Von Peking bis Barcelona von Flokati ================================================================================ Prolog: Prolog: Von Schweinen, Katzen und Hunden ------------------------------------------------ St. Petersburg, 30. Oktober 2016 Dieses elende Schwein. Was bildet der sich ein?! Küsse als Lob, das ist die mieseste Nummer, die mir je untergekommen ist! Und dass Viktor das mitmacht, hat der gar keine Selbstachtung mehr vor sich?! Wieso interessiert er sich mehr für diesen Loser als für mich?! Tok, tok. „Was ist?!“, rufe ich genervt, Pocha fährt erschrocken von meinem Schoß auf und stellt den Schwanz auf Hab-Achtung. Lilia öffnet meine Zimmertür, der Lichtstrahl vom Flur blendet mich widerlich. Garantiert will sie nen Verhör starten, warum ich ohne was zu sagen direkt in mein Zimmer bin. Damit soll sie mir gefälligst gestohlen bleiben. Ich lasse mich zurück ins Bett fallen. Sofort stiehlt sich Pocha beleidigt davon, um Lilia um die Beine zu schleichen. Verräter. „Viktor Nikiforov ist kein gutes Vorbild für dich.“ Ich haue mir das Kissen über die Ohren. Das kann sie dem heiligen Geist erzählen! Ich hab sowas von keinen Bock, irgendwem zuzuhören und 'ne Moralpredigt brauch ich erst recht nicht! Was für 'ne Ahnung hat sie schon? Ich habe meine eigenen Vorstellungen! Wenn ich gewinnen will, brauche ich Viktor und ich werde ihn zurückholen, egal wie! „Weißt du, wer früher in diesem Bett geschlafen hat?“, fragt sie mich im gleichen Tonfall. „Nein, wen interessiert's auch?!“, motze ich, aber die dämliche Matratze schluckt meine Stimme. „Nikiforov. Das hier war sein Zimmer.“ „HA?!“ Pfeilschnell sitze ich aufrecht im Bett. Lilia schaltet das Licht an und ich petze die Augen schmerzhaft zusammen. Mann, Alte, ich bin blind...! Sie hätte mich warnen sollen! Dann höre ich ihre Schritte, als sie näher kommt und spüre ihr Gewicht auf dem Bett, als sie sich setzt. Das eine Auge öffne ich nur so weit wie nötig. „Yakov hat ihn hierher gebracht, als er zehn war“, beginnt sie, ohne eine Miene zu verziehen oder mich anzusehen. „Er hat hier fünf Jahre lang gewohnt, in diesem Zimmer, bis er diese Töle angeschleppt hat. Danach war endgültig Schluss, aber Mutter Theresa aus der Schneiderei war ja sofort zur Stelle.“ Was zur Hölle, Lilia redet zum ersten Mal von Viktor?! Und mit Mutter Theresa meint sie Frau Praslova? Die Schneidertante für unsere Kostüme? „Nikiforov war nichts als ein verzogener Bengel als er hier ankam“, spricht sie mit derselben versteinerten Miene weiter. „Der Vater nie zuhause gewesen, um ein Machtwort zu sprechen und die Mutter zu alt, das Kind richtig zu erziehen. Wenn ich daran nur denke. Er war eine einzige Plage.“ Ey, sie soll mich bloß nicht verarschen, mit dem was sie da erzählt! „Du brauchst ihn nicht, Yuri Plisetsky“, wiederholt sie und sieht mich direkt an. „Warum redest du erst jetzt davon?!“, blaffe ich sie an. „Yakov,“ antwortet sie und sieht wieder weg, „An Yakov hing er wie eine Klette und Yakov hat sich einlullen lassen. Statt dafür zu sorgen, dass die Mutter die Verantwortung für das Kind trägt, hat er es für Gott gegeben hingenommen, sich selbst kümmern zu müssen. Nikiforov hatte nichts, was eine Sonderbehandlung gerechtfertigt hätte. Er war bockig, schwerer zu hüten als ein Sack Flöhe und ein hoffnungsloser Fall, was Benehmen und Anstand anbelangte.“ „Und wie ist er dann so erfolgreich geworden?“ Viktor liegt die Welt zu Füßen, wenn er nur mit den Finger schnippt! „Du solltest dich von ihm fernhalten.“ „Ich hab's beim ersten Mal schon gehört“, schnaube ich. Was labert sie, Viktor ist doch eh nicht hier. Ist jetzt keine große Kunst, das hinzubekommen! „Nikiforov fehlt der Stolz, der Respekt und die Achtung vor sich selbst. Für seine Ziele ist er sich für nichts zu schade; nicht für einen streunenden Köter und auch nicht für ein stupides Schwein. Für seine Bewunderer wirkt er wie ein Unschuldslamm, aber in ihm steckt ein Teufel.“ Lilia sieht zu mir und streicht mir einige meiner Haare aus meinem Gesicht, während ich versuche, den Scheiß in einen Zusammenhang zu bringen, den sie mir gerade erzählt hat. Viktors Gedanken reichen manchmal nur vom Sofa bis zum Chinesen um die Ecke und sie will mir gerade weiß machen, dass in dem Katsudon-Gelaber ein Teufel steckt? Am Arsch! Wenn überhaupt, gibt’s hier nur einen Teufel und zwar den in dem ollen Spruch, den jeder gedrückt bekommt, der in der Halle neu anfängt: „Stehle niemals die Hörner des Teufels.“ So 'ne lahme Erziehungskacke halt, die nix anderes heißen soll, dass man sich um seinen eigenen Shit kümmern soll. Aber selbst an das kann er sich nicht erinnern. Ey, wenn Viktors Kopf nicht angewachsen wär, würd er den noch zuhause vergessen. Er vergisst alles Mögliche: Namen, Gesichter, wenn jemand Geburtstag hat, wenn er was versprochen hat... Das ist zum Kotzen! Was soll der Scheiß also? Viktor muss man alles an den Arsch tragen, von selbst kommt nie was. Aber für dieses fette Schwein fliegt er um den halben Globus und lässt mich hier sitzen! Das kann er sich abschminken, dass ich das einfach so hinnehmen werde! Viktor wird nach Russland zurückkommen, und sein Versprechen halten! Der neue Sieger werde ich, Yuri Plisetsky! Hasetsu, 01. November 2016 Viktor und ich befinden uns auf dem Rückweg von der Eishalle in unser Onsen. Ich schiebe das Fahrrad neben mir her, damit wir uns an der Hand halten können und Makkachin trottet einige Schritte voraus. Seit wir die Halle verlassen haben, umgibt uns eine merkwürdige Stille; zum Einen aus Erleichterung, zum Anderen aus Nervosität. Sobald wir zuhause sind, wollen wir meiner Familie mitteilen, dass uns inzwischen mehr verbindet als nur ein professionelles und freundschaftliches Verhältnis. Yuko hat es von uns gerade als Erste erfahren und sie war völlig aus dem Häuschen. Ihr zufolge rechneten bereits alle damit, sodass ich es mir nicht vorstellen kann, dass meine Familie es gleich verurteilen würde, aber eine gewisse Unsicherheit bleibt. Nur Vater sollten wir vielleicht noch nichts sagen. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Mutmaßungen seiner Kumpels bezüglich des Zusammenhangs zwischen meiner Rede bei der Pressekonferenz und Viktors Erbrechen und eine ausgeschmücktere Version muss beim besten Willen nicht sein. Da ab morgen in Hasetsu aufgrund des Hasetsu kunchi matsuri ohnehin viel los sein wird, dürfte Vater aber auch gar nicht zu Hause sein. Ein heißes Bad am Abend nach dem Fest wirkt bei den aktuell kühlen Temperaturen auf viele Besucher sicher sehr verlockend, sodass er wahrscheinlich noch keinen Feierabend gemacht hat. Mit meiner Annahme behalte ich auch Recht, denn als wir zuhause ankommen, sind nur meine Mutter und meine Schwester anwesend. Vater ist noch einmal zu unserem Großhändler unterwegs, um ganz sicher genügend Getränke und Spirituosen im Lager zu haben, denn neben potenziellen Badegästen rechnen wir auch mit einer Vielzahl an schaulustigen Besuchern, die einen Blick auf Viktor oder mich erhaschen wollen. Und wer weiß, ob Yukos Drillinge nicht auch noch eine Idee in petto haben, die uns einschließt. Auch unter diesem Aspekt betrachtet ist es sicher nicht die schlechteste Idee, die Gelegenheit heute Abend zu nutzen und meine Familie einzuweihen. Direkt nach unserer Ankunft sitzen wir also zu viert um den kleinen Tisch in unserem Wohnzimmer versammelt und ich muss einige Male ansetzen, die Neuigkeiten auszuformulieren, weil mir schon wieder vor Aufregung alle Worte dazu entfallen sind. Als es irgendwie dann deutlich genug ist, gehen die Reaktionen meiner Mutter und Mari in zwei völlig unterschiedliche Richtungen. Ich hegte die Hoffnung, dass beide ähnlich positiv reagieren würden wie Yuko, aber es ist nur Mutter, die zu strahlen beginnt. Sie seufzt erleichtert, legt die Hände auf die Knie und verbeugt sich vor Viktor, um ihm zu danken, dass er sich meiner angenommen hat. Mari hingegen bleibt ohne Regung im Gesicht sitzen und betrachtet mich, als hätte ich ihr gerade eröffnet, eine verlorene Socke wiedergefunden zu haben. Ich wüsste zwar nicht, wie ich reagieren würde, wenn mir Mari einen Freund vorstellen würde, aber ein bisschen mehr Freude könnte schon drin sein, finde ich. Von ihrer Anteilslosigkeit irritiert regt sich auch etwas Unverständnis und Ärgernis in mir. „Yuuri, wie schön,“ freut sich Mutter mit leuchtenden Augen, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hat, „du und Vicchan. Wir haben so gehofft, dass ich ihr euch findet! Es war kaum mehr zu übersehen, wie verliebt ihr wart. Du hast Vicchan seit deiner Pressekonferenz kaum noch aus den Augen gelassen, als wäre er dein größter Schatz.“ „Ja, kann sein...“, murmele ich überaus peinlich berührt. Wie kam ich nur auf die Idee, das hätte niemand bemerkt? Sie hat recht, in der Zeit nach der Pressekonferenz habe ich Viktor tatsächlich so gut wie nicht mehr aus den Augen gelassen; aus lauter Argwohn, dass Vater ihm noch einmal etwas „Lustiges“ zu essen gibt und Viktor sich erneut den Magen daran verdirbt. Wenn wir abends zusammen die Gameshow, die Viktor so gut gefällt, gesehen haben, hat er oft an mir gelehnt und seinen Kopf auf meine Schulter gehabt und jeder, der uns dabei gestört hat, wurde nicht selten von mir mit einem vernichtenden Blick gestraft. Und das ist nur ein Beispiel. Da wir uns in der Anwesenheit von jemand anderem aber nie geküsst haben, war ich irgendwie der Auffassung, es wäre nicht deutlich genug, aber da lag ich wohl gründlich falsch. Rückblickend kann ich aber durchaus nachvollziehen, dass einige hier dachten, dass Viktor und ich schon viel länger eine richtige Beziehung führen als nur „ein bisschen zusammen“ zu sein... „Ist doch alles nur Zufall“, kommentiert Mari tonlos. Sie stützt den Kopf gelangweilt auf ihre Hand. „Wäre dieses Video nicht hochgeladen worden, wäre das doch nie passiert. Dann wäre er gar nicht hier. Also warum so ein Aufstand?“ „Das Video ist aber hochgeladen worden und er ist hier“, entgegne ich angefressen. Wenn sie ein Problem mit Viktor hat, dann soll sie es sagen. Dass ihr die Abreise von Yurio nicht geschmeckt hat, weiß ich, aber so waren nun mal die Regeln. Die Sache mit dem Yukata hat sie mir auch noch einige Tage nach dem Tanabata krumm genommen und insbesondere seit der Pressekonferenz redet sie kaum noch ein Wort mit uns. „Dann herzlichen Glückwunsch“, sagt sie genervt, steht auf und verlässt den Raum, um zu rauchen. Für einen Augenblick starre ich ihr mit unverständlichem Blick nach. Dann tippt Viktor mich an. „Was hat sie?“ „Ich hab keine Ahnung...“, antworte ich. „Yuuri, deine Schwester meint es nicht so. Sie wird sich freuen können, wenn die Zeit da ist.“ Mutter lächelt etwas betrübt und greift mit ihrer Hand nach meiner und mit ihrer anderen nach der von Viktor. „Es hat nichts mit dir oder mit Vicchan zu tun. Sie ist enttäuscht.“ „Enttäuscht?“ „Deine Schwester hat es nicht einfach“, erklärt sie mir mit gesenktem Blick und streichelt über unsere Hände. „Du weißt, dass Mari nicht dem Bild entspricht, das japanische Männer sich von einer Frau erhoffen. Wir waren schon bei Partneragenturen, Heiratsvermittlern und immer noch hat sich kein Mann gefunden, der mit unserer Mari zusammen sein möchte. Und dein Vicchan ist so ein Sonnenschein. Sie ist traurig, dass sie alleine ist.“ Die Antwort trifft mich jetzt mehr, als ich erwartet habe und sofort füllen sich meine Gedanken mit Schuldgefühlen. Es stimmt schon; während ich noch in Amerika gewesen bin, haben meine Eltern viel unternommen, um einen Mann für meine Schwester zu finden. Für Frauen im Westen ist es nichts Ungewöhnliches, mit 30 noch nicht verheiratet zu sein, aber bei Japanerinnen wird es gesellschaftlich immer noch belächelt. Ich weiß auch, dass meine Eltern darauf hoffen, dass Mari einmal mit ihrem Ehemann den Familienbetrieb übernehmen und weiterführen wird... Es ist Vaters Ruf nach Mutter der mich schließlich aus meinen Gedanken reißt und sie eilt sofort nach vorne, um ihm beim Auslanden des Transporters zu helfen. „Hab ich was falsch gemacht? Mein Name ist gefallen“, wendet sich Viktor an mich. Ich winke ab. „Nein, hast du nicht. Bist du müde?“ „Hmm“, sagt er, schließt die Augen und legt den Kopf schief. Das heißt ganz eindeutig Ja. Er muss ziemlich müde sein von seinem spontanen Schneeflockentanz auf dem Eis. Die Augenlider sind schon seit einer Weile recht schwer und ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es gerade mal 22:14 Uhr ist. Ich seufze, als er nach meinem Arm greift. Daran würde ich mich in Zukunft wohl gewöhnen müssen. Früh schlafen gehen. Den ganzen Sommer über ist Viktor meist schon zwischen 22 und 24 Uhr schlafen gegangen, während ich oft noch bis spät in die Nacht an meinem Laptop gesessen habe. Er ist auch immer früher aufgestanden und ich habe nicht selten vor 10 Uhr überhaupt erst die Vorhänge zurück gezogen. Aber jetzt werde ich wohl die Schlafenszeiten des Single-Daseins beenden müssen und mich dem neuen Hauptgewinn in meinem Leben anpassen. 1 - November 2016 ----------------- „Au!“ „Was?“ „Yuuri, lass' mein Bein los!“ „Was hast du denn?“ „Muskelkater...“ Ich schaue ihn entgeistert an. Muskelkater? Er? Wovon de- Natürlich. Der Schneeflockentanz. Er hat sich gestern ziemlich verausgabt und danach zu lange auf der Eisfläche gelegen. „Viktor?“, frage ich und lasse sein Bein los. „Alles in Ordnung?“ (= 3 =) Das ist ja besser als jeder Animationsfilm. Der Kampf, der ihn seinem Gesicht tobt, weil er gerne will, dass ich ihn anfasse, aber die Gewissheit, dass sein Körper dagegen rebelliert... Und dieses Schmollen über sich selbst dazu, weil er scheinbar genau weiß, dass er es übertrieben hat... Niedlich. Ich kann nicht anders und patte grinsend seinen Kopf. „Yuuri, lass' das! Warum lachst du?“ „Weil du niedlich bist.“ „Wer, ich?“ Ich lache noch mehr: „Ist denn sonst noch jemand hier?“ „Yuuri!“, beschwert er sich und schaut vorwurfsvoll in meine Richtung. „Du ärgerst mich...!“ „Tu ich nicht“, antworte ich und lege mich wieder neben ihn. „Du bist niedlich. Das habe ich den ganzen Sommer über schon gedacht. Und jedes Mal, wenn ich es dachte, war ich dankbar, diese Seite von dir zu sehen zu dürfen.“ Er sagt nichts, aber der Hauch Farbe auf seinen Wangen ist eindeutig kräftiger geworden. „Seit ich dich am Tanabata geküsst habe und du mich nicht weggestoßen hast, frage ich mich generell, wie das passieren konnte. Du und ich. Ich meine, warum ausgerechnet ich... Bis vor ein paar Monaten hätte ich das für unmöglich gehalten.“ Jetzt beginnt Viktor zu kichern. „Sicher? Unmöglich? Jetzt bist du süß, Yuuri.“ Was, wie? Ich bin doch nicht süß, wie kommt er darauf?! Er ist niedlich, aber ich bin doch nicht süß! Davon abgesehen, er ist er und ich bin... Naja, ich eben, das ist doch nichts Besonderes! Also wie soll das bitteschön im Rahmen des Möglichen gelegen haben? Auch wenn ich es irgendwie geschafft habe, dass er sich in mich verliebt hat... Ich meine, es gibt unzählige Gründe sich in ihn zu verlieben, aber in mich? Und warum kichert er die ganze Zeit so blöd?! „Yuuri~,“ lacht er prompt, „magst du es nicht, dass ich dich süß finde?“ Ertappt verstecke ich mein Gesicht im Kissen und luge mit nur einem Auge zu ihm hinüber: „Ich versteh nicht, was an mir süß sein soll... Oder was du an mir findest.“ Viktor lacht erneut. Ich beobachte, wie er vom Rücken in meine Richtung rollt und dann zu mir rutscht. Eine Handbreit vor meinem Gesicht bleibt er liegen. „Du hast mich fasziniert“, sagt er schließlich und grinst mich an. „Du hast mein Herz berührt und dich für mich entschieden. Dabei hast du so viele Menschen um dich, die dich lieben.“ „D-du hast doch viel mehr“, widerspreche ich zögerlich, denn unwillkürlich muss ich sofort an die Schafe denken, von denen er gestern erzählt hat. Wieso hat er nicht von anderen Kindern erzählt, als ich nach Freunden fragte? Hatte er etwa keine? Das kann ich mir nicht vorstellen. „Yuuri, ich bin glücklich, dass ich es bin, den du liebst“, sagt er mit so ehrlich leuchtenden Augen, dass ich rot anlaufe. „Wirklich. Du nimmst mich an, wie ich bin und mehr verlange ich nicht.“ Vielleicht sollte ich - ausnahmsweise - nicht zu viel nach dem Warum fragen. Er ist bei mir und er ist glücklich. Das ist doch eigentlich das Wichtigste... oder? Einen Tag nach dem Fest sitzen wir beim Frühstück Vater gegenüber, der mit uns etwas Wichtiges mitteilen will. Uns rutscht das Herz in die Hose, dass Mutter oder Mari doch geplappert haben, aber dann erklärt er uns lediglich, dass Abendessen und Baden in unserem Tagesablauf besser die Position tauschen sollten. Nach dem Kuss im Fernsehen könnte es vielleicht etwas befremdlich für unsere Gäste wirken, wenn sie uns zusammen nackt im Bad sehen. Zu unserer Verwunderung kommt aber nichts weiter. Nur das. Er sieht uns auch vollkommen normal an, als wäre es absolut selbstverständlich, sodass ich zu dem Schluss gelange, dass er Viktors Erklärung für die Presse voll geschluckt haben muss. Anders könnte ich mir nicht erklären, wie er nach zwei Nächten mit knarrendem Holzboden nicht auf die Idee gekommen sein sollte, dass wir eine Beziehung führen. Wir stimmen seinem Vorschlag schnell zu, aber sicherheitshalber füge ich aber noch an, dass die komischen Geräusche von Makkachin kamen, der vor lauter Wiedersehensfreude auf Viktors Bett herum gesprungen ist. Vater lächelt zufrieden, streichelt Makkachin den Kopf und geht gut gelaunt zurück an seine Arbeit. Wir sehen ihm noch eine Weile nach, aber auch Makkachin sieht so aus, als würde er sich darüber wundern, dass Vater es nicht in Frage stellt, woher ich wissen sollte, was er in der Nacht auf Viktors Bett gemacht hat. Wieder eine andere Reaktion erwartet uns, als wir am Nachmittag in der Eishalle auf Nishigori treffen, der durch Yuko von unserem neuen Beziehungsstatus erfahren hat. Da ich wegen Viktors Muskelkater alleine durch die Programme laufe, bemerke ich erst nach einer Weile, wie Nishigori Viktor eine Predigt hält, dass er, Liebe hin, Liebe her, bloß vorsichtig mit mir sein soll und mich auf keinen Fall zu hart ran nehmen dürfe, jetzt wo ich so gut bei Wettkämpfen wäre. Ich laufe sofort feuerrot an, dass Nishigori meint, so etwas überhaupt in der Halle diskutieren zu müssen und on top, dass er von Äußerlichkeiten auf die Realität schließt. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich ihm jemals zu verstehen gegeben habe, dass ich für irgendwen meinen Hintern hinhalten würde. Dass Viktor das freiwillig tut, ist eigentlich ein Wunder...! Denn von der Vorstellung, das beste Katsudon oder das schönste Mädchen der Stadt zu sein, habe ich mich schon lange verabschiedet. Ungefähr dann, als ich anfing, Viktor häufiger, länger und intensiver zu küssen und bemerkte, dass ein gewisser nackter Hintern den Taschentuchverbrauch exponentiell ansteigen ließ. Vielleicht bekomme ich auch deswegen den Eindruck, dass Nishigoris Augen trotz falscher Interpretation viel mehr auf Viktors Mitte und Hintern gerichtet sind als auf sein Gesicht. Für eine kurze Weile beobachte ich die Diskussion noch so gut das beim Eislaufen eben geht, dann reicht es mir. Der Groschen fällt bei Nishigori also ungewollt und sein Weltbild steht Kopf, dass auch ein zierlicher Yuuri sein Revier durchaus verteidigen kann. Für den Rest des Trainings verfällt er in stille Ehrfurcht und Viktor hat plötzlich nur noch eine Stirn. Am selben Abend wartet Mutter dann auch noch mit einer Überraschung auf uns oder sagen wir, einer Ankündigung, mit der ich so nicht gerechnet habe. Viktor sitzt nach dem Abendessen an meinen Rücken gelehnt, schaut weiter seine Gameshow und streichelt Makkachin, während ich wegen Mutters Grinsen schon ein ungutes Gefühl im Magen bekomme. „Also, Yuuri, wenn du jetzt mit Vicchan verbandelt bist, ist Hotel Mama ist ab sofort gestrichen. Das heißt, wir ändern die Regeln.“ „Eh, ja?“, frage ich überrumpelt. Regeln? Was für Regeln? Gab es Regeln? „Deine komplette Kleidung und Unterwäsche wäschst du jetzt wie deine Sportsachen selbstständig oder mit Vicchan zusammen im Salon nebenan“, erklärt sie mir weiter und ich will nur noch im Boden versinken. „Ihr könnt im zweiten Stock wohnen bleiben, aber dann wird dieser auch vollständig von euch in Ordnung gehalten. Auch der Flur und die Toilette im ersten Stock.“ „I-in Ordnung“, sage ich, denn das klingt plausibel. Trotzdem ist es mir unangenehm, dass in jedem Satz mitschwingt, dass die Hauptgründe dieser Veränderungen auf der Tatsache beruhen, dass ein Liebesleben Spuren hinterlässt, die verständlicherweise keiner sehen will. „Und überlegt euch bitte, ob ihr weiter mit uns essen oder euer Essen selbst machen wollt. Wir würden den Unterhalt von dir und Vicchan entsprechend anpassen.“ „Mir und Viktor?“, frage ich verwundert. Also ich zahle Unterhalt, ja, das weiß ich, aber irgendwie hatte ich gar nicht auf dem Schirm, dass Viktor auch etwas zahlt. „Vicchan zahlt Miete und Unterhalt, hat er gleich am zweiten oder dritten Tag mit Mari verhandelt.“ „Eh, ja,“ antworte ich und bin davon überraschter als ich sein sollte, „ich rede später mit ihm.“ „Du kannst auch jetzt mit mir reden, Yuuri“, meldet sich Viktor. „Ich würde sagen, es bleibt so wie’s ist.“ „Ok, dann bleibt es- Seit wann verstehst du, was wir reden?!“, rufe ich schockiert und sitze da wie vom Donner gerührt, aber Mutter kichert und Viktor lugt schuldbewusst über meine Schulter. „Naja, was meinst du habe ich den Sommer über gemacht, wenn du morgens noch geschlafen hast?“ Oh Gott. „Sag jetzt nicht, du hast-“ „Japanisch gelernt? Doch hab ich.“ „Warum sagst du mir das nicht?!“ „Ich wollte dich überraschen...“, nuschelt er in meinen Pullover und schaut mich mit einem Hundeblick an, den Makkachin nicht besser hinbekommen könnte. Wenn er das macht, kann ich ihm für nichts böse sein. „Vicchan hat so schnell gelernt. Du kannst stolz auf ihn sein, Yuuri“, lässt mich Mutter wissen. „Moment mal, dann hast du ihm das beigebracht?!“ Jetzt lächelt sie genauso schuldbewusst, aber leid tut es ihr nicht. Ich fass’ es nicht. Meine eigene Mutter lernt mit meinem Freund hinter meinem Rücken Japanisch und sagt mir nichts davon... Gut, im Sommer war er nur ein bisschen mein Freund, aber trotzdem! „Sei Vicchan nicht böse, Yuuri, er hat es für dich gemacht. Gute Nacht, ihr beiden.“ Nachdem sie mit kleinen Schritten in der Küche nebenan verschwunden ist, schaue ich Viktor vorwurfsvoll an. „Hast du noch andere Überraschungen in Vorbereitung?“, ziehe ich ihn auf. „Freust du dich nicht...?“ „Doch“, sage ich, aber mein Blick bleibt unverändert vorwurfsvoll. „Warum schaust du dann so böse?“ „Viktor no kao ga kou shite kawaii kara mitakatta yo.“ „Yuuri, du ärgerst mich schon wieder! Das ist zurui!“ D: Ich lache, umarme ihn und damit kann er jetzt für den Rest des Abends brummen. Am nächsten Tag kommt Minako-sensei in den Onsen um die Vorberichte des fünften Vorentscheids im Grand Prix, der Trophée de France, im Fernseh zu verfolgen, sodass mit ihr dann auch die letzte Person, abgesehen von meinem Vater, informiert ist. Allerdings braucht sie erst einmal eine halbe Flasche Sake, um auf die Veränderung klar zu kommen. Am Schwersten wiegt dabei weniger der Umstand, dass Viktor und ich ein Liebespaar sind, sondern vielmehr, dass ihrer Meinung nach der Sexappeal der lebenden Legende jetzt für immer dahin sei. Während Minako-sensei also dem Verlust von Viktors Image als heißestem Bachelor Russlands hinterher trauert, muss ich eben jenen beruhigen, dass er noch genauso viel Sexappeal hat wie vorher auch und dass er sich keine Sorgen machen muss, unattraktiv zu sein. Was sich als schwierig gestaltet, denn Minako-sensei jammert weiter, dass Chis jetzt der Einzige sei, auf den sie sich bezüglich erotischer Performances noch verlassen könne. Das widerum verunsichert mich, denn Chris ist nicht der Einzige, der seinen Eros in einem Programm diese Saison zeigen muss und sofort flüstert mir Viktor unterschwellig zu, dass Chris trotz seiner extravaganten Art schon seit Jahren fest mit seinem Agenten liiert ist und dass auch da ganz sicher nichts geht. Nicht, dass ich etwas anderes erwartet hätte, aber wir entscheiden uns, es dabei zu belassen, dass Chris der Retter des männlichen Sexappeals. Halleluja. Hasetsu, 15. November 2016 Vor unserem Abflug zum Rostelecom Cup sitzen wir alle, außer Mari, zum Essen im Gästeraum unseres Onsen zusammen. Bis jetzt hat sie es nicht geschafft, über ihren Schatten zu springen, aber wir wollen ihr die Zeit lassen und versuchen, uns in Geduld zu üben. Um seiner Vorfreude auf Russland etwas Luft zu machen und mich ein besser darauf einzustimmen, hat Viktor für uns alle improvisiert russisch gekocht. Es gibt einen Fleischeintopf mit Paprika, Speck und Zwiebeln, aber sicherheitshalber haben wir auch noch etwas Reis vorbereitet. Die Optik erinnert mich entfernt an Curry, auch wenn es damit kaum etwas gemeinsam hat. Viktor hat beim Kochen schon gesagt, dass es wahrscheinlich nicht besonders aussieht, aber schmeckt. Und riechen tut es schon mal sehr gut. „Freust du dich, zurück nach Russland zu reisen, Viktor?“, fragt Yuko. „Ja, auch wenn Moskau nicht so schön ist wie St. Petersburg“, antwortet er und reicht Yuko ihre Schüssel. Entgegen der japanischen Art, bei der sich alle aus dem Eintopf nehmen dürfen, wie es beliebt, kennt Viktor es so, dass der Gastgeber den Gästen das Essen reicht und sich selbst als Letztes nimmt. Da ich sein Freund bin, bin ich als Vorletzter dran. „Und wie nennt sich das, was du gemacht hast?“, will Yuko weiter wissen und Viktor grinst mich herausfordernd an, als er mir meine Schüssel in die Hände gibt. Seit wir im Supermarkt waren und er mir die Zutaten auf Russisch vorgelesen und bemerkt hat, dass ich so manches überhaupt nicht aussprechen kann, muss ich natürlich noch viel mehr sagen und er lacht sich kaputt, weil ich wahrscheinlich nur sinnloses Zeug daher brabbele. Zehnmal den Namen vom Moskauer Flughafen. Depp. „Zubugurishu“, versuche ich es und auch wenn ich finde, dass es gar nicht so falsch klingt, lässt Viktor mich mit einem Augenzwinkern wissen, dass wir das noch ein bisschen üben müssen. Einige unserer Gäste kichern oder verstecken ein Grinsen hinter ihren Händen und ich richte meinen Blick peinlich berührt auf meine Schüssel. Im Gegensatz zu mir hat Viktor viel weniger Hemmungen, zu zeigen, dass ich sein Freund bin und es wird wohl noch dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe. Nachdem er seine Portion jetzt auch vor sich stehen hat, beginnen wir mit einem allgemeinen „Itadakimasu“ zu essen. Beinahe ehrfürchtig nehme ich den ersten Löffel, aber halte auf halbem Weg inne und betrachte ihn. Viktor Nikiforov hat für meine Familie, Freunde und mich gekocht... „Uma!“, ruft Nishigori, den der erste Löffel absolut keine Überwindung gekostet hat. „Was, nein, Rind!“, korrigiert Viktor ihn auf der Stelle und ich lasse fast den Löffel fallen, so sehr muss ich mich beherrschen, nicht zu lachen. „Viktor, Nishigori meint umai, kurz uma“, erkläre ich und muss meinen Löffel zurück in die Schüssel legen, sonst geht doch noch etwas daneben. „Er lobt dein Essen. Das hat nichts mit uma, dem Pferd, zu tun.“ „Ach so...“ „Du musst das noch ein bisschen üben“, wiederhole ich seine eigenen Worte. Liebevoll natürlich. „Bei so viel Turtelei vergeht einem schon fast der Appetit...“, nörgelt Minako-sensei und stützt den Kopf auf den Ellbogen. Dann zeigt sie mit dem Löffel auf uns: „Ich glaub‘, ich bleib hier und ihr fliegt allein nach Russland, ich stör‘ euch doch bloß.“ Eh, was, wie?! Wir sind beim Essen! Es ist eindeutig nicht der Zeitpunkt für diese Art der Unterhaltung! „Yuuri, schau nicht so entsetzt. Jetzt iss‘ endlich, Viktor wartet“, fordert sie mich auf, bevor sie sich dem Essen wieder zuwendet. Mein Blick fällt zurück auf den Löffel in der Schüssel. Ich traue mich nicht. Ich kann nicht mal sagen warum, aber es wäre mir lieber, es würde nicht gerade jeder zuschauen, auch wenn ich um mich herum nur Lob vernehme, dass Viktor gut gekocht hat. Dabei ist es so gesehen nicht das erste Mal, dass wir zusammen gekocht haben. Als meine Eltern im August nicht da waren, haben wir an zwei Tagen auch selbst gekocht: Chahan und Karee. Gut, die eine Hälfte war aus der Packung und die andere hat der Reiskocher erledigt, sodass ich bisher immer annahm, Viktors Single-Haushalt sei ähnlich wie meiner in Detroit gewesen: typisch Junggeselle und katastrophal. Erst als Phichit mein Mitbewohner wurde, hat es sich gebessert, weil ich ihm meinen Dreck nicht zumuten wollte. Aber Viktor hat bisher noch nicht einmal Unordnung in seinem Zimmer gehabt und Mutters Küche sieht aus, als hätte er sie nie benutzt. „Yuuri? Willst du nicht essen?“ „Was? Doch, natürlich!“, entgegne ich hastig. Ich war schon wieder zu tief in Gedanken. „Es ist nur... es hat noch nie jemand für meine ganze Familie gekocht... Und dann ausgerechnet du...“ „Ist das schlimm?“, fragt er. „Was, nein!“ Hilfe, wie kommt er denn darauf?! „Gut... Ich hab nämlich auch noch nie für so viele Personen gekocht“, gesteht er. „Immer nur für mich selbst oder mal einen Besucher, aber nie für eine ganze Familie und deren Freunde... Und auch nicht für jemanden wie dich. Also...?“ J-ja gut. Also dann. Ich nehme den ersten Löffel und habe eine Idee. Das erste Wort, dass er hier auf Russisch gesagt hat, wenn ich mich recht entsinne. Hoffentlich geht das jetzt nicht total in die Hose: „Fkusuno.“ Er reagiert nicht. „War das falsch?“, frage ich verunsichert. Ohne Vorwarnung beugt er sich zu mir und gibt mir einen Kuss. Einige unserer Gäste verschlucken sich beinah oder starren uns mit großen Augen an, allen voran meinem Vater. Damit wissen es jetzt wohl doch alle. 2 - Intermezzo: Rostelecom Cup, Ankunft in Moskau ------------------------------------------------- Wir sind gerade aus dem Flugzeug gestiegen und laufen in Richtung der Gepäckausgabe des Flughafen Sherementevo, als ich bemerke, dass Viktor innerlich aufdreht. „Was ist?“, frage ich, denn eigentlich gibt es nichts, weshalb man jetzt schon herum hibbeln müsste. „Ich kann lesen!“, flüstert er fasziniert. „Ich kann wieder lesen! Da steht прибы́тие!“ „Ja, du kannst lesen“, antworte ich und lache, weil ich unfreiwillig an P. Sherman, 42, Wallaby Way, Sydney denken muss. Ich kann nur das Englische darunter lesen: Arrival. Aber immerhin das. Sobald wir den Flughafen verlassen haben werden, wird Viktor sich darum kümmern müssen, dass wir im Hotel ankommen und ich hoffe, Mütze, Sonnenbrille und Schal reichen aus, ihn bis dahin entsprechend zu tarnen. „Yuuri, wäre es in Ordnung, wenn wir auf dem Weg zum Hotel einen kleinen Zwischenstopp machen?“, fragt er mich und ich weiß, dass er schon wieder diesen Hundeblick aufgesetzt hat, auch wenn ich den wegen der Sonnenbrille nicht sehen kann. „Ok, und wo willst du hin?“ „Ich möchte bei einer Bäckerei halten. Ich hab den Flug über extra nicht viel gegessen, weil ich unbedingt ein Butterbrot haben will. Ich hab schon so lange keins mehr gegessen!“, erklärt er mit heller Begeisterung, dass ich sofort beschämt in die andere Richtung schauen muss. „Gibt's im Flughafen denn keine?“ „Yuuri~“, nölt er und zieht an meinen Arm, „die schmecken alle nicht. Und haben schon keine Ahnung wie viele Stunden in einer Auslage gelegen. Und diese komische Ersatzbutter ist eklig. Und es ist kalt. Kaltes Brot schmeckt nicht. Ich will richtiges Brot. Vom Bäcker. Zimmertemperatur und-“ „Schon gut, ich hab's verstanden“, seufze ich. Prinzessin. Seit er mich das erste Mal seinen Prinzen genannt hat, schwirrt mir ständig diese Bezeichnung für ihn im Kopf herum. Aber den Teufel würde ich tun, ihn so zu nennen, auch wenn er es in Momenten wie diesen verdient hätte. Es sind blöderweise die gleichen Momente, in denen mir bewusst wird, wie er sich mit durchschlagendem Erfolg seinen Weg in mein Herz gebahnt hat. Wäre Viktor abseits der Eisfläche genauso unantastbar, wie er auf dem Eis ist, hätte das mit uns wahrscheinlich nicht funktioniert. Dann wäre ich aus meinem Fan-Modus nie heraus gekommen und ihn hätte es wohl auch nicht interessiert, denn Fans hat er viele. Ihn jedoch so unbefangen zu erleben und zu wissen, dass er sich nur mir so zeigt, ist einfach das Beste, was es gibt. Manchmal fühlt es sich an, als könnte ich es keine Sekunde länger als nötig ertragen, nicht in seiner Nähe sein. Glücklicherweise geht das aber nicht nur mir so, denn Viktor hat zwar wohl meinen Arm losgelassen, aber weicht keinen Zentimeter weiter von mir als absolut nötig. „Ziehst du dir deine Mütze auf?“, frage ich ihn und halte ihn doch wieder an seiner Jacke fest, damit er nicht vor lauter Enthusiasmus, wieder in Russland zu sein, plötzlich irgendwo hinrennt. „Muss das schon sein?“ „Ja, wir sind in der Gepäckhalle, jetzt mach.“  Und Mütze auf den Kopf. In Momenten wie diesen frage ich mich, wie er bisher alleine zurecht kommen konnte oder ob Yakov Feltsman das für ihn erledigt hat. Wobei ich mir andererseits ziemlich sicher bin, dass er die Unbeholfenheit nur spielt, weil er will, dass ich mich um ihn kümmere und er Aufmerksamkeit bekommt. Denn bei der Planung unserer Anreise hat Viktor eindeutig bewiesen, dass er keinesfalls so unbeholfen ist, wie er manchmal tut. Sein Vorschlag, mit einer japanischen Airline zu fliegen, war jetzt da wir gelandet sind, eine brillante Idee: Unter den Fluggästen befanden sich viel mehr Japaner als Russen, sodass ich nicht aufgefallen bin und die wenigen Landsleute von Viktor, die mit an Bord saßen, waren vorrangig grimmig aussehende Geschäftsreisende, die sich nur dafür interessierten, schnellstmöglich zu ihrem nächsten Termin oder nach Hause zu kommen. Eine russische Fluggesellschaft hatte Viktor aus zweierlei Gründen nicht buchen wollen, die miteinander Hand in Hand gehen: Zum Einen hätte er sich kaum in die Economy Class setzen können, da ihn die überwiegend russischen Passagiere sicherlich erkannt hätten und zum Anderen hätte er mit einem Shitstorm rechnen müssen, weil er sich generell in die Economy gesetzt hätte. Er meinte zwar, das habe nichts mit mir zu tun, aber so ganz von der Hand zu weisen ist es auch nicht. Wir hoffen jetzt einfach, dass Viktor keinen Shitstorm kassiert, weil er mit ANA und nicht mit Aeroflot angereist ist. Ohne weitere Umwege einzuschlagen, aber mit strahlenden Augen und wiederkehrendem „Ich kann lesen!“ führt mich Viktor aus dem Gebäude. Schon bei der Landung habe ich gesehen, dass alles weiß bedeckt ist und kaum dass wir in die verschneite Moskauer Luft treten, erblicke ich einen Taxifahrer, der mit meinen Namen auf einem Zettel da steht und uns abholen will. Wäre ich jedoch nicht gut im Raten, hätte ich meinen Namen nicht direkt erkannt. Man soll nicht meinen, was es für einen Unterschied macht, ob Kanji geschrieben oder gemalt sind und diese sind eindeutig gemalt. „Perfekt“, grinst Viktor und geht auf den Fahrer zu, „[/]Dorbe dién!“ „Dobre, Sie gehören zu dem Japaner, dessen Name man nicht aussprechen kann?“ „Genau.“ „Gut, drei Koffer?“ „Ja.“ „Wo geht’s hin?“ „Star Hotel, die Adresse hab ich hier.“ „Star Hotel? Ihr habt Nerven, da sind dieses Wochenende die Wettkämpfer vom Rostelecom Cup einquartiert. Ist jetzt schon alles dicht. Die ganze Presse blockiert die Straße, Viktor Nikiforov wird erwartet.