgaben abschreiben ließ, ihm allerdings mindestens genauso oft in den Hintern trat, bis er besagtes Körperteil hochbekam und lernte. Die neunte Klasse hatte er ähnlich gut überstanden. Aber nun, in der zehnten … „Wahrscheinlich sollt‘ ich einfach meinen Realschulabschluss und ‘ne Ausbildung zum Koch machen. Oder Restaurantfachmann oder so. Fänden meine Eltern auch besser, dann wäre nämlich die Übernahme vom Apfelbäumchen gesichert, wenn sie mal nich‘ mehr wollen.“ „Wenn es das ist, was du willst.“ Jonas blieb stumm. „Dachte ich mir. Bis du mir eine bessere Antwort liefern kannst, geben wir uns erstmal Mühe, dich zum Abi zu boxen.“ Resolut packte Maria ihre Schulsachen in den Rucksack. „Ich komme heute Nachmittag bei dir vorbei und dann machen wir zusammen Hausaufgaben.“ Sie verschwand aus dem Klassenzimmer, ohne Jonas die Chance zu geben, ihr zu widersprechen.   ~~~~~~~~~~   „Ich sag dir, die fährt voll auf dich ab.“ Clemens lehnte neben der Eingangstür zur Turnhalle, an der Jonas ihn jeden Dienstag nach dem Unterricht abholte. Bei ihm standen Thomas und Felix, das Haar von der vorangegangenen Sportstunde schweißverklebt. „Wer?“, fragte Jonas. Sein Blick huschte über die versprengten Schülergruppen, aber er entdeckte kein Mädchen, mit dem er je mehr als zwei Worte gewechselt hatte. „Na, Maria natürlich!“ Beinahe hätte Jonas laut gelacht. „Wirklich nich‘!“ „Denk doch mal nach, Mann! Die schaut uns alle mit dem Arsch nicht an, aber ihr hockt den ganzen Tag zusammen!“ „Kunststück. Wir sin‘ Banknachbarn.“ „Trotzdem, Mann. Ich wette, sie träumt insgeheim davon, dass du sie mal so richtig–“ „Was treibt ihr heute noch so?“, fiel Jonas Clemens ins Wort. „Claudia schaut nachher bei mir vorbei.“ Thomas‘ Stimme lud dazu ein, ihn um Details anzuflehen. Felix erfüllte seinen Wunsch. „Hast du nicht gestern erzählt, dass deine Alten heute den ganzen Abend unterwegs sind?“ „Sie bringt Kondome mit.“ Thomas‘ knallrot anlaufende Ohren betrogen die Illusion des abgeklärten Stechers. „Voll gut, Mann.“ Anerkennend klopfte Clemens ihm auf die Schulter. „Ohne ist’s noch besser, aber krass gut fühlt es sich so oder so an.“ „Ich hab sie schon gefragt, ob sie nicht die Pille nehmen will, aber sie hat Angst, ihre Eltern finden’s raus.“ „Ziemlich kacke“, sagte Felix. „Aber Clemens hat schon recht. Geil anfühlten tut sich’s so oder so.“ Jonas starrte auf seine Schuhspitzen. Wann hatte Felix …? Und wann zur Hölle hatte Clemens …? Was zur wichtigsten Frage führte: War er der einzige in seinem Freundeskreis, der noch nicht …? Scharfe Krallen bohrten sich in seinen Magen, zerrten an seinem Inneren. Die Vorstellung von Clemens mit einem anderen … einer anderen natürlich. Die Vorstellung von Clemens mit einem Mädchen im Bett– Nein, Moment, das sollte ihn überhaupt nicht stören, richtig? Oder wenn, dann weil er eifersüchtig auf Clemens war, nicht auf das Mä– Genug! „Thomas ist dann wohl für heute verplant“, sagte Clemens. „Was mit dem Rest? Bock, bei mir ne Runde Fifa zu zocken? Jonas?“ „Ich, ähm, kann nich‘. Maria und ich sin‘ verabredet.“ „Ich wusste es!“ „Zum Lernen!“ „Natürlich nur dafür. Dann ‚lernt‘“, Clemens malte Gänsefüßchen in die Luft, „mal schön miteinander.“ Jonas lachte mit seinen Freunden, aber das half nicht, seine rasenden Gedanken zu bremsen.   ~~~~~~~~~~   Frustriert pfefferte Jonas seinen Bleistift auf den Küchentisch. „Ich kapier den Scheiß einfach nich‘! Das Abi kann ich voll vergessen, dafür bin ich viel zu blöd!