Von Peking bis Barcelona von Flokati ================================================================================ 8 - Klimax: Genie und Wahnsinn ------------------------------ „Du willst aufhören, damit ich weitermachen kann?! Sag mal hast du sie noch alle?!“, geht er mich an, steht auf und packt mich an den Schultern. „Viktor, was soll das? Lass‘ mich los!“ Ich stemme meine Hände gegen seine Brust, um ihn davon abzuhalten, sich komplett auf mich zu werfen. Was passiert hier gerade? Wieso reagiert er so heftig? „Yuuri... Wieso?!“, ruft er mir unter Tränen entgegen und ich fühle mich völlig hilflos. Ich versteh das nicht. Ich dachte, dass er im ersten Moment irritiert sein könnte. Dass er vielleicht sauer würde. Aber ich hätte nicht gedacht, dass er weinen würde, dass er mich packt und aufs Bett drückt! „Viktor“, beginne ich kaum hörbar und ich überlege angestrengt, wie ich ihn beruhigen könnte. Aber noch bevor ich mich fragen kann, ob er es zulassen würde, dass ich ihm den Rücken streichle, lässt er von mir ab und sinkt vor dem Bett auf die Knie, das Gesicht in den Händen vergraben. „Viktor“, setze ich nochmal an, diesmal etwas lauter. „Was?“, kommt es dumpf zwischen seinen Händen hervor. Nicht nur sein Ton ist gerade überaus besorgniserregend, auch seine Finger krampfen merkwürdig. „...Ich möchte nicht mehr laufen. Bitte versteh‘ das“, wiederhole ich, so ruhig wie ich es nur irgendwie bewerkstelligen kann. „Ich will dir nicht im Weg stehen.“ „Welcher Weg, Yuuri?!“, schreit er mich an. „Welche Wahl habe ich?! Denkst du, ich habe eine Wahl, wenn du mich vor vollendete Tatsachen stellst?!“ Ich schrecke zurück und weiß nicht, was ich sagen soll. Mit einem solchen Ausbruch habe ich nicht gerechnet. Jeder wünscht sich, dass er aufs Eis zurück kommt und und ich dachte, er würde das auch so sehen... Wenn er bei mir bleibt, versauert er. Alles, was er tut, ist so viel mehr als nur Eiskunstlauf; Viktor darf die wenige Zeit, die ihm noch bleibt, nicht als mein Trainer enden! Das kann keiner wollen, auch er nicht! „Viktor,“ versuche ich es zum dritten Mal und meine Stimme klingt sicherer, als ich mich fühle, „du weißt, warum ich dir den Ring geschenkt habe?“ „Davon will ich nichts hören!“ „Viktor!“, ereifere ich mich. „Bitte hör' mir zu!“ Er steht vom Boden auf, ich versuche seine Hand zu greifen, er schlägt sie weg und ruft: „Wenn du mir jetzt mit irgendeiner aberwitzigen Theorie zu diesem Ring kommst, Yuuri, dann bist du dafür 24 Stunden zu spät! Ich dachte, du liebst mich!“ „Das tue ich auch!“, entgegne ich erbost und springe vom Bett auf. „In den letzten zwölf Jahren gibt es keine Minute, keine Sekunde in meinem Leben, in der ich dich nicht geliebt hätte! Als der, der du bist!“ Er steht da wie vom Donner gerührt. „Ich wünschte wirklich, mir könnte das alles egal sein! Könnte mit dir richtig und nicht heimlich in eine Kirche gehen, dich heiraten und mit dir den Rest meines Lebens verbringen! Aber so einfach ist es nicht!“ Viktor starrt mich an und bewegt sich keinen Millimeter. „Ich komm' damit nicht klar, statt deiner auf dem Eis zu stehen, während du daneben stehst! Du kannst von Russland nach Japan fliegen, aber du kannst nicht vor dir selbst weglaufen! Du bist kein Trainer, du bist Viktor!