“ „Wissen wir.“ Es dauert einen Moment, die Augen des Taxifahrers wandern Viktors Gestalt auf und ab, bleiben an den wenigen graublonden Haarsträhnen in seinem Gesicht hängen, er schaut zu mir, zählt Eins und Eins zusammen, aber noch bevor er irgendwas sagen kann, fällt ihm Viktor ins Wort: „Unser kleines Geheimnis, okay?“, sagt er, Zeigefinger auf den Lippen. Der Fahrer steht da als hätte er den Schock seines Lebens, aber Viktor redet unbeirrt weiter: „Sie kennen sich hier in Moskau doch bestimmt gut aus, oder? Ich möchte gerne bei einer Bäckerei halten. Keine bestimmte, fahren Sie einfach dahin, wo Sie wissen, dass das Brot am Besten schmeckt.“ Viktor zwinkert. Ich weiß nicht, worüber sie geredet haben, aber etwas anderes weiß ich sicher: Viktor hat den Taxifahrer im Handumdrehen auf seine Seite gezogen. Sein Charme und seine ungezwungene, lockere Art machen es unmöglich, ihm eine Bitte abzuschlagen. Er ist ja auch mein Trainer. Wie hätte ich das abschlagen können? Wir laden unsere Koffer ein, setzen uns ins Taxi und nachdem der Fahrer einige Male tief durchgeatmet hat, fahren wir los. Gott sei Dank hat er vorher ein paar Mal durchgeatmet, denke ich, denn nach nur wenigen hundert Metern und zwei Kreuzungen bin ich fast ausschließlich damit beschäftigt, mir wegen den Fahrkünsten der russischen Autofahrer keine Sorgen um mein Leben zu machen, als großartig auf etwas anderes zu achten als die Straße...! Viktor sitzt davon gänzlich unbeeindruckt vor mir auf dem Beifahrersitz und unterhält sich mit dem Fahrer über keine Ahnung was und er redet wie ein Wasserfall. Der Fahrer lacht ein paar Mal, steigt in die Unterhaltung ein und führt wahrscheinlich das beste Gespräch in seiner Berufslaufbahn als Taxifahrer. Während meiner Jugend war es normal, Viktor im Fernsehen bei Wettkämpfen Russisch sprechen zu hören. Gerade aber klingt es überaus befremdlich, weil er zuhause nur Englisch spricht und seit Neustem ja auch Japanisch. Oh Gott, schießt es durch meinen Kopf. Zuhause. Japanisch. Ich krieg das nicht auf die Kette. Und mir wird gleich schlecht, wenn wir noch einmal so um die Kurve fahren! Nach einer für mich wenig entspannten Fahrt halten wir schließlich vor einer Bäckerei. Viktor erklärt dem Fahrer kurz zu warten und steigt aus. Weil mir irgendwie nicht mehr nach Sitzen zumute ist und fester Boden unter den Füßen meinen Nerven sicher gut tut, steige ich ebenfalls aus und folge Viktor in den Laden. Der Duft, der mir beim Betreten der Bäckerei in die Nase steigt, beruhigt mich in nur einem Atemzug. Es riecht angenehm nach Mehl und eine leichte Süße liegt in der Luft, wahrscheinlich von den vielen Torten und Teilchen, die appetitlich aufgereiht aus einer Kühltheke die Kunden anlächeln. Viele davon sind mit Zuckerguss überzogen oder mit Sahne garniert worden, sodass sie mehr nach kleinen Kunstwerken als nach einfachen Lebensmitteln aussehen. In der Auslage daneben erkenne ich Teigtaschen aus Mürbe- und Hefeteig, die ähnlich wie japanische Gyoza aussehen, aber viel größer sind und nach Füllungen sortiert in Flechtkörben angeboten werden. „Willst du auch was?“, fragt Viktor, der mich amüsiert beobachtet. „Hm, ich weiß nicht“, antworte ich abwesend, aber in Anbetracht der Tatsache, dass wir nochmal ins Taxi steigen müssen, ist es das vielleicht keine gute Idee und Umschauen reicht mir voll und ganz. Ich bin von diesem wunderschönen, urigen Stil völlig fasziniert. Selbst in Amerika hatten die Konditoreien nicht den Charme, den diese Bäckerei vermittelt. Es ist ein Gefühl von Tradition und Wertschätzung für das Handwerk, das sie betreiben, das den Raum erfüllt und einen einlädt, daran teilzuhaben. „Guten Tag, Sie wünschen?“ Eine junge Dame mit blonden Haaren und hellblauer Bluse tritt zu uns in den Laden und wischt sich an ihrer Schürze die Hände ab. „Sie machen die belegten Brote frisch?“, Viktor deutet auf eine beschriebene Tafel vor der Theke und nimmt die Sonnenbrille ab. „Ja, das Brot ist heute morgen erst gebacken“, beantwortet sie Viktors Frage mit einem freundlichen Lächeln und sieht ihm dabei direkt in die Augen. Es dauert den Bruchteil einer Sekunde, bis ihr die Gesichtszüge entgleisen; sie starrt Viktor an, blinzelt, dann schlägt sie die Hände vor den Mund. „Oh mein Gott!“, entfährt es ihr um einige Töne höher als zuvor, sie nimmt die Hände vom Gesicht und ein ungläubiges Strahlen liegt in ihren Augen. „Viktor Nikiforov!“ „Ja“, bestätigt Viktor und die Verkäuferin weiß nicht mehr, was sie machen soll, außer überfordert dazustehen, aber ihr Grinsen wird immer breiter, das es beinahe von Ohr zu Ohr reicht. Mit Sicherheit hätte ich ähnlich wie sie reagiert, wenn er einfach so plötzlich vor mir gestanden hätte. Gut, genau genommen stand er plötzlich vor mir, aber ich war durch den Umstand, dass er nackt war, etwas zu sehr abgelenkt, besonders, weil er auch noch aufgestanden ist. Die Verkäuferin schafft es dann doch, sich zu fassen und mich aus meiner Erinnerung in die Realität zurückzuholen: „Ich... oh, bitte entschuldigen Sie... ich hab nun wirklich nicht damit gerechnet!“ „Passiert“, entgegnet Viktor mit einem Grinsen, das nicht weniger breit ist als das der Verkäuferin. „Unser Taxifahrer hat uns hierher gefahren, weil er überzeugt ist, dass es hier das beste Brot gibt. Ich hätte gern zwei belegte Roggenbrote.“ „Aber selbstverständlich!“, antwortet sie und ich kann allein an ihrer Stimme hören, dass ihr das Herz bis zum Hals schlägt. „Und einen Kaffee, groß, zum Mitnehmen.“ Zurück im Taxi kann ich das Grinsen ebenfalls nicht mehr unterdrücken, selbst wenn ich in der Bäckerei nichts verstanden habe. Die Verkäuferin hat beim Belegen der Brote nach ihrer Chefin gerufen, die keinen geringeren Schreck über ihren prominenten Kunden hatte als ihre Angestellte. Ich wurde gebeten, mit dem Handy der Chefin ein Foto von Viktor und den beiden Frauen zu machen und auf einem Block gab es improvisiert zwei Autogramme, auch wenn Viktor einen kurzen Moment überlegen musste, wie er seinen Namen auf Russisch und nicht in Katakana zu schreiben hat. Die Damen kicherten verzückt darüber und Viktor hat seine Brote und den Kaffee bekommen, allerdings nicht ohne zu diskutieren, weil er normal bezahlen, die Chefin aber kein Geld annehmen wollte. Nach einigem Hin und Her wurden nur die Brote abgerechnet, der Kaffee ging aufs Haus. Kaum dass wir wieder losgefahren sind, hat Viktor auch schon das erste Brot ausgepackt und beißt genüsslich hinein. Es scheint alle hoheitlichen Ansprüche zu erfüllen und Viktor bedankt sich sofort für den guten Tipp bei unserem Fahrer, der heute nicht nur den besten Tag seines Lebens hat, sondern auch noch eine Geschichte, die er in Zukunft immer wieder erzählen können wird. Die zweite Hälfte unserer Fahrt ist also überaus still, aber damit sind wir alle gut bedient, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Der Taxifahrer wegen Viktor, Viktor wegen seinem Brot und ich, weil ich all das beobachten konnte. Vielleicht ist Russland doch nicht so schlimm, wie ich dachte. Auch wenn diese Ampel ganz eindeutig rot war!!! Nach weiteren 20 Minuten Fahrt biegen wir in die Straße zum Hotel ein. Unser Taxifahrer drängelt sich so gut es geht an den Eingang des Hotels heran und mit jedem Meter, den wir näher kommen, schlägt mein Herz schneller. Vor dem Eingang warten wie angekündigt schon eine Menge Reporter und auch zwei Kamerateams stehen sich vor ihren Vans die Füße in den Bauch. Wir halten etwa 15m zum Hoteleingang entfernt. „Schaffen Sie es gleich noch bis hinter den zweiten Van?“, fragt Viktor und setzt bereits die Sonnenbrille auf. Der Fahrer nickt, dann dreht er sich zu mir und sagt: „Yuuri, nimm' bitte meine Mütze. Ich steige jetzt aus, du fährst noch ein Stück mit ihm bis hinter den Van und nimmst die Koffer mit an die Rezeption. Das Personal soll sie auf die Zimmer bringen. Ich stoße dann zu dir.“ „G-gut“, antworte ich etwas nervös. Es sind wesentlich mehr Reporter als ich mir vorgestellt habe und ich bete einfach nur, dass alles glatt geht und wir keine unseriösen Fragen kassieren. Wir haben zwar getrennte Zimmer gebucht, um die Formalitäten zu wahren, aber ich habe gewisse Zweifel, dass am Ende unser guter Vorsatz noch den Tatsachen entspricht. Während Viktor die Presse bedienen wird, würde ich in unsere Zimmer einchecken und mit etwas Glück auch beide Zimmerkarten erhalten. Damit hätte ich jederzeit die Gelegenheit, mich unbemerkt in Viktors Zimmer stehlen zu können, sollte es mit den Interviews zu lange dauern. Unser guter Vorsatz ist also schon im Ansatz über Bord gegangen, auch wenn ich mir immer noch versuchen kann einzureden, dass es am Jetlag liegt, wenn ich vor Viktor in unsere Zimmer gehen muss. Ich lasse mir von ihm die Mütze geben, er wirft noch einen Blick in den Seitenspiegel und öffnet dann die Tür. Seine Show für die Presse beginnt. Lässig und mit dem Kaffeebecher in der Hand spricht Viktor noch ein paar letzte Worte mit dem Fahrer, ganz so, als sei er alleine im Taxi gewesen. Kaum dass er die Tür geschlossen hat, höre ich auch schon den ersten seinen Namen rufen und meine Nervosität steigt um ein Vielfaches, als ich im Vorbeifahren sehe, wie die Reporter auf Viktor zustürzen, als hinge ihre berufliche Karriere davon ab. „No worry. He's a pro“, spricht mich unser Taxifahrer unvorbereitet an und ich erschrecke mich vielleicht einen Ticken zu sehr davon. „Thank y-you.“ Etwas besseres fällt mir nicht ein und ich versuche angestrengt, nicht gänzlich auszusehen wie ein aufgescheuchtes Reh. Der Fahrer beobachtet mich die letzten Meter weiter im Rückspiegel, als wolle er den Unbehagen nur aus mir herauskitzeln. Als wir halten und ich das Geld für die Fahrt zusammen suche, dreht sich er zu mir um. „No, thank you.“ „Eh?“ Ich reiche ihm irritiert die Scheine, aber er sieht mich nur weiterhin eindringlich an, als wüsste er nicht, wie er das, was er sagen will, auf Englisch ausdrücken soll. Dann entscheidet er sich, als er mir das Wechselgeld nach hinten reicht, einfach nur zu sagen: „He's back.“ Unschlüssig, wie ich diese Aussage einordnen soll, steige ich aus und lasse mir die Koffer geben. Von Viktors Präsenz abgelenkt, schaffe ich es weitgehend unbehelligt an die Hotelrezeption. Dort lege unsere Reservierungen, meinen Reisepass und das Visum der Rezeptionistin vor und übergebe unser Gepäck an den Concierge. Die Dame scheint etwas argwöhnisch sein, aber Viktor ist in Sichtweite und ich erkläre ihr, auf ihn zu warten, sodass sie mir tatsächlich beide Karten übergibt. Um unauffällig zu wirken, bleibe ich in der Nähe stehen und wähle mich ins W-LAN ein; unter anderem, um Mutter zu schreiben, dass wir im Hotel angekommen sind und dass alles in Ordnung ist. Etwas Besseres kann ich derzeit auch nicht machen, denn außer der Vielzahl an Reportern und dem Personal ist außer uns niemand im Eingangbereich des Hotels. Aus dem Augenwinkel beobachte ich, ob ich vielleicht Yurio irgendwo sehen würde. Er wird zusammen mit Yakov Feltsman hier eintreffen und ich frage mich, ob beide schon im Hotel sind oder ob die Ankunft noch aussteht. Allerdings wüsste ich überhaupt nicht, wie ich mich verhalten sollte und das aus verschiedenen Gründen. Yurio hat mich auf seinen Accounts immer noch gesperrt, sodass ich das Meiste nur durch Yuko oder die Berichterstattungen erfahren habe und Yakov Feltsman ist wahrscheinlich der Einzige in Russland, der um die Laison von Viktor und mir weiß. Als Viktor mir nach unserer Rückkehr aus Peking erzählte, er habe sich mit seinem Trainer aussprechen können, war ich überaus erleichtert, nur um im nächsten Moment in Panik zu verfallen, weil er Yakov Feltsman ebenfalls über unsere Beziehung in Kenntnis setzen wollte. Als ich ihn fragte, ob das sein müsste (denn ich käme nie auf die Idee, Celestino davon zu erzählen), erklärte er mir, dass das Verhältnis zwischen ihm und seinem Trainer viel tiefer greife als das normal der Fall ist. Weil es Viktor so wichtig schien, stimmte ich zu, aber gerade verursacht es mir etwas Unbehagen, Yakov Feltsman persönlich zu begegnen. Ich fühle mich noch immer so, als müsste ich mich dafür rechtfertigen, dass Viktor wegen mir nicht mehr auf dem Eis steht, ganz zu schweigen von diesen anderen Dingen zwischen uns...! Gerade weil Viktor nie einen anderen Trainer hatte, macht das die Sache irgendwie noch komplizierter... Bevor ich aber weiter über die Art, mich Yakov Feltsman gegenüber zu verhalten nachdenken kann, betritt ein Elefant den Porzellanladen: Jean-Jacques Leroy aus Kanada, kurz JJ, flaniert mit seinen Trainern ins Hotel und sein Blick ist sofort auf Viktor gerichtet, der unverändert im Zentrum des Interesses aller anwesenden Reporter steht. „Welch ein Empfang für den verlorenen Sohn“, kommentiert er lautstark für jeden, der es hören will oder nicht. Man kann an seinem Tonfall bereits hören, dass es JJ nicht schmeckt, dass bei seiner Ankunft alle Augen auf Viktor gerichtet sind. Auch wenn er versucht, es cool klingen zu lassen, ruft mir nur dieser eine Satz sofort ins Gedächtnis zurück, warum JJ letztes Jahr beim Grand Prix in Sochi gefühlt immer und überall präsent war, obwohl niemand Wert darauf gelegt hatte. Er hatte zu jedem Thema einen selbstgefälligen Spruch auf den Lippen und ich erinnere mich, dass er bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Gespräch mit Viktor gesucht hat. JJ hätte sich damals nur zu gerne selbst bewiesen, was er für ein unwiderstehlicher Kerl ist, der von jetzt auf gleich der best Buddy der lebenden Legende werden könnte, ohne den Umweg über Chris gehen zu müssen. Alle Läufer, die neu in der Weltspitze sind, wenden sich einem ungeschriebenen Kodex folgend immer zuerst an Chris als denjenigen, der einen mit Viktor bekannt machen kann. Und in den meisten Fällen hilft sogar das nichts, denn Viktor ist Profi genug, sich so zu verkaufen, dass man es nicht merkt, mit Standardphrasen abgespeist zu werden – so wie es mir nach dem Finale letztes Jahr ergangen ist, als ihn zufällig beim Verlassen der Halle gesehen habe. Viktor war äußerst freundlich gewesen, aber er hatte letztendlich nur das getan, was er für jeden Fan getan hätte und das mit einer Selbstverständlichkeit, die jeden hätte glauben lassen, von dem echten Viktor angesprochen worden zu sein. Mittlerweile weiß ich es jedoch besser, denn Viktor sucht privat selten das Gespräch zu Menschen, die er nicht kennt. Deswegen hoffe ich jetzt einfach, dass der Umstand, dass ich den echten Viktor kenne, nicht dazu führt, dass... „Und da ist ja auch die neuerdings aufgehende Sonne.“ ...Ich hab's kommen sehen und bin völlig überfordert, was ich auf so eine Bemerkung antworten soll. Bevor ich aber auch nur überlegen kann, ob ich etwas sagen will oder nicht, hat JJ sich schon wieder abgewandt und versucht anderweitig eine Reaktion bei Viktor zu erzwingen. „Hey, Viktor!“, ruft er ohne jegliche Rücksicht darauf, dass dieser sich im Interview befindet. „Kann er den Flip schon?“ Einige der Reporter drehen sich irritiert oder empört um. Auch Viktor schaut trotz Sonnenbrille eher so, als wüsste er nicht, welchen Knall JJ nicht gehört hat. „Welchen Flip?“ „Na, deinen!“ „Ach, den. Ich ruf‘ kurz Biene Maja an, die weiß das.“ Es braucht einen Moment, bis JJ Viktors Antwort folgen kann. „Biene Maja?“, gluckst er, aber immer noch mit überheblichen Grinsen im Gesicht. „Habt ihr den Programminhalt jetzt wegen dem kleinen Yuri ohne Bienchen und Blümchen jugendfrei gestaltet?“ Ich schreie gleich! Jugendfrei für Yurio! Natürlich, nichts ist naheliegender als das! Von Katsudon hin zu Eros weiter zu Bienchen ohne Blümchen...! Ich will den Kopf gegen die Wand hauen. „Bei so viel Fürsorge wird mir ja ganz warm ums Herz“, schwatzt er weiter, als wäre es noch pädagogisch wertvoll, was er von sich gibt. „Aber mit Selbstlosigkeit hat noch niemand den Grand Prix gewonnen. Es braucht etwas mehr als einen Streichelzoo, um mich zu besiegen, Viktor. Du solltest die rosa Brille absetzen.“ Viktor zieht die Sonnenbrille nach unten und tippt an das Gestell: „Rosa war leider ausverkauft. Gerade muss ich mich mit sexy Schwarz begnügen.“ Jetzt schreie ich wirklich gleich! Bei so viel Anspielungen in einem Satz stürzt mir fast das Gesicht ab vor lauter Kopfkino! Ich sollte mich schnellstens außer Reichweite begeben, bevor mir noch irgendjemand länger als nötig zuschauen kann. Gefühlt kann man gerade alles von meiner Stirn ablesen. In einem Anflug von Panik fällt mir nichts Besseres ein, als erst einmal auf die Toilette zu verschwinden und zu hoffen, dass bei meiner Rückkehr zumindest JJ das Weite gesucht hat. Als ich nach etwa zehn Minuten wieder zurück komme, ist kein JJ mehr zu hören und zu sehen. Gott sei Dank. Nur noch eine Hand voll Reporter steht bei Viktor und die Fahrstühle sehen auch leer aus. Einen kurzen Moment überlege ich, ob ich schon vorgehen oder doch noch auf Viktor warten soll, aber der Ruf nach einem bequemen Bett ist stärker und da gerade sonst niemand zu sehen ist, sollte ich die Chance nutzen. Ohne die Lobby noch einmal zu betreten, begebe ich mich direkt zu den Aufzügen, drücke den Knopf und warte, als plötzlich der Koreaner Seung-Gil Lee wie aus dem Nichts neben mir auftaucht. Ich bin ihm vorher zwar noch nie begegnet, aber außer mir und Guang-Hong ist er der einzige Ostasiate in diesem Grand Prix und daher einfach zu erkennen. Aber ein freundliches Gesicht, wie man es von einem Asiaten erwarten könnte, sieht anders aus... Es macht mir direkt bewusst, dass im Gegensatz zum Cup of China in diesem Vorentscheid kein einziger Läufer dabei ist, mit dem ich wirklich gut auskomme. Ein Ping ertönt und die Fahrstuhltür öffnet sich, aber moch bevor ich jemanden sehen kann, vernehme ich eine laute Stimme, die sich beschwert, dass jemand garantiert nicht auf ein Date mit seiner Schwester gehen darf. Als die Tür offen ist, erkenne ich, dass Michele Crispino versucht, seine Schwester Sara aufgebracht gegen Emile Nekola zu verteidigen. Was soll das denn? Zuerst war niemand zu sehen und jetzt ist hier Party angesagt? Ich wollte eigentlich nur nach oben fahren und stattdessen lande ich mitten in einer Diskussion wer mit wem zum Essen gehen darf...! Sara Crispino bemerkt mich und erwidert meinen Blick. Wie ihr Bruder Michele und Emile ist auch sie Eiskunstläuferin in der Weltspitze und Teilnehmerin bei den Damen im Rostelecom Cup. „Hi, Yuuri!“, begrüßt sie mich mit einem freundlichen Lächeln und ich frage mich, wieso sie mich so anspricht, als würden wir uns kennen. Ich kenne sie vom Sehen her, weil sie und ihr Bruder letztes Jahr auch am Grand Prix in Sochi teilgenommen haben, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir miteinander gesprochen hätten. Sie wendet mit dem gleichen freundlichen Ton an Seung-Gil Lee: „Hi, Seung-Gil! Hast du gleich Lust, mit uns zum-“ „No“, weist Seung-Gil sie ohne Umschweife ab. „Entschuldige mal. Wenn man einer Dame absagt, kann man das auch anders ausdrücken“, beschwert sie sich direkt. Als Italienerin mit einem starkem Temperament lässt sie sich sicherlich nicht mit so einer knappen Antwort abspeisen. Seung-Gil sieht das offenbar anders und während ich mit einem Ohr noch vernehme, wie Seung-Gil Lee Saras Anwesenheit als ohne Mehrwert hinstellt und damit auch Michele gegen sich aufbringt, höre ich mit dem anderen, wie der zweite Fahrstuhl ankommt. Schnellen Schrittes betrete ich den zweiten Aufzug, denn ich will bestimmt nicht mitdiskutieren, ob Saras Anwesenheit nun Mehrwert hat oder nicht. Drinnen angekommen atme ich auf und drücke erleichtert die 9, als sich ein Sneaker mit blauem Leoprintmuster in die Tür schiebt und sie am Schließen hindert. „Was schleichst du hier so verdächtig rum?“, mault mich meine altbekannte Stimme an und ich sehe auf. Ich hätte es wahrlich schlimmer treffen können. „Hi Yurio. Lange nicht gesehen.“ 3 - Intermezzo: Rostelecom Cup, Kurzprogramm -------------------------------------------- Nach einem gemeinsamen (und für mich viel zu kurzen) Nachmittagsschlaf in Viktors Zimmer geht es am Abend zum ersten, freien Training. Bevor wir dort allerdings aufkreuzen, will er noch mit seinem Trainer telefonieren, um zu erfragen, welche Stimmung bezüglich seiner affektiven Art, mir zu zeigen, dass ich die Kür in China gut gemeistert habe, vorherrscht. Warum Viktor lieber telefoniert statt direkt mit Yakov Feltsman zu sprechen, verstehe ich nicht direkt und steigert meine Unsicherheit, wie ich mich diesem gegenüber verhalten soll. Dabei ist nicht gesagt, dass ich überhaupt mit ihm reden muss, aber die Möglichkeit existiert. Ich sollte wirklich versuchen, mir nicht zu viele Gedanken darum machen. Es gibt ohnehin genug andere Dinge, die mir im Kopf herumschwirren, denn dass ich bereits allen anderen Teilnehmer dieses Vorentscheids gegenüber gestanden habe, hat mir mit einem Holzhammer bewusst gemacht, weshalb wir eigentlich hier sind. Besonders Yurio scheint noch nicht aufgegeben zu haben, Viktor nach Russland zurückzuholen und ich frage mich, ob er da nicht etwas zu verbissen ist. Ich hatte eigentlich gedacht, die Sache sei vom Tisch, aber Yurio ist offensichtlich anderer Meinung. Ich hatte jetzt auch nicht den Eindruck, als würde er nicht ernst machen. Wenn ich weiter mit Viktor ins Finale kommen will, muss mindestens Vierter werden, sonst reichen mir die Qualifikationspunkte nicht. Sollte ich das nicht schaffen, wüsste ich nicht, was danach käme. Ich kann weder einschätzen, was Viktor dann tun würde, geschweige denn, wie es mit uns weiterginge. Ich darf diese Möglichkeit nicht zu nah an mich herankommen lassen, sonst verliere ich mich darin und das darf nicht passieren. Als Viktor sich schließlich von mir runter auf die andere Matratzenhälfte rollt und nach seinem Handy greift, raffe ich mich aus dem Bett hoch und betrete das Badezimmer, um zu duschen. Vor dem Training macht es zwar genau genommen wenig Sinn, aber ich muss irgendwie wieder wach werden, bevor wir los müssen. Der Jetlag ist noch lange nicht überwunden und ich muss mit allen Tricks arbeiten, wenn ich auf dem Eis nicht gleich vor Müdigkeit die Balance will. Wie der Rest dieses Doppelzimmers ist auch das Bad wesentlich geräumiger und besser ausgestattet als der Standard, denn ich glaube nicht, dass ich sowohl Dusche als auch Badewanne und zwei Waschbecken zur Verfügung haben werde. Es ist blitzblank, der schwarze Fliesenboden und die goldenen Armaturen glänzen um die Wette und große, weiche Handtücher ergänzen das Bild eines äußerst noblen Badezimmers, wie man es in europäischen Schlössern erwarten würde. Das scheint wohl der Stil zu sein, der den Russen gefällt, vermute ich, denn die goldenen und geschnörkelten Dekorationen finden sich auch im Schlafzimmer wieder und das Bett war trotz des modernen und kantigen Schnitts mit mehr Kissen bestückt gewesen, als man je zum Schlafen hätte benutzen können. Der russische Pomp stellt einen krassen Gegensatz zur japanischen Schlichtheit dar und ich frage mich beim Umsehen, was Viktor eigentlich besser gefällt. Was es für ein Gebäude ist, in dem er wohnt. Ich weiß, dass er alleine lebt, aber weder ob es ein einzelnes Haus oder ein Apartment ist oder wie es darin aussieht. Wenn ich anhand seiner Möbelstücke bei uns zuhause entscheiden müsste, dann wäre die Einrichtung ähnlich simpel wie die Japanische, aber das soll nicht heißen, dass sie weniger hermachen würde. Die Materialien machen den Unterschied, denn der weiße Sessel hat einen Wildlederbezug, das Kuhfell auf dem Boden ist echt und der Rahmen des Kopenhagen-Fotos ist wohl wirklich mit Blattgold überzogen. Außerdem hat Viktor für einige Wochen noch diese Büste in seinem Zimmer stehen gehabt, die mehr zu diesem opulent-barocken Hotelzimmer passen würde, sodass es wohl auf eine Kombination aus beidem herauslaufen würde. In Gedanken mache ich mir eine Notiz, Viktor bei Gelegenheit danach zu fragen, dann lege ich meine Kleidung ab und steige in die gläserne Duschkabine. Ein bisschen komisch fühlt sich das schon an, trotz Kabine immer noch nackt in Raum zu stehen. Solche voyeuristischen Elemente würde man in Japan nur in einem Love Hotel vorfinden, aber niemals in einem normalen Hotel. Sofort schießt mir die Schamröte in die Wangen und ich vergrabe mein Gesicht in meinen Handflächen, ohne zu wissen, was mich mehr beschämt: Die unvorbereitete Vorstellung, mit Viktor unter dieser Dusche zu stehen oder mit ihm in ein Love Hotel zu gehen. Eigentlich ist es nichts Ungewöhnliches in Japan, genau dafür sind diese Hotels ja da, aber... Hilfe, was denke ich hier gerade! Der JSF lässt mir keine Unterstützung dafür zukommen, dass ich mit meinem Trainer in ein Love Hotel gehe...! Allein, dass wir überhaupt eine Beziehung führen, fühlt sich, seit wir in Russland angekommen sind, so unendlich verboten an, weil Viktor niemals mit einem Partner in der Öffentlichkeit gestanden hat. Er hat auch nie über Beziehungen gesprochen und mir wird schummerig, wenn ich darüber nachdenke, dass ich derjenige sein könnte, mit dem Viktors unbeschriebenes Image sein Ende finden würde... Ich darf mich nicht davon verrückt machen lassen, ermahne ich mich. Niemand weiß davon. Um meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, drehe ich das Wasser auf, es fängt an zu plätschern und ich schließe die Augen. Das Wasser ist erst lauwarm, wird dann angenehm warm und schließlich angenehm heiß. Ein paar Grad mehr als Körpertemperatur und ich habe das Gefühl, völlig abschalten zu können. Während sich die Wärme in meinem Körper langsam ausbreitet, atme ich tief ein und aus. Für einige Sekunden genieße ich die Stille in meinem Kopf, die Dunkelheit vor mir und das wohltuende Nass. Dann öffne ich die Lider und diesmal fällt mein Blick auf die Badewanne. Ob wir beide dort hinein passen würden? Japanische Badewannen sind nur halb so groß und viel schmaler, aber in dieser ginge es vielleicht... Oh Gott, nicht schon wieder!, denke ich, aber finde den Knopf zum Abschalten nicht. Er. Und ich. In einer Wanne. Ohne Zuschauer. Ohne Bedenken, dass doch plötzlich jemand um die Ecke lugt...! Es ziept mächtig in meiner Bauchgegend. Vorsichtig taste ich an mir nach unten und als ich diese sensible Stelle berühre, halte ich inne. Noch beschämter als zuvor starre ich an mir hinab. Dieser Teil von mir war erst vor Kurzem mit Viktor vereint, hat ihn geliebt und zum Höhepunkt gebracht und trotzdem bedarf es nur solch banaler Dinge wie einer Duschkabine oder einer Badewanne, dass ich ihn erneut begehre... Ich glaube, meine Knie geben gleich nach. Wenn wir es tun, bin ich mir dessen nie wirklich bewusst, weil ich ihn so liebe, wie er ist, aber jedes Mal, wenn sich mir in mein Bewusstsein drängt, wen ich mit geröteten Wangen, laszivem Blick und meinem Namen auf den seufzenden Lippen vor mir liegen habe, dann ist es, als würden in meinem Kopf eine Millionen Sicherungen durchbrennen. Der Taxifahrer, der die beste Fahrt seines Lebens hatte, die beiden Bäckerinnen, die vor lauter Verzückung kein Geld mehr annehmen wollten, die ganzen Journalisten und Fernsehteams, die vor dem Hotel gewartet haben... Er ist es wirklich. Kein täuschend echter Zwilling, sondern wirklich ihr Viktor Nikiforov. Und ich habe ihn ge... G-gestohlen, vom Eis!, was sonst, ich meine, oh Gott, also...! Hilfe. Ich darf mich um Gottes Willen nicht davon verrückt machen lassen. Unser Privatleben geht niemanden etwas an. Wir haben trainiert. Ich bin vorbereitet, ich darf mich nicht einschüchtern lassen. Ich muss ihnen beweisen, dass ich es wert bin, dass Viktor die Zeit für mich geopfert hat. Und jetzt bin ich auch mehr als genug sauber! Wir sollten zum Training! Rostelecom Cup, Kurzprogramm. 19. November 2016 Mit dem Betreten der Lobby am nächsten Tag zur allgemeinen Abfahrt ist der Wettkampf vollends in meinem Bewusstsein angekommen. Die Konkurrenz ist heute keinesfalls zu unterschätzen, obwohl es nach einem kurzen Umsehen mehr nach einer schlechten, amerikanischen Sitcom aussieht als nach dem Versammeln der Teilnehmer eines internationalen Vorentscheids: Da steht die Schöne bei ihrem immer-wachsamen Bruder, daneben der hartnäckige Verehrer, in der Ecke der geheimnisvolle Stille, überall hört man die selbstverliebte Labertasche und am Rand der aggressive Teenager, der von allem genervt ist. Fehlt nur noch eine Rolle für Viktor und mich. Die peinlichen Eltern vielleicht? Das wird was... Etwas unsicher huschen meine Augen hinüber zu Yakov Feltsman, aber es ist die Frau in ihrer gelben Jacke neben ihm, die ungewollt meinen Blick auf sich zieht. Ihre Augen sind so giftig, dass es mir kalt den Rücken hinunter läuft. Sie steht wie versteinert im Raum, hat die Arme vor der Brust verschränkt und eine Miene aufgesetzt, als wäre jeder Einzelne von uns eine Kakerlake, die ausgeräuchert werden sollte, sodass ich unwillkürlich schlucken muss. Yuko hatte mir gegenüber erwähnt, dass Yurio auch von der Exfrau von Yakov Feltsman trainiert werden würde, sodass es logisch wäre, wenn diese Frau besagte Exfrau ist und ich kann mir sofort vorstellen, was Yuko damit meinte, als sie sagte, Yurio würde von morgens bis abends nur angemeckert werden. Diese Frau sieht aus, als hätte man ihr die Seele herausgerissen. Mit einem unguten Gefühl im Bauch wende ich mich ab und folge Viktor zu einem der Kleinbusse, die uns wie gestern zur Halle bringen sollen. Wir nehmen zusammen mit JJ, seinen Trainern, aber auch mit Yurio, Yakov Feltsman und dessen Exfrau im selben Bus Platz. Sofort nach der Abfahrt spielt JJ den Alleinunterhalter in der ersten Reihe und redet ohne Pause, dass es unmöglich ist, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Auf den Plätzen hinter den drei Kanadiern fällt also kein einziges Wort und ich versuche so gut es geht, nicht zuzuhören, wie JJ seine Punkte laufen will, aber es hilft nichts: Irgendwas mit Toeloop am Anfang, weil das ist JJ-Style, und Axel in der Mitte, weil das ist auch JJ-Style, und Lutz am Ende, denn das ist der Ultra-JJ-Style und zusammen mit dem Lied, das er selbst ge-collaboratet hat, ist JJ-Style einfach überall. Nur Yurio ist uns allen einen Schritt voraus, denn er trägt Kopfhörer und die Beschallung mit eigener Musik ist wahrscheinlich auch das Einzige, was gegen JJ-Style hilft. Die Fahrt zur Moskauer Eishalle dauert eine Viertelstunde und wenn die unendliche Darstellung von JJs Programm ein Gutes an sich hatte, dann dass ich plötzlich eine sehr große Erleichterung verspüre, dass wir endlich an der Halle ankommen. Trotzdem muss ich versuchen, meine Konzentration schnellstens wieder zu aufzubauen, denn darauf zu hoffen, dass JJ irgendwann die Klappe hält, ist und bleibt Wunschdenken. Wir steigen einer nach dem anderen aus, der Fahrer gibt uns die Koffer und Taschen aus dem Kofferraum und JJ philosophiert hypothetisch über eine noch bessere Version seines JJ-Styles, denn ein Rittberger wäre die Krönung des Kings und er setzt sich just bei diesen Worten seine Schirmmütze auf. Viktor tippt mich an und flüstert: „Er weiß aber schon, dass es Winter ist und Kappen in den Sommer gehören?“ „Hm...“, antworte ich in Gedanken versunken, denn auch wenn ich Viktor insgeheim zustimmen muss, dass eine Kappe im tiefsten Winter bei Schnee extrem deplatziert wirkt, bin ich gar nicht darauf eingestellt, offen zu lästern. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich mir das erlauben kann, schließlich fängt der Wettkampf erst an und JJ ist kein schwacher Gegner. Auch Yurio schaut schon seit unserer Abfahrt aus dem Hotel so, als könnte er es nicht mehr abwarten, aus uns allen und besonders mir Hackfleisch zu machen. Konzentration, halte ich mich an. Das ist der Schlüssel. Ich muss gut laufen. Ich darf mich nicht beeindrucken lassen. Mit gesenktem Blick drehe ich mich in Richtung Halleneingang. Der Wind bläst kalt in meinen Ohren, Schneeflocken wirbeln durch die Luft und es fröstelt mich äußerlich wie innerlich, mir vorzustellen, meinen härtesten Kritikern im Reich des wahren Königs gegenüber zu treten. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Viktors Landsleute und Fans es begrüßen würden, wenn ich hier in Moskau aus dem Grand Prix ausscheide und Viktor danach zurück aufs Eis käme. Aber so einfach gebe ich diesmal nicht auf. Noch können sie lachen, aber seit China hat sich vieles geändert und was einmal mir gehört, gebe ich so schnell nicht wieder her. „Yuuri~, warum sagst du nichts?