“ „Durchatmen.“ Maria zog sein Arbeitsheft zu sich. „Bei welcher Aufgabe hängst du?“ „Der ersten!“ „Dann sehen wir sie uns zusammen an. Die ist eigentlich gar nicht so schwer, wenn man weiß, was man tun muss.“ „Für dich vielleicht! Weil du nich‘ so dumm bist wie ich!“ Abfällig schnalzte Maria mit der Zunge. „Jetzt hör mal auf, im Selbstmitleid zu versinken. Wo genau ist das Problem?“ „Überall! Ich weiß nich’ mal, wo ich anfangen soll!“ „Okay. Warum starten wir nicht damit, dass du mir erklärst, worum es deiner Meinung nach in der Aufgabe geht und wie man zur Lösung kommen könnte. Und dann sagst du mir, an welcher Stelle du Hilfe brauchst.“ „Du hörst mir nich‘ zu! Ich hab keine scheißverfickte Ahnung, was die Scheißaufgabe von mir will! Scheiße!“ Maria ließ sich von Jonas‘ Fäkalgeplärre nicht abschrecken. „Also willst du lieber aufgeben? Ich bitte dich.“ „Ich bin bloß realistisch.“ „Du hast bloß Angst, es ernsthaft zu versuchen und trotzdem nicht zu schaffen.“ Jonas wollte widersprechen, aber das fiel schwer, wenn sein Gegenüber so ekelhaft richtig lag. „Los jetzt“, forderte Maria. „Aufgeben gilt nicht.“ Geschlagen deutete Jonas auf die Textaufgabe vor ihm. „Okay, also, ich check natürlich schon, dass ich hier so’n kack Baumdiagramm malen soll, aber … in dem Text stecken ungefähr fünfundzwanzigtausend Zahlen und ich hab keine Ahnung, welche davon wohin soll. Brauch ich überhaupt alle? Sin‘ n paar davon Fallen?“ „Keine Fallen. Es gibt einige Signalworte im Text, auf die du achten kannst, dann ist es gar nicht mehr so schwer zu erkennen, welche Zahl an welche Stelle gehört.“ Geduldig ging Maria ebenjene mit ihm durch, erklärte, was sie aussagten und was ihre Abwesenheit bedeutete. Jonas konnte es kaum glauben, aber Stück für Stück lichtete sich der Nebel. Die erste Aufgabe lösten sie gemeinsam, für die zweite brauchte er lediglich einen Schubs in die richtige Richtung und die dritte schaffte er komplett im Alleingang. „Verfickte Scheiße!“ „Was ist?“ „Es geht auf!“ Stolz schob er sein Heft zu Maria. „Das stimmt so, oder?“ Sie überflog seine Lösung und lächelte. „Ja, stimmt alles. Und das war die bisher schwierigste. Siehst du, du kannst es doch!“ „Ich kann’s. Scheiße noch eins, ich kann’s wirklich!“ „Habe ich dir doch gleich gesa–“ „Danke, danke, danke, danke!“ Lachend wand sich Maria in Jonas‘ stürmischer Umarmung. „Ist ja gut! Aus! Zurück in dein Körbchen.“ „Wuff!“ Jonas ließ von ihr ab und klappte sein Mathebuch zu. „Schluss für heut. Lieber aufhören mit dem Scheiß, solang ich noch motiviert bin.“ Er nickte Richtung Treppe. „Wir sin‘ noch mindestens zwei Stunden allein. Bock auf nen Film? Hab zu Weihnachten nen DVD-Player bekommen.“ Den er sich strenggenommen mit seinen beiden Schwestern teilte, die allerdings den Anstand besaßen, im Augenblick außer Haus zu sein. „Solange du was hast, bei dem ordentlich Blut spritzt.“ Jonas hob die Brauen. „So eine bist du also?“ „Hast du, oder hast du nicht?“ „Komm mit und find’s raus.“ „Du klingt wie so ein gruseliger Typ, der Kindern Süßigkeiten verspricht, wenn sie in seinen Lieferwagen einsteigen.“ Noch während sie das sagte, stieg Maria die Treppen zu Jonas‘ Zimmer hoch.   ~~~~~~~~~~   „–Klassiker gilt. Jonas?“ Er drehte den Kopf weg vom Fernseher, auf dessen Bildschirm ein junger Johnny Depp in bauchnabelenthüllendem Crop Top herumstakste, hin zu Maria. „Sorry, hast du was gesagt?