“ Seine Augen sind weit aufgerissen und selbst seine Tränen scheinen für einen Moment eingefroren. Ich kann nicht fassen, was ich da gerade gesagt habe... Dass es so weit kommen würde...! Viktor starrt mich noch für ein paar Sekunden regungslos an, der Mund geöffnet, bis er unerwartet kehrt macht, nach seinem Handy auf dem Bett greift und noch bevor ich ihm auch nur einen Schritt nachgehen kann, fällt die Zimmertür vor meiner Nase ins Schloss. Ich will ihm schon nachrennen, aber mein Blick fällt auf seinen Nachttisch – dort liegt, neben Geldbörse und Ladekabel, seine Schlüsselkarte. Das ist jetzt nicht wahr. Wenn ich ihn jetzt suchen gehe, kann er nicht mehr zurück ins Zimmer. Das ist einfach nicht wahr...! „Hallo? Chris? Hier ist Yuuri... T-tut mir Leid, wenn ich so spät anrufe. Ist Viktor bei dir?“ „Nein, warum fragst du?“ Ich krieg' die Krise. Wenn er nicht bei Chris ist, wo ist er dann hingelaufen? Er hat nicht mal Unterwäsche an, es ist Dezember, seine Haare sind nass und selbst seine Schuhe stehen noch da! Nach dem Schock über die vergessene Schlüsselkarte habe ich sofort aus dem Zimmer in den Gang geschaut, da war schon nichts mehr von ihm zu sehen. Zuerst wollte ich einfach warten, aber es sind jetzt schon mehr als zwanzig Minuten vergangen. Auch wenn er erwachsen ist und auf sich selbst aufpassen kann, habe ich Viktor noch nie so erlebt und in meinem Kopf spielen sich schon Horrorszenarien ab, was ihm alles passieren könnte. „Viktor ist weggelaufen...“, versuche ich Chris das Geschehene zu erklären. „I-ich würde ihn suchen gehen, aber er hat die Schlüsselkarte nicht mitgenommen. Er kann nicht mehr rein, wenn ich weggehe.“ „Er ist weggelaufen? Wohin?“ „Das weiß ich ja nicht“, antworte ich und klinge dabei wahrscheinlich genauso panisch, wie ich mich fühle. Chris hingegen scheint die Information noch nicht sonderlich aus der Fassung zu bringen. Aber wenn er mir nicht helfen kann, dann niemand sonst. „Und warum?“ „...Er...hat sich aufgeregt...und geweint...“ Gott, wie erkläre ich ihm das nur? „Hm? Viktor weint nicht einfach so, was hast du angestellt?“ „...I-ich hab gesagt, dass ich zurücktreten werde... Dass er wieder laufen kann. Also...“ „... Scheiße, Yuuri.“ Oh Gott. Das klingt als hätte ich die Büchse der Pandora geöffnet und weiß nichts davon. „Chris?“ „Yuuri, gib‘ mir ne Minute.“ Ich warte, meine Beine wippen unablässig auf und ab. Ich bin in den letzten Minuten schon so oft in unserem Zimmer auf und ab gelaufen, dass ich beschlossen habe, mich zu setzen, aber meine Beine scheint das nicht davon abzuhalten, weiterlaufen zu wollen. Chris schweigt, aber ich kann spüren, wie sehr er versucht, etwas in Worte zu fassen, um mir eine scheinbar unsägliche Wahrheit mitzuteilen. Dann endlich meldet er sich wieder: „Also, du erinnerst dich, warum Viktor dein Trainer geworden ist?“ „Weil er mein Video gesehen hat?“ „Eben nicht. Du hast ihn letztes Jahr beim Bankett auch herausgefordert. Der Einsatz war, dass er dein Trainer wird, wenn du gewinnst.“ „Ich hab WAS?! S-soll das heißen... wenn ich gewinne... dann hat er verloren?!“ „Nein. Es gab keinen Sieger bei diesem Wettkampf, nur einen Verlierer, wenn man das so sehen will. Aber deswegen ist er nach deinem Video sofort zu dir nach Japan.“ Er macht eine schwerwiegende Pause. „Und du sagst jetzt, du willst zurücktreten... Alter, ich weiß nicht, ob ich dir dafür eine verpassen sollte oder nicht. Habt ihr euch nicht gestern erst verlobt?“ „Nein.“ „Huh? Dann ist das Geturtel nur Fake?“ „Nein. Chris, ich hab ihm den Ring als Dankeschön gegeben, dass er etwas hat, das ihm sagt, wie ich für ihn fühle.“ „Aber Viktor hat doch von Verlobung und Hochzeit gesprochen?“ „Damit meint er etwas anderes.“ „Bist du dir ganz sicher? Viktors Verhalten klingt eher so, als wär' für ihn das Eine wie das Andere. Hast du versucht, ihm das zu erklären?“ „Ja, aber da hat er schon nicht mehr zugehört...