“, fragt er irritiert von meinem ausbleibenden Kommentar. Und genau das meine ich. Diesen Viktor, der sich nur mir so zeigt. Die Zeit und Liebe, die er investiert hat, soll nicht umsonst gewesen sein und ich werde es ihnen zeigen. Mein Eislaufen ist das Einzige, an dem es gemessen werden kann und ich werde ganz Russland beweisen, wie stark meine Liebe geworden ist. In der Halle angekommen wird sieht die Realität jedoch etwas anders aus und meine Liebe muss sich in Zurückhaltung üben. Viktor wird sofort von eine Reihe verschiedener Persönlichkeiten und Reporter angesprochen, sodass ich die erste Zeit unnütz daneben stehe und zuhöre, ohne etwas zu verstehen. Es erinnert mich an gestern, als die Reportertraube im Hotel um Viktor herum versammelt war, aber meinen Platz neben ihm werde ich diesmal nicht räumen. Er ist mein Trainer, das ist mein Wettkampf; ich sehe also keinen Grund dazu. Nach einer Weile winken mich Morooka und sein Team zu sich, sodass ich mich dann doch von Viktor entfernen muss, um meinen eigenen Verpflichtungen als Wettkampfteilnehmer nachzukommen. Auch Yurio befindet sich gerade in einem Interview für einen russischen TV-Sender, aber es ist kein Vergleich zu der Aufmerksamkeit, die Viktor zukommt. Was äußerst paradox ist, wenn man bedenkt, dass Viktor nicht einmal am Wettkampf teilnimmt. Yurio ist zwar neu bei den Seniors, aber als amtierender Weltmeister und Grand Prix-Sieger bei den Juniors gibt es eigentlich keinen Grund, ihn nicht zu beachten. Ein Debüt ist immer schwierig, erst recht wenn man es auf internationaler Ebene bestreiten muss und Yurio will nicht weniger gewinnen als alle anderen auch. Irgendwie tut mir das leid, aber ich kann nicht mal genau erklären warum. Vielleicht, weil Yurio mir mit dem Salchow geholfen hat und ich noch keine Gelegenheit hatte, mich wirklich dafür zu bedanken. Ich könnte ihn später zumindest anfeuern, überlege ich. Das könnte ich sogar auf Russisch und ohne Knoten in die Zunge zu bekommen, davai! Nach meinem Interview mit Morooka müssen alle Teilnehmer zum sechsminütigen Aufwärmen aufs Eis gehen. Das russische Publikum begrüßt uns euphorisch, aber nach nur wenigen Sekunden ist klar, dass der Jubel vorrangig nur Viktor gilt als irgendjemand anders. Während er damit beschäftigt ist, höflich in alle Richtungen zu winken, lasse ich meinen Blick zu den anderen Läufern wandern. Wenn ich in Peking glaubte, Georgi hätte mit seinem Carabosse-Outfit den Vogel abgeschossen, dann muss ich revidieren: Seung-Gil Lee kommt mit seinem Staubwedel-Look verdammt nah dran und diese halbe Ritterrüstung, die Michele Crispino trägt, ist in mehr als nur einer Hinsicht zu viel des Guten. Yurio trägt wie erwartet sein weißes Agape-Outfit unter seiner Trainingsjacke und Emile Nekola präsentiert sich wie ich in Schwarz, nur dass Emile mit Jackett und Jabot deutlich geschmackvoller gekleidet daherkommt. Genau genommen sehe ich im Vergleich zu ihm aus wie eine... Halleluja. Wo ist Chris, das moralische Niveau zum Tiefpunkt zu bringen, wenn man ihn braucht?! Nach dem Aufwärmen geht es für mich, Yurio und JJ wieder backstage und Viktor flüstert mir zu, dass er sich unter JJ-Style etwas anderes vorgestellt hat als eine lavendelfarbene 70er-Jahre-Glitzerstrumpfhose. Zwar muss ich Viktor erneut zustimmen, aber ich frage mich ernsthaft, ob er das Lästern heute nochmal abstellen kann. Andererseits kann ich es ja verstehen. Yurio hat seine Kopfhörertaktik wieder aufgenommen und das aus gutem Grund, denn JJ kommentiert für uns exklusiv den Lauf von Seung-Gil Lee, sodass ich mir an Yurio ein Beispiel nehme und Viktor um meine Ohrstöpsel bitte, um dem zu entgehen. Damit ist Viktor gerade der Einzige, dem nur Weghören als Gegenmaßnahme bleibt. Abgesehen von den Programmroutinen gehe ich im Kopf noch einmal durch, was Viktor und ich gestern Abend nach dem Telefonat mit Yakov Feltsman besprochen haben. Um den Kuss aus China für die Presse zu relativieren, sollen wir, wie Viktor es nannte, eine „unverfängliche Show“ abziehen. Mit anderen Worten sollen wir übertreiben, damit ja jeder versteht, dass alles nur Show ist. Dazu mussten wir zuerst einmal überlegen, was alles „unverfänglich“ sein könnte und am Ende kam heraus, dass wir einfach dasselbe wie schon in Peking machen, nur ohne Kuss auf den Mund: Viktor wird mir wieder die Schuhe anziehen und binden, aber nicht backstage, sondern so, dass es alle sehen können. Außerdem soll ich wieder seine Aufmerksamkeit vor dem Start des Programms einfordern. Wie ich das machen soll, muss mir so langsam überlegen, denn viel Zeit habe ich nicht mehr. Zum Schluss noch eine kleine situationsbedingte Showeinlage beim Kiss & Cry und damit wäre es genug. Im Grunde klingt das aber nicht wirklich nach Plan und ich wäre lieber dabei geblieben, so zu tun, als wäre gar nichts... Abgesehen davon soll Yakov Feltsman Viktor am Telefon geraten haben, dass wir weniger mit dicken Eiern als vielmehr mit klarem Kopf aufs Eis gehen sollten und Viktor hat das heute morgen durchaus ernst genommen. Ich würde zwar die leise Vermutung anstellen, dass das weniger als ernst gemeinten Ratschlag, sondern vielmehr als ein Appell an Viktors Vernunft zu verstehen war, aber andererseits wäre ich vielleicht nicht so gefasst, wenn ich mir noch Sorgen machen müsste, ob Viktor nach einer vermasselten Performance noch Lust auf mich hätte oder nicht – als Trainer und als Geliebter. Also hat es womöglich doch etwas Gutes gehabt... Hoffe ich. Auf den Bildschirmen sehe ich, dass Emile Nekola mit seinem Programm beginnt. Seung-Gil ist zuvor eine neue Personal Best gelaufen und nach nur kurzer Zeit fängt JJ an zu klatschen und sieht mich direkt an, weil es unnötige Info zu verteilen gibt. Viktor lehnt an der Wand und zieht bereits ein Gesicht, als hätte er aus Sicherheitsgründen sein Gehör komplett auf Durchzug gestellt. „Eh, sorry, ich hab nichts gehört“, antworte ich freundlich, aber ich will ja auch nichts hören. „Emile hat auch einen vierfachen Rittberger gelandet.“ Hypothetischer JJ-Style, resümiere ich, aber JJ ist schon an mir vorbei gegangen und wendet sich ein weiteres Mal an Viktor. „Viktor, den hast du letztes Jahr auch gesprungen, nicht?!“ „Keine Ahnung, kann sein“, schmettert Viktor JJ ab. „Heeee?!“ „Ich bin vergesslich, du weißt. Yuuri ist gleich dran, du entschuldigst also.“ Viktor bückt sich, greift nach der Tasche mit meinen Sachen und den Schlittschuhen und nickt mir zu, dass wir gehen. Meine Augen huschen noch einmal zu JJs wenig amüsiertem Gesicht und dann kurz zu Yurio, bevor ich loslaufe. Seine Trainerin ist zu ihm gekommen und spricht mit ihm, aber sein Blick trifft meinen und mir wird ein weiteres Mal unmissverständlich klar, dass er bereit ist, alles zu geben. Egal wie ich es drehe und wende, ich komme nicht umhin, in ihm den stärkeren Gegner zu sehen. Vielleicht, weil ich noch nicht einschätzen kann, wie sich Agape seit Onsen on ICE gewandelt hat, denn Yurio hat womöglich noch härter trainiert als ich und JJ-Style kenne ich bereits auswendig. Ich wende mich nach vorne und wir treten durch die Vorhänge in die Halle. Die Show beginnt. --------[EPISODE 8: Kurzprogramm]------- „Yuuri, dein Handy klingelt“, ruft mich Viktor zurück, während ich noch die letzten Sekunden von JJs Lauf auf den Bildschirmen beobachte. Er schaut auf das Display und ich erkenne Verwunderung in seinem Gesicht. Er reicht mir das Telefon und sagt: „Deine Schwester.“ „Mari?“ Warum sollte Mari anrufen? Während dem Wettkampf? Und überhaupt, ist es nicht mitten in der Nacht in Japan? Beunruhigt nehme ich den Anruf an. „Hallo?“ „Yuuri? Tut mir Leid, du steckst mitten im Wettkampf...“ Ihre Stimme klingt aufgebracht. „Makkachin hat Manjuu geschlungen und sie stecken im Hals fest. Wir sind schon beim Tierarzt, aber wir wissen nicht, ob er es überlebt...“ Meine Augen weiten sich vor Schock. „Was sollen wir machen?“ Ich kann überhaupt nichts sagen. Makkachin hat Manjuu geschlungen? Und könnte sterben, jetzt in dieser Minute, wo Viktor und ich in Moskau sind? So wie damals bei Vicchan? „...Ist Viktor in deiner Nähe? Kannst du ihn fragen?“ „N-nicht nötig, i-ich sag' ihm Bescheid...“, würge ich irgendwelche Worte aus mir heraus. Ich bin wie gelähmt. „Ich ruf' gleich zurück...“ Ich lege auf. Für ein paar Sekunden ist es in meinem Kopf völlig leer. Dann fasse ich einen Entschluss. „Viktor!“, wende ich mich an ihn. „Du musst sofort zurück nach Japan! Ich schaff' die Kür morgen auch alleine!“ Er schaut mich völlig entgeistert an. „Was ist passiert?“ Ich will es ihm eigentlich nicht vor allen Leuten sagen, aber ich habe keine Wahl: „Makkachin geht es sehr schlecht. Du musst zurück, sofort!“ „Moment mal, Yuuri, ganz ruhig. Ich kann jetzt nicht einfach zurück“, widerspricht er und die Mitanwesenden schauen nicht minder irritiert wie Viktor selbst. „Ich schaff' das alleine. Aber wenn du bleibst, verzeihst du dir das womöglich dein Leben lang nicht mehr! Makkachin könnte sterben, Viktor!“ Das hier ist nur ein Wettkampf, aber Makkachin ist Teil seines Lebens, er begleitet ihn schon so lange wie ich ihn kenne! Das wiegt viel mehr. Ich will nicht, dass er genau wie ich weitermacht und sich dann deswegen Vorwürfe machen müsste! Ich komme auch alleine zurecht, aber er braucht Makkachin und Makkachin braucht ihn! Auf mich muss niemand Rücksicht nehmen! „Warum stirbt Makkachin?“, fragt er, die Hände erhoben, als wolle er Abstand zu der Situation wahren. „Er hat [Manjuu gefressen und könnte ersticken, jetzt in diesem Moment“, erkläre ich aufgebracht, weil er nicht drauf eingeht. „Viktor, du musst zurück! Nimm' es nicht auf die leichte Schulter, ich weiß, wovon ich rede!“ Er sieht besorgt aus, aber er zögert weiterhin. Warum? Makkachin ist sein Ein und Alles. „Yuuri, wir sind mitten im Wettkampf, ich bin dein Trainer, ich kann jetzt nicht einfach zurück“, wiederholt er, als würde er ein Mantra herunterbeten, dass er auswendig gelernt hat. Ich gehe einen Schritt auf ihn zu. „Wegen mir musst du dir keine Sorgen machen! Aber wenn du jetzt nicht fliegst-“ „Eben wegen dir geht das jetzt nicht!“ Sein Ton klingt gequält. Er versucht die Contenance zu bewahren, der Kopf ist gesenkt und er greift sich mit der Hand an die Stirn, als denke er angestrengt nach, dabei gibt es nichts, worüber man nachdenken müsste! Plötzlich sieht er auf. „Yakov!“, ruft er und läuft los. Ich sehe in die Richtung, in die er eilt. Yakov Feltsman und Yurio kommen auf uns zu und hinter ihnen erkenne ich auch Yakov Feltsmans Exfrau in ihrer gelben Jacke. Viktors Schritte beschleunigen sich. „Ein Glück...!“, ruft er und fällt Yakov Feltsman beinahe um den Hals. „Du weißt, dass du immer der einzige wahre Trainer für mich sein wirst.“ Yakov Feltsman legt den Kopf auf die Seite, hin- und hergerissen zwischen Verwirrung und Amüsement über Viktors Verhalten. „Was soll das, willst du wieder zurück?“ „Ich bitte dich, für nur den einen Tag morgen“, beginnt Viktor, und jetzt höre ich deutlich, wie aufgebracht er wirklich ist. „Kannst du mich als Yuuris Trainer vertreten?“ Moment, BITTE WAS?! 4 - Intermezzo: Rostelecom Cup, Kür ----------------------------------- Ich bin nicht der Einzige, dem die Verwirrung ins Gesicht geschrieben steht. Yurios Ausdruck spiegelt meinen ziemlich genau wieder, nur dass meine Mundwinkel nicht so nervös zucken wie seine. Yakov Feltsman fängt sich als Erster wieder, aber seine verengten Augen verraten mir, dass er auf eine Erklärung dessen, was Viktor von ihm verlangt, sehr gespannt ist. Bevor er aber danach fragen kann, erhebt jemand anders ihre Stimme: „Ist das dein Ernst?“ Die Exfrau von Yakov Feltsman ist aus dem Hintergrund getreten und ihr Ton ist ebenso angewidert wie ihr Gesichtsausdruck. Als wäre Viktors Bitte ein Sakrileg. „Yakov soll sich für dich um den da kümmern? Und wo willst du hin? Du solltest nirgendwo anders sein, als hier!“ „Und wenn, dann ist es Yakovs Entscheidung“, erwidert Viktor, aber mir wird beim Klang seiner Stimme sofort unwohl. Viktor zu provozieren gelingt nicht jedem, aber diese Frau hat es offenbar mit nur wenigen Sätzen geschafft. Es wäre das erste Mal, dass ich erlebe, dass er auf Konfrontation geht. „Vitya, unter vier Augen“, gebietet Herr Feltsman, der von der Aussicht auf eine verbale Auseinandersetzung zwischen Viktor und seiner Exfrau ähnlich beunruhigt scheint. „Lilia, halt dich da raus.“ Lilia... Ich bin so angespannt, dass mein Gehirn nur sehr langsam arbeitet, aber ich habe den Namen irgendwann schon einmal gehört, nur wann? Es war nicht Yuko, die diesen Namen erwähnte... Zunehmend nervös beobachte ich, wie Viktor und sein Trainer abseits beginnen zu diskutieren. Sie reden mit unterdrückten Stimmen und meine Augen wandern immer wieder unbeabsichtigt zu dieser Frau mit dem Vornamen Lilia. Auch ohne ihre unheilvolle Präsenz ist die Sache schon nervenaufreibend genug, aber mit ihr noch viel mehr. Ich bete einfach, dass Viktor keinen Rückzieher macht; ich will nicht, dass er sich die gleichen Vorwürfe machen müsste... Er muss zurück nach Japan. Er muss einfach. „Oi, Katsudon, was ist los?“ Yurio hat sich angeschlichen. „Makkachin...“, antworte ich, aber bereue es sogleich. „Haa?! Der Hund?!“ Es entfährt ihm viel lauter als er es wahrscheinlich beabsichtigt hat und sofort sehen alle Anwesenden entgeistert in unsere Richtung, auch Yakov Feltsmans Exfrau, und sofort umspielt ein undefiniertbares Lächeln die dünnen Lippen. „Yakov,“ ruft sie in einem Ton, der mir fast überheblich vorkommt, „wenn ihm der Köter wichtiger ist, lass‘ ihn. Er soll sehen, was er davon hat.“ „Lilia?!“ Sie wendet sich an Viktor: „Zehn Jahre ist es her, dass du schon mal für einen Köter alles stehen und liegen gelassen hast. Hat dir die Lektion noch nicht gereicht? Hast du immer noch nicht verstanden, wo dein Platz ist?“ „Lilia, es reicht!“, geht Yakov Feltsman aufgebracht dazwischen. „Ich will kein Wort darüber hören!“ „Wenn ich einen Köter für vertrauenswürdig gehalten habe, dann ist das alleine dein Verdienst“, schmettert Viktor zurück, völlig unbeirrt von seinem Trainer. „Vitya, das gilt auch für dich!“ Für die nächsten Sekunden starren sich beide nur völlig regungslos an, als wären sie nur in tiefstem Hass miteinander verbunden. Viktors Blick ist dabei nicht weniger eiskalt, wie ihrer giftig ist und mir wird schlecht, wenn das noch länger so weiter geht. Ich habe keine Ahnung, worum es geht, aber die Uhr für Makkachin tickt weiter und es ist immer noch keine neue Nachricht von meiner Schwester angekommen. „Los, verschwinde dahin, wo du hergekommen bist“, schließt sie, dann sieht sie mit erhobener Nase genauso starr zu mir herüber. Ich versuche mit aller Kraft ihrem vernichtenden Blick standzuhalten, aber ich scheitere. „Du hast die falsche Wahl getroffen, Nikiforov. Komm‘, Yuri. Der Teufel spielt sein eigenes Spiel.“ Mit einem erneuten Ausdruck von Irritation sieht Yurio von mir zu Viktor und Yakov hinüber, trollt sich dann aber ohne ein Wort zu sagen mit seiner Trainerin. Just in dem Moment vibriert mein Handy und ich fahre erschrocken zusammen, aber es nur eine Nachricht von Minako-sensei, um mir zu meiner neuen Personal Best zu gratulieren. Ich will schon aufatmen, als es mir wie Schuppen von den Augen fällt, wer diese Frau ist: Sie ist Lilia Baranovskaya, die Primadonna des Bolshoi-Balletts! Das Idol von Minako-sensei und Viktors frühere Balletttrainerin! ...Damit habe ich nicht gerechnet. Nicht im Geringsten. Viktor selbst hatte den Namen erwähnt, als Minako-sensei ihn danach fragte, wer seine Trainerin war, während er den Tanz der Zuckerfee in ihrem Ballettstudio vorführte. Ich weiß noch gut, wie sehr Viktor sich geziert hatte und dass es eine Ewigkeit gedauert hat, bis er mit der Sprache rausrückte und er gestand, dass er aufgrund des Zwist mit seiner Trainerin seit zehn Jahren kein Ballett mehr gemacht hatte und auch nicht mehr machen wollte. Viktor hatte es knapp mit „Differenzen über die Art des Trainings“ begründet, aber das, was ich gerade erlebt habe, scheint keinesfalls dadurch gerechtfertigt zu sein, dass man sich wegen der Art des Trainings nicht einigen konnte... Das ist gerade zu viel auf einmal. „Katsuki!“ Vor Schreck lasse ich fast das Handy fallen. Dass Yakov Feltsman mich so laut beim Namen rufen würde, habe ich ebenso wenig erwartet, wie die Erkenntnis um die Identität seiner Exfrau. Der Schock darüber steckt mir mindestens genauso tief in den Gliedern wie der Gedanke daran, dass Makkachin in diesen Minuten tot sein könnte. „Vitya. Kommt mit, alle beide.“ Als wir uns in Bewegung setzen, bricht in der Halle ohrenbetäubender Jubel aus. Wahrscheinlich zur offiziellen Bekanntgabe des Endergebnis im Kurzprogramms und die Berichterstatter rücken in die Halle, aber ob ich nun noch auf dem ersten Platz bin oder nicht, scheint mir unendlich weit entfernt. Meine Gedanken drehen mir beinah den Magen um und was Herr Feltsman von mir will, kann ich beim besten Willen auch nicht abschätzen. Wir entfernen uns von den neugierigen Gesichtern des Hallenpersonals und schließlich befinden wir uns in einem leeren Gang. „Du verlangst viel, Vitya“, brummt Yakov Feltsman mit verschränkten Armen, diesmal auf Englisch. „Ich weiß.“ „Schafft er das morgen ohne dich?“ Er deutet mit dem Daumen auf mich. „N-natürlich!“, sage ich, auch wenn ich nicht direkt gefragt wurde und keine Ahnung habe, ob dem wirklich so ist. Vielleicht mache ich gerade nicht den stabilsten Eindruck, aber Viktor muss zurück, also steht außer Frage, dass ich es versuchen werde! Wenn ich selbst zu feige dafür war, dann will ich wenigstens daraus gelernt haben und nicht noch andere behindern. „Wenn Yuuri das sagt, glaube ich ihm.“ Yakov Feltsman wechselt wieder auf Russisch: „Warum willst du fliegen? Du wirst nichts ändern können.“ „Ich weiß. Darum geht es nicht“, antwortet Viktor, „aber wenn es so ist, kann ich niemandem zumuten, auf mich zu warten. Das kann ich von Yuuris Familie nicht verlangen.“ Er macht eine Pause, seine Hände zittern, dann spricht er weiter: „Ich möchte mich verabschieden. Ich will nicht wieder vor vollendeten Tatsachen stehen, nur weil die Not es erfordert hat. Nicht, wenn es um meinen Hund geht. Bitte, Yakov.“ Für einen Moment sagt niemand etwas, dann: „Katsuki!“ Schon wieder habe ich einen halben Herzinfarkt. „Ich hoffe, dir ist klar, was es heißt, ihn gehen zu lassen. Er sollte nichts anderes sein, als dein Trainer.“ „Er ist Viktor“, plappere ich erneut drauf los und hoffe, dass es auch nur im Entferntesten dabei hilft, dass Yakov Feltsman endlich einwilligt. „E-er ist als mein Trainer hier, da haben Sie Recht. Aber ich würde es mir nicht verzeihen können, ihn aus meinem Egoismus heraus davon abzuhalten, seinem Hund die letzte Ehre zu erweisen. Das steht mir nicht zu...“ „Du hast doch mehr Anstand als ich erwartet habe. Jetzt nimm‘ ihn mit und ich seh‘ dich morgen Punkt 8 Uhr beim freien Training.“ Es dauert einen Moment, bis wir realisieren, dass Yakov Feltsman zugestimmt hat. Viktor will gerade einen Schritt auf seinen Trainer zugehen, als dieser sofort lautstark zetert: „Ihr zwei habt keine Zeit für Kaffeekränzchen! Macht, dass ihr wegkommt!“ Rostelecom Cup, 20. November 2016, 7:15 Uhr. Star Hotel. „Hey, Yuri. Du siehst ja aus, als sei dir ne Laus über die Leber gelaufen, was ist?“ „Das geht dich 'n Scheiß an, Mila.“ Er ist wirklich geflogen. Katsudon hockt alleine ein paar Tische weiter beim Frühstück und glotzt dumm ausm Fenster. Dafür hat er bestimmt schon zehnmal so oft aufs Handy geguckt. Vor sich hat er Haferbrei stehen, aber grad mal drei Löffel gegessen. „Hm? Der japanische Yuuri? Wo ist Viktor?“ Auch schon gemerkt, Sherlock... Ich check das nicht. Es geht um den Hund, das hat Katsudon gesagt. Aber warum veranstalten die so ein Theater deswegen? Soll Viktor doch fliegen. Hat er ja auch gemacht, aber seit gestern ist der Name tabu. Lilia hat mir bloß wieder den Spruch gedrückt, mich fernzuhalten. Yakov hat mich angeschnauzt, es sei alles geklärt und ich solle mich unterstehen, irgendwas davon der Presse zu stecken. Als ob ich die Absicht dazu hätte. Jetzt wo Viktor weg ist, geht’s endlich um mich und ich werde beweisen, dass ich gewinnen kann! „Hi, Mila!“ „Morgen, Sara. Ohne deinen Bruder?“ Mann, hab ich das volle Laberprogramm heute morgen gebucht? Können die sich nicht woanders hinsetzen? „Er und Emile kommen gleich nach. Hm? Ist Yuuri alleine?“ „Ja, sieht so aus, nicht?“ „Sie haben gestern Abend ziemlich heftig diskutiert, direkt nach den Interviews“, sagt die Italo-Schwester, dann guckt sie zu mir. „Du hast das doch auch mitbekommen, oder? Ich hab dich bei Yuuri stehen sehen.“ „Er hat Viktor selbst weggeschickt, er soll aufhören, rumzuheulen.“ Jetzt hat sie die Info, die sie will. Sie soll sich verziehen. „Weggeschickt?! Warum?“ fragt Mila irritiert. „Ist doch scheißegal, er wollte es so“, motze ich. Dass Weiber immer so nervtötend sozial sein müssen. Und Katsudon guckt schon wieder aufs Handy. Waschlappen. „Ich dachte, sie wären so dicke miteinander“, stellt Mila weiter Vermutungen an und ignoriert immer noch, dass Viktor verdammt nochmal nicht mehr in Moskau ist. Wie viel deutlicher muss ich werden? „Er hat Viktor weggeschickt, weil der Hund abgekratzt ist.“ „Nein?!“ Mila sieht aus, als wäre die Milch in ihrem Müsli plötzlich sauer. „Viktors Pudel ist tot?“ „Er hat ja wohl bloß den einen.“ Ich lege den Kopf auf den anderen Arm, dass ich wegschauen kann. „Katsudon hat gesagt, Viktor soll fliegen und er macht das hier allein. Depp.“ „...Depp? Entschuldige mal,“ beginnt die Italo-Schwester zu motzen, „Yuuri versucht hier die Last von zwei Leuten alleine zu stemmen.“ Na und? Gibt's dafür 'n Preis oder was? Katsudon soll sich wieder fangen und gefälligst auf den Wettkampf konzentrieren! Ich hab noch ne Rechnung offen, da brauch ich keinen, der den Helden spielen will! „Für Yuuri stand offenbar keine Sekunde zur Diskussion, dass Viktor bleiben soll. Obwohl die Kür heute so wichtig für ihn ist. Auch wenn er dein Konkurrent ist, dein Verhalten ihm gegenüber ist äußert unsportlich.“ „Mann, Alte,“ pampe ich sie an, „ich bin nicht die Seelsorge für den Idioten. Der kann ohne Viktor nicht geradeaus laufen und probiert's trotzdem. Und später hockt er doch wieder irgendwo aufm Klo und flennt.“ „Dann wäre es diesmal vielleicht nicht schlecht, wenn du etwas netter zu ihm wärst?“, provoziert sie mit erhobenem Zeigefinger. „Die letzte Aktion ist ja wohl auch nur auf deinem Mist gewachsen.“ „Mann, lass' mich in Ruhe mit dem Scheiß!“ „Was für ein ungezogenes Katerchen!“, schnippt sie, ich zeige ihr den Stinkefinger, während sie aufsteht und sich zu ihrem Inzestbruder und dem Fusselgesicht trollt. Ich muss mir von der überhaupt nix sagen lassen, die hat doch letztes Jahr selbst mit Mila inner ersten Reihe gestanden und sich den Arsch abgelacht! Der Einzige, der wie'n Vollpfosten bei der Aktion dastand, war ich! Und ich hab Katsudon gesagt, er soll sich die Birne wegsaufen? Nein. Der weiß doch eh nix mehr davon, also interessiert's auch nimmer. Dem Schweizer ist sowieso alles Latte und Viktor hat ja wohl mit gar nix ein Problem gehabt, egal wie widerlich es war... Er knutscht dem Schwein ja auch öffentlich die Fresse und den Schuh! „Mir tut Yuuri leid, ihn alleine da sitzen zu sehen“, sagt Mila und ich schaue wieder zu Katsudon, der sich keinen Millimeter bewegt hat und immer noch wie hypnotisiert aufs Handy starrt. „...Sag' mal, Mila,“ beginne ich, weil ich mich unwillkürlich an etwas erinnere, „kann ich dich was fragen?“ „Uh? Du mich?“ „Ja, aber denk bloß keinen Scheiß von mir, verstanden?!“ ---------------------------------- Immer noch keine Nachricht. Viktor wollte sich melden, sobald er in Seoul zwischengelandet ist. Einen direkten Flug von Moskau nach Fukuoka gab es nicht und die einzige Maschine, die noch zu bekommen war, war eine von Aeroflot nach Seoul und von dort aus weiter nach Kyuushuu. Vielleicht hatte das Flugzeug Verspätung und er musste sich beeilen, denn viel Zeit zum Umsteigen war im Flugplan nicht angegeben gewesen... Ich schaue wieder auf die Anzeige auf dem Handydisplay. 7:23 Uhr. Er müsste eigentlich schon bald in Japan landen... Es ging alles viel zu schnell gestern Abend. Nach dem Gespräch mit Herr Feltsman haben wir direkt ein Taxi gerufen und sind zurück zum Hotel gefahren. Viktor hat die nötigsten Sachen zurück in seinen Koffer gepackt und bevor ich überhaupt realisieren konnte, dass er fliegen würde, war er auch schon wieder in das gleiche Taxi gestiegen und auf dem Weg zum Flughafen. Seine letzte Umarmung war viel zu kurz, um mich darauf vorbereiten zu können, dass er nicht mehr da wäre und auch wenn es ein Notfall ist, kann ich dieses Gefühl in mir nicht abstellen. Ich könnte es nicht mal beschreiben. Meine Gedanken kreisen ständig um Viktor und Makkachin, vermischen sich mit Erinnerungen an Vicchan und mir ist, als hätte man mir ein zweites Mal berichtet, mein Hund sei gestorben. Nur, dass es sich noch schlimmer anfühlt als damals. Ich kann nichts essen. Vor einem Jahr hatte ich noch am selben Abend eine Pizza vom Zimmerservice bestellt und diese komplett aufgegessen, dazu noch mindestens einen halben Liter Cola getrunken und Unmengen Schokolade in mich gestopft. Jetzt steht nur eine Schüssel Haferbrei vor mir, von der ich nichts essen kann, ohne das Gefühl zu bekommen, mich sofort übergeben zu müssen. Vicchan war vor unserem Hoftor von einem Radfahrer, der ohne Licht gefahren ist, erfasst worden und kurz darauf beim Tierarzt gestorben. Ich weiß noch, dass ich nach dem Kurzprogramm in Sochi in der Umkleide meine Schlittschuhe betrachtet und überlegt hatte, ob ich sie vor der Kür noch einmal schleifen lassen soll, als der Anruf von zuhause kam. Es war das bisher tiefste Loch, in das ich gefallen bin. Dabei war ich zuvor noch relativ zuversichtlich gewesen und das, obwohl ich unglaubliches Herzklopfen hatte, weil ich zum ersten Mal mit Viktor in der gleichen Halle auf dem gleichen Eis stand. Celestino hatte mich noch gelobt, dass ich deswegen nicht komplett weiche Knie bekommen hatte und dass ich in der Kür ruhig etwas selbstbewusster laufen könnte... Nach dem Anruf war davon nichts mehr übrig. Die ganze Nacht durch hatte ich geweint, mich für meine Fressattacke geschämt; dafür, dass ich Vicchan solange nicht besucht hatte, dass ich alles meiner Familie aufgebürdet hatte und dass ich mich kein bisschen dazu in der Lage fühlte, weder Vicchan noch meine Familie stolz zu machen. Ich hatte aufgegeben, bevor es wirklich zu Ende war. „Für Goldmedaillen muss man nach vorne schauen, nicht nach hinten, Yuuri.“ Viktors Worte aus Okayama hallen in meinem Kopf wider, als ich mich vor ihm für mein Versagen beim Grand Prix und mein mangelndes Selbstvertrauen zu rechtfertigen versuchte. Ich weiß, wie sehr er damit recht hat, aber es ist nicht die Erinnerung an Vicchan, die es diesmal schlimmer macht. Es ist schlimmer, weil es nicht um mich geht. Der Abgrund scheint unendlich tief, wenn ich mir vorstelle, dass Viktor in diesem Moment den gleichen Schmerz wie ich ertragen müsste... Allein. Ich wäre nicht bei ihm, könnte ihn nicht halten und mit ihm trauern... Lieber Gott, bitte, wenn es in deiner Macht steht, dann rette Makkachin und beschütze Viktor. Mir war noch nie in meinem Leben jemand so wichtig und noch nie tat es so weh, von ihm getrennt zu sein... „Außerdem ist ihre Liebe besonders, weil sie stark ist. Sie übersteht Jahr für Jahr, auch wenn sie getrennt sind.“ „Yuuri, das sagst du nur so leichtfertig daher, weil du noch nie von jemand getrennt warst, den du an deiner Seite haben wolltest.“ Ich habe das wirklich leichtfertig daher gesagt. Gerade wüsste ich nicht mal, wie man eine starke Liebe definieren kann. Meine Finger verschränken sich fester und ich lege meine Stirn auf meine gefalteten Hände. Viktor ist nur eine Nacht nicht bei mir gewesen und ich fühle mich schon unendlich schwach deswegen... „Yuuri, auch wenn ich fliege, im Herzen bin ich immer an deiner Seite.“ Ich bin auch an deiner Seite, Viktor... Auch wenn wir uns gerade nicht sehen können... Brrrzzz. Brrrzzz. Brrrzzz. Brrrzzz. Sofort schnappe ich nach meinem Handy, aber die Hoffnung stirbt sofort. Es ist nur der Wecker. 7:35 Uhr. Ich muss in die Lobby gehen und mit Herr Feltsman zum freien Training abfahren. Etwa zehn Minuten später stehe ich mit Rucksack und Schlittschuhen am vereinbarten Treffpunkt und obwohl ich trotz aller Hektik viel zu früh bin, warten er und Lilia Baranovskaya schon. Von Yurio und Mila Babicheva ist nichts zu sehen, dafür gibt sich JJ mit seinen Trainern bereits die Ehre. In den meisten Gesichtern, die sich mir nach und nach zuwenden, sehe ich Irritation darüber, dass Viktor nicht anwesend ist und die unnötigste Info, die es für alle zu erfahren gibt, ist die, dass JJs Freundin die „beauty of the universe“ ist, mit der er lautstark telefoniert, damit ja niemand ein Detail verpasst. Nervös wandern meine Augen zu Herr Feltsman. Die letzten zwei Tage war ich noch beschäftigt darüber zu grübeln, wie ich ihm gegenüber verhalten soll, weil es mir unangenehm war, dass er um das Verhältnis von Viktor und mir weiß; heute muss ich dafür dankbar sein, dass er es weiß. Viktor hat nie schlecht über ihn geredet, also sollte ich vielleicht endlich aufhören, Angst vor ihm zu haben, auch wenn ich das Gefühl nicht loswerde, dass er auch nur die kleinste Bewegung von mir auf die Waagschale legt. Er fängt meinen verunsicherten Blick und kommt zu mir herrüber. „Hat Vitya irgendwas zu dir gesagt? Worauf du dich heute fokussieren sollst? Was du üben sollst?“ „D-dazu hatten wir keine Zeit mehr...“, antworte ich ehrlich. „Er ist sofort zum Flughafen.“ Herr Feltsman schweigt eine Weile, dann fragt er: „Hat er sich gemeldet?“ „Noch nicht...“ Ich schaue reflexartig wieder auf mein Handy. 7:47 Uhr. „Katsuki!“, ruft Herr Feltsman und ich werfe schon wieder fast das Handy weg. „Vitya kommt allein zurecht! Deine Konzentration gehört einzig und allein hierher! Hast du verstanden?“ „V-verstanden!“, sagt ich und stehe kerzengerade zum Abmarsch bereit. „Eine ganze Nation schaut auf dich, also reiß' dich zusammen! Du bist nicht der Einzige, der sich Sorgen um Vitya macht.“ ----------------[EPISODE 9: Rostelecom Cup: Kür]---------------- Nach dem Wettkampf stehe ich nachdenklich an einer Kreuzung nahe des Hotels und lehne mich auf das Geländer vor mir. Ich will alleine sein, um den Tag sacken zu lassen. Die Finalisten des Grand Prix stehen fest. Abgesehen von den Drei, die generell schon entschieden waren – Christophe Giacometti, Otabek Altin und Phichit Chulanont – haben sich auch JJ und Yurio qualifiziert. Den letzten Finalplatz habe ich zugeteilt bekommen, obwohl ich ihn kaum verdient habe. Ich hätte mir das niemals so vorgestellt. Dass Viktor nicht mehr beim Wettkampf war, hat bereits am Morgen für Unmut bei den Journalisten vor Ort gesorgt und schwappte infolge dessen bis zum Abend hin auch auf das ganze russische Publikum über. Weil ich derjenige war, der Viktor zum Gehen aufgefordert hat, war in mir schnell der passenden Sündenbock gefunden, der dafür verantwortlich ist, dass Viktor Russland verlassen hat. Stattdessen haben sich alle Yurio als dem neuen Retter der russischen Ehre zu gewandt, während mir mit jedem Blick und jeder Geste zu verstehen gegeben wurde, wie sehr man mich dafür verurteilte, ihnen Viktor genommen zu haben. „Er sollte nichts anderes sein, als dein Trainer.“ Das Problem ist, dass Viktor das nie wirklich gewesen ist. Zumindest rückblickend nicht. Wir haben zwar zusammen trainiert, uns auf meine Grand Prix-Teilnahme vorbereitet und die Programme erstellt, aber wir haben uns auch gleichzeitig verliebt und sind ein Paar geworden. Ich habe, als ich ihn zum Gehen aufgeforderte, nicht als sein Schüler, sondern als sein Geliebter gehandelt. Und dafür muss ich jetzt die Konsequenzen tragen. Seit Viktor mir am Mittag schrieb, dass er Makkachin von Tierarzt abgeholt habe und dass alles in Ordnung sei, er mich liebte und an mich glaubte, hat sich schon dieser Gedanke in mir geregt, aber nach diesem katastrophalen Tag bin ich mir dessen sicher. Davon abgesehen bin ich auch so ziemlich am Zenit meiner Leistungsfähigkeit angekommen. Das wird womöglich meine letzte Chance... Ich will diesmal wirklich gewinnen, aber wenn der Grand Prix zu Ende ist, werde ich Viktor bitten, als Trainer zurückzutreten, egal ob es Gold wird oder nicht. In Gedanken versunken bemerke ich, dass es begonnen hat zu schneien. Nur ganz leicht, sanft... Wie an dem Tag, als Viktor zu uns ins Onsen kam. Als hätte er die Flocken mit sich gebracht, die ihn jetzt wieder nach Hause rufen. Ich beobachte einige davon, wie sie vom Himmel fallen, auf meinen Händen landen und vor meinem inneren Auge sehe ich seinen Schneeflockentanz. Nur der Zauber der Einen kann alle anderen tanzen lassen... Er gehört wieder zurück aufs Eis. Tief in seinem Herzen sehnt er sich auch danach... Und ich... Plötzlich rempelt mich etwas heftig von rechts an und ich falle unsanft auf den Gehweg. „Hier gammelst du rum, Katsudon. Ich hab ewig nach dir gesucht.“ Ich schaue auf, aber eigentlich erkenne ich einen Tritt dieser Qualität schon. „Yurio?“ „Was zur Hölle war vorhin mit dir los?! Das war ätzend, Mann, mich schüttelt's jetzt noch!“, beginnt er auf mich einzureden. „Und was sollte das während deiner Kür?!“ Ich weiß gar nicht, was ich ihm antworten soll oder was er von mir will. Zu meiner Überraschung redet Yurio einfach weiter: „Klar kannst du sagen, dass Viktor nicht da war und du deswegen nicht gut laufen konntest, aber ich war in Bestform, hab mir den Arsch aufgerissen, meine Bestleistung überboten und trotzdem wieder gegen JJ verloren! Du hast kein Recht, mehr Trübsal zu blasen als ich!“ Ich stutze. Versucht er mich etwa gerade aufzumuntern? Plötzlich landet eine Papiertüre in meinem Schoß. Ich sehe zu ihm auf, aber er weicht meinem Blick aus und sagt: „Für dich. Du hast ja bald Geburtstag.“ „Eh?“ Woher weiß er, wann ich Geburtstag habe? Und seit wann interessiert ihn das? Ich krempele die Papiertüte auf. „Piroszki?“ „Los, iss“, fordert er mich auf, den Blick immer noch auf irgendein Luftloch gerichtet. „Eh, hier?“ „Iss' verdammt!“, wiederholt Yurio gereizt. G-gut. Ich stehe auf, greife nach einer der Teigtaschen, aber schon beim Abbeißen stelle ich fest, dass die Füllung keine normale Füllung ist. „Da ist Reis drin... Schnitzel und Ei...“, zähle ich auf, „Katsudon!“ Erstaunt betrachte ich das Innere des Piroszki. „Genau!“, grinst Yurio mich jetzt mit leuchtenden Augen an. „Die hat Opa selbst gemacht! Geil, oder?“ Sein Opa? Ok... Ich fühle mich geehrt. Und mit einem Mal sehr viel besser als zuvor. „Ja, vkusno“, sage ich und muss mitgrinsen. Irgendwie habe ich das gebraucht... Nicht weil es Katsudon ist, sondern weil es von Yurio kommt, der wirklich versucht, mich aufzuheitern. Er ist eben doch nicht so übel, denke ich. Ein bisschen laut, ein bisschen aggressiv, aber im Grunde doch nur ein Junge, der sich nach Anerkennung sehnt. „Du sprichst Russisch?“, fragt er neugierig. „Viktor hat mir ein bisschen was beigebracht“, antworte ich. „Geht's besser?“ „Was meinst du?“, frage ich verwundert. Sofort stampft Yurio einen Schritt auf mich zu und sein Gesicht fällt zurück in seinen bissigen Ausdruck. „Wovon habe ich denn gerade geredet? Du hast bald Geburtstag und dein Freu - ...Viktor ist nicht da.“ Er hält inne, wendet den Kopf betreten ab, um zu verbergen, dass er beinah etwas gesagt hätte, was er nicht hätte sagen sollen. Ich warte einen Moment und beiße noch ein Stück von dem Piroszki ab. „...Dein Freund ist nicht da“, murmelt er in die andere Richtung und ich vergesse für einen kurzen Moment zu kauen. Yurio weiß es...? „Es ist ein offenes Geheimnis bei uns in St. Petersburg. Jeder weiß es, keiner redet drüber. Viktor steht auf Kerle. Im Grunde interessiert’s auch keinen, aber die ganzen Werbemacher fürchten um ihre Kohle. Er hat direkt 'nen Maulkorb verpasst bekommen, nachdem er das erste Mal 'nen Typen hatte.“ Ich schlucke krampfhaft unter, der Brocken bleibt im Hals stecken und sinkt nur unter widerlichem Schmerz tiefer. „Schau' mich nicht so an, klar?“, blafft Yurio, ob wohl er mein Gesicht nicht sehen kann. „Ich hab' keine Ahnung von Viktors Techtelmechteln. Seit ich ihn kenne, hat er nie wen erwähnt. Ehrlich gesagt glaubt keiner bei uns, dass er in den letzten Jahren überhaupt irgendwem hatte. Privatleben war'n Fremdwort für ihn. An seinem letzten Geburtstag wollten wir ihm 'nen Stripper nach Hause schicken und haben es aus Gründen dann gelassen...“ „W-was für Gründe?“, nuschele ich in meinen Schal hinein, um zu verbergen, dass ich mich fühle, als käme mir alles gleich wieder hoch. Yurio schaut mich eine Weile uneinsichtig an, dann fragt er: „Ist der Hund über’n Berg?“ „Was, ja, Viktor hat geschrieben. Makkachin geht es gut“, antworte ich und wundere mich noch, was das mit meiner Frage zu tun hat. Wechselt Yurio das Thema jetzt absichtlich? „Krieg‘ das nicht in den falschen Hals, der Köter ist mir egal,“ erklärt sich Yurio, „aber Viktor geht’s endlich wieder besser, da wär’s ziemlich ätzend, wenn das Vieh über die Wupper geht.“ „Eh?“ Ich verstehe gar nichts mehr. Heillos verwirrt starre ich auf Yurios Gestalt vor mir. Er sitzt halb auf dem Geländer, das eine Bein angewinkelt und den Kopf wieder gesenkt, das Gesicht hinter der Kapuze versteckt. „Viktor ging’s ziemlich dreckig zu Beginn des Jahres“, erzählt er weiter. „Yakov war ein wandelndes Nervenbündel deswegen. Irgendwann hat's tierisch genervt, ich war ja bei jedem verdammten Termin dabei. Sie haben auf ihn eingeredet, er soll 'ne Pause machen, aber das wollt er nicht hören. Hat immer wieder gesagt, lieber ging er sterben, als dass man ihm das Eis wegnehme.“ Der Schock rauscht durch alle meine Glieder. Warum erzählt er mir das, nachdem ich gegessen habe? „Was meinst du damit..?