“ „Nur, dass ich verstehen kann, warum Nightmare on Elm Street bis heute als Klassiker gilt.“ „Is‘ scheißegut, oder?“ Ein Grübchen erschien in Marias linker Wange, als sie lächelte. „Nicht zwingend meine Wortwahl, aber ja.“ Jonas blickte zurück zum Fernseher, wo Johnny Depp mit nacktem Bauch auf seinem Bett fläzte, und eilig wieder weg. Warum löste eine dreißig Jahre alte Filmaufnahme mehr Magenkribbeln bei ihm aus als das Mädchen an seiner Seite? Er schielte zu Maria. Ihre roten Locken streiften ihre Schultern und Sommersprossen überzogen Nase, Stirn und Wangen. Den Rest ihres zierlichen Körpers versteckte sie unter weitgeschnittener Kleidung. Sie war so klein, dass ihre auf seinem Bett ausgestreckten Beine nicht einmal bis zur Mitte seiner Waden reichten und ihre Füße wippten aufgeregt, wann immer ein kreischender Teenager das Zeitliche segnete. Was lief nur falsch mit ihm? Sie teilten denselben Humor, hörten dieselbe Musik, mochten dieselben Filme. Sie beide träumten davon, dieses Kaff nach dem Abitur auf Nimmerwiedersehen zu verlassen. Dank Maria fühlte sich Schule nicht länger wie eine tägliche, sechs Stunden andauernde Strafe an. Manchmal ging Jonas sogar beinahe freiwillig hin. Er freute sich darauf, sie zu sehen, freute sich darauf, Zeit mit ihr zu verbringen. Das musste doch Verliebtheit sein! Warum zum Fick löste Maria also nicht ansatzweise dasselbe Kribbeln in ihm aus, wie Johnny Depps nackter Bauch? Möglicherweise brauchte sein Körper schlicht einen Schubser in die richtige Richtung. Mehr Nähe, mehr … was auch immer. Behutsam lehnte sich Jonas zur Seite, bis seine Schulter Marias berührte. Sie rückte nicht von ihm ab und die Wärme ihrer Haut, die allmählich in seine eigene überging, fühlte sich angenehm an. Kribbeln? Fehlanzeige. „Oh!“ Maria klopfte auf Jonas‘ Oberschenkel. „Ich wette, gleich kommt die Szene, in der er in sein Bett gesaugt wird und dann eine Blutfont–hmpf!“ Marias Lippen waren vor Überraschung geöffnet und schmeckten nach der Cola, die sie getrunken hatte. Im nächsten Augenblick flutete heißer Schmerz Jonas‘ Wange. Maria hatte ihm eine schallende Ohrfeige verpasst. Sie sprang vom Bett. „Was sollte das?“ Angewidert wischte sie sich über den Mund. „Was sollte das?“ „Tut mir leid, ich–“ „Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht? Ich dachte wirklich, du wärst anders!“ Maria sammelte ihre Sachen zusammen und stopfte sie in ihren Rucksack. „Und dann ziehst du so eine Scheiße ab!“ „Ich dachte nicht–“ „Was? Was dachtest du nicht? Dass ich ‚Nein‘ sagen könnte?“ Ihre erhobene Hand würgte jede der unzähligen überforderten Erwiderungen ab, die auf Jonas‘ Zunge brannten. „Weiß du was? Ich will gar nicht wissen, was du dir dabei gedacht hast. Und ich will erst recht keine Entschuldigungen hören. Ich gehe.“ „Maria! Bitte bleib!“ „Wozu? Du hast klar gemacht, dass du mich nicht als Freundin siehst!“ „Natürlich tue ich das!“ Aber Maria hörte ihm nicht zu. Sie stürmte aus seinem Zimmer und die Treppe hinab. Jonas hastete ihr hinterher. „Maria!“ Was sollte er tun? Warum musste er so unendlich dumm sein? Er wollte doch nur alles richtig machen, wollte normal sein, und jetzt lag von einem Moment auf den anderen eine seiner engsten Freundschaften in Scherben. Hilflos beobachtete er Maria, als sie Jacke und Schuhe anzog. „Bitte … können wir nicht so tun, als wäre nichts passiert und einfach Freunde bleiben?