“ „Verständlich... Hat Viktor sein Handy dabei?“ „Ja, aber es ist dauernd besetzt...“ „Dann redet er mit jemandem, immerhin. Nun gut...“ Es folgt eine weitere Pause. „Yuuri, wenn Viktor wieder zurückkommt, erklärst du ihm das mit dem Ring, verstanden? Ich werd‘ dich nicht davon abhalten, zurückzutreten, aber du hast Viktor schon mal versetzt und wenn du von seinem Trainer nicht gevierteilt werden willst, machst du das kein zweites Mal. Als Tipp.“ „Wann habe ich Viktor versetzt?“ „An der Stelle bin ich raus, Yuuri. Wenn Viktor nicht auftaucht, sag‘ Bescheid, aber der Rest ist eure Sache.“ „Ok... danke.“ Ich bete einfach, dass meine Nerven das aushalten. ----------------- „Hallo? Vitya, bisch du's?“ „Mama? Bist du noch wach?“ „Ja. ...Vitya, weinst du?“ Ist das etwa so leicht zu hören...? „...Mama, war es schlimm für dich, dass Vater immer wieder gehen musste und kaum zuhause war? Als Partner?“ „...Ich weeß net, wie du jetzt uff die Fro kummscht. Ich hab deinen Vadder immer vermisst, wenn er net bei uns war. Und dein Vadder hat uns beide genauso vermisst.“ „Hast du dir gewünscht, dass er bleibt?“ Sie lacht. „Jedes Mol, wenn er gehe musst, Vitya. Jeder Abschied war schwer. Jedes Widdersehen voller Freed.“ „Wie hast du das ausgehalten?“ „Ich hab gewisst, dass er mich liebt. Dass er an mich denkt. Und als ich dich kriet hab, musst' ich dich nur angucke und jeder Zweifel war wie fort geblase.“ Mein Griff um das Handy wird fester und ich spüre den Ring an meinem Finger. „Vitya... ich weeß immer noch net, was los ist, awwer es klingt net so, als hätteste Anlass zu glaawe, dass dein Herzbu' net bei dir sei' will.“ „...Er will aufhören. Dass ich weitermachen kann.“ „Un des is schlimm?“ „Dann muss ich zurück nach Russland, aber ich will nicht wieder alleine sein...“ „Vitya... Du kleenes Prinzessje. Du warst immer uffm Eis. Deswege will er dich nur devor beschütze, des uffzugebbe. Mir wissen ja, dass du's net einfach hosch, jemanden zu finne, der dich und dei' Welt begreife kann, awwer er hot doch zumindest verstanne, dass sie existiert? Er will dich genau so, wie du bisch, mit all deine Flause im Kopp. Wie viel mehr muss er dir noch beweise, dass er dich liebt?“ „...Mama? Hast du den Wettkampf heute gesehen?“ „Freilich.“ „Was hast du gesehen?“ „Vieles, awwer vor allem Vergebung. Willschde noch mit Vadder spreche?“ „Kurz...“ „Wart‘.“ Sie reicht das Telefon weiter. „Saa mol, Borsch, bisch du schun widder am Flenne wesche irgend’nem Kerl? Herrgott nochemol. Such‘ der halt e Märe, wann‘s mit de Kerl‘ net klappt!“ „Vadder...“ „Ei, was soll isch dann saache, vor’e paar Stun’ sin ihr im Fernseh’, Ringe an de Finger, isch denk schun ‚Na Gott sei Dank hot er endlich eener, der ne heirade will!‘ und jetzt rufschde oa und plärrscht deine Mudder die Ohre voll, wie scheiße alles is. Also her‘ mol. Reiß‘ dich z‘samme und red’ halt mit’m. Wer vun eisch hot die Ringe kaaft? Du oder de Korze?“ „Yuuri...“ „Ja aller, was willsche dann? Loss‘ der eens g’saat soi vun jemmand, der‘s schun gemacht hot: Als ich deine Mudder en Ring aog’steckt hun, hatt isch mer des mehr als eemol üwwerleht, ob ich des mache will. Ich hun aa gewisst, dass ich se net stendisch siehe kann. Awwer sie war mer‘s wert. E Besserie hätt‘ ich net finne kenne. Un dein Korze denkt des sicherlich aa. Jetzt loss‘ halt Finfe grad soi und free‘ dich, dass de eener hoscht, der dich unnerstitzt.“ Ich greife das Handy noch fester. Ich versteh' das das nicht... Warum quält es mich so...? Hilft mir doch jemand... Jelena...! ------------------- Es ist kurz nach elf Uhr als es endlich an der Tür klopft. Ich stehe auf, erleichtert, dass er zurück ist und gleichzeitig sauer, weil er trotz zahlreicher Anrufe nicht zurückgerufen hat. „Viktor?