“, frage ich in einem Anflug von Panik. Was denkt er sich, mir so etwas zu erzählen und dann nicht weiterzureden! „Was weiß ich“, sagt Yurio und hat das Gesicht immer noch von mir abgewandt. Als schaffte er es nicht, mir in die Augen zu sehen, weil es ihn genauso aufwühlt wie mich. Dann richtet er sich auf, als wolle er gehen. „Viktor hat eh nicht mehr alle Tassen im Schrank. Was ich sagen will: Er lacht wieder. Dafür sind dir alle dankbar, auch wenn’s jetzt keiner mehr zugibt.“ Er geht einige Schritte zurück in Richtung Hotel. „Yurio!“, rufe ich ihm nach und er hält inne. „Ich...“ Mein Herz ist schwer wie Blei. Aber wenn es so ist wie Yurio gesagt hat, dann ist meine Entscheidung die Richtige. Er gehört zurück. Zurück in seine Welt. „I-ich sorge dafür, dass er nicht sterben muss...“ „Nimm‘ dir nicht zu viel vor, Katsudon. Beim Finale in Barcelona gewinne ich, damit das klar ist!“ 5 - Fukuoka Airport ------------------- 20. November 2016, Yuutopia Katsuki, 16:09 Uhr Es fühlt sich an wie ein Déjà-vu, als ich alleine mit Koffer durch das Tor des Yuutopia trete, und dennoch ist es völlig anders. Der Transporter steht nicht im Hof und es liegt kein Schnee. Vor allem aber fehlt Makkachin, der an der Leine zerrt und spielen will. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die erste Begegnung zwischen meinem Pudel und Yuuris Vater wie einen Film ablaufen. Ich weiß noch, wie sehr es mich erleichterte zu sehen, dass Makkachin Vertrauen zu Toshiya gefasst hatte. Aber gerade gibt es nichts, was mich beruhigen könnte. Angespannt und völlig geschafft von zu wenig Schlaf und Sorge schleppe ich mich und den Koffer ins Yuutopia und stehe direkt Hiroko gegenüber. „Vicchan?!“ Sie lässt fast die große Flasche mit Sake fallen vor lauter Schreck. Vermutlich sehe ich fürchterlich aus. Mir wird selten schlecht, aber gerade ist mir, als müsste ich mich jeden Moment übergeben. Als hätte man mich in zwei Hälften zerrissen, von denen eine sofort zurück zu Yuuri und die andere so schnell es geht zu Makkachin möchte. Flüchtig sehe ich, dass Mari hinter dem Tuch der Zutrittstür zum Frauenbad hervor lugt. Auch wenn ihr Gesicht größtenteils verdeckt ist, kann ich den Schock aus ihrem Gesicht ablesen, als sie mich bemerkt. Sofort verschwindet sie wieder in den abgetrennten Bereich. Hiroko ist völlig verwirrt, stellt die Flasche orientierungslos auf den Boden und weiß nicht, wohin mit ihren kleinen Händen. „Makkachin no tame ni kaetta no?“ In ihrer aufgebrachten Art erinnert sie mich an Jelena und mir wird noch einmal unwohler. Jelena ist nicht hier. Niemand wäre hier, der mir so vertraut ist, wie sie. Mein Rettungsanker in Momenten wie diesen... Die Frau, die mir die Welt bedeutet; als Freundin, als Unterstützerin, als Mutter. Sie würde mich halten und Trost spenden, würde sofort wissen, was ich brauche, bevor ich es in Worte gefasst hätte. Ich stütze mich schon vielmehr auf meinen Koffer, statt ihn nur zu halten. Hiroko nimmt meinen Arm. „Makkachin ha genki da yo. Genki, Vicchan. Shinpai shinaide. Modoru hitsuyou wa nakatta.“ Ich horche auf. Makkachin geht es gut? Er lebt...? Es...Ich hätte...nicht...Warum hat niemand...? „Yuuri wa doushita no?“ Mir steigen die Tränen in den Augen. Vor Erleichterung über Makkachin, vor Wut über mich selbst, ich weiß es nicht. Ich hätte bleiben müssen und bin geflogen... Yuuri kämpft alleine weiter, damit ich hier sein kann. Dabei kamen die Zweifel schon, als ich am Schalter im Flughafen stand und das Personal mich skeptisch musterte. Sie wussten, dass ich hier nicht sein sollte. Den ganzen Flug über konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es war mir unmöglich, zwischen Richtig und Falsch zu entscheiden... Ich kann nichts mehr für Yuuri tun. Yakov um Hilfe gebeten zu haben, ist keine Ausrede. Als Trainer habe ich vollkommen versagt. „Vicchan, daijoubu yo“, versucht Hiroko mich zu beruhigen. „Yuuri no koto wo shinjite. tsuyoku natte ita kara, genki dashite.“ Ich spüre, dass ich anfange zu zittern. Hiroko macht mir keinen Vorwurf, sie versucht mich aufzuheitern, mir Mut zu machen, dass Yuuri stark ist und dass ich an ihn glauben soll. Ich glaube an Yuuri. Mehr als an irgendwen sonst. Aber ich würde es mir nie verzeihen können, ihn alleine gelassen zu haben, wenn er mich braucht... „Makkachin ha ima doko ni...?“, versuche ich, aber es bereitet mir gerade große Schwierigkeiten, die Worte in meinem Kopf zu sortieren. Iru? Oder doch aru? Ich kann mich nicht erinnern. Dass meine erste Bewährungsprobe im Gebrauch der japanischen Sprache das Abholen meines Pudels aus einer Tierklinik sein würde, habe ich nun wirklich nicht gedacht. „Mou byouin de mendou wo mite kureru. Byouin da, byo-u-in.“ Sie betont Krankenhaus sehr deutlich, dass ich es nicht schon wieder mit Frisör verwechsele. „Uchi ni tsurete iku tte dame datta. Kainushi ja nai dakara ne.“ „Doko...?“, wiederhole ich meine Frage. Dass sie Makkachin nicht ohne meine Erlaubnis als Besitzer wieder mitnehmen durften, kann ich verstehen. Vermutlich aber auch, weil niemand die russisch-englische Veterinärbescheinigung lesen kann, falls die überhaupt jemand mitgenommen hat. „Daijoubu da yo“, wiederholt Hiroko mit Nachdruck, streichelt meinen Arm und so langsam glaube ich, dass ich mindestens so schlimm aussehe, wie ich mich fühle. Aber wenn ich schon nicht bei Yuuri sein kann, dann will ich wenigstens für Makkachin tun, was ich kann. Hiroko nimmt meine Hand und tätschelt sie verständnisvoll. „Ochitsuite, Vicchan. Yuuri ha Vicchan no sei de tsuyoku natte ita kara, Yuuri no koto wo shinjite.“ Ich nicke einfach nur. Yuuri... ich glaube ganz fest an dich. 21. November 2016, Yuutopia Katsuki, 6:36 Uhr Am nächsten Morgen sitze in aller Frühe im Gästeraum und verfolge eine Wiederholung der Kür im japanischen Fernsehen. Makkachin liegt auf meinem Schoß und grummelt genervt, weil ich immer noch keine Anstalten mache, mit ihm Gassi zu gehen. Er ist es nicht gewohnt, solange nach dem Aufstehen warten zu müssen. Gestern nach dem Abholen aus der Klinik war die Aufmerksamkeit von Herrchen noch das Beste überhaupt, aber mittlerweile stört es, die ganze Zeit von mir umarmt zu werden, nicht? Sobald die Wiederholung vorbei ist, gehen wir, Makkachin. Versprochen. Den Livestream heute Nacht um 2 Uhr habe ich komplett verschlafen. Obwohl ich den Wecker auf meinem Handy gestellt hatte, bin ich nicht wach geworden, so sehr hatte mich die Müdigkeit dahingerafft. Als ich nach dem Wachwerden sofort die Nachrichten aufrief, fiel mir ein Stein vom Herzen, dass die Überschriften den Finaleinzug verkündeten. Mit einem Blick auf das Endergebnis folgte die Ernüchterung jedoch auf dem Fuß. Es hat nur gerade so gereicht. Yuuri ist Vierter geworden, das Mindeste, was er für die Qualifikation erreichen musste. Einen kurzen Moment war ich in Versuchung, sofort nach einem Video von Yuuris Kür zu suchen. Gleichzeitig aber bekam ich Angst vor dem, was ich sehen könnte. 172,87 Punkte in der Kür, 282,84 Punkte insgesamt, also eine ähnliche Punktzahl wie in Peking vor drei Wochen. Ich könnte positiv argumentieren, dass Yuuri sein Niveau gehalten hat. Doch seine Verfassung in Peking war fürchterlich und damals wie jetzt war ich daran schuld. Außerdem darf man als Trainer nie nur die einzelne Performance bewerten. Zumindest, wenn es nach Yakov geht. Wenn man sich nur verbessern will, ist das ausreichend. Zum Gewinnen muss man aber alle im Blick haben, nicht nur sich selbst. Er hat damit natürlich vollkommen recht, aber ich würde lügen, wenn ich mir als Aktiver je genügend Gedanken darum gemacht hätte. Ich habe nur getan, wonach mir der Sinn stand, weil ich... Nein. Ohne den Gedanken an mich heranzulassen, beschloss ich, Yakovs Beispiel zu folgen und statt einem einzelnen Video im Internet nach einer kompletten Wiederholung im japanischen Fernsehen zu suchen. Yuuri ist nicht ich, ermahnte ich mich, während ich durch das Programm verschiedener Sender auf dem Handy klickte. Was ich mir leisten kann, ist meine Bürde. Das hat nichts mit Yuuri zu tun. Nachdem ich fündig geworden war, bin ich mich mit Makkachin in den Gästeraum gegangen und habe den Fernseher eingeschaltet. Die Kür des Tschechen habe ich verpasst und von dem Koreaner nur die Hälfte gesehen, aber sie haben sich beide nicht qualifiziert, also kann es hoffentlich egal sein. Mit gemischten Gefühlen beobachte ich jetzt, wie der Italiener beginnt, seine Kür zu laufen. In dem Nachrichtenartikel stand bereits, dass er fehlerfrei durch sein Programm kam. Er hat Yuuri in der Gesamtwertung um 0,05 Punkte überboten, aber letztendlich hat man Yuuri aufgrund seines zweiten Rangs in China fürs Finale nominiert. Mir fällt auch sofort auf, dass der Ausdruck deutlich stärker ist als im Kurzprogramm. Die Performance ist flüssiger und harmoniert besser mit dem Programminhalt. Ich kann sehen, wieso er seine Bestleistung um 20 Punkte überbieten konnte und wieso das Ergebnis so knapp war. Yuuri hat sicherlich getan, was er konnte, aber sein Retter war doch jemand anders. Der nächste Läufer hat auch seinen Teil zu Yuuris Weiterkommen beigetragen. Hätte sich Yurio nicht noch vor den Italiener geschoben, hätte es für Yuuri nicht mehr gereicht. Meine Anspannung wächst, nachdem die Kür zu Ende ist und Yurio zu Allegro Appassionata startet. Die Hexe hat sich Agape ohne jeden Zweifel ganz genau angeschaut und genüsslich in Einzelteile zerpflückt, bevor sie mit dieser Kür aufgefahren hat. Ihr Programm ist genau das, was Agape nicht ist. Es ist schneller, so wie Yurio es sich vorgestellt hat, anspruchsvoll in seinen Figuren und Bewegungen und stilistisch großes Kino, soll die Leidenschaft und das Brennen für die Ästhetik verkörpern. Ja. Aber es ist nur das, und Schönheit ist vergänglich. Yurio ist dafür zu jung und zu unerfahren. Ihm fehlt der Horizont, mit diesen gegenteiligen Programmen zu arbeiten. Deswegen kommt er trotz hoher technischer Ausführung nicht über JJ hinaus. Die Darstellung von Agape im Kurzprogramm schrie schon „Fickt euch“ und in diesem Programm schreit sie „Fickt euch alle“. Das kann so nicht angehen. Yurio läuft am Limit und kommt auf keinen grünen Zweig, weil die Hexe ihm keine Orientierung bietet. Sie lässt ihn völlig alleine mit sich kämpfen. Dann schwenken die Kameras zu Yuuri. Sofort drücke ich Makkachin fester an mich, versuche zu erkennen, welcher Ausdruck in seinem Gesicht liegt. Bis jetzt wirkte er weitgehend konzentriert, als ich ihn im Bild sah, aber sein Blick auf das Eis verrät mir, dass er zu tief in Gedanken steckt. Ohne es beabsichtigt zu haben, hallen seine Worte aus Peking in meinen Ohren wieder. Ich hätte ihn noch einmal anrufen und sagen müssen, dass alles in Ordnung ist, dass ich bei ihm bin... Dann beginnt er mit seiner Kür. Der Anfang sieht solide aus, es folgt die erste Kombinatio– Ich kann schon nicht mehr hinschauen und vergrabe mein Gesicht in Makkachins Fell. Ganz ruhig. Einfach statt zweifach. Es hätte schlimmer sein können... Ich hebe den Kopf wieder. Die Schritte und die Pirouette sind stabil... Dann der nächste Sprung und sofort drücke ich Makkachin wieder fester an mich. Hand auf beim Salchow. Yuuri...! Ich riskiere einen weiteren Blick. Beide Füße auf beim Rittberger. „Yuuri!“, entfährt es mir aufgebracht und Makkachin bellt vor Schreck. „Wie oft hab ich dir gesagt, du sollst nicht so viel denken, wenn du springst?!“ Angespannt verfolge ich die choreografische Sequenz. In diesem Teil ist die Musik ruhiger und die Elemente haben ihm nie Probleme gemacht... ja, gut. Ich atme auf. Der Axel ist sauber. Yuuris Lieblingssprung. Eigentlich ist der Axel für die meisten Läufer schwierig, aber er springt ihn mit unglaublicher Leichtigkeit. Der dreifache Flip ist ebenfalls gelungen und ich fange an zu lächeln. Er hat aufgehört zu denken, bewegt sich viel sicherer... Wo bist du gerade mit deinen Gefühlen, Yuuri? Aber eigentlich weiß ich es ganz genau. Wenn du so läuft, gibt es nichts, was mich glücklicher macht, als dir zuzusehen. „Makkachin, schau gut hin“, erkläre ich meinem Pudel und streichle seinen Kopf. „Yuuri möchte mit diesem Programm seine Liebe für diejenigen ausdrücken, die ihm wichtig sind. Nicht nur für mich, weil wir zusammen sind. Auch für seine Freunde. Seine Familie. Für alle, die ihn auch lieben und unterstützen.“ Makkachin legt den Kopf schief auf die Seite. „Und für dich auch, obwohl du böse warst und Manjuu gefressen hast!“, beteuere ich, lege meine Stirn auf Makkachins Kopf und wuschele durch sein Fell. Dann schauen wir wieder zum Fernseher. Den letzten Sprung schafft Yuuri jetzt auch noch. Oder auch nicht. „Yuuri!“, zetere ich seinem Fernsehbild zu, „Die Toeloop-Kombination vom Anfang am Schluss nochmal zu versuchen und wieder zu verhauen; darüber unterhalten wir uns noch! Dein Stehvermögen ist groß, aber nicht unendlich! Hat Yurio dich mit seinen Sprüngen angefuchst und du wolltest nachlegen, ja? Das ist nur recht, dass du da gerade fix und fertig auf dem Eis liegst! Von wegen, du schaffst das ohne mich!“ Ich will noch weiter meckern, aber halte inne, als ich sehe, wie Yuuri mit einem Reisklops- und Sushi-Plüschi bei Yakov an der Bande ankommt. Das Bild wirkt so befremdlich auf mich, dass ich glatt vergesse, was ich eigentlich noch sagen wollte. Mein Geliebter und mein Trainer gehen zusammen zur Punktevergabe. Dass ich so etwas mal sehen würde! Aber noch bevor die Punkte bekanntgegeben werden, muss ich furchtbar anfangen zu lachen. Yakov macht Yuuri ein Einlauf, genau so, wie ich gerade noch vorhatte und Yuuri scheint die Ohren komplett auf Durchzug zu stellen. Es ist, als würde ich mich selbst dort sitzen sehen. Yuuri hat ganz eindeutig von mir gelernt - nur irgendwie das Falsche (^-^); Dann wird das Ergebnis eingeblendet. Yuuri und Yakov sehen aus, als seien sie davon überrascht und ich muss zugeben, ich wäre wahrscheinlich auch überrascht gewesen, wenn ich dort gewesen wäre. Aber ich kenne das Ergebnis ja schon und sehe nur eine Wiederhol- ! Vor Schreck ziehe ich Makkachin reflexartig zu mir, als Yuuri Yakov umarmt. Jetzt bin ich doch überrascht. Yuuri...! ... Nur noch fünf Minuten kuscheln, Makkachin. Dann gehen wir Gassi. 22. November 2016, Yuutopia Katsuki, 13:59 Uhr „Tadaima.“ Ich horche auf. Auch Makkachin ist sofort auf den Beinen. Mari ist von ihrem Besuch bei einer Freundin zurück. Als Hiroko und ich mit Makkachin aus der Tierklinik zurückgekommen waren, hatte Mari schon auf das Auto gewartet, um zu einer Freundin fahren zu können. Wegen was wollte sie nicht sagen, aber Hiroko schien besagte Freundin zu kennen und ich war zu fertig, mich groß dafür zu interessieren. Doch mittlerweile hat die Sache einen fahlen Beigeschmack entwickelt. Dass Mari verwundert sein würde, mich zurück im Yuutopia zu sehen, war anzunehmen. Dass sie nicht mit mir reden wollen würde auch. Aber dass sie das Haus für zwei Tage gänzlich verlassen würde, ohne mir die Chance zu geben, mich bei ihr bedanken zu können, war mehr als seltsam. Dass überhaupt Manjuu aufgestellt wurden, erschien mir schon fragwürdig, wo alle hier wissen, dass Makkachin sie ohne zu zögern fressen würde. Um mich keiner voreiligen Schlussfolgerung hinzugeben, bat ich Hiroko, mir zu zeigen, wo sich die Manjuu befunden hatten. Zu meiner Verwunderung führte sie mich ins Elternschlafzimmer und deutete auf den Familienschrein. Dass überraschte mich doppelt, denn genau wegen dem Schrein darf Makkachin in dieses Zimmer eigentlich nicht hinein. Ich erfuhr weiter, dass Hiroko und Toshiya in dieser Nacht auch gar nicht zuhause waren. Wo sie stattdessen waren, musste ich bei Hirokos peinlich verlegenem Gesicht nicht mehr nachfragen. Wahrscheinlich hat die rege Aktivität von Yuuri und mir die Hormone der Eltern ebenfalls in Schwung gebracht und unbemerkt in ein Hotel zu verschwinden ist schwer, wenn das Haus voll ist. Es schien also eine gute Gelegenheit zu sein, dass Yuuri und ich aufgrund des Vorentscheids nicht da waren und folglich war das Elternzimmer in dieser Nacht nicht bezogen. Weil Yuuri bald Geburtstag habe, erklärte Hiroko weiter, wollte man den verstorbenen Vicchan daran teilhaben lassen und da Makkachin Manjuu so gerne möge, dachte man, Vicchan möge das vielleicht auch. Der Gedankengang hatte etwas sehr Fürsorgliches und Ehrbares für den kleinen Pudel an sich und im Grunde wäre dagegen auch nichts einzuwenden gewesen, wenn die Tür geschlossen geblieben wäre. Aber die pure Leichtsinnigkeit, die in diesen Umständen mitschwingt, macht es mir schwer, die Wahrheit zu akzeptieren. Und die Frage, was genau passiert ist, würde mir nur Mari beantworten können. Ich trete hinaus in den Eingangbereich und beobachte, wie sie ihre Jacke und die Schuhe auszieht. Makkachin bleibt ruhig neben mir sitzen, dann legt er sich auf den Boden. „O-kaeri“, sage ich. „Ich wollte mich noch bedanken, dass du dich um Makkachin gekümmert hast.“ „Keine Ursache.“ Es klingt freundlich, aber meine Worte sind steif, genauso wie ihre. Auf der einen Seite bin ich froh, dass sie Makkachin so schnell versorgt hat, auf der anderen unfassbar wütend, dass es überhaupt so weit kam. Aber es ist nicht nur wegen Makkachin. Ich bin wütend über die ganze Situation. Seit Yuuri und ich zusammen sind, hat sie kein Wort mehr mit uns gesprochen und dann ruft sie plötzlich an, obwohl bereits alles getan war, was getan werden konnte. Sie wusste, wie Yuuri auf diese Nachricht reagieren würde. „Kann ich mit dir reden?“, frage ich sie, und versuche den Sturm zu kontrollieren, der in meinem Innern tobt. „Du sprichst nicht wirklich mit mir, gehst mir vielmehr aus dem Weg, aber trotzdem kümmerst du dich um meinem Hund.“ „Das hätte jeder getan“, beschwichtigt sie, doch ihr Gesicht spiegelt nicht die lockere Gleichgültigkeit wie sonst wieder. Auch in ihr tobt ein Sturm, den sie nur mit Anstrengung für sich behalten kann. „Warum hast du angerufen?“ Ich kann mich nicht halten. Dabei bin ich am Meisten sauer auf mich selbst, dass ich Yuuri alleine gelassen habe. „Weil ich nicht wollte, dass der Hund verreckt?“ „Und was hätten wir tun können?“, greife ich sie an. „Yuuri stand mitten im Wettkampf! Meinst du, er rackert sich jeden Tag dafür ab, dass du ihn im ungünstigsten Moment anrufen und in ein Loch stürzen kannst?“ „Ich habe deine Nummer nicht?“, erwidert sie barsch. „Du hast ihn schon in Sochi angerufen.“ Es ist raus. Mit Sicherheit hat sie nicht damit gerechnet, dass ich es weiß. Wahrscheinlich bin ich der Einzige, der in Sochi von Yuuri erfahren hat, dass sein Hund gestorben ist. Mari steht da wie versteinert. „Yuuri ist von Vorwürfen fast aufgefressen worden. Er hat zu viel gegessen, ihm sind die Nerven durchgegangen. Nach dem Finale hat er sich betrunken, um den Kummer zu verdrängen und die Niederlage zu vergessen. Er hatte Träume!“ „Die hat jeder von uns und die meisten erfüllen sich nicht“, versucht sie mich abzuwimmeln. „Und deswegen ist es gerecht, die eines anderen zu zerstören, um sich selbst besser zu fühlen?!“ „Hör' auf!“ Mari steigen Tränen in die Augen, ihr Gesicht verzerrt sich, ihre Hände zittern. „Was willst du von mir?! Was denkst du eigentlich, wer du bist?! Du kommst einfach hierher, machst einen auf Trainer, nistest dich in unserer Familie ein, wirst die Schlampe meines Bruders und alle sind soooo glücklich, ich könnt kotzen!“ Ich halte den Atem an. Die ganze Fassade fällt gerade in sich zusammen, um der unschönen Wahrheit Platz zu machen. „Du hast keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man um alles kämpfen muss oder sich für alles rechtfertigen muss!“ „Meinst du?“, widerspreche ich. „Meinst du, ich stünde vollkommen ohne den geringsten Zweifel an meinem Leben hier? Ja?“ Ich warte einen Moment, ob sie reagiert, aber sie schweigt. Ich fahre fort: „Du beschwerst dich, dass ich hier bin, behandelst mich als Eindringling in deiner heilen Welt, die nur dann funktioniert, wenn du beweisen kannst, Macht über Yuuri zu haben, um dich selbst weniger schlecht zu fühlen, weil du selbst nichts auf die Reihe kriegst? Du träumst davon, irgendwelche Stars zu begeistern, die heimliche Geliebte zu werden und so zu Anerkennung zu gelangen, statt dir die Anerkennung selbst zu erarbeiten! Wenn dir dein Leben nicht passt, dann ändere es!“ „Und wie?!“, geht sie mich an. „Ich hab' kein Talent, für nichts; es kommt auch kein Prinz auf einem Pferd daher für jemanden wie mich; ich krieg' nicht mal 'nen anderen Job, wenn ich einen wollte!“ „Und ist das Yuuris Schuld? Oder meine? Denkst du, der ganze Eiskunstlauf ist nur Spaß? Weil wir nichts Besseres zu tun haben? Dein Bruder verdient sein Geld damit, das ist sein Job! Er ist mental nicht stabil und das weißt du, also warum rufst du ihn an?“ „SEI STILL!“ Hiroko steht mittlerweile auch bei uns. Sie versteht unser Englisch nicht, aber der Anblick ihrer Tochter muss ihr mehr sagen, als ihr lieb ist. Maris Gesicht ist zwischen ihren verkrampften Fingern vergraben, die Knöchel sind hervorgetreten und ihre Haltung gebückt, als könne sie sich gerade noch so auf den Beinen halten. „Was hätte ich denn tun sollen...?“, wimmert sie vor sich hin. „Was hätte ich denn tun sollen...?“ Sie hätte unzählige Möglichkeiten gehabt. Von Achtsamkeit über die Tür bis hin zu ihrem Verhalten am Telefon. Sie hätte Yuuri gar nichts sagen dürfen, sondern sofort nach mir verlangen sollen. Sie sah eine Gelegenheit, ihrem Bruder zu zeigen, dass sie auch wichtig ist. Wichtiger als der Wettkampf, wichtiger als die internationale Aufmerksamkeit oder wichtiger als ich. Ich kann sie in dieser Hinsicht sogar etwas verstehen. Wie es ist, wenn man etwas sein soll, das man nicht ist und darum kämpfen muss, gesehen zu werden. Was ich aber nicht verstehen kann und nie verstehen werde, ist dass man diesen Kampf zu gewinnen versucht, indem man anderen Steine in den Weg legt, statt sich selbst zu verändern. Aber letztendlich mache ich mir doch nur selbst etwas vor. Ich bin mit der Absicht, Yuuris Trainer zu sein, nach Hasetsu gekommen. Und jetzt? Bin ich „die Schlampe ihres Bruders“, rede und handele wie Yakov es tun würde, weil ich gescheitert bin und nicht mehr weiß, was ich noch tun kann. Oder wie ich es rechtfertigen sollte, weiter an Yuuris Seite bleiben zu können ohne Trainer zu sein, dass ich aus Wut über mich selbst Mari diesen hässlichen Spiegel vorgehalten habe. Hiroko kniet neben ihrer Tochter nieder, um sie zu beruhigen. Sie weint. Ich kann mit Situationen nicht umgehen, in denen jemand weint; erst recht nicht, wenn ich daran Schuld bin. Ich weiß dann nicht, wie ich mich verhalten soll, weil ich kein Mitleid empfinden kann. Hilflos schaue ich auf die Uhr. Es würde noch knapp zwei Stunden dauern, bis Yuuri in Fukuoka landet. Ich müsste am Flughafen warten, aber hier bleiben kann ich auch nicht. „Yuuri wo mukae ni itte kimasu“, sage ich kurzentschlossen, mache auf dem Absatz kehrt und noch bevor Hiroko mich davon abhalten kann, bin ich barfuß in die Schuhe geschlüpft, habe den Mantel übergeworfen und Makkachin folgt mir auf dem Weg zum Flughafen. Die Zugfahrt über bin ich völlig in meinen Gedanken verloren. Eine Weile lang betrachte ich meine Reflexion in der Glasscheibe und versuche etwas zu erkennen, dass mich nicht an die erste Zeit nach Sochi erinnert. Meine Haare sind durcheinander, meine Augen müde und meine Haltung schlaff; so wie damals, als ich Tag für Tag spät nachts nach Hause kam und in das gleiche, unglückselige Gesicht im Spiegel blickte. Ich wollte mich nicht mehr verlieben. Ich dachte, solange ich nur auf dem Eis bliebe, könnte mir alles andere egal sein. Solange ich für mich neue Stärke generieren könnte, wäre alles kein Problem. Aber die Einsamkeit ist ein furchtbarer Feind, den man nicht alleine zu bezwingen vermag. Aus meiner Einsamkeit wuchs Sehnsucht. Aus Sehnsucht entstand Hoffnung. Hoffnung, dass ich eines Tages jemanden finden könnte, der mich lieben könnte als der, der ich bin. Jemand, dem ich meine Welt nicht mehr erklären müsste, sondern der mir und ihr die Hand reichen würde. Mein Seelenverwandter. Weiß Gott, ich hätte es nicht geglaubt. Dass ich emotional so abhängig von Yuuri werden würde, dass ich mich kaum kontrollieren kann, wenn er nicht da ist. Dass Mari meine Zielscheibe würde... Ich bin ein fürchterlicher Mensch. Aber es wundert mich nicht, ich hatte die beste Lehrerin der Welt. Sie hat mir beigebracht, dass mir jedes Mittel recht sein muss, um mich zu verteidigen. Yuuri... Ich weiß nicht, was ich als Trainer für dich noch tun kann oder wer ich für dich sein soll. Müsste ich noch einmal entscheiden, wäre meine Antwort die deine: Nur Viktor. Nicht Lebende Legende, nicht Idol, nicht Trainer... Einfach nur Viktor. Aber ich habe auch Angst davor, sehr sogar. So starke Gefühle wie in den letzten Monaten habe ich noch nie empfunden und sie sind mir fremd. Ich weiß nicht, wie ich ihnen ohne den Rückhalt begegnen soll, den du mir gibst. Lass' mich nicht allein... Yuuri... „Yuuri...!“ Es ist nur ein tonloses, unterdrücktes Rufen nach dir, das über meine Lippen kriecht. Makkachins Pfoten liegen auf meinen Oberschenkeln, er sieht mich mitfühlend an, während ich alle Kraft, die mir bleibt, dazu aufbringen muss, die letzten drei Stationen bis zum Flughafen noch durchzuhalten, ohne den Schmerz heraus zu weinen. 22. November 2016, Fukuoka Airport, International Terminal, 16:08 Uhr Es kommen keine neuen Koffer mehr aufs Band und meine waren definitiv nicht dabei. Nur zwei einsame, schwarze Koffer drehen noch herrenlos ihre Runde und es scheint, als seien diese beiden Gepäckstücke mit meinen vertauscht worden. Der rote Koffer mit meinen persönlichen Sachen wäre irgendwie noch zu verschmerzen, aber dass der Weiße mit meinen Kostümen, den Schlittschuhen und allem, was ich zur Wettkampfteilnahme brauche, am anderen Ende der Welt gelandet sein könnte, will ich mir gar nicht ausmalen. Es ist mir auch noch nie passiert, dass meine Koffer nicht angekommen sind, dabei bin ich mir sicher, sie in Moskau korrekt aufgegeben zu haben. Die Tags kleben noch auf meinem Boarding Pass und mit einem unguten Gefühl trete ich an eines der beiden schwarzen Gepäckstücke heran, um zu lesen, für welchen Flughafen sie bestimmt waren. ICN-KIX. Flüchtig verspüre ich Erleichterung. Weil es so ungewöhnlich ist, kann ich das Ankunftskürzel sofort zuordnen. Ich habe es oft genug gelesen, wenn ich von Japan nach Detroit gestartet bin: Kansai International Airport, also Osaka. Es muss nichts heißen, aber wenn ich Glück habe, dann befinden sich meine Koffer trotz allem in Japan und ich hätte gute Chancen, sie schnell zurückzubekommen. Ich laufe noch eine letzte, ergebnislose Runde um das Gepäckband, dann gebe ich auf. Die Zollbeamten haben mich schon eine Weile beobachtet, aber sie sprechen mich nicht an, als ich zwischen den Passagieren einer Maschine aus Shanghai die Grenze passiere. Bevor ich nach Hasetsu fahren kann, muss ich zuerst noch den Verlust bei Korean Air melden, aber ich weiß gar nicht, wo ich die Schalter das letzte Mal gesehen habe. Es würde also länger dauern, bis ich zuhause ankommen würde. Meine Gedanken wandern zu Viktor, als ich durch die Schranke trete. Ich hatte vor, die erste Bahn zu nehmen, die ich bekommen könnte, dass ich so schnell wie nur möglich wieder bei ihm sein könnte. Es gibt so viel, dass ich ihm sagen will, was ich erzählen will... In meinem Augenwinkel erkenne ich etwas Braunes, das auf mich zustürmt und ich vernehme so etwas wie ein Bellen hinter Glasfront. Ist das etwa Makkachin? Ich sehe auf. Er ist es! Und Viktor! Da sitzt er, sieht zu mir und steht sofort auf. Er hat gar nicht gesagt, dass er zum Flughafen kommt! Hat er etwa gewartet, während ich eine Runde nach der anderen um das Gepäckband gelaufen bin? Sofort beginne ich zu rennen, er rennt mit mir. Er sieht so müde aus, so fertig... Als hätte er kein Auge zugetan...! Ich erreiche die Glastür, trippele nervös, weil sie zu langsam öffnet; er steht schon da mit ausgestreckten Armen und nur zwei Schritte weiter haben wir uns wieder. Mein geliebter Viktor... Endlich kann ich ihn wieder halten. Ich habe nicht damit gerechnet, aber jetzt wo er hier ist, hätte ich keine Sekunde länger warten können. Seine Wärme, sein Geruch... Ich bin wieder zuhause. Der einzige Ort, an dem ich wirklich sein will, ist bei ihm. „Yuuri,“ beginnt er und klingt so schwermütig, „ich habe nachgedacht, was ich als Trainer noch für dich tun kann...“ „Ich habe auch nachgedacht...“, gestehe ich. Ihn haben also die gleichen Gedanken beschäftigt... Es quält ihn, genauso wie mich. Halte noch etwas durch, Viktor. Ich werde dich beschützen; mit allem, was mir zur Verfügung steht. Ich verspreche es...! „Viktor,“ sage ich entschlossen, greife seine Schultern und sehe ihm direkt in die Augen, „bitte, darf ich noch um deine Hand anhalten, bis ich zurücktrete?“ Er steht völlig perplex da. Nach ein paar Sekunden verschwindet die Überraschung aus seinem Gesicht und er lächelt erleichtert, nimmt meine linke Hand und küsst mir den Ringfinger. Die Verlegenheit über meine plötzliche Frage lässt seine müden Augen wieder etwas leuchten, als er antwortet: „Das ist ja fast wie ein Antrag.“ …Ein bisschen, aber mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich trete einen Schritt heran, umarme ihn wieder, lege meine Hände auf seinen Rücken. Gerade fühlt er sich an, als sei er das zerbrechlichste Geschöpf auf dieser Welt. „Ich wünschte, du würdest nie zurücktreten“, flüstert er leise. Es sticht sofort in meiner Brust, Tränen schießen mir unvorbereitet in die Augen. Das geht nicht... und das weißt du, Viktor. Du darfst nicht sterben. „Wir gewinnen zusammen Gold beim Finale, ja...?“ Es geht nur noch um ein paar Wochen... Wenn der Grand Prix vorbei ist, bist du frei. 6 - Barcelona Christmas Market ------------------------------ 01. Dezember 2016, Hasetsu „Hm, Yuko, Nishigori?“ Verwundert sehe ich beide an, weil sie dastehen, als wollten sie unbedingt etwas loswerden. Ich versteh schon, dass es ungewöhnlich ist, dass ich mich in der Halle alleine fertigmache. Viktor ist noch zuhause und kümmert sich um unser Hotel und den Flug nach Barcelona und wartet nebenbei noch auf Cedex, weil sein Kostüm zu Stammi Vicino heute ankommen soll. „Wo ist deine bessere Hälfte?“, fragt Nishigori, streckt den Hals und sieht sich um, ob er Viktor nicht doch irgendwo erspähen kann. Yuko sieht mich weiterhin erwartungsvoll an. „Ok, was ist los?“, frage ich, denn ihr Verhalten ist sehr verdächtig. „Das wollten wir dich fragen“, lächelt Yuko etwas verlegen. „Nichts ist los, außer dass das Finale bevorsteht“, antworte ich irritiert. Und das ist eigentlich auch genug, wenn ich das mal so sagen darf. „Viktor“, erklärt sich Yuko. „Er wirkt unglaublich glücklich. Richtig zufrieden, ausgeglichen – kein Vergleich zu dem, als er hier angekommen war.“ „Und das könnt' man auch über dich sagen!“, pflichtet Nishigori bei und ich habe schon wieder einen Arm unsanft auf meiner Schulter liegen, „Letztes Jahr haste fast am Rad gedreht so kurz vorm Finale und im Moment biste die Ruhe selbst. Ist der Sex mit Viktor so gut?!“ „Nishigori!“, heule ich auf und er grinst so breit, wie er nur kann. Als ob das irgendwas mit meiner inneren Ruhe zu tun hätte! Ich bin ganz sicher nicht die Ruhe selbst! Vielleicht etwas entspannter. Aber wie entspannt, das geht ihn gar nichts an...! Er lässt mich los und ich bin froh, dass mein Schlüsselbein noch heil ist. „Wirste ihn fragen?“ „Eh, was?“ „Na, fragen! Weißte doch, fragen halt.“ Ich verstehe nur noch Bahnhof und wende mich hilfesuchend an Yuko. Sie lächelt weiter, aber die Verlegenheit nimmt zu. „Wir haben uns gefragt - weil ihr doch diese Exhibition plant - ob du vielleicht, naja, in Betracht ziehst, ihm einen Antrag zu machen?“ Mir stürzt das Gesicht fast ab. Bitte was zur Hölle geht mit den Beiden?! „Ihr seid noch nicht lange zusammen, das ist uns schon klar... Aber ihr wirkt so verliebt, so unglaublich mit euch im Reinen, als hättet ihr schon immer zusammengehört und das Programm… jetzt, wo ihr es zu zweit lauft, ist es schon so ein bisschen wie eine Hochzeit, oder?“, erklärt sich Yuko und wird dabei rot. Ich kann darauf gar nichts sagen. Das sind zu viele Dinge, die ich nicht unter einen Hut bringen kann. Im Grunde habe ich, mehr oder minder, bereits um seine Hand angehalten – aber nur als mein Trainer, dass er noch bei mir bleibt, bis ich zurücktrete. Viktor muss zurück aufs Eis. Dass er sich wieder erinnert, der Schneeflockentanz, dass er die Exhibition mitlaufen will, dass er wieder ein Ziel verfolgt... All das spricht dafür, dass er sich danach sehnt. Deswegen geht es überhaupt nicht, dass ich ihm eine solche Frage stelle, die übers Ziel hinausschießt, egal was ich gerne will...! Diese Frage kommt nicht in Frage, auf gar keinen Fall! Yuko wartet geduldig auf meine Antwort und ich überlege fieberhaft, was ich sagen sollte, als ich Viktor nach mir rufen höre. Sie und Nishigori fahren zusammen; er kommt zu uns in die Halle, alles bis auf das Cedexpaket landet auf dem Boden und ich werde sofort umarmt, weil wir uns furchtbar lange dreißig Minuten nicht gesehen haben. „Ich hab die Kostüme dabei!“, strahlt er und hält mir das Paket unter die Nase, „Los, mach's auf!“ „Moment mal, was heißt hier 'die Kostüme'?“ Ich bin sicher ich habe mich verhört. „Yuuri... Wenn schon, denn schon!“, schmollt er, als wäre das das Normalste der Welt. Ich hoffe einfach, das ist ein Witz. Es muss einfach ein Witz sein, alles andere könnte ich glaube ich nicht verkraften. Vorsichtig ziehe ich an der Lasche und auf den ersten Blick sehe ich Schwarz, Purpur und Blau. Blau. Viktors Kostüm hat kein Blau. Ich glaube, mein Herz bleibt stehen. Ungeschickt und mit einem Puls von weit über Normalwert greife ich in das Paket und ziehe den schwarzen Teil heraus, der von durchsichtiger Plastikfolie geschützt wird. „Das sind die Hosen und Oberteile“, kommentiert Viktor mit einem prüfenden Blick und nimmt mir sie mir ab, „Zwei Paar, oder? Ich hab meiner Schneiderin die Maße von deinen Kostümen gegeben, das sollte also passen.“ Oh Gott, nicht wirklich...?! Gedanklich mache ich mir sofort eine Notiz, dass ich Russisch lernen muss. Ich habe immer das Gefühl, dass er, wenn er mit irgendwem in Russland telefoniert, irgendwelche Sachen ausheckt und jetzt stehe ich da mit einem Paket, dessen Inhalt meine Knie in Wackelpudding verwandeln kann. Allein die Idee, für die blanke Möglichkeit, dass ich wirklich Gold gewinne, ein extra Kostüm zu ordern, überfordert mich völlig! Ich greife erneut in das Paket und halte Viktors Weltmeister-Jackett in Purpur und Rosa in der Hand. Der Stoff fühlt sich trotz Schutzfolie unfassbar leicht und geschmeidig an, aber die Schulteraufsätze sind doch schwerer, als ich dachte. Viktor schnappt es sich direkt aus meiner Hand. „Miss Piggy! Lange nicht gesehen!“ „Was?!“, platzt es aus mir heraus. Yuko und Nishigori sind sich auch unschlüssig, ob sie meinem Entsetzen folgen oder doch lieber lachen sollen. „Wieso nicht?“, fragt Viktor und schaut mich nahezu unschuldig an, „Yakov sagte das, als er das Kostüm zum ersten Mal gesehen hat. Er sagte, ich sähe aus wie Miss Piggy, weil es rosa ist. Ab dann hieß das Kostüm eben so. Ist kürzer als Stammi vicino, non te ne andare.