“ Maria schnaubte abfällig. „Als ob. Du hast gerade bewiesen, was du von unserer Freundschaft hältst.“ Sie wandte sich zum Gehen. „Ich will wirklich nichts von dir! Ich weiß doch noch nich‘ mal, ob ich überhaupt auf Mädchen stehe!“ Jonas schlug sich die Hände vor den Mund. Was hatte er da gesagt? Niemand durfte … niemand sollte … Wieso hatte er …? Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, machte er auf dem Absatz kehrt, rannte zurück in sein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Eine grauenhafte Minute lang fürchtete er, Schritte auf der Treppe zu hören, aber niemand kam. Als Christine ihm Stunden später Abendessen aus dem Apfelbäumchen mitbrachte, zitterten seine Hände noch immer.   ~~~~~~~~~~   Jonas war kotzübel, aber einen weiteren Tag würde er damit bei seiner Mutter nicht durchkommen. Es grenzte an ein Wunder, dass sie ihn gestern hatte zu Hause bleiben lassen. Die positiven Seiten einer durchwachten Nacht und blutunterlaufener Augen. Heute fühlte er sich kaum besser. Er wusste, er konnte sich nicht ewig vor Maria verstecken, wenn es nach ihm ginge, hätte er es allerdings noch eine Weile länger versucht. Stattdessen stand er vor den Schultoren, angsterfüllt bei dem Gedanken, was ihn dahinter erwartete. Hatte Maria getratscht? Eigentlich nicht ihre Art, aber er hatte sie nie zuvor so erlebt. So wütend. So verletzt. Wer konnte schon sagen, wie sie reagierte. „Jonas!“ Er wirbelte herum. Vor ihm stand der Mensch, den er am zweitwenigsten sehen wollte. „Ähm … Hi.“ Clemens spitzbübisches Grinsen löste ein unwillkommenes Flattern in Jonas‘ Magengegend aus. „Naaa? War dein Abend mit Maria so heftig, dass du gestern gleich krankfeiern musstest?“ „Haha, japp. So sieht’s aus.“ Wenigstens schien Maria ihn nicht verraten zu haben. Ein Finger der eisigen Hand, die sein Herz umklammert hielt, löste sich. Die anderen blieben fest an Ort und Stelle. „War ‘n krasser Abend.“ „Komm schon, Mann. Ein paar Details kannst du schon rausrücken.“ „Nee, Maria killt mich, wenn ich quatsche.“ Damit lag er sicher nicht völlig verkehrt. „BH an oder BH aus?“ „Clemens!“ „Mehr will ich gar nicht wissen.“ Jonas barg das Gesicht in den Händen. Und jetzt? Ehrlich sein und zugeben, dass Maria ihren Kuss scheußlich gefunden hatte? Noch ehrlicher sein und zugeben, dass er den Kuss ebenfalls scheußlich gefunden hatte? Absolut keine Option. „BH … Ähm, BH a–“ „Uh, Jonas“, unterbrach Clemens ihn. „Dreh dich mal lieber um.“ Das tat er und entdeckte den Menschen, den er am allerallerallerwenigsten sehen wollte. „Ähm … Maria … Hi. Wie, ähm …“ Seine Stimme versagte ihm den Dienst. „Guten Morgen.“ Die Lippen zu einem Lächeln gekräuselt, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und hauchte einen Kuss auf Jonas‘ Wange. „Komm mal mit.“ Nicht gänzlich sanft zog sie an seiner Hand. Zu baff, um zu reagieren, folgte er ihr, Clemens‘ Gackern im Ohr. Sie stoppten im Schatten der alten Eiche am Rand des Schulhofes. „Maria, ich … Es tut mir so scheiße leid. Alles. Das gestern. Das eben. Ich kann verstehen, wenn du mich nich‘ sehen willst. Ich war’n Arsch und–“ Maria presste ihm eine Hand über den Mund. „Hilft es dir, wenn ich mich in Zukunft als deine Freundin ausgebe?“ „Waff?“ „Wenn es dir hilft, dann machen wir das. Bis du dir im Klaren darüber bist, was du wirklich willst.“ Jonas schob ihre Hand zur Seite. „Warum sollte mir das helfen?“ „Wegen dem, was du vorgestern zu mir gesagt hast.