“, frage ich, auch wenn ich nicht wüsste, wer sonst um diese Zeit noch klopfen sollte. „Ja...“, kommt es leise von draußen und ich spanne unwillkürlich noch mehr an, als ich die Türklinke berühre, weil ich nicht weiß, was mich gleich erwartet, wenn ich die Tür öffne. Chris vermutete zwar, dass er mit jemandem telefonierte (gut, es war offensichtlich, da die ganze Zeit besetzt war), allerdings weiß ich weder mit wem er telefoniert hat, noch was das Ergebnis des Gesprächs war und ob er sich wieder beruhigen konnte. Mein Arm fühlt sich kraftlos und dennoch steif an, aber ich drücke die Klinke nach unten und die Tür ist offen. Das Erste, was mir auffällt, ist dass er im Vergleich zu vorher nicht mehr beunruhigend aufgebracht ist, sondern beunruhigend still. Er weint nicht mehr, aber es sieht viel mehr aus, als wären einfach keine Tränen mehr übrig, die er weinen könnte. Die Schultern und Arme hängen schlaff nach unten, die Haare sind durcheinander und der Pony liegt in Wellen, weil er luftgetrocknet ist. „Komm‘ rein“, bringe ich irgendwie aus mir heraus. Ich sollte nicht zu viel reden, so schlecht ist mir vor Wut und Sorge über sein Verhalten. Viktor läuft einige Schritte in unser Zimmer, dann bleibt er stehen. Die Augen lässt er auf den Boden gerichtet. „Yuuri?“ „Ja?“ „Was bedeuten die Ringe?“ Ich glaube, von allem was ich erwartet habe, wäre das die letzte Option gewesen. Und gerade deswegen wühlt es mich sofort mehr auf, als dass es mich milde stimmt. Wenn er nicht weggelaufen wäre, hätte ich mir nicht über eine Stunde lang den Kopf darüber zerbrechen müssen, wo er spät abends nur mit dem Bademantel bekleidet im Hotel oder sonst wo herum rennt! „Hörst du mir zu?“, frage ich und klinge dabei gereizter als ich eigentlich will. „Ja.“ Auch seine Antwort klingt gereizt. „Setzt du dich bitte hin?“ „Ok.“ Viktor setzt sich auf sein Bett, die Beine überschlägt er, die Arme verschränkt vor der Brust. So ganz weiß ich nicht, was ich von dieser Haltung halten soll, denn so macht er nicht den Eindruck, als würde er es wirklich wissen, geschweige denn akzeptieren wollen. Was auch immer ihn zu diesem Ausraster gebracht hat, er wird es mit sich selbst ausmachen müssen, sofern er sich nicht entscheidet, mir davon zu erzählen. Hellsehen kann ich nicht. Ich atme tief durch und setze mich mit etwas Abstand neben ihn. „Die Ringe sind Glücksbringer. Auf Japanisch heißt das o-mamori,“ beginne ich erst einmal so nüchtern wie möglich zu erklären, bevor mir meine Emotionen einen Strich durch die Rechnung machen, „zumindest war das die Grundidee.“ Viktor bleibt still und wartet. „Ich weiß nicht, ob ich dir übermorgen wirklich das präsentieren kann, was du all für deine Mühen verdient hättest. Ich will einfach nicht, dass du mit leeren Händen da stehst. Ich habe lange überlegt, womit ich dir eine Freude machen kann und gehofft, dass dir vielleicht irgendwas ins Auge springt. Aber stattdessen wolltest du mir ein Anzug kaufen. Ich wollte nicht undankbar wirken, aber es lief einfach in die total falsche Richtung.“ „Klar. Ist es jetzt falsch, wenn der eigene Freund einem was zum Geburtstag schenken will?“ „Nein, aber du wolltest auch nichts haben!“, verteidige ich mich. „Ich sagte, nicht vor dem Geburtstag!“ „Und ich habe gefragt, um wenigstens eine Idee zu bekommen!