“ Klar, warum nicht... Irgendwie bin ich ja froh, dass im Karton nichts Grünes ist, denn auf Kermit den Frosch hätte ich nicht direkt Lust. Viktor betrachtet weiter sein Jackett, erst von vorne, dann von hinten, dann legt er es über seinen Arm und sieht mich auffordernd an, endlich das letzte Kleidungsstück aus diesem Paket zu ziehen. Ich atme noch einmal tief durch, greife schließlich in den Karton und dann halte ich es in der Hand. „Der Wahnsinn, Yuuri, zieh‘ es an!“, brüllt mir Yuko sofort entgegen, während Nishigori so aussieht, als müsste er seinen Unterkiefer unter der Bank suchen gehen. Auch wenn ich es nur zusammengefaltet in Folie vor mir sehe, ich weiß gar nicht, was ich sagen könnte. Es ist Seins. In Blau. Royalblau dort, wo seines Purpur ist und Hellblau, wo er Rosa hat. Vor lauter Aufregung fummele ich ungeschickt an den Klebestreifen und dann fühle ich den Stoff mit meinen Fingern. Es hat die gleiche Leichte, die gleichen, goldenen Borten und die gleichen winzigen, aufgesetzten Kristalle. „Yuuri, steh nicht dumm rum, mach‘ endlich!“, drängt Yuko weiter, „Es ist perfekt, es ist Deins, genau Deins!“ „S-soll ich das jetzt einfach über mein Sweatshirt ziehen?“, frage ich unschlüssig, denn das würde diesem kleinen Wunder wohl kaum gerecht werden. „Ich habe Hemden zum Anprobieren mitgebracht. Ich will eine Idee davon bekommen, wie es zusammen wirkt“, erklärt Viktor und deutet auf den Rucksack, „Ich hatte Weiß dazu an, aber das sähe nicht gut aus wegen deinen Haaren. Der Kontrast wäre zu groß. Schwarz passt besser.“ Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll. Oder sagen könnte. „Gefällt es dir nicht?“, fragt er mich irritiert. „Viktor, ehrlich“, antworte ich, begleitet von unwirklichen Glücksgefühlen, die sich in meinem ganzen Körper breit machen, „Natürlich gefällt es mir. Wie sollte es mir nicht gefallen...!“ Er sieht mich skeptisch an und legt den Kopf schief. Wahrscheinlich wartet er darauf, dass er noch ein Küsschen als Bestätigung bekommt, dass ich die Wahrheit gesagt habe und ihn lieb habe. Er ist so ein Depp... Ich seufze. Es gibt jetzt kein Zurück mehr. Ich muss alles geben, den Flip meistern und Gold für ihn gewinnen. Nach allem was er getan hat, darf er am Ende nicht mit leeren Händen dastehen...! „Ihr werdet fantastisch aussehen, Yuuri“, sagt Yuko lächelnd, „Ich kann es kaum erwarten, euch beide laufen zu sehen!“ „Ganz ohne Frage“, grinst Nishigori. …Vielleicht gäbe es doch eine Möglichkeit. Ich hasse mich für meine dummen Ideen. Der Teufel soll mich holen, wenn ich das wirklich tun sollte. Barcelona Christmas Market, 7. Dezember 2016 Ich könnte mir in den Arsch beißen. Der Tag in Barcelona hat so gut angefangen und jetzt ist Viktor sauer wegen so vielen Dingen. Das Training am Morgen verlief ohne größere Probleme und Viktor hat meinem Vorschlag, auf ein Date zu gehen, ohne Verdacht zu schöpfen zugestimmt. Er ist da leicht zu durchschauen, denn was gibt es Besseres für ihn als meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit? Er hat Spaß daran, mich herumzuführen und es war wirklich gut gelaufen, vom Besichtigen der Sehenswürdigkeiten bis hin zum Paella essen im Restaurant und unserer kleinen Einkaufstour durch die Stadt. Aber dass er aber auf die Idee kommen würde, mir einen Anzug als Geburtstagsgeschenk kaufen zu wollen, obwohl mein Geburtstag schon mehr als eine Wochen her ist, war keinesfalls Teil dieses Plans gewesen. Abgesehen davon, dass mein Anzug gar nicht so schlimm ist, wie Viktor es behauptet, hat mich der Vorschlag völlig aus dem Konzept gebracht. Ich bin mir bewusst, dass ich sein Angebot nicht so vehement hätte ablehnen sollen, aber es hätte einfach zu viel Zeit gekostet. Einen Anzug kauft man nicht ein paar Minuten und das Wichtigste für heute fehlt mir immer noch, sodass ich stur geblieben bin und wir diskutiert haben, bis er schließlich missmutig aufgab. Viktor wollte sich gerade von mir seine Taschen geben lassen, als mir auffiel, dass zu allem Überfluss eine von seinen, nämlich die mit den karamellisierten, spanischen Mandeln, fehlte. Wir sind so schnell es geht zurück zu der Bank vor der Casa Batlló geeilt, aber wie man es in jedem Reiseführer für Barcelona lesen kann, hatte die Tasche längst Füße bekommen. Es war schon zu spät, um neue Mandeln zu kaufen und Viktor machte gute Miene zum bösen Spiel, aber an seinem Tonfall konnte ich hören, dass er überaus verstimmt war. Er wollte daraufhin zurück zum Hotel, lief aber an der ersten Metrostation einfach vorbei, ohne sie wahrzunehmen. Ich hielt es für besser, einfach nichts dazu zu sagen und ihm zu folgen, denn irgendwie schien es, als wäre jedes Wort eines zu viel. Wir hatten bereits das Gotische Viertel erreicht, als plötzlich etwas sehr Helles mein Interesse auf sich zog: Vor einer riesigen Kathedrale war ein Weihnachtsmarkt aufgebaut, mit vielen Ständen und Holzbuden, Girlanden und funkelnden Winterdekorationen. Die Lichter leuchteten warm und einladend, Menschen mit glücklichen Gesichtern kamen und gingen und der Geruch von süßen Churros und Zimt stieg in unsere Nasen. Auch Viktors Blick hing auf dem weihnachtlich-kitschigen Ambiente vor uns. Ich fasste mir ein Herz und fragte ihn in der Hoffnung, dass ein Gang über den Markt seine Laune etwas bessern würde und in Gedanken versunken stimmte er zu. Seit gut einer Viertelstunde laufen wir jetzt also schweigend nebeneinander zwischen den Ständen auf dem Markt entlang. Viktor trinkt hin und wieder einen kleinen Schluck von seinem Glühwein, den er sich gleich am ersten oder zweiten Stand gekauft hat. Sein Blick weicht meinem aus und er betrachtet viel mehr die Luft als irgendetwas anderes. Ich möchte gerne etwas zu ihm sagen, aber ich weiß nicht was. Meinen ursprünglichen Plan werde ich wohl nur noch durch eine Fügung des Schicksals umsetzen können, dabei war es mir so wichtig, dass dieser Tag ein schöner Tag für Viktor wird. Ich seufze, schaue mich weiter um. Wir sind schon an ein paar Händlern vorbeigekommen, die vielleicht etwas Ähnliches verkaufen könnten, wonach ich suche, aber es fühlt sich irgendwie nicht richtig an. Es soll für uns beide sein und ich will nichts übers Knie brechen. Vielleicht würde er auch noch etwas entdecken, das ihm gefällt und das ich auch bezahlen könnte, aber darauf sollte ich mich nicht verlassen. Es wäre auch nur die letzte Möglichkeit, wenn gar nichts anderes mehr ginge. Ihn zu entlassen, ohne dass ich etwas hätte, dass meine Dankbarkeit ausdrückt, will ich nicht riskieren... Ich seufze. Den Rest des Tages weiterhin mit missmutigem Schweigen zu zubringen, liegt allerdings genauso wenig in meiner Absicht. Ob ich ihn einfach fragen sollte? Es wäre allemal besser, als wortlos nebeneinander herzulaufen und nichts zu tun. Ich sollte lediglich versuchen, ihn so unauffällig wie möglich anzusprechen: „Viktor, du hast doch an Weihnachten Geburtstag, nicht?“ „Hm,“ sagt er, sieht etwas irritiert zu mir herüber und nimmt den Becher vor den Mund. „Wünscht du dir etwas?“ „In Russland feiert man den Geburtstag eigentlich nicht vor“, antwortet er knapp. „Und Weihnachten auch nicht.“ „Oh, verstehe...“, antworte ich und versuche, meine Enttäuschung zu verbergen. Damit ist wohl auch meine letzte Hoffnung gestorben, wenn nicht noch ein Wunder passiert. „Yuuri, willst du probieren?“ fragt er und hält mir den Becher hin. „Vor Wettkämpfen trinke ich nicht“, lehne ich freundlich, aber bestimmt ab. „Stimmt ja...“ murmelt er abwesend, aber seine Frage beruhigt mich. Wenn er teilen will, will er sich vertragen. Er ist nicht mehr böse. Vielleicht sollte ich doch nicht vorschnell aufgeben. Solange wir noch unterwegs sind, würde sich vielleicht noch eine Chance auftun. Es muss doch irgendwas geben, irgendetwas... Mein Blick fällt just in diesem Moment auf ein Geschäft abseits des Weihnachtsmarkts mit einer großen, blauen Markise und einer elegant geschwungenen, weißen Schrift. Kann es sein, das es das ist, was ich denke? Mein Herz schlägt schneller als mich meine Schritte dorthin tragen, um mich zu vergewissern, dass ich es wirklich das sein könnte, wonach ich gesucht habe. Und ich glaube, ich habe Recht! Oh Gott. Ich darf jetzt keine kalten Füße bekommen...! Es ist für uns. Für ihn, weil ich es ihm schuldig bin und für mich, dass ich das wahrmachen kann, was wir uns beide wünschen. „Viktor, lass uns hier reingehen!“ ------------------------------------------------------------ Huh? In den Laden da, Yuuri? Was willst du denn da, das ist doch ein Juwelier...? „Los, Viktor, komm'!“ Jetzt im Ernst? Du hast einen Juwelier gesucht...? Puh, Yuuri, du kommst auf Ideen. Ein Souvenir für deine Mutter? Für deine Schwester kann ich mir das kaum vorstellen. Außer Piercings trägt sie keinen Schmuck, schon gleich gar nicht in dieser Preiskategorie, außerdem sollte sie doch mittlerweile schon hier gelandet sein? Ich folge Yuuri in den Laden, aber beschließe, ihn einfach machen zu lassen. Er wird mich nicht brauchen. Aber irgendwie ist mir etwas komisch. Weil Yuuri komisch ist. Dass er überhaupt in die Stadt gehen wollte, war schon komisch. Mein Blick wandert ziellos durch den das Geschäft und bleibt doch wieder an Yuuri hängen. Er wirkt unglaublich nervös. Ich kann es sehen, ich kann es sogar fühlen. Und das macht mich jetzt auch nervös. „Können Sie mir die hier vorne einmal zeigen?“ „Das Paar hier vorne?“, fragt die Verkäuferin und wundere mich. Paar? Das Einzige was man in Paaren kauft, sind doch Ohrringe...? Aber für Hiroko? Trägt sie überhaupt welche? „Und die Größe, bitte?“ Größe? Ohrringe haben doch keine- ... Himmel! Es geht doch nicht etwa um...?! „Viktor, weißt du das?“ Yuuri... Das ist nicht dein Ernst? Ich glaube, ich vergesse mich... „Für dieses Modell haben wir verschiedene Größen hier, Siñor. Aber wenn Sie mögen, versuchen wir es einfach mal? Der Größere ist für Sie?“ Die Verkäuferin lächelt Yuuri freundlich an und ich will eigentlich nicht mehr zuhören, aber Yuuri schüttelt den Kopf, deutet auf mich und antwortet: „Nein, für ihn.“ Das darf doch nicht...! Meine Augen hängen wie gebannt an dem fest, was die Verkäuferin in einem kleinen Tuch zu mir trägt. Sie lächelt mich beinahe so an, als hätte sie Mitleid mit mir, dass mir das so unvorbereitet passiert. „Sie können mir Ihre Tasche geben.“ Ich stelle sie einfach ab. „Links oder rechts, Siñor?“ „Rechts“, höre ich Yuuri sagen. „Ihre rechte Hand, bitte. Und den Handschuh müssten Sie ausziehen.“ Ich bin völlig überfordert mit der Situation. Und traue mich nicht mal, weiter hinzusehen. Ich schließe fest die Augen, spüre die Finger der Verkäuferin an meiner Hand, das Tuch, dann... Das kommt zu plötzlich. Mir ist heiß, mir wird kalt... Yuuri! „Was meinen Sie?“ „Gut“, bestätigt er und ich petze die Augen noch fester zusammen. Die Angestellte nimmt mir das kleine Gewicht vom Finger, aber ich spüre es immer noch. Ich kann mich nicht rühren, mir ist so schlecht. Als wollte mir das Herz aus der Kehle springen und mich dabei ersticken. Am liebsten würde ich schreiend aus dem Geschäft rennen, aber mir fehlt es an Kraft, an Stimme, an allem. Der Drang ist da, aber er stürzt sofort ohne Halt eine Klippe hinunter und verhallt im Nichts. Vorsichtig sehe ich wieder zu Yuuri hinüber. Er steht vor dem Tresen, mit dem Rücken zu mir gewandt, dass ich nicht genau sehen kann was passiert. „Mit Karte. In Raten, bitte.“ Ich bin fassungslos. Sie packt alles in eine Schachtel. In eine Tüte. Yuuri, was tust du mir gerade an? Ich hab doch gesagt...nicht vor irgendwas... Du hörst mir nicht zu! „Viktor, los, komm mit!“ Er drückt mir meine Tasche wieder in die Hand, packt meinen Arm und zieht mich hinter sich her. Ich habe kein Gefühl mehr in den Beinen und laufe ihm durch das Getümmel des Weihnachtsmarkts hinterher, zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Obwohl meine Augen fest auf den gepflasterten Boden gerichtet sind, stolpere ich fast über eine Stufe. Ich wage nur einen kurzen Blick nach vorne. Heiliger Bimbam. Die Kathedrale?! Da willst du hin?! Yuuri, nein... das kann nicht, ich... Yuuri, wird das etwa... lieber Himmel... das... Ich glaube, der Glühwein kommt wieder hoch. „Yuuri, stopp!“ Ich kann nicht mehr. „Viktor?“ „Bleib‘ kurz... warte. Bitte...“ Meine Beine zittern, mein ganzer Körper zittert. „Alles in Ordnung bei dir, Viktor?“, fragt er, gerötete Wangen, aber sein Blick scheint so fest entschlossen. Ich atme tief durch. Herr im Himmel, wenn es so ist, lass es nicht enden. Yuuri... hast du das wirklich vor? „T-tut mir Leid, i-ich wollte nicht so zerren. Kommst du?“ Ich nicke. „Ja.“ Seine Hand findet schüchtern zu meiner, er lächelt verlegen und führt mich weniger hektisch die Stufen hinauf. Wollte er deswegen mit mir auf ein Date? Zu einem Stadtbummel und über den Weihnachtsmarkt? Um unbehelligt einen Juwelier suchen zu können? Yuuri, du bist einfach unglaublich... Sein Griff wird wieder fester, wahrscheinlich vor Nervosität. Du musst keine Angst haben... Vor dir würde ich niemals weglaufen, aber du schaffst mich gerade. Wir laufen den Gang entlang an einem singenden Chor vorbei, erklimmen einige Stufen am äußeren hinteren Rand und bleiben vor einem Gitter stehen. Yuuri stellt die Taschen auf die Seite, nimmt mir meine ebenfalls ab und öffnet ungeschickt die blaue Schachtel. Die kleinere Hälfte drückst er mir hastig in die Hand. „Tu' das noch kurz in deine Jackentasche“, erklärst du, aber mein Blick bleibt auf sein hochrotes Gesicht gerichtet. „G-gib mir deine rechte Hand, Viktor.“ …Yuuri. Ist das die Antwort auf den Sturm, der in dir tobt? Willst du es vorziehen, dass du dir sicher sein kannst, dass ich bei dir bleibe? Menschen, die sich in die Ecke drängt fühlen, sind zu höchst unerwarteten Handlungen fähig... Aber genau dann zeigt sich oft, was sie wirklich wollen und dass sie in der Lage sind, Grenzen zu überschreiten. Und du hebst gerade die Welt aus den Angeln, Yuuri. Diesmal schließe ich die Augen nicht. Der Handschuh verschwindet zum zweiten Mal für diesen Abend von meiner Hand. Ich höre Glocken läuten, sehe deine Hände, wie sie etwas Rundes und Goldenes an meinen Ringfinger stecken. „Ich möchte mich bedanken für das, was du alles für mich getan hast. M-mir ist nichts Passenderes eingefallen... Und ich will morgen mein Bestes geben können... dass wir, also... gibt es etwas... das du mir auf den Weg geben kannst...?“ Auf den Weg...? Oh Yuuri... „Gut,“ beginne ich, „dann verrate ich dir etwas, über das du gar nicht erst nachdenken musst.“ Und ich auch nicht. Ich nehme deine Hand und den zweiten Ring. „Ich möchte dich morgen so laufen sehen, wie du es am Meisten liebst.“ Mein geliebter Yuuri... Das ist die einzige Abkürzung zur Goldmedaille, die ich kenne. ------------------------------------------------------------ Für eine Weile sagen wir gar nichts. Unsere Blicke sind uns Antwort genug. Der Chor hat sein Lied beendet, man hört nur noch das Gemurmel der Menschen, die sich verabschieden oder jener, die die Kirche betreten. Die Glocken sind verstummt und in meinem Kopf ist absolute Stille eingekehrt. Ich fühle mich so unendlich befreit... aber Viktor beginnt zu kichern. „Was ist?“, frage ich angesäuert, weil er die schöne Stimmung kaputt macht. „Ich überlege nur“, sagt er und legt die Arme auf meine Schultern. „Was sind wir jetzt? Ein bisschen verlobt? Ein bisschen verhei-“ „Blödmann“, unterbreche ich ihn sofort, er fängt an zu lachen und drückt mich an sich, kuschelt und ich frage mich, ob wir abseits genug stehen, um nicht zu sehr aufzufallen. „Und jetzt, Yuuri? Küssen wir uns?“ Eh, was? Wir sind in einer Kirche! U-und das war kein Antrag gerade...! Gott, als ob ich ihn tatsächlich gefragt hätte, aber: „Ja.“ Mein Hirn ist so blöd. Oder die Liebe zu groß, ich bin mir nicht sicher, aber ich spüre seine Lippen schon auf meinen, wenn auch zaghaft, aber so sanft... „Verlobt?“ Ich könnt ihn klatschen, wenn er die Fragerei nicht lassen kann. „Ein bisschen.“ Und mein blödes Mundwerk auch, wenn ich es nicht halten kann. „Wow.“ Er schaut mich mit großen Augen an. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich ein bisschen verloben kann ohne es zu merken, weil ich nicht gefragt werde, ob ich heiraten will.“ „Viktor...!“, beschwere ich mich und nuschele betreten weiter: „Ich wollte etwas für uns, das uns zusammenhält...als Danke für deine Mühe...für mich als Glücksbringer, dass ich gewinnen kann...“ „Yuuri, ich versteh' dich doch“, flüstert er mir zu. „Du hast mich nur gerade auf eine ziemlich heftige Gefühlsachterbahn geschickt.“ „Das machst du schon mein halbes Leben lang...“ „Yuuri...“, haucht er mir zu, hält mich bei sich und ich erlaube mir, für diesen Moment die Welt um uns herum egal sein zu lassen und die Wärme zu spüren, die Verbundenheit, die Intimität... Alles, was er mir gegeben hat und was er mir bedeutet. Es ist mehr als ich verdient habe und ich fühle mich nicht imstande, auch nur einen Bruchteil davon je an ihn zurückgeben zu können. Jetzt, wo wir so kurz vor dem Ziel stehen, überkommt mich das merkwürdige Gefühl, dass die Suche, auf der wir uns befunden haben, schon längst ihr Ende gefunden hat... Alles hat sich verändert; für ihn, für mich. Unser Traum von Gold im Finale... Lieber Gott, wenn ich noch einmal einen Wunsch frei hätte, dann wäre er alles, was ich wollte. Am späten Abend bahnt sich eine kleine Sensation an: Auf dem Weg, ein Restaurant zum Abendessen zu finden, sind wir Minako-sensei und meiner Schwester vor die Füße gelaufen, die wiederum Yurio zusammen mit dem kasachischen Läufer Otabek Altin in einem Café erspäht haben. Überfallartig wurde von den Beiden beschlossen, dass ich Yurio und Otabek (den ich gar nicht kenne?!) fragen muss, ob sie mit uns zum Essen gehen wollen. Während ich also bei Yurio unheimlich viele Pluspunkte dafür gesammelt habe, seine Unterhaltung gestört zu haben, wurde Viktor von Minako-sensei gebeten, Chris auch anzurufen. Viktor zögerte, aber bevor Chris uns wieder in den Ohren liegen würde, dass ihm keiner Bescheid gesagt hat, habe ich auch ihm kontaktiert (warum nicht Viktor?!) und Phichit war zufällig auch in der Nähe, sodass wir uns nun zu acht in einem Tapas-Restaurant eingefunden haben. Wir sitzen unter einem kleinen Pavillon vor dem Restaurant und Minako-sensei und Mari können ihr Glück kaum fassen, neben ihren Herzbuben Chris und Yurio auch noch Phichit und Otabek Altin on top bei uns am Tisch zu haben. Ich hoffe einfach mal, dass ich meine Schuldigkeit in Sachen Vitamin B damit getan habe. Yurio scheint sich zwar noch nicht ganz sicher zu sein, wieso er überhaupt mitgegangen ist und Otabek zuckt nur mit den Schultern, aber solange keiner von beiden die Flucht ergreifen will, ist es wohl in Ordnung. Es sitzen also so gut wie alle Finalisten des Grand Prix zusammen an einem Tisch und essen gemeinsam zu Abend. Normalerweise gibt es das immer erst nach dem Wettkampf, nicht davor. „Ich weiß noch,“ sage ich, „letztes Jahr beim Bankett habe ich nur alleine in der Ecke gestanden. Und mit Viktor habe ich kein Wort gesprochen.“ Ich höre nur ein Pfffttt links neben mir und Viktor hat das Bier, das er trinken wollte, ins Glas zurück gespuckt. Er sieht entsetzt zu mir herüber und sagt: „Yuuri, du erinnert dich, oder?!“ „Eh?“ „Yuuri,“ beginnt Chris merkwürdig gelassen, „Du hast dich mit Champagner betrunken. Dich ausgezogen und vor allen getanzt. Jeder hat's gesehen.“ „HEEEE?!“, entfährt es mir. „Mann, das war ätzend,“ mault Yurio angewidert, „mich haste in die peinliche Nummer auch mit reingezogen, Dance Battle und so'n Scheiß.“ „Ein Dance Battle?! Gegen Yurio?!“ Das ist jetzt aber bitte ganz, ganz sicher nur ein schlechter Witz! „Mich auch. Aber beim Poledance“, ergänzt Chris, beinahe etwas verträumt. Ich glaube, ich will sterben! Habe ich mich wirklich so betrunken?! Wenn ich trinke, dann hab ich gar keine Kontrolle mehr über mich, so wie mein Vater, wie alle Männer auf Kyuushuu! Genau deswegen habe ich aufgehört zu trinken, weil es von Vater schon zu viele Fotos und Videos gibt, die kein Sohn von seinem Vater sehen will und jetzt erfahre ich, dass ich dasselbe gemacht habe? Oh bitte, lass es davon keine - „Ich hab noch Videos davon“, grinst Viktor dümmlich zu mir rüber und hält sein Handy hoch, während ich so entsetzt gar nicht von meinem Sitz hochschnellen, wie ich gerne möchte. Viktor hat Videos davon?! „Ich auch. Und'n Haufen Bilder“, ergänzt Chris und zeigt Phichit sein Handy, der das, was er sieht, sofort mit großen Augen kommentiert: „Boah, Yuuri, wie unanständig!“ Sofort stehen Minako-sensei und Mari mit einem hämischen Grinsen daneben: „Wir wollen auch mal schauen.“ Ich rede sofort dagegen und fuchtele wild vor Chris herum, um ihn davon abzuhalten, das Handy weiter an meine Schwester oder Minako-sansei zu reichen. Ich weiß zwar nicht, was ich da gemacht habe, aber das muss auch niemand mehr wissen, es wissen sowieso schon zu viele, scheint mir! Zu meiner Erleichterung lässt Chris tatsächlich das Handy sinken, fixiert mich aber stattdessen mit den Augen. Dann grinst er. „Was ist das eigentlich für'n Ring, ihr zwei?“ „Eh, was?“ Ich halte sofort inne, Chris grinst weiter als hätte er's geahnt und ich verdecke sofort meine rechte Hand mit der Linken. Viktor lehnt sich von Otabek wieder zurück und schaut ähnlich überrumpelt. „Ring? Seit wann das denn?“, fragt Minako-sensei beinahe enttäuscht darüber, dass sie mich nicht beim Poledance auf dem Handy zu sehen bekommt. Ich bin gerade echt unschlüssig, was weniger unangenehm wäre: Zu versuchen, die Ringe zu erklären oder mitanzusehen, wie weiter mir unbekannte Fotos von mir die Runde machen. Viktor scheint sich da einfacher entschieden zu können und zeigt seine rechte Hand nach dem ersten Schreckmoment unbefangen der ganzen Gruppe. „Wir haben denselben“, lässt er alle wissen und nur etwa eine Sekunde lang passiert nichts auf diese Ankündigung hin, dann rauscht Phichit von seinem Stuhl hoch und beginnt wie wild zu klatschen. „Wahnsinn, Glückwunsch zur Hochzeit!“, ruft er. WAS?! Hochzeit?! Ohne mir eine Pause zu gönnen, wendet er sich enthusiastisch an alle Restaurantgäste und verkündet: „Alle mal herhören! Mein bester Freund hat heute geheiratet!“ Alle Anwesenden sehen überrascht zu uns herüber und beginnen zu klatschen und Glückwünsche auszusprechen und ich glaube einfach nicht, dass das gerade passiert! „Leute, Moment mal, also das stimmt nicht!“, widerspreche ich aufgebracht und versuche, den Beifall aller Restaurantgäste irgendwie zu übertönen. „So war das nicht gedacht, das ist ein Geschenk, für Viktor!; ein Glücksbringer, für mich, das ist alles anders, das...!“ „Stimmt,“ ergänzt Viktor verschwörerisch und hebt demonstrativ die Hand mit dem Ring erneut. „Ist nur ein Verlobungsring. Geheiratet wird erst nach der Goldmedaille, nicht, Yuuri?“ „Vi-, Viktor!“, stammele ich schockiert. Ich hab ihn gar nicht gefragt, er kann doch nicht einfach sagen, wir heiraten, wenn ich gewinn – Moment. Ach so! Duet- „MAL HALBLANG!“, donnert plötzlich jemand mit der Lautstärke eines Megafons über alle Köpfe hinweg und es ist völlig unnötig danach zu fragen, zu wem die Stimme gehört. JJ und seine Freundin haben den Weg auch hierher gefunden. „Es ist ja wohl klar, dass ich nach dem Finale heiraten werde!“ „Genau,“ kichert Ms Beauty of the Universe, „JJ wird gewinnen und heiraten.“ „Also sorry, Leute, ich kann euch den Segen für die Hochzeit leider nicht geben.“ Es herrscht eisige Stille am Tisch. Die Frage, wie JJ hierher finden konnte, würde wahrscheinlich durch einen Blick auf einen thailändischen Twitteraccount beantwortet werden können, aber davon abgesehen und ungeachtet der Tatsache, dass wir hier nicht über eine echte Hochzeit geredet haben, verschlägt jedem dieser Kommentar die Sprache. Das Recht zu heiraten wird doch nicht mit Siegen in Wettkämpfen vergeben?! „Die Party ist dann wohl vorbei“, sagt Chris und spricht aus, was alle denken. Er steht vom Tisch auf und zieht seinen Geldbeutel aus der Gesäßtasche. „Lasst stecken, wir regeln das morgen.“ „Hä, was, aber wir sind doch gerade erst gekommen?!“, entgegnet JJ irritiert und erntet zum zweiten Mal unverständliche Blicke aus allen Gesichtern, während Chris den Tisch verlässt, um jemandem zu finden, der uns abkassieren kann. Jetzt sofort aufzubrechen erscheint mir doch etwas voreilig, aber das tut es auch nur solange, bis Viktor neben mir von seinem Platz ebenfalls aufgestanden ist und JJ anspricht: „Du hast keine Ahnung, wann das Maß voll ist.“ „Welches Maß?“ „Ich will dir eins gesagt haben und dass du mich überhaupt soweit bringst, das zu sagen, ist an sich schon eine Kunst. Bisher dachte ich, dass es nur eine Person gibt, die es schafft, mich derart auf die Palme zu bringen.“ „In jeder guten Beziehung gibt’s mal Streit, alles halb so wild“, beschwichtigt JJ, der sich schon wieder grandios in die Nesseln gesetzt hat. Viktor redet nicht von mir, aber JJ nimmt das offenbar an. „Erstens: Es ist eine fürchterliche Angewohnheit, sich anderen ungefragt aufzuzwingen. Zweitens: Wenn man trotzdem ungeladen irgendwo reinplatzen muss, wäre ein „Hallo“ vielleicht die klügere Variante auf sich aufmerksam zu machen, statt ein „Ihr heiratet aber nicht“ in die Runde zu werfen. Und drittens ist es überaus vermessen, überhaupt die Bedingung aufzustellen, dass jemand nicht heiraten darf, weil man selbst heiraten will. Wenn du nur dann bereit bist, deine Freundin zu heiraten, wenn du dir in deiner grenzenlosen Selbstverliebtheit bewiesen hast, der King zu sein, dann bedauere ich, dass sie überhaupt „Ja“ gesagt hat!“ „Ganz ruhig, Viktor!“, entgegnet JJ, als sei er ganz und gar Herr der Situation. „Ich dachte, das ist ein Scherz, also bleib locker.“ „Ein Scherz?“, knurrt Viktor und ich greife vorsichtshalber nach seinem Handgelenk, sonst springt er JJ noch an den Hals. „Der Ring, den deine Freundin trägt, ist also ein Scherz?“ „Natürlich nicht!“, verteidigt sich JJ, aber jetzt sieht man seinem Grinsen doch an, dass es nur seine Unsicherheit überspielen soll. Viktor zum Ausrasten zu bringen lag sicherlich nicht in seiner Absicht, genauso wenig wie die Nummer 2 auf der Abschussliste der lebenden Legende zu werden. „Wie also kommst du dann auf die Idee, dass-“ „Ich hab bezahlt, wir können gehen“, übertönt Chris Viktors letzten Satz und ich atme auf, dass wir wirklich gehen können. Würde Viktor die Beherrschung verlieren, wüsste ich nicht, wer ihn bändigen könnte. Viktor hat Kraft genug, mich durch die Gegend zu heben als wäre ich ein Kuscheltier. „Viktor...“, versuche ich es, lasse meine Hand zu seiner hinabgleiten und halte sie. „Hör‘ nicht hin.“ „Yuuri...!“ „Wirklich... E-es macht mir nicht aus, bitte.“ „Wie, Moment mal...!“ JJ sieht völlig verdattert zwischen Viktor und mir hin und her. „Ich hab‘ gedacht das in China sei’n PR-Gag gewesen!“ „Denk‘, was du willst“, serviert ihn Viktor mit einem vernichtenden Blick ab, aber er greift meine Hand fester. Wir halten Händchen, ohne Handschuhe oder sonst irgendeinen Stoff dazwischen. Und das kann JJ sehen. „Was ist, habt ihr's bald?“, beschwert sich Yurio, der schon längst mit Otabek fertig zum Gehen dasteht. „Wir haben alles“, sagen Mari und Minako-sensei unisono, Phichit geht Chris hinterher und ich ziehe an Viktors Hand, um ihn von JJ loszureißen. Schließlich wendet auch er sich ab und mit der nüchternden Bemerkung, dass wir sowieso alle früh schlafen sollten, verlassen wir geschlossen das Restaurant. Der Kanadier und seine Freundin stehen immer noch genauso da, wie sie gekommen sind und verstehen die Welt nicht mehr. „Momentchen, das war doch wirklich nur ein Witz!“, ruft er uns noch hinterher, aber vorbei ist vorbei. Ohne ein weiteres Wort laufen wir zur U-Bahn L4 und fahren zurück zur Station Le Maresme an unserem Hotel. 7 - On Love: Agape ------------------ „Yuri, wie lange willst du noch auf den Mülleimer eintreten?“, fragt Otabek. „‘N Scheiß muss ich!“, rufe ich und trete nochmal gegen das Metall. „Diese Bastarde, was denken die sich überhaupt?!“ „Ich weiß nicht, was du meinst.“ „Viktor wüsste doch gar nicht, dass Katsudon existiert, wenn ich mir das Finale vor 'nem Jahr nicht angeschaut hätte!“ Ich kann mich nicht abregen, jetzt wo sie alle in der U-Bahn verschwunden sind. Warum sollte ich auch, diese Schweine! „Hat gepennt, wie immer! Dann fünf Minuten raus, Hier, schaut her, ich bin der Beste!, alle fallen auf die Knie und das war's!“ „Ich versteh dein Problem nicht.“ „Ich habe Katsudon gefunden!“, rechtfertige ich mich ihm gegenüber. „Und Viktor hat nichts Besseres zu tun, als ihn für sich haben zu wollen!“ Otabek sieht mich fragend an. „Woran machst du fest, dass er-“ „Am Arsch, das merkt man doch!“, platzt es wütend aus mir heraus. „Yakov denkt immer noch, es weiß keiner, aber wie blind muss man sein, um nicht zu checken, dass Viktor schwul ist?! Im Team haben sie 'ne Wette laufen, wer als Erstes unter die Haube kommt und Viktor als Letzter und dreimal darfste raten, warum!“ „Dann ist er jetzt wohl doch der Erste.“ Ich trete noch einmal mit voller Wucht gegen den Mülleimer.  „Das ist die mieseste Nummer überhaupt!“ „Warum?“  „Kannst du auch was anderes als dumme Fragen stellen?!“, motze ich Otabek an. Er lehnt immer noch unbeeindruckt an seinem Motorrad. Die ganze verdammte Zeit hat sich sein Gesichtsausdruck kein bisschen verändert. Er bringt mich auf die Palme! „Sie haben sich verlobt, was ist so schlimm daran?“ „Katsudon soll sich gefälligst auf den Wettkampf konzentrieren!“ „Der Japaner scheint dir wichtig zu sein.“ „Damit ich ihn in den Boden stampfen kann, ich hab noch 'ne Rechnung offen!“ „Yuri,“ beginnt Otabek und sieht in meine Richtung, um direkten Blickkontakt aufzunehmen, „ich glaube, du verwechselst da viele Dinge. Ich kann nicht behaupten, dass Viktor Nikiforov mich übermäßig interessieren würde; weder als Mensch, noch als Konkurrent. Aber er hat jemanden gefunden, der ihn heiraten will und den er auch heiraten will. Das hat doch nichts mit dir zu tun.“ „Hältst du mir 'ne Moralpredigt?!“ „Nein. Aber vielleicht hast du Lust, übermorgen mit einem Freund die Stadt anzuschauen?“ „...Wie, du meinst, mit dir?“ „Willst du oder-“ „Ich will, Mann“, falle ich ihm ins Wort. „Die Zeile hast du drauf, was?“ Er grinst.  „Fahren wir wieder mit dem Motorrad?“ „Ich hab‘s noch vier Tage gemietet.“ „Geiler Scheiß, Mann.“ Otabek und ich sind den direkten Weg an der Küste entlang zurück zum Hotel gefahren. Von den anderen Vollpfosten, die mit der U-Bahn gefahren sind, war keiner mehr zu sehen als wir ankamen, weder Katsudon und Viktor, noch der Schweizer oder der Thailänder. In meinem Zimmer falle ich aufs Bett, ohne Schuhe und Jacke auszuziehen. Es dreht sich immer noch alles in meinem Kopf. Und warum zur Hölle fühl' ich mich so, als müsst ich gleich heulen? Nicht wegen den Idioten, die nur noch auf sich selbst schauen, weil sie von Wolke Sieben nicht mehr runter kommen?! Meine Fresse, dann sind sie halt wirklich ein Paar. Einmal Tröte blasen und Konfettiregen. Muss man deswegen gleich heiraten wollen? Hat Viktor Schiss, dass ihm Katsudon auch gleich wegrennt wie dieser andere Typ? Torschließpanik, oder was?! Ich rolle vom Bauch auf den Rücken und starre an die Decke. Langsam macht sich ein anderer Gedanke in mir breit und er passt mir nicht. War das etwa Katsudons genialer Plan, den er in Moskau angekündigt hat? Gold gewinnen und dann heiraten, weil Viktor ohne das Eis stirbt? Ist der etwa so bescheuert und glaubt das? Kein Kleinkind stirbt, wenn man ihm den Schnuller klaut! Es plärrt solange, bis es keine Kraft mehr hat oder einen Neuen bekommt. Aber wenn Katsudon an dieser bescheuerten Idee festhält, dann muss er Viktor zurück aufs Eis bringen. Dann geht es nicht, dass Viktor weiter der Trainer von Katsudon bleibt. Das heißt dann, er müsste... Mann, ey, ich will nicht heulen, warum hört das scheiß Gefühl nicht auf?! Ich steh schon wieder wie der letzte Vollidiot da! Ich reiß mir den Arsch auf, Katsudon auseinander zu nehmen und Viktor in sein Versprechen zu zwingen und dann sowas! Und Otabek will mir erklären, das hat nix mit mir zu tun? Es hat verdammt was mit mir zu tun! Wenn Katsudon aufhört und Viktor wieder läuft, dann ist das Einzige, was mir verdammt nochmal bleibt, dieses beknackte Agape-Programm, mit dem ich nicht klarkomme! Ich denke an Opa, die ganze Zeit und es hilft nichts! „Das ist so ein Gefühl“, der hat doch nimmer alle Tassen im Schrank! Ich kann den beschissenen Wiki-Eintrag auswendig hoch und runter beten und da steht nix von irgendeinem Gefühl! „Was soll Agape sein, Viktor, he?!“, rufe ich wütend in mein Hotelzimmer. Es kommt keine Antwort. Meine Gedanken füllen sich mit Erinnerungen an Opa und ich umklammere mein Kissen, als die verfickten Tränen doch kommen. Ich versuche, mir seine Stimme, sein Gesicht, den Geschmack der Piroszki ins Gedächtnis zu rufen, um mich zu beruhigen... Nur er war immer für mich da... Wegen ihm habe ich überhaupt mit dem professionellen Eiskunstlaufen angefangen... Wollte ihn entlasten. Dass er stolz sein kann. Er hat immer alles für uns gemacht. Ist mit mir zum Training gegangen. Hat gekocht, wenn Ma gearbeitet hat. Hat Pa mit der Wohnung geholfen. Hat weniger Bier getrunken, dass ich ein bisschen Taschengeld haben kann, weil die dumme Schwester mir ständig alles abgenommen hat. Und jetzt? Morgen ist meine große Chance, aber ich lieg auf dem Bett und flenne, weil Katsudon und Viktor sich nur noch für sich selbst interessieren! Ich bin ein Kämpfer verdammt, ich habe immer gekämpft! Um alles... Aufmerksamkeit, Anerkennung, gesehen werden...! Ihr seid doch alle…miese Verräter...! Grand Prix Finale, Barcelona. 8. Dezember 2016 Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, bin aber in aller Herrgottsfrühe wieder aufgewacht. Ich krieg 'n Anfall, ich hab nicht mal fest geschlafen. Und noch irgend'nen Rotz dazu geträumt, ich fühl mich wie ausgekotzt. Ich fische mein Handy unter dem Kissen hervor. 