“ „Gar nix hab ich gesagt! Und dein Scheißmitleid brauch ich schon zweimal nich‘!“ „Okay.“ „Ich bin nich‘ … Du verstehst nich‘ … Ich bin nich‘ … Nich‘ … Nich‘ … Ich. Bin. Nicht. Schwul!“ Schockiert über sich selbst, trat Jonas einen Schritt zurück. Warum hatte er ausgerechnet dieses Wort benutzt? Panisch sah er sich um, aber niemand sonst schien ihn gehört zu haben. Maria zeigte sich unbeeindruckt. „Okay.“ „Ich mein’s ernst! Bloß, weil ich nix mit Mädels anfangen kann, heißt das nich‘, dass ich auf Typen abfahr!“ „Ich weiß.“ „Ich bin nich‘ schwul!“ „Okay.“ Maria schloss die Lücke zwischen ihnen und Jonas in ihre Arme. Er kniff die Augen gegen die darin aufwallenden Tränen zusammen. Männer heulten nicht. Er heulte nicht. Schon gar nicht wegen sowas. „Ich bin nich‘ schwul.“ „Ich habe dich nicht gefragt, ob du’s bist, sondern, ob du mit mir gehen willst. Also, was sagst du? Ja, nein, vielleicht?“ „Ich versteh‘ nich‘, warum du das vorschlägst! Was erhoffst du dir davon? Is‘ nämlich ziemlich offensichtlich, dass du den Kuss vorgestern scheiße fandst.“ „Stimmt. Tu das nie wieder.“ „Warum dann?“ „Dir ist klar, dass ich vorschlage, dass wir vorgeben ein Pärchen zu sein, ja?“ Marias Tonfall wechselte von Verständnis zu Ungeduld und ließ sich damit gleich deutlich leichter ertragen. „Nicht, dass wir wirklich eins werden.“ „Ich bin nich‘ blöd.“ „Weiß ich.“ „Dann … Was hast du von der Sache? Was, wenn du jemanden kennenlernst, den du wirklich magst.“ „Ich mag dich wirklich.“ „Du weißt, was ich mein.“ Marias Blick fand Jonas‘. „Wenn wir vorgeben zusammen zu sein, hören meine Eltern vielleicht endlich auf, mich anzusehen, als ob etwas falsch bei mir läuft, weil ich nicht von irgendwelchen Boygroups oder Mitschülern schwärme. Ich habe Ruhe vor Jungs, die kein ‚Nein‘ akzeptieren und vor Freundinnen, die mich nach dem Namen meines non-existenten Schwarms löchern. Ich habe Ruhe vor diesen ganzen gesellschaftlichen Erwartungen, mit denen ich überhäuft werde, seit ich zum ersten Mal meine Unterwäsche vollgeblutet habe.“ „Ähm … Maria bist du, ähm … Also … stehst du auf …?“ „Ich bin nicht lesbisch“, erwiderte sie gelassen. „Ich habe einfach nur kein Interesse an Beziehungen. Oder Sex, wenn du es noch genauer wissen willst.“ „Oh. Okay. Dann …“ Jonas schluckte. Marias Vorschlag klang verlockend. Eine offizielle Beziehung schützte ihn vor Fragen, über deren Antworten er im Augenblick nicht nachdenken wollte und schenkte ihm Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen ... Sie schenkte ihm Zeit, seinen Körper endlich davon zu überzeugen, auf Mädchen anzuspringen. „Ich glaub, ich fänd‘s gut, wenn du mit mir gehen würdest. Oder es vorgibst.“ „Ist das ein ‚Ja?“ „Japp, denke schon.“ Der Schulgong erklang, aber anstatt aufzubrechen, drückte Maria Jonas noch einmal an sich. „Nur damit das klar ist: Es ist völlig egal, ob du auf Mädchen stehst, oder auf Jungs, oder auf keins von beidem. Es ist egal, ob du das jetzt schon mit Sicherheit sagen kannst oder nicht. Du bist gut so, wie du bist. Lass dir von keinem was anderes erzählen. Aber wehe, du versuchst jemals wieder, mich zu küssen. Dann muss ich dir leider in die Eier treten, bis sie aus deinem Hals rauskommen.“ Wieder kämpfte Jonas gegen Tränen, aber darunter wartete ein Lächeln. Zum ersten Mal seit Jahren ließ die eisige Hand ganz von seinem Herzen ab. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)