8:12 Uhr und eine Million Nachrichten von Yakov, wo ich zur Hölle bin und was das mit diesen Ringen bei Viktor und Katsudon soll. Angepisst schmeiße ich das Handy in den Koffer. Gibt's auch noch ein anderes Thema?! Soll er Viktor halt selbst fragen, der wird’s ja wohl am besten wissen! Für einige Sekunden lasse ich das Handy angenervt im Koffer liegen, dann schnappe ich es mir wieder und schaue alle Nachrichten durch, ob Otabek geschrieben hat. Ich sitze im Schneidersitz auf dem Bett während ich durch den Verlauf scrolle. Nichts, aber was hätte er auch schreiben sollen? Es ist ja alles abgemacht. Trotzdem starre ich auf den Eintrag im Adressbuch. Otabek Altin. Es ist der erste Eintrag, der rein gar nichts mit Verpflichtungen zu tun hat. Er ist da, weil er mir seine Nummer gegeben hat. Und ich ihm meine. Freiwillig. Dann scrolle ich noch etwas nach unten. Viktor Nikiforov, aber die Nummer fehlt. Den Eintrag hatte ich nach der Junior-WM in Helsinki angelegt. Ich wollte bei ihm vorbeischauen, so wie er's versprochen hat. Aber Yakov ist fast an die Decke gegangen, als ich nach der Adresse fragte. Nicht mal im Traum solle ich daran denken. Viktor brauche Erholung und habe Urlaub. Drei Wochen lang. Also hab ich gewartet und plötzlich les' ich, dass er zu dem fetten Schwein abgerückt ist. Wegen diesem bescheuerten „Be my coach~“! Ich hab noch alle Bilder gespeichert. Alle Bilder, die er von diesem peinlichen Bankett gemacht hat. Das eigene Handy konnte Viktor ja nicht benutzen. Ich hab's erst mitbekommen, als er selbst zum Tanzen antrat und ich schon diesen ganzen Shit von dem Schweizer inklusive Nummer aufm Handy hatte. Ich wollte Viktor die Bilder von ihm und Katsudon irgendwann als Retourkutsche für den ganzen Scheiß unter die Nase reiben. Und jetzt ist eh alles für'n Arsch... Ohne weiter nachzudenken, lösche ich den Eintrag. Eine Weile starre ich den verschwundenen Buchstaben noch nach. Dann stehe ich lustlos auf und gehe zum Fenster. Als ich die Vorhänge zurückziehe, sehe ich wie es dämmert und das Licht im Wasser glänzt. Es erinnert mich an Hasetsu. In St. Petersburg liegt das Meer im Westen, man sieht also immer nur den Sonnenuntergang. Aber in Hasetsu liegt an der Nordküste. Dort konnte man den Sonnenaufgang über dem Wasser sehen... Meine Laune ist eh beschissen, also kann's auch net schlimmer werden. Ich ziehe mich an und gehe nach draußen in Richtung Strand. Sieht keiner und ich will auch niemanden sehen. Aber dann steht er da. Er. Von allen Personen, die dort stehen könnten. Steht da und streckt die Hand nach der Sonne aus. Die Hand, an der seit gestern der Ring von Katsudon steckt. Verlobung. Heiraten. Es kotzt mich an, wie er da steht, zufrieden mit seiner Welt, wenn er alles um ihn herum in Schutt und Asche gelegt hat. Er hat die Hölle aus Yakov rausgeholt, weil er nicht vom Eis weg wollte. Angeblich lieber sterben ginge. Und jetzt? Hat er das Eis vergessen. Yakov vergessen, mich und ganz Russland. Für ein Leben mit dem Schwein. Er ist tot. So was von tot! Diese Verlobung ist verdammt noch mal schlechter Witz! Er wird den Mülleimer von gestern Abend gleich beneiden! Verräter! Verräter, Verräter, Verräter! Auf seinem Rücken prangen meine Schuhabdrücke. „Viktor Nikiforov ist tot!“, rufe ich herablassend. Er dreht sich langsam um, das Gesicht vom Gegenlicht verdunkelt und ohne Regung. „Warum gibste dich damit zufrieden, das Schwein hüten zu können? Macht das so glücklich?“ Er macht einen Schritt auf mich zu, beugt sich vor und grinst anmaßend. „Wolltest du etwa gegen mich antreten?“ „Bild' dir ja nix ein“, antworte ich im gleichen Tonfall wie zuvor. „Nicht alle Läufer schauen zu Viktor Nikiforov auf. Mach' die Biege und verreck', Alter.“ Ohne Vorwarnung packt er mich im Gesicht, der Wind peitscht zwischen uns hindurch. „Der Ring von dem Schwein ist nicht mehr als wertloses Zeug“, provoziere ich ihn. In den Augen spiegelt sich kalte Wut, die Hand zittert, der Griff wird immer fester. „Ich werde gewinnen; und dir beweisen, dass sein Besitzer genauso wertlos ist.“ Alter, will der mir den Kiefer brechen?! „Lass los!“ In einem Anflug von Panik und schlage seine Hand weg. Was soll der Dreck, hat er sie noch alle?! Viktor steht ungerührt da und starrt mich mit leeren Augen an. Erst als ein Hund bellt, dreht er sich langsam wieder in Richtung Sonne. Sagen kann er offenbar auch nichts mehr. Was soll er auch sagen. Er hat uns alle verraten und das weiß er. Ich beobachte ihn noch einen Moment, dann wende ich mich ab. Er wollte es so. Nach ein paar Schritten bleibe ich aber nochmal stehen. „Es erinnert an das Meer in Hasetsu, hier“, rufe ich ihm zu. Auf die Entfernung sehe ich, dass die Gesichtszüge allmählich wieder auftauen. „Das dachte ich auch“, antwortet er. Bis zum Wettkampf am Abend hatte ich den ganzen Scheiß fast komplett vergessen. Aber mit dem Betreten der Eishalle hab ich alles wieder omnipräsent vor Augen. Die bescheuerten Ringe von Viktor und Katsudon gehen in den Bildern hoch und runter, weil die Idioten vercheckt haben, sie links zu tragen statt rechts. Jeder Depp denkt, die hätten geheiratet. Dabei gäb es nur halb so viel Geschiss, wenn der Alte die verfickten Handschuhe angelassen hätte. Laut Yakov soll’s jetzt kein Verlobungsring mehr sein, sondern nur noch ein Paarring. Viktor und Katsudon schmieren der Presse Honig ums Maul und bezeichnen die Ringe als alles Mögliche; Zeichen der Verbundenheit, Glücksbringer, angeblich weil Katsudon abergläubisch ist, und was ihnen sonst noch einfällt. Da blickt doch keine Sau mehr durch, was stimmt. So werden ihnen die Ringe gar nichts nutzen, wenn die sich selbst nicht mal einig sind, was sie bedeuten sollen. Katsudon ist als Erster mit seinem Kurzprogramm dran. Er bleibt nach dem Aufwärmen auf dem Eis, während ich mit Lilia und Yakov wieder nach hinten gehe. Viktor hat seit heute morgen nicht mehr auf mich reagiert und tut so als wär ich nicht da. Bitte. Soll er halt all seine Hoffnungen in den Loser stecken. Man kann Katsudon ansehen, dass er nur noch auf den Flip konzentriert ist. Er will die Punkte, dabei hat er's beim Training gestern morgen grad zweimal geschafft, nicht auf dem Arsch aufzusetzen. Vollidiot. Ich brauch’ da nicht mehr hinzuschauen, gleich hocken sie zu zweit aufm Klo und flennen. Aber dann muss ich wenigstens nicht mehr den Seelendoktor spielen. Ich muss verdammt nochmal endlich anfangen, mich auf Agape zu konzentrieren. Seit ich gestern Abend die Frage nach Viktors Agape in mein Zimmer gerufen habe, krieg ich es noch weniger auf die Reihe als vorher. Ich versuche an Opa zu denken, aber jedes Mal, wenn ich das Gefühl abrufen will, verschwindet es. Stattdessen überkommt ein anderes, mit dem ich nix anzufangen weiß. Ich kann nicht mal Opas Gesicht richtig vor mir erkennen! Wenn das so weiter geht, komm ich gar nicht mehr in Agape rein und es nervt tierisch. Ich will dieses Finale gewinnen, egal was dazu nötig ist! Ich beobachte, wie Yakov kurz weggeht, um sich mit dem Trainer vom Schweizer Käse zu unterhalten. Zu Lilia sagt er nix, wahrscheinlich geht’s um Viktor. Seit der Sache mit dem Köter gibt’s bei Yakov in jeder freien Minute nur noch ein Thema und das ist Viktor, Viktor und nochmal Viktor. Jeder von uns merkt, dass er am Liebsten hätte, wenn Viktor wieder zurück nach St. Petersburg käme und er ihm den Arsch pudern könnte. Lilia kann's auch schon nicht mehr hören, Viktor ist ja noch nicht mal mit ihm verwandt oder sonst was! Ohne es zu wollen, steigt schon wieder dieses Gefühl in mir auf. Und wieder keine Antwort. Ich hab keine Ahnung, was der Mist soll. Aber wenn ich die verdammte Frage schon nicht aus meinem Kopf bekomme, kann ich sie auch aussprechen: „Lilia,“ setze ich an, „was ist Agape?“ Sie schaut mich irritiert an, dann antwortet sie: „Agape hat viele Facetten. Die Liebe und Zuneigung deines Großvaters ist eine davon. Damit bist du bisher immer das Programm gelaufen.“ „Und was noch?“, bohre ich weiter. „Was ist Viktors Agape?“ Wenn ich an JJ vorbei will, muss ich eine andere Agape finden. Eine, die stärker ist! Lilias Augen verengen sich zu Schlitzen und sie schürzt die Lippen. Sofort springe ich von meinem Stuhl auf. „Du weißt es?!“, rufe ich entgeistert. „Warum hast du nie was gesagt?!“ „Weil ich ihm nicht vergeben kann“, sagt sie, sichtlich angewidert. Ihre Augen wandern zu Yakov, um zu checken, dass er uns nicht hört. Ich werfe einen kurzen Blick auf die Übertragung. Der Thailänder fängt schon an zu laufen, sie soll hin machen! Dann redet sie im gleichen Ton weiter: „Yakov hat dieses schneeweiße Kind, das ohne Mutter und ohne Vater nach St. Petersburg kam, angefangen zu lieben wie sein eigenes. Mich hat es abgelehnt, vom ersten Moment an, als ich in diese Augen blicke. Stattdessen wandte es sich dieser Schneiderin Praslova zu. Diese Demütigung werde ich niemals vergeben können.“ „Dann ist Yakov Viktors Agape?!“, dränge ich. „Yakov würde ihm alles vergeben. Er liebt ihn wie einen Sohn.“ „Wie einen Sohn...?“, wiederhole ich, aber die Antwort schmeckt mir nicht. „Was soll das, da ist kein Unterschied zu meinem Opa!“ „Eros und Agape,“ spricht Lilia unbeeindruckt weiter, „Sünde und Vergebung. Sexuelle Lust führt zu Sünde, göttliche Liebe verspricht Vergebung.“ Was zur...?! „Euer Gott ist vom Eis geflohen, um Mensch zu sein. Er will geliebt werden, aber er weiß, dass man ihn dafür verurteilt. Agape ist seine Bitte um Vergebung bei all jenen, die ihn als einen Sünder betrachten.“ Verurteilt...? Als Sünder...? Der Alte meint doch nicht etwa...?! Agape Christi, schießt es wie von selbst durch meinen Kopf. Von den Massen ans Kreuz geschlagen; dem Vater ergeben bis in den Tod, bat er um Vergebung für all jene, die nicht wussten, was sie taten. Agape heißt also nicht nur selbstlos zu lieben... Sondern zu vergeben?! „Woher weißt du das alles?!“, greife ich sie haltlos an, weil ich gerade auf null auf den Shit klarkomme. Sie hätte damit früher rausrücken sollen und nicht kurz vor knapp! Das ist 'ne Nummer zu hoch für mich! „Odette“, antwortet sie tonlos und deutet auf mein Kostüm. „Die Menschlichkeit hat Nikiforov schon vor Jahren fasziniert. Mir war alles klar ab dem Moment, als ich das Kostüm der Schwanenprinzessin wiedersah.“ Lilia steht auf und wechselt in einen sanfterem Ton: „Du brauchst ihn nicht, Yuri Plisetsky. Denk' an deinen Großvater. An diejenigen, die dir geholfen haben, so weit zu kommen. Ihre Liebe ist es, die dich wachsen und leuchten lässt. Du hast auch ohne Viktor Nikiforov alles, was du zum Gewinnen brauchst.“ Ich weiß gar nicht, was ich denken soll. Vor mir läuft ein Film wie im Zeitraffer ab. Von dem Moment an, als ich in Hasetsu ankam. Viktor, Katsudon, das Training, Yuko, Opa, der Wettkampf, die Niederlage, die Rückkehr nach Russland. „Es liegt an dir, ob du mit diesem Programm gewinnst oder nicht.“ Er hat mir Agape nicht einfach so zugeteilt... er wusste ganz genau, warum. In Gedanken folge ich Lilia und Yakov zurück in die Halle, werfe einen Blick nach links und da hocken die zwei verknallten Idioten im Kiss & Cry, als hätten sie Exklusivtickets dafür gebucht. Die kriegen doch echt nix mehr mit. Mit voller Wucht trete ich dagegen. „Sag ma', wie lange wollt ihr da noch dumm hocken bleiben?!“, motze ich sie an. „Y-Yurio...“, jammert Katsudon. „Davai~“ D: Tz, ich hab's kapiert, Alter. Hat lange gedauert, aber ich hab's kapiert. Du lässt mich vor, um mit Katsudon glücklich sein zu können? Ist das deine Art, dein Versprechen doch noch zu halten? So viel Scharfsinn traut man dir sonst gar nicht zu... Verdammtes Genie. An der Bande richtet Lilia meine Haare noch ein letztes Mal, dann fahre ich auf Eis. Diesmal werde ich JJ und Katsudon sowas von in den Arsch treten. Großvater. Agape. Das Gefühl drängt wieder nach oben, aber ich lasse es gewähren. „Next on the ice, representing Russia – Yuri Plisetsky!“ Viktor, ich vergebe dir. -----[On love: Agape]----- Die Reporter und ich schauen wie gebannt auf Yurios Vorstellung Agape. Es ist nicht nur seine Technik beim Springen, die diesmal anders ist. Die Performance lässt einem überall Gänsehaut sprießen. Nur vage realisiere ich, dass Viktor nicht mehr da ist. Er war gerade noch hier? Ist er in die Halle gelaufen, um Yurio live und nicht nur am Bildschirm zu sehen? Es wäre möglich, schließlich ist Agape sein Programm. Sogesehen wäre es nur verständlich, aber dass er einfach gehen würde, verwundert mich doch etwas. Ich entschuldige mich eilig bei meinen Interviewpartnern und laufe schnell in Richtung der Tribüne. Alsbald höre ich den ohrenbetäubenden Applaus zum Ende von Yurios Performance, aber noch bevor ich die Stufen zur Tribüne nach oben gestiegen bin, sehe ich Viktor am Geländer stehen. „Vikto-!“ rufe ich, aber der letzte Ton bleibt mir im Hals stecken. Er steht absolut regungslos da, als wäre er gar nicht anwesend. Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle unter. Viktor ist nicht der Typ, der anderen zusehen kann, ohne einen Kommentar dazu abzugeben oder stillzuhalten. Ich weiß, dass er sich manchmal auch von Emotionen fangen lässt, aber selbst dann fallen ihm hinterher noch Dinge auf, an die ich im Leben nicht gedacht hätte. Dass er jetzt nach dem Ende der Performance immer noch vollkommen versunken dasteht ohne die geringste Regung zu zeigen, kann eigentlich nur bedeuten, dass Agape um ein Vielfaches besser war, als ich angenommen habe... Ich will den Gedanken gar nicht zu Ende denken und das Adrenalin in meinem Körper schießt um ein Vielfaches in die Höhe, als die Punkteansage ertönt: „The score for Yuri Plisetsky is... 118,56 points. Ladies and gentlemen, this is new world record!“ Nach der ersten Schrecksekunde bricht in der Halle Beifall wie ein Donnergrollen aus. Weltrekord?! Das kann doch nicht...! Yurio hat Viktor überboten...?! Ich stehe da wie versteinert. Genau in dem Moment dreht sich Viktor zu mir um, scheinbar überrascht, mich zu sehen, aber ich stutze nicht weniger bei seinem Anblick. Er sieht gänzlich unbeeindruckt aus, fast so, als hätte er nie etwas anderes erwartet. „Ah, ich wollte auch den Wettkampf schauen...“, erkläre ich meine Verwunderung schnell, aber abschalten kann ich sie nicht. Er hat gerade den Weltrekord, den er seit drei Jahren hält, verloren und sein Gesicht spiegelt keinerlei Emotion wieder? „Okay, Chris ist gleich dran. Setzen wir uns?“, fordert er mich auf, der Tonfall erschreckend normal. Interessiert ihn das gar nicht? „Ja“, sage ich und eile zu ihm. Offenbar interessiert es ihn wirklich nicht? Macht es ihm vielleicht deswegen nichts aus, weil Agape sein Programm ist? Es wäre eine Erklärung, aber keine sonderlich Gute. Wir lassen unsere Blicke über die Ränge schweifen und ich sehe einige freie Plätze bei Sara Crispino, ihrem Bruder und Emile Nekola. Ich deute dorthin, damit Viktor es auch sieht, Sara fängt meinen Blick und winkt mir zu, dass wir herkommen können. „Hi Yuuri,“ begrüßt sie mich freundlich, aber die Verlegenheit steht ihr ins Gesicht geschrieben. Ich hoffe einfach mal, dass das nicht an mir oder Viktor liegt, oder generell an der Tatsache, dass uns seit heute morgen entweder alle für verlobt oder für verheiratet halten. „Now on the ice, representing Switzerland, Christophe Giacometti.“ Viktor lehnt sich zu mir herüber und flüstert: „Yurios Agape war fantastisch. Genau so, wie ich mir das vorgestellt habe!“ „Ja... Super“, antworte ich, aber was soll ich auch anderes sagen, wenn Weltrekord unter diesem Kurzprogramm steht? Ich fühle mich, als fehlte mir jeglicher Boden unter den Füßen. Yurio ist satte 21 Punkte besser gelaufen als ich... Und ich habe es in dieser Saison noch nicht einmal geschafft, fehlerfrei durch meine Kür zu kommen. Die Chance, dass ich bei diesem Finale Gold gewinne, ist so gut wie dahin. Yurio wird sich mit JJ um den Sieg duellieren, aber ich werde in diesen Kampf nicht mehr eingreifen können. Wenn ich das schaffen wollte, müsste ich übermorgen eine Kür auf Viktors Niveau laufen, mit vier Vierfachsprüngen und dem Flip am Ende, ohne Fehler und perfekt im Ausdruck. Das ist so wahrscheinlich, als würde Chris die Unschuld in seinem Programm wieder finden. Ich riskiere einen Blick hinüber zu Viktor. Er wirkt beinahe sehnsüchtig und genießt es sichtlich, Chris bei seiner Performance zuzuschauen. Ich kann es deutlich sehen, wie schon bei Yurio gerade eben. Auch da hatte ich den Eindruck, dass das Eis Viktor wieder zu sich ruft. Erst recht, jetzt da sein Rekord gebrochen wurde... Viktor hat sich in den letzten Jahren nur noch selbst überboten; es müsste ihn doch reizen, wieder selbst zu laufen. Den Rekord zurückzuholen, zu gewinnen... Ich wende mich wieder Chris zu. Er hat ein wahrlich schweres Los, direkt nach einer so unerwarteten Leistung laufen zu müssen. Man merkt es ihm aber aufgrund seiner langjährigen Erfahrung nicht an und er vollführt alle Elemente wie gewohnt auf sehr hohem Niveau. Der letzte Sprung war nicht ganz sauber, aber ansonsten war alles genau sein Ding. Er liegt womöglich auch vor mir... Ganz ruhig, ermahne ich mich. Ich muss abwarten. Noch sind nicht alle dran gewesen. Es bringt gar nichts, sich jetzt schon verrückt zu machen. „The score for Christophe Giacometti... 102,37 points!“ Wie zu erwarten. Aber es sind nur fünf Punkte Unterschied, das ist nicht die Welt. Solange Viktor noch optimistisch ist, will ich versuchen, das auch so zu sehen. Er ruft nach Chris, winkt ihm zu und ich habe flüchtig den Eindruck, dass Sara mir etwas sagen will, als plötzlich ein Paar Sneaker unvorbereitet zwischen ihr und mir auf die Rückenlehne knallen. Erschrocken drehen wir uns nach hinten um und sehen Yurio eine Reihe hinter uns sitzen. Sein Gesicht ist wieder gereizt wie immer und er scheint wieder allzeit bereit zu zeigen, dass er auf Krawall gebürstet ist. Agape hat sich innerhalb kürzester Zeit gänzlich verflüchtigt, aber ich muss mich doch wundern. Eigentlich hätte ich ja erwartet, dass er die Schuhe zwischen mich und Viktor haut, aber dem ist offensichtlich nicht so. „Next on the ice representing Kasachstan: Otabek Altin!“ „Davai!“, ruft ihm Yurio über alle unsere Köpfe hinweg zu und Otabek gibt ihm den Daumen hoch, sodass ich mich gleich nochmal wundern muss. Die Zwei haben sich gestern wirklich angefreundet. Nicht schlecht. Ich erinnere mich mittlerweile auch, dass Otabek bei der WM letztes Jahr Dritter geworden ist und zusammen mit Viktor und Chris auf dem Podest stand, aber ich habe ihn ehrlich gesagt noch nie vorher laufen gesehen. Oder er ist mir einfach nie aufgefallen, dabei kann das gar nicht sein; zumindest nicht, wenn er sich davor schon so präsentiert hat wie jetzt. Er hat eine unglaublich starke Präsenz auf dem Eis, die sich einem regelrecht ins Gedächtnis brennt... „Otabek hat früher keinen solchen Eindruck hinterlassen, oder?“, bemerkt Sara, die damit ausspricht, was scheinbar jeder von uns denkt. „Bei den Juniors hat er keine große Rolle gespielt“, bestätigt ihr Bruder. „Er wirkt wie ausgewechselt.“ Also bin nicht nur ich es, der so denke, aber niemand sagt danach auch nur noch einen Ton. Bis zum Ende seines Programms bleibt Otabek in den Sprüngen fehlerfrei, er zögert keine Sekunde und diese Direktheit ist das, was seinen Stil ausmacht... Es fesselt einen. Obwohl er so ungestüm ist, bleibt die Technik sauber. Es ist in der Tat großes Kino auf dem Eis, das man so nicht alle Tage zu sehen bekommt und das Publikum dankt es Otabek mit einem tosendem Applaus. „Und nochmal mehr Punkte als das Schnitzel“, höhnt Yurio von hinten und ich muss leider zugeben, dass er damit nicht Unrecht haben wird. „Der kann's. Richtig exotisch“, kommentiert Viktor neben mir und da ist das zweite Messer in meinen Rücken. „Wie ein frischer Wind.“ Das bedeutet dann wohl den fünften Startplatz für morgen, es ist nur noch JJ dran... Es ist letztendlich doch der vierte Platz, von dem aus ich in die Kür starte. JJ ist durch einen völlig unvorhersehbaren Blackout auf den letzten Rang zurückgefallen, den keiner von uns erklären konnte, am Wenigsten aber JJ selbst. Seine Familie und Fans sind noch in der Halle aufgesprungen, um ihm ihre Solidarität zuzusprechen und für einen Moment schien es, als sei die ganze Halle auf seiner Seite gewesen. Mit der ein oder anderen russischen Ausnahme vielleicht. Das große Finale wird erst übermorgen stattfinden, sodass JJ damit ein ganzer Tag bleibt, alles sacken zu lassen. Zurück in unserem Zimmer sitze ich auf meinem Bett und scrolle mit dem Handy durch Tweets und Kommentare von Fans und Läufern, während Viktor duscht. Er war beim Verlassen der Halle überaus gut gelaunt und hat Yurio noch auf der Tribüne als Erster zu seinem Weltrekord gratuliert. Das klingt nach einer großen Geste und ich war im ersten Moment durchaus irritiert, denn eigentlich war ich mir hundertprozentig sicher, dass eine reine Gratulation ohne Seitenhieb bei Viktor nicht möglich ist und prompt kam die Bestätigung: Als Yurio schon fast abgehoben war, ging es los mit der Fragerei, warum das mit Agape so lange gedauert habe, warum Yurio sich noch nicht bei ihm für die Tritte entschuldigt habe und dass es doch endlich mal an der Zeit wäre, sich bei ihm für das tolle Programm zu bedanken. Yurio fand das überhaupt nicht witzig und war schon kurz vorm Randalieren, bis ein trockenes „Er hat aber Recht“ von Otabek Altin dem kleinen Wutanfall Einhalt gebot, sodass letztendlich nicht Viktor Yurio die Hand gereicht hat, sondern Yurio Viktor. Damit war die alte Ordnung wiederhergestellt und Viktor „Arschkeks“ Nikiforov war trotz verlorenem Weltrekord der heimliche Sieger des Abends. Das Wasser im Bad wird abgedreht, es wird leiser. Gleich ist es soweit, denke ich, und wische jetzt vielmehr durch die Kommentare, als sie ernsthaft zu lesen. Hoffentlich hat sich Viktor die Reihenfolge bezüglich des Ablaufs des restlichen Abends nicht insgeheim anders überlegt. Ich will zuerst mit ihm reden, danach können wir tun, was immer ihm beliebt. Denn schon als wir ins Zimmer traten, war Viktor nicht mehr nur aufgedreht, sondern auch erregt. Er hat mich geküsst und mir deutliche Signale gegeben, dass er mehr möchte, aber im Moment habe ich den Kopf gar nicht frei dafür. Nicht, weil ich nicht wollte, aber ich habe lange überlegt, wann und wie ich es ihm sagen soll, dass dieses Finale mein Letztes sein wird und ich denke einfach, es wäre besser, keine unnötige Zeit damit zu verschwenden. Wenn das Finale übermorgen vorbei ist, soll er frei sein, egal wie es ausgeht. Ich höre die Badtür und Viktor schlappt im weißen Bademantel zu mir herüber. Mit den Augen hänge ich an einem Selfie von Phichit und Chris fest, als er sich mir gegenüber auf die niedere Fensterbank unseres Hotelzimmers setzt. Er rubbelt die Haare noch mit einem Handtuch trocken und ich habe die leise Vermutung, dass wenn ich nicht noch mit ihm reden wollen würde, ich mit Sicherheit die Frage gestellt bekäme, welche Aussicht schöner ist: Barcelona bei Nacht oder er, während er sich quälend langsam den Bademantel vom Körper streift. Verführen kann er, ohne Frage, aber der Bademantel bleibt Gott sei Dank geschlossen. Ich wische noch ein Bild weiter. „Minako-sensei scheint mit Celestino in einer Bar trinken zu sein“, bemerke ich beiläufig. „Wow, da sollten wir besser nicht einfallen“, antwortet er. Nicht, dass das er vorgehabt hätte. Er legt das Handtuch aus der Hand. „Aber jetzt sag, Yuuri. Über was willst du mit mir reden?“ „Hm,“ beginne ich und lasse das Handy sinken. Es ist soweit. Ich weiß nicht, wie er es aufnehmen wird, aber es ist das Beste für uns beide. Das muss Vorrang haben. Ich atme noch einmal tief ein, mein Griff wird fester. Ihm in die Augen zu sehen schaffe ich nicht, sonst verlässt mich der Mut. „Nach dem Finale trennen wir uns.“ Ich sehe vorsichtig auf und erblicke die heillose Verwirrung in seinem Gesicht. Dann spreche ich weiter: „Du hast in den letzten acht Monaten mehr als genug für mich getan. Dank dir konnte ich in meiner letzten Saison noch einmal alles geben.“ Ich verneige mich vor ihm, senke den Kopf. „Danke für alles, Viktor. Du musst kein Trainer mehr sein.“ 8 - Klimax: Genie und Wahnsinn ------------------------------ „Du willst aufhören, damit ich weitermachen kann?! Sag mal hast du sie noch alle?!“, geht er mich an, steht auf und packt mich an den Schultern. „Viktor, was soll das? Lass‘ mich los!“ Ich stemme meine Hände gegen seine Brust, um ihn davon abzuhalten, sich komplett auf mich zu werfen. Was passiert hier gerade? Wieso reagiert er so heftig? „Yuuri... Wieso?!“, ruft er mir unter Tränen entgegen und ich fühle mich völlig hilflos. Ich versteh das nicht. Ich dachte, dass er im ersten Moment irritiert sein könnte. Dass er vielleicht sauer würde. Aber ich hätte nicht gedacht, dass er weinen würde, dass er mich packt und aufs Bett drückt! „Viktor“, beginne ich kaum hörbar und ich überlege angestrengt, wie ich ihn beruhigen könnte. Aber noch bevor ich mich fragen kann, ob er es zulassen würde, dass ich ihm den Rücken streichle, lässt er von mir ab und sinkt vor dem Bett auf die Knie, das Gesicht in den Händen vergraben. „Viktor“, setze ich nochmal an, diesmal etwas lauter. „Was?“, kommt es dumpf zwischen seinen Händen hervor. Nicht nur sein Ton ist gerade überaus besorgniserregend, auch seine Finger krampfen merkwürdig. „...Ich möchte nicht mehr laufen. Bitte versteh‘ das“, wiederhole ich, so ruhig wie ich es nur irgendwie bewerkstelligen kann. „Ich will dir nicht im Weg stehen.“ „Welcher Weg, Yuuri?!“, schreit er mich an. „Welche Wahl habe ich?! Denkst du, ich habe eine Wahl, wenn du mich vor vollendete Tatsachen stellst?!“ Ich schrecke zurück und weiß nicht, was ich sagen soll. Mit einem solchen Ausbruch habe ich nicht gerechnet. Jeder wünscht sich, dass er aufs Eis zurück kommt und und ich dachte, er würde das auch so sehen... Wenn er bei mir bleibt, versauert er. Alles, was er tut, ist so viel mehr als nur Eiskunstlauf; Viktor darf die wenige Zeit, die ihm noch bleibt, nicht als mein Trainer enden! Das kann keiner wollen, auch er nicht! „Viktor,“ versuche ich es zum dritten Mal und meine Stimme klingt sicherer, als ich mich fühle, „du weißt, warum ich dir den Ring geschenkt habe?“ „Davon will ich nichts hören!“ „Viktor!“, ereifere ich mich. „Bitte hör' mir zu!“ Er steht vom Boden auf, ich versuche seine Hand zu greifen, er schlägt sie weg und ruft: „Wenn du mir jetzt mit irgendeiner aberwitzigen Theorie zu diesem Ring kommst, Yuuri, dann bist du dafür 24 Stunden zu spät! Ich dachte, du liebst mich!“ „Das tue ich auch!“, entgegne ich erbost und springe vom Bett auf. „In den letzten zwölf Jahren gibt es keine Minute, keine Sekunde in meinem Leben, in der ich dich nicht geliebt hätte! Als der, der du bist!“ Er steht da wie vom Donner gerührt. „Ich wünschte wirklich, mir könnte das alles egal sein! Könnte mit dir richtig und nicht heimlich in eine Kirche gehen, dich heiraten und mit dir den Rest meines Lebens verbringen! Aber so einfach ist es nicht!“ Viktor starrt mich an und bewegt sich keinen Millimeter. „Ich komm' damit nicht klar, statt deiner auf dem Eis zu stehen, während du daneben stehst! Du kannst von Russland nach Japan fliegen, aber du kannst nicht vor dir selbst weglaufen! Du bist kein Trainer, du bist Viktor!“ Seine Augen sind weit aufgerissen und selbst seine Tränen scheinen für einen Moment eingefroren. Ich kann nicht fassen, was ich da gerade gesagt habe... Dass es so weit kommen würde...! Viktor starrt mich noch für ein paar Sekunden regungslos an, der Mund geöffnet, bis er unerwartet kehrt macht, nach seinem Handy auf dem Bett greift und noch bevor ich ihm auch nur einen Schritt nachgehen kann, fällt die Zimmertür vor meiner Nase ins Schloss. Ich will ihm schon nachrennen, aber mein Blick fällt auf seinen Nachttisch – dort liegt, neben Geldbörse und Ladekabel, seine Schlüsselkarte. Das ist jetzt nicht wahr. Wenn ich ihn jetzt suchen gehe, kann er nicht mehr zurück ins Zimmer. Das ist einfach nicht wahr...! „Hallo? Chris? Hier ist Yuuri... T-tut mir Leid, wenn ich so spät anrufe. Ist Viktor bei dir?“ „Nein, warum fragst du?“ Ich krieg' die Krise. Wenn er nicht bei Chris ist, wo ist er dann hingelaufen? Er hat nicht mal Unterwäsche an, es ist Dezember, seine Haare sind nass und selbst seine Schuhe stehen noch da! Nach dem Schock über die vergessene Schlüsselkarte habe ich sofort aus dem Zimmer in den Gang geschaut, da war schon nichts mehr von ihm zu sehen. Zuerst wollte ich einfach warten, aber es sind jetzt schon mehr als zwanzig Minuten vergangen. Auch wenn er erwachsen ist und auf sich selbst aufpassen kann, habe ich Viktor noch nie so erlebt und in meinem Kopf spielen sich schon Horrorszenarien ab, was ihm alles passieren könnte. „Viktor ist weggelaufen...“, versuche ich Chris das Geschehene zu erklären. „I-ich würde ihn suchen gehen, aber er hat die Schlüsselkarte nicht mitgenommen. Er kann nicht mehr rein, wenn ich weggehe.“ „Er ist weggelaufen? Wohin?“ „Das weiß ich ja nicht“, antworte ich und klinge dabei wahrscheinlich genauso panisch, wie ich mich fühle. Chris hingegen scheint die Information noch nicht sonderlich aus der Fassung zu bringen. Aber wenn er mir nicht helfen kann, dann niemand sonst. „Und warum?“ „...Er...hat sich aufgeregt...und geweint...“ Gott, wie erkläre ich ihm das nur? „Hm? Viktor weint nicht einfach so, was hast du angestellt?“ „...I-ich hab gesagt, dass ich zurücktreten werde... Dass er wieder laufen kann. Also...“ „... Scheiße, Yuuri.“ Oh Gott. Das klingt als hätte ich die Büchse der Pandora geöffnet und weiß nichts davon. „Chris?“ „Yuuri, gib‘ mir ne Minute.“ Ich warte, meine Beine wippen unablässig auf und ab. Ich bin in den letzten Minuten schon so oft in unserem Zimmer auf und ab gelaufen, dass ich beschlossen habe, mich zu setzen, aber meine Beine scheint das nicht davon abzuhalten, weiterlaufen zu wollen. Chris schweigt, aber ich kann spüren, wie sehr er versucht, etwas in Worte zu fassen, um mir eine scheinbar unsägliche Wahrheit mitzuteilen. Dann endlich meldet er sich wieder: „Also, du erinnerst dich, warum Viktor dein Trainer geworden ist?“ „Weil er mein Video gesehen hat?“ „Eben nicht. Du hast ihn letztes Jahr beim Bankett auch herausgefordert. Der Einsatz war, dass er dein Trainer wird, wenn du gewinnst.“ „Ich hab WAS?! S-soll das heißen... wenn ich gewinne... dann hat er verloren?!“ „Nein. Es gab keinen Sieger bei diesem Wettkampf, nur einen Verlierer, wenn man das so sehen will. Aber deswegen ist er nach deinem Video sofort zu dir nach Japan.“ Er macht eine schwerwiegende Pause. „Und du sagst jetzt, du willst zurücktreten... Alter, ich weiß nicht, ob ich dir dafür eine verpassen sollte oder nicht. Habt ihr euch nicht gestern erst verlobt?“ „Nein.“ „Huh? Dann ist das Geturtel nur Fake?“ „Nein. Chris, ich hab ihm den Ring als Dankeschön gegeben, dass er etwas hat, das ihm sagt, wie ich für ihn fühle.“ „Aber Viktor hat doch von Verlobung und Hochzeit gesprochen?“ „Damit meint er etwas anderes.“ „Bist du dir ganz sicher? Viktors Verhalten klingt eher so, als wär' für ihn das Eine wie das Andere. Hast du versucht, ihm das zu erklären?“ „Ja, aber da hat er schon nicht mehr zugehört...“ „Verständlich... Hat Viktor sein Handy dabei?“ „Ja, aber es ist dauernd besetzt...“ „Dann redet er mit jemandem, immerhin. Nun gut...“ Es folgt eine weitere Pause. „Yuuri, wenn Viktor wieder zurückkommt, erklärst du ihm das mit dem Ring, verstanden? Ich werd‘ dich nicht davon abhalten, zurückzutreten, aber du hast Viktor schon mal versetzt und wenn du von seinem Trainer nicht gevierteilt werden willst, machst du das kein zweites Mal. Als Tipp.“ „Wann habe ich Viktor versetzt?“ „An der Stelle bin ich raus, Yuuri. Wenn Viktor nicht auftaucht, sag‘ Bescheid, aber der Rest ist eure Sache.“ „Ok... danke.“ Ich bete einfach, dass meine Nerven das aushalten. ----------------- „Hallo? Vitya, bisch du's?“ „Mama? Bist du noch wach?“ „Ja. ...Vitya, weinst du?“ Ist das etwa so leicht zu hören...? „...Mama, war es schlimm für dich, dass Vater immer wieder gehen musste und kaum zuhause war? Als Partner?“ „...Ich weeß net, wie du jetzt uff die Fro kummscht. Ich hab deinen Vadder immer vermisst, wenn er net bei uns war. Und dein Vadder hat uns beide genauso vermisst.“ „Hast du dir gewünscht, dass er bleibt?“ Sie lacht. „Jedes Mol, wenn er gehe musst, Vitya. Jeder Abschied war schwer. Jedes Widdersehen voller Freed.“ „Wie hast du das ausgehalten?“ „Ich hab gewisst, dass er mich liebt. Dass er an mich denkt. Und als ich dich kriet hab, musst' ich dich nur angucke und jeder Zweifel war wie fort geblase.“ Mein Griff um das Handy wird fester und ich spüre den Ring an meinem Finger. „Vitya... ich weeß immer noch net, was los ist, awwer es klingt net so, als hätteste Anlass zu glaawe, dass dein Herzbu' net bei dir sei' will.“ „...Er will aufhören. Dass ich weitermachen kann.“ „Un des is schlimm?“ „Dann muss ich zurück nach Russland, aber ich will nicht wieder alleine sein...“ „Vitya... Du kleenes Prinzessje. Du warst immer uffm Eis. Deswege will er dich nur devor beschütze, des uffzugebbe. Mir wissen ja, dass du's net einfach hosch, jemanden zu finne, der dich und dei' Welt begreife kann, awwer er hot doch zumindest verstanne, dass sie existiert? Er will dich genau so, wie du bisch, mit all deine Flause im Kopp. Wie viel mehr muss er dir noch beweise, dass er dich liebt?“ „...Mama? Hast du den Wettkampf heute gesehen?“ „Freilich.“ „Was hast du gesehen?“ „Vieles, awwer vor allem Vergebung. Willschde noch mit Vadder spreche?“ „Kurz...“ „Wart‘.“ Sie reicht das Telefon weiter. „Saa mol, Borsch, bisch du schun widder am Flenne wesche irgend’nem Kerl? Herrgott nochemol. Such‘ der halt e Märe, wann‘s mit de Kerl‘ net klappt!“ „Vadder...“ „Ei, was soll isch dann saache, vor’e paar Stun’ sin ihr im Fernseh’, Ringe an de Finger, isch denk schun ‚Na Gott sei Dank hot er endlich eener, der ne heirade will!‘ und jetzt rufschde oa und plärrscht deine Mudder die Ohre voll, wie scheiße alles is. Also her‘ mol. Reiß‘ dich z‘samme und red’ halt mit’m. Wer vun eisch hot die Ringe kaaft? Du oder de Korze?“ „Yuuri...“ „Ja aller, was willsche dann? Loss‘ der eens g’saat soi vun jemmand, der‘s schun gemacht hot: Als ich deine Mudder en Ring aog’steckt hun, hatt isch mer des mehr als eemol üwwerleht, ob ich des mache will. Ich hun aa gewisst, dass ich se net stendisch siehe kann. Awwer sie war mer‘s wert. E Besserie hätt‘ ich net finne kenne. Un dein Korze denkt des sicherlich aa. Jetzt loss‘ halt Finfe grad soi und free‘ dich, dass de eener hoscht, der dich unnerstitzt.“ Ich greife das Handy noch fester. Ich versteh' das das nicht... Warum quält es mich so...? Hilft mir doch jemand... Jelena...! ------------------- Es ist kurz nach elf Uhr als es endlich an der Tür klopft. Ich stehe auf, erleichtert, dass er zurück ist und gleichzeitig sauer, weil er trotz zahlreicher Anrufe nicht zurückgerufen hat. „Viktor?“, frage ich, auch wenn ich nicht wüsste, wer sonst um diese Zeit noch klopfen sollte. „Ja...“, kommt es leise von draußen und ich spanne unwillkürlich noch mehr an, als ich die Türklinke berühre, weil ich nicht weiß, was mich gleich erwartet, wenn ich die Tür öffne. Chris vermutete zwar, dass er mit jemandem telefonierte (gut, es war offensichtlich, da die ganze Zeit besetzt war), allerdings weiß ich weder mit wem er telefoniert hat, noch was das Ergebnis des Gesprächs war und ob er sich wieder beruhigen konnte. Mein Arm fühlt sich kraftlos und dennoch steif an, aber ich drücke die Klinke nach unten und die Tür ist offen. Das Erste, was mir auffällt, ist dass er im Vergleich zu vorher nicht mehr beunruhigend aufgebracht ist, sondern beunruhigend still. Er weint nicht mehr, aber es sieht viel mehr aus, als wären einfach keine Tränen mehr übrig, die er weinen könnte. Die Schultern und Arme hängen schlaff nach unten, die Haare sind durcheinander und der Pony liegt in Wellen, weil er luftgetrocknet ist. „Komm‘ rein“, bringe ich irgendwie aus mir heraus. Ich sollte nicht zu viel reden, so schlecht ist mir vor Wut und Sorge über sein Verhalten. Viktor läuft einige Schritte in unser Zimmer, dann bleibt er stehen. Die Augen lässt er auf den Boden gerichtet. „Yuuri?“ „Ja?“ „Was bedeuten die Ringe?“ Ich glaube, von allem was ich erwartet habe, wäre das die letzte Option gewesen. Und gerade deswegen wühlt es mich sofort mehr auf, als dass es mich milde stimmt. Wenn er nicht weggelaufen wäre, hätte ich mir nicht über eine Stunde lang den Kopf darüber zerbrechen müssen, wo er spät abends nur mit dem Bademantel bekleidet im Hotel oder sonst wo herum rennt! „Hörst du mir zu?“, frage ich und klinge dabei gereizter als ich eigentlich will. „Ja.“ Auch seine Antwort klingt gereizt. „Setzt du dich bitte hin?“ „Ok.“ Viktor setzt sich auf sein Bett, die Beine überschlägt er, die Arme verschränkt vor der Brust. So ganz weiß ich nicht, was ich von dieser Haltung halten soll, denn so macht er nicht den Eindruck, als würde er es wirklich wissen, geschweige denn akzeptieren wollen. Was auch immer ihn zu diesem Ausraster gebracht hat, er wird es mit sich selbst ausmachen müssen, sofern er sich nicht entscheidet, mir davon zu erzählen. Hellsehen kann ich nicht. Ich atme tief durch und setze mich mit etwas Abstand neben ihn. „Die Ringe sind Glücksbringer. Auf Japanisch heißt das o-mamori,“ beginne ich erst einmal so nüchtern wie möglich zu erklären, bevor mir meine Emotionen einen Strich durch die Rechnung machen, „zumindest war das die Grundidee.“ Viktor bleibt still und wartet. „Ich weiß nicht, ob ich dir übermorgen wirklich das präsentieren kann, was du all für deine Mühen verdient hättest. Ich will einfach nicht, dass du mit leeren Händen da stehst. Ich habe lange überlegt, womit ich dir eine Freude machen kann und gehofft, dass dir vielleicht irgendwas ins Auge springt. Aber stattdessen wolltest du mir ein Anzug kaufen. Ich wollte nicht undankbar wirken, aber es lief einfach in die total falsche Richtung.“ „Klar. Ist es jetzt falsch, wenn der eigene Freund einem was zum Geburtstag schenken will?“ „Nein, aber du wolltest auch nichts haben!“, verteidige ich mich. „Ich sagte, nicht vor dem Geburtstag!“ „Und ich habe gefragt, um wenigstens eine Idee zu bekommen!“ „Was ist das für eine Logik? Erst sagst du, du wolltest mir was schenken, deswegen darf ich dir nichts schenken und dann hast du keine Idee, aber irgendwie doch und am Ende trage ich einen Ring, der mir in einer Kirche angesteckt wird und jetzt kommst du um die Ecke und haust alles kurz und klein, weil es ein Glücksbringer sein soll? Hörst du dir zu beim Reden?!“ „Es war von Anfang an ein Glücksbringer!“ „Und das sagst du mir jetzt?!“ „Viktor, du wusstest das! Du tust gerade so, als hätte ich das nie erwähnt!“ Er antwortet nichts. Er weiß, dass ich Recht habe. Und trotzdem sitzt er da wie ein gehetztes Tier, umklammert seinen Körper und in den blauen Augen liegt ein nahezu besessener Blick, als versuchte er irgendetwas bis aufs Letzte zu verteidigen. Viktor verschließt sich vollkommen, nicht nur vor der Wahrheit, sondern auch vor mir. Es zehrt an mir, aber noch viel schlimmer finde ich, dass ich nicht mehr weiß, was ich machen soll. Ich weiß auch nicht, was ihm durch den Kopf geht oder wie ich wieder zu ihm durchdringen könnte. Wir verfallen in Schweigen und die Zeit schleicht vor sich hin. Er starrt in die Luft, ich habe meine Augen auf meine Knie gerichtet, die schon wieder unablässig auf und ab wippen. Ich könnte mich entschuldigen, aber ich wüsste nicht wofür. Ich habe nichts getan, was seine Reaktionen rechtfertigt und trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass es einen Grund geben muss, warum er so reagiert. Vorsichtig schaue ich hinüber auf seine Beine, die er immer noch überschlagen hat. Er hat Gänsehaut auf den Schienbeinen. „Ist dir kalt?“, frage ich. Es kommt keine Reaktion, dabei sieht er so aus, als wollte er mir antworten und tut es aus irgendeinem Grund nicht. „Viktor, bitte. Mir ist schlecht vor Sorge um dich.“ „...Ja.“ „Dann leg' dich unter die Decke. Ich gehe auch rüber auf mein Bett, wenn du mich gerade nicht bei dir haben willst.“ Das war offenbar zu viel gesagt. Sofort wendet er das Gesicht ab und ich höre, dass er kämpft, nicht wieder zu weinen. Was ist nur los mit ihm? „Viktor“, versuche ich es erneut und frage mich, wie lange das noch so weiter gehen soll. Übermorgen ist das Finale, ich habe nach dem freien Training morgen eine Menge Termine, wir sollten schlafen; stattdessen führe ich eine Diskussion, in der es gefühlt um Leben und Tod geht und ich keine Ahnung habe, warum ich sie führe. „Rede mit mir, bitte. Irgendwas quält dich, aber ich hab keinen blassen Schimmer, was!“ Er dreht sich wieder zu mir. „Das würde mich auch wundern, wenn du das wüsstest“, schießt er gegen mich und in seinen Augen sehe ich Tränen und blanke Hilflosigkeit, dass es mir einen Schauer den Rücken hinunter jagt. „Es ist der ewige Kampf mit mir selbst.“ „Was...?“ Jetzt versteh' ich gar nichts mehr. „Zuerst hat man gedacht, ich sei verträumt. Dann war ich seltsam, unnahbar, wurde gemieden. Für meine Trainerin stand irgendwann fest, dass ich einen Schaden habe“, fährt er fort und ich sitze da wie versteinert. „Ich wurde von einem dummen Termin zum Nächsten geschickt. Niemand sagte irgendetwas. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist, wenn dir jeder das Gefühl gibt, dass du nicht richtig im Kopf bist, aber keiner dir sagen kann, warum.“ Das... meint er jetzt nicht ernst? „Dann stand ich mit Odette auf dem Eis“, sagt er und sein Ton wird mit einem Mal leiser, die Stimme zittert. „Das hat alles verändert. Seitdem werde ich akzeptiert, aber das macht es mir nicht einfacher. Die ganze Welt benutzt dieses eine Wort für mich und trotzdem weiß niemand, was es wirklich bedeutet.“ Was...erzählt er da gerade? Ich bin völlig überfordert, ich kann mir weder vorstellen, was er mir damit sagen will, noch in irgendeinen Zusammenhang bringen. Aber Viktor redet einfach weiter: „Seit ich denken kann, hab ich mich anders gefühlt, mich anders verhalten. Die Gesellschaft von Tieren war mir willkommener als die von Menschen. Realität ist etwas, womit ich nicht umgehen kann; ich brauche meine eigene Welt, in der ich leben kann. Müsste ich ihr eine Form wählen, wäre sie das Eis. Nur auf dem Eis bin ich wirklich frei.“ Sofort schießt mir wieder durch den Kopf, was Yurio in Moskau gesagt hat. Viktor ginge lieber sterben, als dass man ihm das Eis wegnehme. Ich kann gar nichts mehr denken, aber ich stelle fest, dass meine Hände schwitzen und kalt geworden sind. „Du hast recht, Yuuri, ich kann nicht vor mir selbst davon laufen. Ich kann nicht ohne das Eis, aber auf dem Eis bin ich alleine. Wenn mich dort niemand finden kann, erfriert mein Herz. Es ist bisher nur zwei Menschen gelungen, mir die Hand zu reichen, aber keiner von ihnen kann mich als einen Partner lieben. Das ist es, was mich quält. Das ist die traurige Wahrheit hinter der lebenden Legende, Yuuri, und sie zeichnet das erbärmliche Bild eines Menschen, der vor Einsamkeit in den Wahnsinn getrieben wird.“ „Du glaubst das nicht wirklich, was du da sagst? Dass niemand dich und deine Welt finden kann...?“, fange ich an zu plappern, nicht wissend, warum ich es überhaupt tue. Oder was ich überhaupt sagen will, die Worte kommen einfach so: „Wenn du auf dem Eis stehst, kann sie jeder sehen. Und jeder liebt sie!“ Viktor wendet sich ab. „Niemand kann sie sehen, Yuuri...“ Ich will ihm schon widersprechen, dann halte ich abrupt inne. Er kann es nicht, aber ich kann es. Weil er nicht weiß, wie er wirkt. Weil er sich nie selbst erfahren hat. Nachdem ich mit ihm die Poster durchgesehen hatte, konnte er die Schneeflocken wieder tanzen lassen. Weil er sich selbst gesehen hat, durch meine Augen...! Aber kann das wirklich sein? Dass er sich selbst nicht begreift? Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, ist Viktor aufgestanden, er geht um sein Bett herum und schlägt die Decke zurück. Ich springe auf und erinnere mich, dass ihm immer noch kalt sein muss. „M-möchtest du was trinken?“ frage ich unsicher, denn ein bisschen Wasser oder ein Tee würde keinesfalls schaden. Zum Einen gegen die Kälte, zum Anderen um Flüssigkeit zuzufügen, nachdem er so viel geweint hat. Viktor mummelt sich in die Decke ein und nickt einfach nur. Ok... Meine Beine fühlen sich merkwürdig unnachgiebig an, als ich zu der kleinen Wasserkocher auf unserem Schreibtisch laufe, um heißes Wasser für den Tee anzuschalten. Während ich die Teebeutel durchgehe und überlege, welchen er trinken wollen würde, versuche ich angestrengt, das auf die Reihe zu bekommen, was er gesagt hat. Nur Earl Grey sollte ich nicht nehmen. Zu viel Tein, damit kann er nicht schlafen und Makkachin ist auch nicht da... Zuerst klang es so, als gäbe es ein Problem mit Viktor, von dem jeder und doch irgendwie keiner etwas weiß und das ist der Grund, warum er gerade so durchgedreht ist... Pfefferminze mag er auch nicht. Riecht ihm zu penetrant... Und irgendwie hängt das alles mit dem Eis zusammen. Seiner Welt. Rooibos schon eher, Früchtetee geht gar nicht. Obst gehört nicht in einen Teebeutel, sagt er. In mir keimen große Zweifel auf. Ich lebe seit acht Monaten mit ihm in einem Haus, bin seit dem Sommer ein bisschen mit ihm zusammen gewesen und seit gut einem Monat sind wir ein Liebespaar, aber mir ist nichts, aber auch gar nichts, aufgefallen, das in diese Richtung deuten würde. Er macht immer einen so sorglosen Eindruck, aber es muss wohl ein einziger Trugschluss gewesen zu sein... Am Besten wäre einfach Kamille. Warum gibt es keinen Kamillentee? Ich seufze. „Viktor, da ist kein Tee, den du gerne trinkst. Willst du Rooibos?“ „...Ist egal.“ Dann wird es Rooibos. Mit der heißen Tasse gehe ich zurück zu ihm und stelle sie auf dem Nachtisch ab. Viktor richtet sich direkt auf, nimmt sie in die Hände und beginnt zu pusten. Er muss völlig ausgefroren sein, wenn er sich so sehr an etwas klammert, das ihm Wärme spendet. „Wo warst du überhaupt?“, frage ich und setze mich ihm gegenüber auf mein Bett. Er nippt an der Tasse und betrachtet den dampfenden Tee. „Am Pool. Woanders hätte ich nur mit Bademantel bekleidet kaum hin gekonnt. Außerdem wollte ich alleine sein...“ Ich atme auf. Die Antwort erleichtert mich einerseits, weil er immerhin im Hotel geblieben ist, andererseits ist sie so logisch, dass ich da auch von selbst hätte drauf kommen können... Allerdings frage ich mich, wie er das bei den Temperaturen überhaupt so lange dort oben ausgehalten hat. „Und?“, reißt er mich aus meinen Überlegungen und lächelt mich schief an. „Ist nicht mehr viel übrig von von mir, was? Die Fassade hat ganz schön viele Risse...“ „Du Dummkopf“, entgegne ich trocken. „Also wenn du mir gerade eins bewiesen hast, dann dass du von der Realität wirklich keinen Plan hast.“ Er schaut mich verwundert an. „Trink‘ deinen Tee und dann leg‘ dich zu mir, es ist gleich nach Mitternacht“, fordere ich ihn auf, schlage meine Decke zurück und rücke zur Seite damit er rüber kommen kann. „Du schläfst ja doch nicht, wenn du nicht schmusen kannst.“ Viktor sieht mich einen Moment mit den gleichen, überraschten Augen an, dann plustert er die Wangen auf, aber sie werden auch rosa. „Mach‘ dich nicht lustig...!“ „Tu‘ ich nicht. Trink und dann komm‘ her.“ Viktor nimmt noch ein paar Schluck Tee, stellt die Tasse ab und kommt zu mir ans Bett. Er legt den Bademantel ab, schlüpft zu mir unter die Decke und gut ist. Endlich. Meine Güte, eine Stunde Diskutieren und jetzt liegt er endlich wieder bei mir. „Denkst du, du hast mich mit deinem Geständnis überrascht?“, frage ich vorsichtig, umarme ihn und lege meine Hand auf seine Haare. „Welchen Viktor liebe ich denn? Den, den alle lieben oder meinen Viktor? Mir macht das nichts aus, wenn du das Eis brauchst. Du musst vor mir nicht perfekt sein. Ich bin es doch auch nicht.“ Erst passiert gar nichts, dann sehe ich im Licht der Nachttischlampe, dass die Augen doch wieder feucht werden. „Viktor, bitte“, sage ich und fange an, seinen Kopf zu streicheln. „Ich liebe dich, so wie du bist und daran ändert sich nichts, auch wenn ich übermorgen zum letzten Mal laufe. Ob du weitermachst oder nicht liegt bei dir, ich kann dich nicht zwingen. Aber du hast mir eben selbst gesagt, dass du das Eis und deine Welt zum Leben brauchst, also hör‘ auf, dich selbst zu belügen. Genau dafür habe ich dir den Ring geschenkt. Dass du etwas hast, dass dir sagt, dass ich dich liebe. Und wenn du willst, hast du immer einen Ort, an den du zurückkehren kannst.“ „Ich habe meine Welt verloren, Yuuri... Den Weg dahin. Ich kann nicht mehr laufen.“ „Du kannst“, entgegne ich. „Du hast es immer gekonnt und du wirst es wieder können.“ „Ich kann nicht...“ „Du kannst“, wiederhole ich nochmal. „Versuch‘ zu schlafen und nach dem Finale entscheiden wir.“ „Yuuri?“ „Hm?“ „Würdest du mich lieben, auch wenn ich nicht mehr könnte?“ „Was versuche ich dir denn die ganze Zeit über klar zu machen? Was muss ich tun, dass du das endlich glaubst?“ „Ich weiß nicht...“ Ich fass‘ es nicht. Das Selbstvertrauen, das mir auf dem Eis fehlt, fehlt ihm doppelt und dreifach, wenn er nicht mehr auf dem Eis steht! Kein Wunder, dass er mit sich nicht klar kommt...! Ich muss dieses Gespräch in eine andere Richtung lenken, sonst drehen wir uns doch nur wieder im Kreis... Aber was wäre am Besten? Ich weiß ja noch nicht mal wirklich, was genau das Problem ist... „Was soll das eingentlich sein, warum du anders bist als andere, Viktor?“, frage ich ruhig, weil ich nicht wüsste, was ich sonst fragen soll. Er hat seine Eigenheiten, ja, aber die hat jeder Mensch. „...Mein Wesen“, antwortet er schließlich. Ich warte, weil noch bringt mich diese Antwort nicht weiter. „Menschen wie ich sind selten“, ergänzt er. „So?“, frage ich, damit er weiter redet. Seine Stimme klingt plötzlich ganz anders, irgendwie befreiter. Es scheint zu helfen. „Wir können Dinge, ohne sie gelernt zu haben. Wir haben Visionen und jagen ihnen nach. Manchmal erscheint unser Tun völlig verrückt, aber nur, weil wir unterbewusst schon einen Schritt weiter sind. Man gibt uns viele Namen, unter anderem eben auch Genie.“ „Ah“, sage ich zugestehend. Genie war das Wort, das er gemeint hat, als er sagte, alle Welt benutze dieses eine Wort für ihn, aber keiner wisse, was es bedeutet. Irgendwie muss ich jetzt doch schmunzeln. Das ganze Drama nur deswegen? Ich fange an, seinen Nacken ein bisschen auf und abzufahren. „Das stimmt. Einem Genie wie dir muss man nichts beibringen. Wenn du es willst, machst du es einfach.“ „Hmm, ja“, nuschelt er und legt den Kopf auf meine Brust, dass ich ihn besser kraulen kann. „Für mich reicht es meist, etwas zu wollen, um zu wissen, dass ich es kann...“ Mit einem Mal schaue ich ihn völlig perplex an. Er schaut mich genauso perplex an. Viktor hat sich die Antwort, nach der gesucht hat, gerade selbst gegeben! Muss ich jetzt an meinem Verstand zweifeln, dass er sie die ganze Zeit in sich hatte und trotzdem nicht drauf gekommen ist?! Seine Augen sind genauso weit aufgerissen wie meine, völlig überrascht von der Erkenntnis. Ich kann förmlich sehen, wie es in ihm beginnt zu arbeiten, dass sich plötzlich etwas aufbaut, dass ich nicht sehen kann, das aber deutlich da ist und ihn vollständig umgibt. „Ich muss es wollen.... um zu wissen, dass ich es kann...?“, wiederholt er seine eigenen Worte gegenüber sich selbst. „Kann ich zurück, wenn ich es einfach nur will...?“ Für den Bruchteil einer Sekunde scheint es, als sei er endlich über den Berg, als alles um ihn herum wieder einstürzt, die Tränen erneut kommen und er sich an mich drückt, weil er verstanden hat, dass er mich nie gebraucht hat und ich mit allem Recht hatte, was ich gesagt und beobachtet habe. Es tut mir nicht weniger weh als ihm, dass ich ihn gehen lassen muss. Er gehört zurück aufs Eis, noch mehr als an meine Seite. Nach diesem Finale wird jeder von uns seine eigene Entscheidung treffen müssen. 9 - Der König und der Eiskunstläufer ------------------------------------ Als ich wach werde, ist es bereits hell. Die Sonne scheint, das Licht drängt durch die Vorhänge in unser Zimmer und ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass es 11:27 Uhr ist, Phichit schon zweimal versucht hat, anzurufen und Chris ebenfalls eine Nachricht hinterlassen hat. Das freie Training haben wir wohl verschlafen. Wen wundert es, bis Viktor schließlich eingeschlafen war, war es weit nach zwei Uhr in der Nacht. Dann ist er gegen sechs Uhr früh wach geworden, war auf Toilette und hat sich in sein Bett gelegt. Das hat mich wiederum aufgewühlt, weil ich mir nicht sicher war, warum er nicht wieder zu mir kommt, aber nach einer Weile hat er kurz geschnarcht und die Decke von sich getreten, sodass ich annehmen konnte, dass ihm einfach zu warm war. Dann wäre zumindest das wieder wie immer. Ich schließe die Augen wieder. Der gestrige Abend und die Nacht waren ein Schock in vielerlei Hinsicht und mir fehlen die Worte, auch nur einen klaren Gedanken darüber ausformulieren zu können. Dass der Scherbenhaufen hinter der Fassade so groß ist, hätte ich niemals vermutet. Ich bin mir nicht sicher, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll, wenn er wach wird, aber eigentlich tut es nichts zur Sache. Er ist Viktor und ich liebe ihn, so wie er ist. Auch als Genie oder wie auch immer man es noch nennen kann. Er redet davon, als sei es ein Markel, aber wenn ich mir überlege, wie viele Menschen er begeistert, dann kann es unmöglich etwas Schlechtes sein? Und trotzdem... „Bist du einsam, Viktor?“ „Jetzt nicht mehr. Jetzt bist du da, Yuuri.“ Als er es damals im Auto zu mir sagte, konnte ich die Abgrund hinter seinen Worten nicht abschätzen. Deswegen hatte mein Video ihn angelockt. Es war keine verlorene Wette, keine Inspiration oder sonst irgendwas. Er fühlte sich durch mein Eislaufen angezogen, weil es dem seinen ähnelt. Er konnte das in mir sehen, was er glaubte, verloren zu haben: Sich selbst. Darum war er gestern Abend auch so aufgebracht. Er hatte Angst. Angst davor, sich und seine Welt wieder zu verlieren, die er meint, in mir wieder gefunden zu haben... Aber das ist nicht richtig. Sie ist in ihm. Sie ist da, sie war immer da, er muss sie nur wieder finden wollen. Die Poster und der Schneeflockentanz waren ein Anfang, aber nicht genug. Wenn er sich selbst auf dem Eis sehen könnte, in der Gestalt eines anderen, würde er dann begreifen? Ich schaue hinüber zu ihm und er sieht mich mit halb geöffneten Augen an. „Yuuri...“ „Ja?“ „Ich möchte bei dir sein...“ „Dann komm her“, fordere ich ihn auf und hebe die Decke an. „Komm du zu mir.“ Ich seufze. Na dann.... Ich stehe auf, gehe rüber zu ihm. „Geht es dir besser?“, frage ich, als ich neben ihn gelegt habe und wir uns anschauen können. „Hm“, höre ich nur, ehe er mich vorsichtig küsst. Unsere Blicke treffen sich und mir ist, als würde ich in den blauen Augen ertrinken. Er küsst mich noch einmal. Seine Finger spielen mit meinen Haaren, ich greife um seine Hüften. „Viktor...“, beginne ich zögerlich, aber sofort spüre ich seine Lippen erneut auf meinen und er zieht mich auf sich. Im Moment ist wohl nicht mit ihm zu reden... Es ist mir klar, dass es keine Lösung ist, aber ich ehrlich gesagt froh, dass er mich bei sich haben will. Meine Gefühle für ihn haben sich nicht geändert und das lässt mich hoffen, dass sich an seinen Gefühlen auch nichts geändert hat. Darum glaub an mich, Viktor. Ich werde in diesem Finale tun, was ich kann, um dich zu beschützen. Grand Prix Finale Barcelona, 10. Dezember 2016 „Ist alles in Ordnung?“ Chris hat sich neben mich gesellt, nachdem er mit seiner Routine im Probedurchlauf vor der Kür fertig geworden ist. Gerade läuft Phichit und ich wundere mich, dass Chris mich anspricht, denn Viktor sieht man es viel deutlicher an, dass etwas nicht stimmt. Ich dagegen fühle mich ungewöhnlich gefasst. Vielleicht deswegen, weil ich selten von der Richtigkeit dessen, was ich tue, so sehr überzeugt war. „Es geht den Umständen entsprechend“, antworte ich Chris. Er hat vorgestern gesagt, der Rest sei unsere Sache, also bleibt es unsere Sache. Auf seine Nachfrage gestern morgen hin, ob Viktor zurück sei, hat er sich nicht mehr gemeldet; weder bei mir, noch bei Viktor. Er muss jetzt nicht im Nachhinein angeschlichen kommen. „Umständen? Klingt nach 'ner handfesten Ehekrise vor der Hochzeit“, sagt er und wirft einen argwöhnischen Blick in Viktors Richtung, der als Einziger der anwesenden Trainer mit verschränkten Armen abseits auf einem Stuhl sitzt und vielmehr auf den Boden starrt, statt sich anzusehen, was auf dem Eis passiert. „Ich würd' mich ja anbieten, mit ihm zu reden, aber er hat diesen Blick, Yuuri, da geh ich nicht an ihn ran.“ Ich schaue wieder zu Viktor. Mir ist klar, was Chris meint. Jeder kennt Viktor nur als den strahlenden Sieger, aber gerade sieht man einen Menschen, der sich vollkommen aus der Realität zurückgezogen hat. Die blauen Augen sind trotz aller gedanklichen Abwesenheit wachsam, und es fröstelt einen, wenn man nur eine Sekunde zu lange hineinschaut. „Der Blick gilt nicht dir, Chris,“ versuche ich beschwichtigen. „Huh? Dir etwa?“ „Der Blick gilt niemandem hier. Er braucht Zeit für sich. Das ist alles.“ Chris rümpft die Nase und ich spüre, dass sich Eifersucht in seine Stimme mischt: „Seit wann entscheidest du für ihn? Sollte er nicht dein Trainer sein?“ „Er ist Viktor und das Einzige, was ich entschieden habe, ist für den da zu sein, den ich liebe.“ „Er macht jetzt nicht den Eindruck, als sei alles bestens zwischen euch.“ „Wir hatten Sex.“ „Oh... wie schön für euch.“ „War’s das jetzt?“ „Ich hab mir nur Sorgen gemacht.“ „Danke, aber das ist nicht nötig.“ Chris wendet sich mürrisch ab, ich atme auf und verlasse ebenfalls das Eis. Aus dem Augenwinkel erhasche ich einen Blick auf JJ, der soeben in vollkommener Stille die Halle betreten hat. Nach dem Desaster im Kurzprogramm hat ihn keiner mehr gesehen und ob er gestern beim offenen Training war, weiß ich auch nicht. Seine Verlobte und seine beiden Trainer begleiten ihn, aber man sieht allen Beteiligten an, wie bestürzt und besorgt sie über das sind, was passiert ist. Scheinbar haben sie auch fast 48 Stunden später nicht verarbeitet, warum das passiert konnte und JJ sieht aus, als würde er in Tränen ausbrechen, wenn er auch nur einen Fuß auf das Eis setzen muss. Ein Totalausfall ist niederschmetternd, aber es muss noch niederschmetternder sein, wenn die Personen um einen herum damit noch weniger klar kommen, als man selbst. Vor einem Jahr habe ich den Unterschied nicht sehen können, heute kann ich es. Ich setze mich auf den Stuhl neben Viktor. „Gibst du mir die Kufenschützer?“ „Ja.“ Er reicht mir ohne aufzusehen erst den linken, dann rechten. Seit der Wecker heute morgen geklingelt hat, ist er mit den Gedanken noch nicht im Hier und Jetzt angekommen. Wir haben uns fertig gemacht wie immer, aber Viktor hat einige Dinge vergessen und war orientierungslos, dass ich allen Grund gehabt hätte, auf ihn einzureden, dass sein Verhalten keinesfalls dem eines Trainer angemessen wäre – nur, dass er nicht mehr mein Trainer ist. Er ist es nie wirklich gewesen und deswegen muss es jetzt ein Ende finden. Ich richte den Blick wieder auf das Eis, als ich die Schlittschuhe ausziehe. Phichit ist fertig und macht JJ Platz, damit dann auch der letzte Finalteilnehmer seinen Probelauf beendet hat. Yurio und Otabek sind schon seit einer Weile verschwunden und ab jetzt würde es nur noch wenige Stunden dauern, bis es in die entscheidende Phase geht. Gerade als Viktor und ich aufstehen und die Halle erst einmal wieder verlassen wollen, sehen wir, wie JJ beim Versuch, einen vierfachen Rittberger zu springen, stürzt. Ich stutze. Ein Rittberger war hypothetischer JJ-Style. Er versucht es direkt noch einmal, setzt aber mit einer Hand auf dem Eis auf. Alle Achtung, JJ. Er kann offensichtlich doch mehr, als nur seine große Klappe aufzureißen. Wenn der Letztplatzierte noch so verbissen kämpft, dann gibt es für alle anderen erst recht keinen Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Am Abend um kurz vor zehn Uhr ist es dann soweit. Das Centre de Convencions de Barcelona hat sich innerhalb von nur wenigen Stunden in eine Arena der Superlative verwandelt. Die Ränge sind bis auf den letzten Platz voll besetzt und überall sieht man die Länderflaggen aller Finalisten, das Aufgebot der Medien erschlägt einen nahezu und die Zuschauer fiebern den Läufen ihrer Helden entgegen. Und trotzdem kommt es mir im Vergleich zu Sochi merkwürdig leise vor. Der König auf dem Eis weilt nicht unter den Finalisten und die Stille, die daraus erwächst, ist allgegenwärtig. Dieses Finale wird wie keines zuvor. Egal wie es ausgeht, der Sieger wird heute seit fünf Jahren nicht Viktor Nikiforov heißen. Doch auch ohne Viktor stehen auf russischer Seite alle Zeichen auf Sieg. Der Erwartungsdruck auf Yurio muss insbesondere durch den Weltrekord noch weiter angestiegen sein, denn er steht mit nur fünfzehn Jahren kurz davor, der jüngste Sieger in der Geschichte des Grand Prix bei den Seniors zu werden. Ich kann also nur verstehen, dass seine beiden Trainer ihn seit heute morgen äußerst genau im Auge behalten und nicht mehr Wettkampfgeschehen als maximal nötig zu ihm durchdringen lassen wollen. Yurio ist schon seit den Morgenstunden weitgehend abgeschirmt und auf Anweisung seiner Trainerin hin verlässt er das Eis noch vor allen anderen, um sich die letzten Minuten bis zu seiner Kür im Backstagebereich unbeeinflusst weiter vorzubereiten. Die thailändischen Fans hingegen schmeißen schon von Beginn an eine „Dabei-sein-ist-alles“-Party, denn Phichit wird um den Sieg nicht mehr mitlaufen können, aber das heißt nicht, dass die erste Finalteilnahme eines Thailänders nicht trotzdem gefeiert werden könnte. Bei allen anderen Teilnehmern, die noch eine realistische Chance auf das Eingreifen in den Wettkampf haben - Chris, Otabek und mir – herrscht dagegen während dem Aufwärmen äußerste Konzentration. Jeder von uns weiß, dass jetzt nichts mehr schief gehen darf, wenn es ein Platz auf dem Treppchen werden soll und je näher es der Kür entgegengeht, desto mehr Adrenalin sammelt sich in meinem Körper. Trotzdem aber bringt es diesmal meine Mentalität nicht zum Wanken. Mein gefasster Zustand von heute morgen steht nach wie vor wie ein Fels in der Brandung, fest entschlossen, diesmal nicht aufzugeben. Natürlich hätte ich immer noch die Möglichkeit, „Nein“ zu alledem zu sagen, meinem Egoismus die Hand zu reichen, Viktor als Trainer zu behalten und zuzusehen, wie die lebende Legende abseits der Eisfläche langsam in Vergessenheit gerät und stirbt. Aber soweit muss es hoffentlich nicht kommen. Der Einzige, der in der Lage ist, Viktor sein Spiegelbild zu zeigen, bin ich. Von den Platzierungen im Kurzprogramm ausgehend werde ich als Letzter der ersten Gruppe dran sein. Den Anfang macht JJ, der gerade von seiner Hilflosigkeit über ein weiteres Mal überrollt wird. Die Wasserflasche trifft mit voller Wucht auf das Eis, er wirft sich seiner Mutter um den Hals und für einen Moment scheint es, als würde jeder einzelne kanadische Fan in dieser Halle von seinem Platz aufspringen und hinunterrennen wollen, um JJ doch noch einmal auf die Schulter zu klopfen und beizupflichten, dass er das schafft. Solange man aktiv ist, sind das Herzblut der Fans und die Liebe von Familie und Freunden die wertvollste Unterstützung, die man sich als Sportler nur wünschen kann. Wenn man dazu in der Lage ist, sie zu begreifen. JJ muss sich deswegen keine Sorgen machen, denke ich, als ich mich auf eine Bank setze, um meine Schlittschuhe noch einmal neu zu binden. Er ist noch jung und hat noch viele Wettkämpfe vor sich, die er gewinnen kann. Nächstes Jahr um diese Zeit steht er womöglich wieder im Finale und kämpft erneut mit fünf anderen Läufern um den Sieg. Manchmal braucht es dazu einen neuen Anfang, eine neue Erfahrung oder zweite Sichtweise. Dieser Grand Prix geht heute zu Ende, aber die Wettkämpfe mit den anderen Läufern werden noch viele Jahre so weitergehen. Keine Geschichte könnte faszinierender sein als eine, die kein Ende hat. Zum Ende von JJs Kür toben die Kanadier über einen fast gelungenen, vierfachen Rittberger und unerwartete 213 Punkte, sodass JJ zurück im Rennen ist und nicht einmal schlechte Chancen hat, tatsächlich auf dem Podest zu stehen. Nur wenige Minuten später erklingen aus der Halle die Gesänge zu Phichits „Terra Icognita“ und ich mache mich auf zu Viktor, der zum letzten Mal die Makkachinbox, meine Isoflasche und meinen Ausweis aus unserer Tasche nimmt und diese im Spind einschließt. Ich gebe ihm noch meine Brille, dass er sie in die Jackentasche seines Trenchcoats tun kann und während das Publikum weiterhin gute Laune auf dem Eis feiert, beginne ich mit meinen Dehnübungen hinter den Tribünen. Viktor steht still mit verschränkten Armen an der Wand und beobachtet mich. Sein Blick hat sich im Vergleich zu heute früh lediglich dahingehend verändert, dass er nicht mehr in sich gekehrt aussieht, sondern gereizt. Seine Nerven müssen blank liegen, aber das tun meine auch. Vor einem Jahr hätte ich nicht geträumt, noch einmal an diesem Punkt zu stehen und doch tue ich es, stelle mich dem Wettkampf; aber noch mehr stelle ich mich der Verantwortung, die ich auf mich geladen habe, als ihn darum bat, als Trainer an meiner Seite zu bleiben. „Bitte, darf ich um deine Hand anhalten, bis ich zurücktrete?“ „Ich wünschte, du würdest niemals zurücktreten.“ „Wir gewinnen zusammen Gold beim Finale, ja...?“ Wir wissen beide, dass es das nicht sein kann. Wir sind nicht Trainer und Schüler. Nach dieser Kür ist es vorbei und was dann auf uns wartet, entscheidet jeder für sich. Aber wenn Viktor dieses Programm so geschrieben hat, dass es gewinnen kann, dann will ich es durch meine Liebe mit Leben füllen und höher tragen, als er es sich je vorgestellt hat. Die Kür von Phichit ist zu Ende und ich gehe voran, Viktor folgt mir. Wir betreten die Halle, Phichit wird von Celestino und seiner Trainerin in Empfang genommen und ich setze den ersten Fuß aufs Eis, gleite einige Meter. Es fühlt sich anders an, aber es trägt mich. Als hörte ich es rufen, dass er nach Hause kommen soll. Ich fahre zurück an die Bande. Den Kopf lasse ich gesenkt, mein Blick ruht auf der Kälte unter mir. Flüchtig nehme ich noch die verschränkten Arme von Viktor vor seiner Brust wahr, dann schließe ich die Augen, um ein Gefühl für das Eis zu bekommen. Bin ich auf dem Eis, ist er bei mir, was auch immer ich tue. „Keine Sorge,“ sagt Viktor und ich höre, wie schwer er sich tut, etwas der Situation angemessenes zu sagen, „du kannst immer noch Gold gewinnen.“ Dann nimmt er meine Hand. „Wenn du an dich glaubst.“ „Ne, Viktor,“ entgegne ich ihm direkt, „am Anfang habe ich gesagt, dass ich möchte, dass du einfach nur Viktor bist. Du musst mir jetzt nicht mit Trainer-Floskeln zureden, ja?“ Das Eis und ich sind uns einig. Ich ziehe meine Hand unter seiner weg und halte sie stattdessen. „Ich möchte, dass du lachen kannst, wenn es vorbei ist.“ „The score for Pitchit Chulanont is 289,56 points.“ Viktor beugt sich zu mir herunter, ich spüre seinen Atem an meinem Ohr und öffne die Augen, ohne ihn direkt anzusehen. „Yuuri, hör' mir gut zu,“ setzt er an und klingt dabei jetzt völlig anders, „ich habe lange mit mir gerungen, ob ich dir das jetzt sagen soll. Ich, fünfmaliger Weltmeister in Folge, bin so weit gegangen, eine Pause zu machen, um dich zu trainieren. Dass du bis jetzt noch keine einzige Goldmedaille gewinnen konntest, heißt was?“ Was das heißt...? Mit einem Mal bin ich komplett hellhörig. Heißt das etwa, dass es für ihn nie darum ging...? Viktors Ausdruck wird sanfter, er lächelt mir liebevoll zu. „Wie lange hast du noch vor, so weiterzumachen wie im Training?“, sagt er und umarmt mich liebevoll. „Ich möchte diesmal schon Gold küssen...“ antworte ich etwas trotzig, aber ich glaube, ich habe verstanden. Es ging nie darum. Er hat auf dem Eis einen Partner gesucht. Erfüllt sich mein Wunsch, erfüllt sich seiner. Als wir uns voneinander lösen, schaffe ich es nur für einen kurzen Moment in seine blauen Augen zu schauen, die mir zu verstehen geben, dass er nicht mein Trainer sein will, sondern mein Partner. Dass er einfach nur will, dass ich bei ihm bleibe, egal was passiert. Gott, Viktor...!, denke ich und falle zurück in seine Umarmung, halte ihn fest und verliere jeglichen Widerstand gegen meine Tränen, genauso wie er auch. Du bist so ein Depp! „Now on the ice, representing Japan... Yuuri Katsuki!“ Wir sind uns ebenfalls einig. Das Ziel steht fest. Ich halte noch einmal seine Hand, dann fahre ich auf das Eis. Mein Name ist Katsuki Yuuri. Vielleicht bin ich ein japanischer Eiskunstläufer wie jeder andere. 24 Jahre. Aber ich bin hier für den, den ich liebe. -----[Free Skate: Yuri on Ice]----- Als ich zum stehen komme, bin ich völlig außer Atem. Ich sehe meinen ausgestreckten Arm und Viktor am Rand der Eisfläche stehen. Die Erkenntnis kriecht nur langsam in meine Bewusstsein. Ich hab's geschafft... Ich hab es wirklich geschafft. Ich bin die Kür fehlerfrei gelaufen. Und auch den Flip...! Ich kann mich nicht mehr halten. „JAAAAAAAAA!“ Ich schreie die Erleichterung heraus, beide Fäuste in die Luft erhoben. Meine Knie zittern, ich kann es einfach nicht glauben! Ich habe es wirklich geschafft! Die Tränen stehen mir in den Augen, von dem Geschrei um mich herum bekomme ich überhaupt nichts mehr mit. Ich habe es wirklich durchgezogen…! Irgendwie gelingt es mir, mich vor dem Publikum zu verbeugen, zu winken. Aber mit jedem Mal, dem ich mein Gesicht dem Eis zubewege, überkommt mich mehr und mehr die Gewissheit, dass meine Aufgabe damit erfüllt ist und ich gehen muss. Viktor wartet freudestrahlend auf mich, streckt schon die Arme nach mir aus, als ich mich zu ihm umdrehe. Ich dachte, ich wäre mental darauf vorbereitet, aber gerade will ich nicht zurück. Wenn ich zurückgehe, ist es vorbei. Und ich will nicht, dass es vorbei ist. Mit einer letzten Verbeugung richte ich meinen Dank an das Eis, dass es mich getragen hat und gleite mit gesenktem Kopf zu Viktor. Er schließt mich sofort in die Arme, als ich meine Füße wieder auf festen Boden setze. Mir ist zum Heulen zumute, ich greife unter seinen Trenchcoat und drücke ihn an mich. Er ist so warm und ich liebe seine Wärme, seinen Geruch, seine Nähe... „Yuuri,“ beschwört er mich und beginnt meinen Kopf zu streicheln, „Schhh, alles ist gut. Alles ist gut...“ Nichts ist gut. Nichts ist gut, Viktor. Ich will mit dir zusammen bleiben und selbst wenn die ganze Welt gegen uns ist... Ich will nicht, dass irgendwas vorbei ist! Er beginnt mich sanft hin- und herzuwiegen. „Ich liebe dich, Yuuri...“, flüstert er ganz leise. „Eine schönere Liebeserklärung als diese könnte ich niemals mehr bekommen...“ Ich lasse ihn nicht gerne los, aber ich muss.... Die Schritte zum Kiss & Cry sind die Schwersten meines Lebens und mir wird schlecht, wenn ich auch nur eine Sekunde darüber nachdenke, was gleich auf der Anzeigetafel erscheint. Wir setzen uns, aber ich kann nicht mal gerade sitzen bleiben vor Anspannung. Meine Ellbogen stützen auf meine Knie, meine Stirn lehnt an meinen Händen... Viktor fährt mit seiner Handfläche meinen Rücken auf und ab. Um mich zu beruhigen, um meinen Rücken warm zu halten, ich weiß es nicht. Ich muss die Zähne zusammenbeißen, aus Angst, dass gleich mehr als nur Luft herauskommt, sollte ich den Mund nur einen Spalt zu weit öffnen. Dabei habe ich keine Fehler gemacht, ich weiß es... Ich weiß es und trotzdem weiß ich nicht, ob es genug war. Es darf nicht umsonst gewesen sein. Es darf alles gewesen sein, nur nicht umsonst... „Keine Sorge. Die Vorstellung war so perfekt, du bekommst ganz sicher viele Punkte“, ermutigt mich Viktor und just in diesem Moment ertönt die Ansage zur Punktevergabe. ----------------------------------------- „The score for Yuuri Katsuki is… 319.41 points! Ladies and Gentlemen, the free skate earned 221.58 points. This is new world record!“ ----------------------------------------- Yuuris Ergebnis durchfährt mich wie ein Stromschlag. Egal mit was ich gerechnet habe, das war es nicht. Ich hab ihm viele Punkte gewünscht, aber nicht so viele. Ich hätte ihm Gold von Herzen überlassen, aber nicht auch das noch. Das ist etwas zu viel des Guten... Hab ich mich letzten Endes mit dem Programm selbst aufs Kreuz gelegt...? Mein Blick fällt auf das Eis. Ja, du! Lachst mich aus, nicht? Retourkutsche dafür, dass ich gesagt hab, ich hab keinen Bock mehr? Hast den Limbo unter seinen Kufen getanzt, ja? Na warte. Ich wende mich Yuuri zu, der wie vom Donner gerührt da sitzt. Aber er sieht schon süß und unschuldig aus, wie mit seinen großen Augen zu mir sieht, dass ich doch anerkennend lächeln muss, als ich ihm die Hand hinhalte. Etwas zögerlich nimmt er sie und sofort ziehe ich ihn zu mir. „Herzlichen Glückwunsch,“ beginne ich und ich bin mir sicher, irgendwo tief in mir drin meine ich das auch so. „Dass beide Yuris meine Rekorde gebrochen haben, ist für mich als Choreograf die größte Ehre. Aber als Konkurrent bin ich jetzt natürlich ziemlich angepisst.“ Yuuri sieht mich völlig entgeistert an, dann legt sich helle Freude über sein Gesicht: „Als Konku-... Heißt das, du steigst wieder ein?!“ Ich spreche es nicht aus, aber ja, das heißt es. Stehle niemals die Hörner des Teufels, Yuuri, denn er kommt zurück und holt sie sich. Und da wäre noch etwas. Ich werde es unter diesen Umständen nicht zulassen, dass du dich einfach so auf und davon machst. Ein Ass habe ich noch im Ärmel und ich werde es spielen. Denn außer mir gibt es noch jemanden, der deine Entscheidung nicht so einfach hinnehmen wird. Ich hätte zwar nicht gedacht, dass ich den Kleinen anstiften gehen muss, aber sei’s drum. Ein barmherziger Samariter war ich noch nie und ich zwinge ihn ja nicht. Aber wenn das Programm der Hexe eines ausdrückt, dann das Brennen für perfekte Schönheit auf dem Eis. Darum merk’ dir eins, Yuuri: Wir machen immer das, was ich will, das du willst, was ich will Etwa eine Stunde später hält mir Yuuri etwas bedröppelt die Silbermedaille entgegen. Ja, sowas aber auch. Kein Sieg? Wie ist das denn passiert? „Ist doch kein Gold geworden...“ Ich kann mein Grinsen nicht unterdrücken. Ich bin ein Arsch, ich weiß. Und ich schäm‘ mich kein bisschen dafür. Aber einfach gibt’s bei mir nicht. Das ist eben meine Art zu zeigen, wie sehr ich jemanden liebe. „Wenn‘s kein Gold ist, hab ich keine Lust es zu küssen,“ sage ich. „Eh?!“ „Da hab ich als Trainer aber ganz schön versagt. Dabei hätte ich deine Goldmedaille so gerne geküsst“, fahre ich scheinheilig fort und gehe einige Schritte auf Yuuri zu, um mich über ihn lehnen zu können. „Hast du keinen Vorschlag, der das wett machen könnte?“ „Eh, also...“ „Hast du etwa nicht über eine Entschädigung nachgedacht?“, frage ich säuselnd und sehe ihm lasziv in die Augen. „Etwas, dass mich ähnlich in Euphorie versetzen könnte?“ -------------------------------------------- Was meint er...? Etwas, dass ihn ähnlich in Euphorie versetzen könnte...? Er sollte wissen, dass ich ernst mache, wenn er zu lange um irgendwas bettelt! ...Gut, er will es nicht anders! Ich petzte die Augen zusammen, verbanne meine selbstlosen Vorsätze ins Niemandsland und tue das, was ich eigentlich schon die ganze Zeit über tun wollte: Er ist Viktor und mein Viktor; ich werfe ihn mit einer Umarmung nach hinten um, die Silbermedaille landet auf dem Boden und ich fordere entschlossen: „Viktor! Bitte bleib' noch für ein weiteres Jahr mein Trainer! Ich gewinne ganz sicher Gold, ich versprech‘s!“ Es dauert einen Moment, bis er es begreift, was ich gesagt habe, aber dann gibt es kein Halten mehr: „Sehr gut! Und noch was!“ ( * v * ) „Eh, was denn?“, frage ich ihn. „Naja,“ beginnt er verschmitzt grinsend und hebt meine Silbermedaille vom Boden auf, „ich habe Zweifel, dass ich wieder auf dasselbe Level wie früher zurückkomme, wenn ich gleichzeitig dein Trainer bleibe. Das heißt, dass du dann für uns fünffacher Weltmeister werden musst, sonst steht mir das nicht.“ Fünffacher... Weltmeister? Nicht sein Ernst...? Oh Viktor... Irgendwie kann ich noch meine Zustimmung zum Ausdruck bringen, aber gleichzeitig steigen mir auch die Tränen in die Augen. „Yuuri,“ fragt er, „warum weinst du?“ „Weil ich glücklich bin, du Idiot.“ „Wegen?“ „Dir natürlich“, halte ich ihm vor. „Ich hätte nie gewollt, dass irgendetwas zwischen uns aufhört.“ „Dann lauf-?“ „Ja,“ falle ich ihm ins Wort und wische ein paar Tränen mit dem Ärmel meines Kostüms weg. „Hör' auf zu fragen, es steht alles. Ich hab dich vom Eis geholt, also es ist nur recht, wenn ich dich wieder dorthin zurück führe.“ „...Yuuri...,“ flüstert er glücklich und legt die Arme um meine Schultern, „du bist wahrhaftig ein Prinz geworden.“ „Du legst es drauf an, oder? Dass ich dich so nenne?“ Er grinst ertappt. „Dein Jackett ist blau. Mein Jackett ist rosa.“ Darauf kann ich absolut nichts mehr sagen. Er zieht mich zu sich und wir halten uns ganz fest, die Tränen fließen weiter, aber vor Freude, weil wir uns im wichtigsten Punkt doch immer einig geblieben sind: Dass wir nicht mehr voneinander getrennt sein wollen. Nicht in diesem und nicht im nächsten Leben. Alles andere wäre nur noch eine Frage. 10 - Welcome to the Madness --------------------------- „Glückwunsch, Yuuri!“, ruft mir Phichit entgegen, der scheinbar mit Chris zusammen auf uns vor der Halle gewartet hat. „Das war so knapp, es tut mir echt Leid für euch!“ „Kann man nichts machen...“, entgegne ich, aber Chris hebt seine Augenbraue verdächtig. „Du hast ihn gelinkt?“, fragt er an Viktor gerichtet. „Wer, ich? Niemals“, beschwert sich Viktor sofort, aber ich stutze doch etwas. „Der Einzige, den ich gelinkt habe, bin ja wohl ich selbst.“ „Genau deswegen, Viktor. Du kannst es nicht haben, wenn andere das letzte Wort haben“, stichelt Chris weiter. „Ich kenn‘ dich, das muss an dir nagen. Dein kleiner Eros übertrumpft dich einfach mal so aus dem Nichts und das, nachdem der Giftzwerg dich auch schon übertrumpft hat. Da würd' mir auch der Hut hochgehen. Dass du überhaupt noch die Füße still hältst, ist eigentlich ein Wunder.“ „Er kommt zurück aufs Eis“, werfe ich in die Runde und Chris sieht mich verblüfft an. „Weißt du, Chris, ich kenne ihn mittlerweile auch ganz gut. Mir ist bewusst, dass er immer das letzte Wort haben muss, dass Arschkeks sein zweiter Vorname ist und dass ich bescheuert wäre, nicht anzunehmen, dass er nicht irgendwo seine Finger mit drin hatte.“ Chris sieht aus, als wüsste er gerade nicht, was er mit dieser Aussage anfangen soll. „Aber ich weiß, warum er das getan hat“, sage ich und schaue einen nicht weniger überraschten Viktor an. „Wenn er das gemacht hat, dann doch nur, weil ich schon wieder zu blind war, das Offensichtlichste zu begreifen.“ „Und das wäre?“ „Dass er es wirklich ernst meint“, antworte ich. „Viktor kann sich und seine Gefühle nicht gut mit Worten ausdrücken. Aber auf dem Eis kann er es und es hat bis jetzt gedauert, dass ich das wirklich verstanden habe. Und wenn ich ehrlich bin, dann will ich auch nichts anderes mehr.“ „Bon?“, antwortet Chris und sieht Phichit mit einem fragenden Blick an, aber meine Anspielung war zu viel für Viktor. „Es ist spät“, sage ich auffordernd, bevor gleich wieder Land unter ist. „Wir sollten schlafen gehen.“ „Übertreibt es nicht“, meint Chris mit einem hämischen Grinsen, aber ich winke ab. „Nicht vor der Hochzeit, Chris“, erwidere ich trocken. Sofort rümpft er pickiert die Nase und Phichit reißt die Augen auf, entsetzt darüber, dass man von Worten keine Fotos machen kann. Viktor beginnt kurz darauf zu kichern, dann zu lachen und umarmt mich. Er weiß genau, von wem ich diese Qualität Antworten gelernt habe. Grand Prix Finale, Barcelona. 11. Dezember 2016: EXHIBITION Es ist die größte Exhibition, an der ich bis her teilgenommen habe. Ich habe zwar unzählige im Fernsehen gesehen, aber ich war noch nie selbst ein Teil davon. Der Ablauf ist dem einer kleineren Exhibition in den Vorentscheiden ähnlich, aber es ist das Erreichte und die Aufmerksamkeit, die den Unterschied ausmachen. Mein Herz pocht wie verrückt, aber zum ersten Mal pocht es vor Vorfreude auf das, was vor mir liegt. Noch trage ich brav meine Trainingsjacke geschlossen über meinem blauen Jackett, aber das auffälligste Accessoire, das ich gerade bei mir habe, lässt sich nicht so einfach verstecken: Nämlich Viktor selbst. Die Trainer befinden sich zwar während der Exhibition auch mit im Backstagebereich, aber in der Regel tragen sie kein Kostüm und vor allem keine Schlittschuhe. Auch wenn niemand Viktors Kostüm unter seinem Trenchcoat sehen kann, die Schlittschuhe fallen einem durch die goldenen Kufen sofort auf. Viktor grinst wie ich auch nur noch dümmlich vor sich hin, weil er weiß, wie sehr er zwischen den eigentlichen Teilnehmern auffällt. Einige beobachten ihn amüsiert, doch die Mehrheit teilt trotz angekündigtem Comeback dieselbe Verwunderung über seine Anwesenheit. Ich bin mir nicht mal sicher woher das kommt, aber dass etwas im Busch ist, kann sich jeder, der uns backstage sehen kann, denken. Ungeachtet dieser Blicke jedoch funkeln Viktors Augen nicht weniger wie das Eis vor ihm und ich kann nicht anders, als seine Hand noch fester zu greifen, wie ich es eh schon die ganze Zeit tue. Er ist wieder da, wo er hingehört. Obwohl das Finale vorbei ist, hat keiner von uns seinen Ring abgelegt. Wir tragen sie auch jetzt noch und so langsam wird es Zeit, dass auch ich mir bewusst werde, wo ich hingehöre: Genau hierher, an seine Seite, und wir sind bereit, der Welt zu zeigen, dass uns ab jetzt nichts mehr auseinander bringen kann. --------------------------------------------------- „Mila, mach hin!“, halte ich sie an, weil sie mir immer noch nicht sagt, dass ich die Augen wieder aufmachen kann. „Wenn du nur halb so viel meckern würdest, wäre ich schneller fertig.“ Ich schnaube. Das Gefühl von diesem Pinsel auf den Augenlidern nervt tierisch! „Dann habt ihr deine Exhibition gestern Nacht noch umgestellt?“, fragt sie. „NEU, Mann, nicht umgestellt. Sieht man ja wohl, Sherlock.“ „... Otabek muss echt Nerven haben, wenn er sich von deiner rotzigen Art nicht beeindrucken lässt.“ „Er ist mein Freund.“ „Ahahahaha, ja klar“, gackert sie, dann pinselt sie am anderen Auge rum. „Was war eigentlich los? Du hast Gold gewonnen und nur Trübsal geblasen. Deinem Gesicht nach zu urteilen, hättest du die Medaille am liebsten in die Ecke gefeuert.“ „Das geht dich 'n Scheiß an“, pampe ich zurück. „Aber gut genug zum Schminken bin ich, ja?“ Sie setzt den Pinsel ab, ich öffne sofort die Augen. Dass Weiber nicht nur nervtötend sozial, sondern auch immer noch sofort beleidigt sein müssen, wenn man ihnen nicht alles auf'm Tablett serviert. „Die feige Sau rennt weg“, sage ich schließlich. „Viktor hat sein Comeback schon an die große Glocke gehängt. Katsudon hört auf, damit Viktor wieder aufs Eis kann.“ Mila hebt die Augenbrauen. „Und das ist alles?“ „Was heißt hier alles?! Der haut 'nen Weltrekord raus und gibt niemandem mehr die Chance, direkt gegen ihn anzutreten? Das kann er sich abschminken!“ „Ah, und was ist jetzt dein Plan?“ „Die Exhibition, Mann. Ich kann das andere Ding nicht laufen, weil's dasselbe ist wie die Kür. Ich will, dass ihm wenigstens noch einmal der Kiefer runterklappt! Heute ist mein Moment!“ „Dann mach' die Augen zu, ich bin noch nicht fertig“, sagt sie und bürstet den Pinsel wieder durch den schwarzen Lidschatten. Dann setzt sie wieder an, umfährt meine Augen und tupft in meinem Gesicht rum. „Meinst du nicht, Viktor hat was dagegen?“ „Tz, wieso sollte er?“ „Naja, hast du nicht Yakov brühwarm erzählt, Viktor habe gesagt, der andere Yuuri muss erst eine Goldmedaille gewinnen, bevor geheiratet wird?“ „Ja und?!“ „Und hast du nicht auch herum geflucht, dass Viktor dir noch vor deiner Kür gesteckt hat, dass er aufs Eis zurückkommt und dass er irgendwas geredet hat von wegen er habe die falsche Wahl getroffen? Viktor würde niemals zugeben, eine falsche Wahl getroffen zu haben. Schon gleich gar nicht dir gegenüber.“ Ich springe vom Stuhl auf, Mila flucht, dass ich sitzen bleiben soll, aber was zur Hölle?! Hat Viktor mir das am Ende bloß aufgetischt, dass ich an seiner Stelle Katsudon nen Grund liefere, nicht aufzuhören, oder was?! „Nimm's locker, Yuri. Viktor ist so“, grinst Mila und tätschelt meinen Kopf, als wär ich fünf und hätt dem Schnuller im Tausch gegen nen Lolli hinterher geheult. „Dafür lieben wir ihn doch irgendwie, oder? Weil er uns alle mit seiner Art fasziniert.“ Sie sind tot. Sowas von tot! Der Alte und Katsudon können sich auf was gefasst machen! Meine Exhibition wird einschlagen wie eine Bombe! Der neue Sieger hier bin ich, Yuri Plisetsky! Zusatz: Der Tag dazwischen -------------------------- Den Rest des Tages verbringen wir dann weitgehend getrennt voneinander. Nach dem Aufstehen haben wir im Hotelrestaurant eine Kleinigkeit gegessen und Viktor hat mich gefragt, ob ich ihn bei meinen Interviews heute Nachmittag bräuchte oder ob er nach draußen spazieren gehen könne. Es überraschte mich etwas, aber es schien auch verständlich, dass er jetzt Zeit für sich bräuchte. Etwas mulmig war mir dennoch, ihn alleine losziehen zu lassen, aber wir haben vereinbart, uns jederzeit anrufen können, sollte irgendetwas sein. Der Tag ist grau und es bläst ein rauer Wind, sodass ich insgeheim hoffe, dass er noch einen anderen Plan hat, denn spazieren zu gehen stelle ich mir bei diesem Wetter alles andere als entspannend vor. Viktor verabschiedet sich gegen 14:30 Uhr und ich begebe mich ins Foyer des Hotels, um dort meinen Verpflichtungen gegenüber der Berichterstattung nachzukommen. Das Gespräch mit NHK zieht sich wie Kaugummi und nach einer Weile muss ich mich selbst ermahnen, nicht ständig nervös auf das Handydisplay oder meinen Ring zu schauen, sondern bei den Fragen des Interviewers zu bleiben. Viktor hat seinen Ring beim Verlassen des Hotels noch getragen, aber mir schwirrt ständig der Gedanke im Kopf herum, dass er ihn ablegen könnte. Eine andere Stimme schreit zwar laut, dass er das nicht tun würde, aber das Unwohlsein bleibt trotzdem. Es löst ein Gefühl in mir aus, als müsste ich gleich anfangen heulen. Der Ring ist ja nur ein Glücksbringer... Viktor hat keinen Grund, ihn zu tragen. Schließlich hat das Interview eine Stunde dauert, aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Alles in meinem Kopf dreht sich nur um Viktor; wo er ist, was er macht, was er fühlt. Was es ist, dass er braucht, um wieder zurück zu wollen. Einen kurzen Moment bin ich sogar in Versuchung, Herrn Feltsman zu suchen und ihm um Rat zu fragen. Aber abgesehen von der Tatsache, dass er dafür keine Zeit haben würde, da er mit Mila Babicheva heute beim Kurzprogramm der Damen anwesend sein muss, hallen Chris' Worte in meinem Kopf wieder, dass ich womöglich gevierteilt werde, sollte er erfahren, dass Viktor wegen mir so durchgedreht hat. Ich verwerfe die Idee also wieder und beschließe stattdessen, Viktor eine Nachricht zu schicken, dass ich gerne wüsste, wo er bei diesem Wetter hingegangen ist. Es bereitet mir Sorgen, wie ich sie noch nie zuvor empfunden habe. Der Mensch, den ich am meisten liebe, scheint plötzlich völlig unerreichbar für mich... Nachdem ich die Nachricht gesendet habe, ist bis zu meinem zweiten Termin noch eine Dreiviertelstunde Zeit. Da es keinen Sinn macht, nach draußen zu gehen, entscheide ich mich, einfach in der Lobby sitzen zu bleiben und zu warten. Um mich wenigstens etwas abzulenken, überlege ich mit einem kleinen Block vor mir und einem Stift in der Hand, ob ich das mit der Kür wirklich machen soll. Sie so umzustellen, dass sie Viktors Schwierigkeitsgrad angepasst wäre. Dazu bräuchte ich einen Vierfachsprung mehr, aber das hieße auch, einige andere Sprünge austauschen zu müssen. Letztendlich sollte das aber das geringste Problem sein. Würde ich den dreifachen Rittberger gegen einen vierfachen Toeloop austauschen und vierfachen Flip am Ende landen, wäre die Anzahl der Schwierigkeitspunkte hoch genug. Viktor läuft für gewöhnlich zwischen 214 und 220 Punkte in seinen Küren, dass er es in Sochi letztes Jahr auf eine Gesamtpunktzahl von 335,14 Punkten geschafft hatte. Trotzdem hat er nie den Eindruck vermittelt, dass die technische Arbeit, die dahintersteckt, sein Ziel wäre. Wenn ich es mir recht überlege, hat er immer Dinge gejagt, die dahinter lagen... Seine Welt. Wenn man ihm zuschaut, spürt man, dass da etwas ist, das einen fasziniert, aber mir war nie in den Sinn gekommen, dass es real ist. Es klingt so unwirklich, dass ich mir selbst bescheuert vorkomme und mich ernsthaft fragen muss, warum ich das alles glaube. Vielleicht würde ich es weniger glauben, wenn ich nicht im letzten Jahr selbst Zeuge dessen geworden wäre, dass Viktor ganz anders arbeitet, als ich es von anderen Trainern gewohnt bin. Zu Beginn habe ich mich über seine Trainingsvorstellungen und Methoden zwar gewundert, es aber nicht hinterfragt, weil ich mich nicht in der Position sah, ihm Vorschriften zu machen. Aber Yurio war es auch aufgefallen. An dem Abend, nachdem er und ich unter den Wasserfall geschickt worden waren, haben wir entgegen Yurios Absicht, Viktor zu suchen, doch nur zu zweit bei Yoshinoya gesessen und über diese merkwürdigen Trainingsmethoden diskutiert. Yurio hatte viel weniger Hemmungen, darüber herzuziehen und irgendwie hat es mich beruhigt zu erfahren, dass ich nicht der Einzige war, der sich wunderte. Eigentlich war es erstaunlich, dass wir die Programme überhaupt irgendwie laufen konnten, obwohl wir gefühlt nur meditiert oder Basisübungen gemacht haben. Jeder von uns hat sich mit seinem Thema so schwer getan, dass mir erst im Nachhinein auffiel, dass Viktor zwei Wochen lang zwischen Eros und Agape hin- und hergewechselt hat, als würde er Socken an und wieder ausziehen. Mein Handy vibriert und reißt mich aus meinen Grübeleien. Viktor hat ein Foto geschickt, es zeigt ein rundes Gebäude mit einer bunten Wand und Fahnen im Vordergrund. Erst als ich es vergrößere, erkenne ich, dass die Wand mit Fischen bemalt ist und auf der Außenwand groß „L'aquàrium“ zu lesen ist. Ich atme erleichtert auf. Viel Spaß. Ich liebe dich, tippe ich ihm als Antwort. Danach kam sofort ein Bild von einem Hai. Depp. Während meinem zweiten Interview vibriert mein Handy dann so oft, dass ich mich bei den Reportern entschuldigen muss, um nachzusehen, was los ist. Aber es sind nur weitere Fotos. Flüchtig werfe ich einen Blick über das, was Viktor mir alles geschickt hat. Allerlei bunte Fische, eine Krabbe, Muränen, ein riesiger Tintenfisch, sogar Muscheln... Ich schmunzele, auch wenn kein Text dabei ist. Wenn er so viele Fotos schickt, scheint es ihm gut zu gefallen und ich muss mir hoffentlich keine Gedanken mehr darum machen, dass er mir unterschwellig sagen wollte, dass ich auf der Speisekarte von Haien stehe. Nachdem Interview verabschiede ich mich vom Team der TV Asahi und schlage den Weg in Richtung Fahrstühle ein, als Phichit mich abfängt. „Mensch, Yuuri! Wo warst du heute morgen? Warum antwortest du nicht?“, fragt er vorwurfsvoll, aber klingt dabei viel mehr besorgt wie sauer. „Sorry, ich hatte den Kopf nicht wirklich frei...“, entschuldige ich mich. „Warum ist Viktor nicht bei dir? Einige Eiskunstlauffans haben ihn im L'aquàrium gesehen, ohne dich!“ „Ich hatte Interviews?“, antworte ich und Phichit sieht aus, als hätte ich gerade das Unmögliche möglich gemacht. „Oh,“ meint er, das Gesicht immer noch mit Sorge gezeichnet, „dann habt ihr also keinen Streit so kurz nach der Hochzeit?“ „Wir sind nicht verheiratet“, erinnere ich ihn. „Viktor wollte lediglich etwas nach draußen gehen, während ich Termine wahrnehme, mehr nicht.“ „Aber er ist dein Trainer, sollte er nicht dabei sein, wenn du interviewt wirst?“ Ja, aber er ist nicht mein Trainer, denke ich und schaue missgestimmt in eine andere Richtung. Draußen hat es angefangen zu regnen und ein Blick auf mein Handy sagt mir, dass es noch zwei Stunden dauert, bis ich mich mit Viktor zum Abendessen treffen will. Hoffentlich konnte er irgendwo einen Schirm herbekommen, denn die Metrostation ist einige Meter vom Aquarium entfernt, wenn ich mich recht erinnere. „Willst du reden?“, bietet mir Phichit plötzlich völlig unvorbereitet an. Er grinst verlegen und fügt hinzu: „Ich kenne dich, Yuuri. Wenn dich etwas bedrückt, dann schaust du immer zum Fenster raus.“ „Vielleicht könnte ich wirklich einen Rat gebrauchen...“, gestehe ich und seufze. „Klar,“ meint Phichit mit einem ehrlichen Lachen, „wir sind Freunde, nicht?“ Erst beim Eintreten in unser Zimmer fällt mir auf, in welcher Unordnung wir es verlassen haben und dass der Zimmerservice gar nicht hatte saubermachen können, weil wir zu dem Zeitpunkt noch im Bett gelegen haben. Es ist mir unangenehm, aber es hilft nichts. Ich muss Phichit bitten, vor der Zimmertür einen Moment zu warten, bis das Gröbste aufgeräumt ist. Viktors Bademantel liegt noch auf dem Boden, sowie einige benutze Taschentücher und unsere offenen Koffer inklusive Schmutzwäsche muss Phichit jetzt nun wirklich nicht sehen. Im schlimmsten Fall wäre das die Instagram-Trophäe des heutigen Tages und ich will nicht wissen, was dann los wäre. Auch wenn ich hoffe, dass er in einer Situation wie dieser den Selfie-Drang kontrollieren kann. Als ich Phichit nach einigen Minuten eintreten lasse, kann ich an seinem Gesicht sehen, wie sehr das Zimmer ihn fasziniert. Denn auch mit geschlossenen Koffern und beseitigten Taschentüchern lässt es sich nicht leugnen, dass hier nicht Trainer und Schüler übernachten, sondern zwei Liebende. Unsere Betten stehen aneinander geschoben, es riecht nach Viktors Parfum und sein Anzug hängt mit meinem Kostüm für morgen zusammen auf demselben Bügel. „Wahnsinn, Yuuri,“ staunt Phichit und sieht sich mit großen Augen um, „ihr seid wirklich ein Paar!“ „Ja...“, antworte ich verlegen. Phichit hat nie offiziell von mir erfahren, dass Viktor und ich eine Beziehung führen, auch wenn er seit vorgestern herumrennt und allen erzählt, wir wären verheiratet. „Und wie ist das?“, fragt er mich neugierig. „Mit seinem Idol zusammen zu sein?“ „Ziemlich kompliziert“, antworte ich seufzend. „Was, echt jetzt?“ Die Enttäuschung über meine Antwort steht ihm ins Gesicht geschrieben und ich nicke, dann setze mich seitlich auf die Fensterbank. Mein Blick ruht wieder auf dem Regen draußen. „Phichit-kun, wenn du jemanden hättest, der dir wichtiger wäre als alles andere, würdest du das Eislaufen aufgeben, um mit dieser Person zusammen sein zu können?“ Er kommt zu mir, setzt sich neben mich und lehnt mit dem Rücken an die Scheibe. Dann sagt er: „Ich weiß nicht. Ich denke, wenn mich diese Person auch mehr als alles liebte, dann dürfte es kein Problem sein, weiterzumachen, oder? Partner sollten sich unterstützen.“ „Hm“, antworte ich. „Du liebst ihn doch, oder?“, fragt er mich eindringlich. „Ja, natürlich“, beginne ich, „deswegen will ich nicht, dass er wegen mir auf den Eiskunstlauf verzichtet.“ „Verstehe...“ antwortet er, aber dann sieht er mich noch einmal schockiert an und fragt: „Willst du etwa aufhören, Yuuri?!“ „Er braucht das Eis mehr als ich,“ erkläre ich. „Viktor ist ein Genie. Das Eis ist seine Welt, er braucht sie. Ich kann nicht verlangen, dass er sich selbst aufgibt, nur weil ich einmal in meinem Leben Gold gewinnen will. Aber er redet die ganze Zeit davon, dass er nicht mehr eislaufen kann und ich verstehe nicht warum. “ „Und was sagt er dazu? Also, dass du aufhören willst?“ „Er ist sauer deswegen.“ „Zu Recht!“, ereifert sich Phichit. „Er glaubt an dich, Yuuri! Sonst wäre er ja wohl kaum dein Trainer geworden, oder? Da hätte er es gleich bleiben lassen können!“ „Darum geht es nicht“, widerspreche ich, „Ich will ihm einfach nicht im Weg stehen.“ Phichit sieht mich unverständlich an und fragt: „Willst du denn nicht mehr versuchen zu gewinnen?“ „Mit einem Weltrekord vor den Augen? Das Ding ist gelaufen, Phichit-kun. JJ war der Einzige, der noch hätte mithalten können.“ „Nun gut,“ resümiert er, aber der Optimismus bleibt, „du hast vielleicht recht, dass niemand mehr Yuri Plisetsky schlagen kann. Aber das haben wir auch alle von JJ gedacht, oder?“ „Phichit-kun, niemand will dadurch gewinnen, weil andere Fehler machen...“ „Yuuri, bist du blind oder ein Arsch?“ Phichit sieht aus als könne er mich nicht verstehen, dabei kann ich gerade nicht verstehen, warum er mich so angeht und einen Arsch nennt. „Das Programm, das den Weltrekord gebrochen hat, trägt doch Viktors Handschrift, oder? Und der Einzige, der morgen mit einem solchen Programm in die Kür startet, bist du. Glaubst du wirklich, Viktor hätte dir ein Programm geschrieben, das nicht das Potenzial zum Gewinnen hat?“ Die Feststellung ist ein Schlag ins Gesicht. „Die Chance ist vielleicht nicht groß, aber sie ist da“, spricht er energisch weiter. „Sieh mal, ich kann nur einen vierfachen Toeloop; das heißt, ich bin wirklich raus. Aber du bist vielleicht noch als Einziger in der Lage, etwas auszurichten. Ich an Viktors Stelle wäre jedenfalls auch sauer, wenn du schon abschließt, bevor du es versucht hast. Er kennt das Potenzial seiner Programme doch am Besten, oder? Aber wenn ich dir zuhöre, könnte man meinen, er kann gar nichts und du fragst dich, warum er den Eindruck hat, nicht mehr laufen zu können?“ Es ist kein Schlag mehr ins Gesicht. Es ist einer in die Weichteile. „Vertrau' ihm. Ihr liebt euch doch, oder?“, sagt er und sieht mich aufmunternd an. „Ja...“, nuschele ich wieder etwas verlegen. Mein Blick hängt auf meinem Ring und irgendwie ist das doch Müll als Glücksbringer... Es wäre wirklich schöner, wenn die Ringe das wären, was sie hätten sein können. „Kopf hoch, Yuuri. Das wird schon wieder.“ Ich nicke ihm zu und lächele zaghaft optimistisch. „Du hast übrigens ein Taschentuch übersehen“, bemerkt Phichit unschuldig und deutet auf ein zusammengeknülltes Papier am Fußende meines Betts. „T-tut mir Leid!“ entfährt es mir schockiert und Phichit beginnt zu lachen, als ich es in Windeseile vom Boden aufsammele, um es in die Toilette zu werfen. „So schlimm kann eurer Streit nicht gewesen sein, Yuuri,“ sagt Phichit, nachdem ich aus unserem Bad trete, „wenn ihr euch noch so nahe sein wollt.“ Das Türschloss klickt. Viktor ruft leise meinen Namen, ich antworte ihm und er öffnet die Tür. „Ich bin wieder da.“ „Willkommen zurück“, sage ich, packe den Block weg und stehe vom Schreibtisch auf. Viktor sieht etwas müde aus und ich warte, bis er den Mantel ausgezogen hat. Dann sieht er zu mir und bin erleichtert, dass er sich seinen Begrüßungskuss geben lässt. „War es schön im Aquarium?“, frage ich. „Hm, ja. Viele Menschen“, antwortet er. „Was hast du gemacht?“ „Die Interviews waren ganz gut“, berichte ich ihm, „Keine unseriösen Fragen. Und ich habe die Schlittschuhe nochmal schleifen lassen.“ „Gut...“ Jetzt klingt er wieder abwesend und hängt den Mantel an die Garderobe. „Deine auch“, sage ich. Er hält inne. „Wozu?“ „Für die Exhibition.“ „... Und wie willst du gewinnen?“ „Glaubst du nicht daran, dass ich es schaffen kann?“ „Yuuri.“ „Was?“ „Bitte, verschone mich damit.“ „Ich habe nicht gesagt, dass ich aufgebe.“ „Yuuri!“, ruft er und klingt plötzlich doch wieder sehr aufgebracht. „Lass' es gut sein! Ich habe keine Lust, zuzuhören. Ich habe überhaupt keine Lust, mich damit auseinanderzusetzen. Es ist mir egal, welchen Kampf du kämpfst, es ist nicht mehr der meine!“ Es war nur eine kleine, trügerische Hoffnung, dass er anders reagieren würde. Aber ich war vorbereitet. Dann muss ich es wohl dabei belassen, aber einen Versuch war es wert gewesen. Ich sollte auch nicht weiter darauf herumreiten, wenn ich die vorherige Nacht nicht noch einmal wiederholen will. „Tut mir Leid,“ sage ich, „wollen wir dann essen gehen?“ „Ich habe keinen Hunger.“ „Willst du allein sein?“ Es bleibt still, dann: „Nein...“ „Ok. Zimmerservice?“, frage ich in versöhnlichem Ton. Viktor dreht sich zu mir um und ich kann von seinen Augen ablesen, wie sehr er umarmt werden will. Er nickt. „Dann zieh' dich um und setz dich aufs Bett. Ich komme gleich zu dir“, sage ich ihm und frage mich ernsthaft, ob ich Pizza vor der finalen Kür auf ewig abonniert habe, als ich zum Telefon greife. Epilog: Epilog: See you next level ---------------------------------- Ich krieg Brechreiz. Seit Katsudon und der Alte hier aufgekreuzt sind, heißt es nur noch Glückwunsch, Glückwunsch, Glückwunsch und zu was? Nicht für Silber, nicht für den Weltrekord oder das Comeback, sondern für diese beknackte Exhibition. Wenn Otabek nicht hier wäre, hätte ich schon längst die Flucht ergriffen. Ihm ist das egal, aber da ist er auch der Einzige. Der Thailänder übt schon für's Standesamt und der Schweizer hat dem Grinsen nach 'nen Dreier im Kopfkino laufen. Wehe die fangen wieder mit so'ner obszönen Kacke an wie letztes Jahr. Dann bin ich raus, aber so was von. Die Idioten verschweigen es, aber Katsudon hat ihn gefragt. Der Presse können sie lange erzählen die letzte Showeinlage war als Kniefall vor dem König geplant. Katsudon hat das vielleicht geplant, aber Viktor wusste nichts davon. Der war doch fix und fertig mit der Welt, als sie mir und Otabek entgegen kamen...! Das war ein gottverdammter Heiratsantrag am Ende! Da war es umso besser, die Exhibition geändert zu haben, so hat wenigstens der Moment mir allein gehört! …Sie wollen später noch mit mir reden. Keine Ahnung, worum's geht und warum sie das heute Vormittag bei der Pressekonferenz nicht anschneiden wollten. Sei’s drum, schlimmer kann’s net werden. Während der Konferenz fiel kein Wort darüber, ob Katsudon aufhört oder welchen Trainer er alternativ haben sollte, jetzt wo der Alte wieder einsteigt. Gerade hängt er sich für die Kamera Katsudon über die Schulter und isst ihm aus der Hand. Dazu noch ein Grinsen medienwirksam in die nächste Kamera, dass auch der letzte Spaßt kapiert, dass Mr Superstar vergeben ist. Und Katsudon gefällt's, dass Viktor so anhänglich ist.. Dieses ganze Geflirte geht einem allein durch’s Zusehen tierisch auf'n Geist. Sie sollen das irgendwo anders machen, wo's keiner sehen kann! Wahrscheinlich hat Viktor jetzt schon wieder vergessen, dass sie mit mir reden wollten! Wenn sie nicht langsam zu Potte kommen, dann bin ich weg. Ich will nicht noch ewig hier rumgammeln und von Yakov und Lilia hin- und hergeschleift werden. Hände schütteln hier, freundlich sein da – was soll der Dreck? Diese ganze Promokacke, die Viktor das jedes Mal mitgemacht hat, mach' ich ganz bestimmt nicht mit. Ist ja kein Wunder, dass dem irgendwann die Lichter ausgegangen sind! Irgendwann stehen die Iditon doch vor mir. Was auch immer es zu sagen gibt, ich hoffe, es war die Warterei wert. „Spukt’s aus.“ „Du weißt doch noch gar nicht, was wir sagen wollen“, fängt der Alte an sich aufzuplustern. „Es ist mir egal, klar?“, schnappe ich zurück. „Ihr habt doch bloß noch Augen für euch. Der Rest interessiert doch gar nicht mehr.“ „Deswegen wollen wir mit dir reden,“ antwortet Viktor, „oder viel mehr, Yuuri möchte das.“ „Tz, ein Auf-Nimmer-Wiedersehen?“, motze ich. Das kann er sich sparen. „Du bist das Letzte, Katsudon.“ „Also nicht direkt...“ „Nicht direkt?! Was soll das heißen, nicht direkt‘?“, rufe ich aufgebracht und stapfe einen Schritt auf ihn zu, hält die Hände vor seine Brust. Mit dem rechten Zeigefinger deute ich direkt zwischen seine Augen. „Du denkst doch keine Sekunde darüber nach, wie du auf andere wirkst! Du hockst in ner Kabine auf'm Klo und flennst, aber kannst dem da den Weltrekord ablaufen und denkst dann, das war’s?!“ „‚Dem da‘? Wer ist denn ‚Dem da‘?“, beschwert sich Viktor, aber es geht mir am Arsch vorbei. „Man kann nicht einfach mal nur für sich an die Spitze laufen und dann verschwinden!“ „Ja, ich weiß“, sagt Katsudon, senkt den Kopf und sieht mich dann direkt an. „Deswegen verschwinde ich auch nur kurz...“ Ha? Kurz? Was labert er? Dann kommt er plötzlich auf mich zu und umarmt mich. Was zur Hölle geht hier?! „Nur so lange, bis ich mein Visum bekomme“, gesteht er. Ein Visum? Visum für was...? „Wir essen dann zusammen in Russland Katsudon, Yurio.“ Was, wie, meint der etwa ein Visum für...?! „Yuuri und ich kommen zurück“, sagt Viktor und legt die Arme um uns beide. „Yuuri wird auch nicht aufhören. Wir laufen alle drei, zusammen.“ ...! Mann, Alter. Ihr seid solche Vollidioten... Aber ich freu mich drauf. Ehrlich. --------------------------------------------------------------------- Als Viktor und ich den Bankettsaal an unserem letzten Abend in Barcelona verlassen, umgibt uns eine merkwürdige Gelassenheit. Beim Betreten des Bankettsaals fühlte ich mich zunächst verunsichert; vielleicht weil meine Erinnerung des letzten Banketts nicht mit der Realität übereinstimmt, wie ich mittlerweile auf zahlreichen Fotos gesehen habe. Es gäbe sicherlich auch jede Menge Gründe, sich deswegen unwohl zu fühlen, wenn ich dadurch nicht den schönsten Zufall meines Lebens an der Hand halten würde. Offiziell bestätigt haben wir es nicht, aber einen Hehl daraus zu machen, dass wir uns nahestehen, wäre nach allem, was gewesen ist, ein Verrat an uns selbst. Jeder der Anwesenden hat es vermutet, wenn derjenige es nicht sogar aus erster Hand weiß. Mit unserer Exhibition haben wir der Welt gezeigt, dass wir zusammen bleiben wollen und nach nur wenigen Minuten sind uns für diese gelungene Überraschung mehr Glückwünsche ausgesprochen worden als für die Silbermedaille oder den Weltrekord. Auch jetzt schwebt noch dieses gewisses Gefühl in der Luft, das mich an das Tanabata erinnert und das ich nicht richtig in Worte fassen kann, bis man uns unerwartet doch noch die Frage stellt, die gleichzeitig die Antwort zu sein scheint: „Seid ihr glücklich?“ Es braucht einen Moment, es zu realisieren, aber ja. Wir sind glücklich. Nicht nur, weil es ab heute ein wirkliches Wir gibt. Zum ersten Mal in meinem Leben stehe ich am Ende eines internationalen Wettkampfs und bereue nichts. Weder die Dinge, die dich getan habe; noch die Dinge, die ich nicht getan habe. Eine Goldmedaille bin ich Viktor zwar immer noch schuldig, aber wir haben von jetzt an alle Zeit, dieses Ziel weiterzuverfolgen. Schließlich scheint kein Traum zu groß, wenn es jemanden gibt, der mit einem träumt. Und manche Ziele bleiben alleine auf ewig unerreichbar. Wir haben uns entschieden, unseren Weg zusammen auf dem Eis zu gehen. Dort haben wir gefunden, wonach wir beide gesucht haben. Für uns bedeutet alles auf dem Eis Liebe. ~ENDE~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)