“ „Was ist das für eine Logik? Erst sagst du, du wolltest mir was schenken, deswegen darf ich dir nichts schenken und dann hast du keine Idee, aber irgendwie doch und am Ende trage ich einen Ring, der mir in einer Kirche angesteckt wird und jetzt kommst du um die Ecke und haust alles kurz und klein, weil es ein Glücksbringer sein soll? Hörst du dir zu beim Reden?!“ „Es war von Anfang an ein Glücksbringer!“ „Und das sagst du mir jetzt?!“ „Viktor, du wusstest das! Du tust gerade so, als hätte ich das nie erwähnt!“ Er antwortet nichts. Er weiß, dass ich Recht habe. Und trotzdem sitzt er da wie ein gehetztes Tier, umklammert seinen Körper und in den blauen Augen liegt ein nahezu besessener Blick, als versuchte er irgendetwas bis aufs Letzte zu verteidigen. Viktor verschließt sich vollkommen, nicht nur vor der Wahrheit, sondern auch vor mir. Es zehrt an mir, aber noch viel schlimmer finde ich, dass ich nicht mehr weiß, was ich machen soll. Ich weiß auch nicht, was ihm durch den Kopf geht oder wie ich wieder zu ihm durchdringen könnte. Wir verfallen in Schweigen und die Zeit schleicht vor sich hin. Er starrt in die Luft, ich habe meine Augen auf meine Knie gerichtet, die schon wieder unablässig auf und ab wippen. Ich könnte mich entschuldigen, aber ich wüsste nicht wofür. Ich habe nichts getan, was seine Reaktionen rechtfertigt und trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass es einen Grund geben muss, warum er so reagiert. Vorsichtig schaue ich hinüber auf seine Beine, die er immer noch überschlagen hat. Er hat Gänsehaut auf den Schienbeinen. „Ist dir kalt?“, frage ich. Es kommt keine Reaktion, dabei sieht er so aus, als wollte er mir antworten und tut es aus irgendeinem Grund nicht. „Viktor, bitte. Mir ist schlecht vor Sorge um dich.“ „...Ja.“ „Dann leg' dich unter die Decke. Ich gehe auch rüber auf mein Bett, wenn du mich gerade nicht bei dir haben willst.“ Das war offenbar zu viel gesagt. Sofort wendet er das Gesicht ab und ich höre, dass er kämpft, nicht wieder zu weinen. Was ist nur los mit ihm? „Viktor“, versuche ich es erneut und frage mich, wie lange das noch so weiter gehen soll. Übermorgen ist das Finale, ich habe nach dem freien Training morgen eine Menge Termine, wir sollten schlafen; stattdessen führe ich eine Diskussion, in der es gefühlt um Leben und Tod geht und ich keine Ahnung habe, warum ich sie führe. „Rede mit mir, bitte. Irgendwas quält dich, aber ich hab keinen blassen Schimmer, was!“ Er dreht sich wieder zu mir. „Das würde mich auch wundern, wenn du das wüsstest“, schießt er gegen mich und in seinen Augen sehe ich Tränen und blanke Hilflosigkeit, dass es mir einen Schauer den Rücken hinunter jagt. „Es ist der ewige Kampf mit mir selbst.“ „Was...?“ Jetzt versteh' ich gar nichts mehr. „Zuerst hat man gedacht, ich sei verträumt. Dann war ich seltsam, unnahbar, wurde gemieden. Für meine Trainerin stand irgendwann fest, dass ich einen Schaden habe“, fährt er fort und ich sitze da wie versteinert. „Ich wurde von einem dummen Termin zum Nächsten geschickt. Niemand sagte irgendetwas. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist, wenn dir jeder das Gefühl gibt, dass du nicht richtig im Kopf bist, aber keiner dir sagen kann, warum.“ Das... meint er jetzt nicht ernst? „Dann stand ich mit Odette auf dem Eis“, sagt er und sein Ton wird mit einem Mal leiser, die Stimme zittert. „Das hat alles verändert. Seitdem werde ich akzeptiert, aber das macht es mir nicht einfacher. Die ganze Welt benutzt dieses eine Wort für mich und trotzdem weiß niemand, was es wirklich bedeutet.“ Was...erzählt er da gerade? Ich bin völlig überfordert, ich kann mir weder vorstellen, was er mir damit sagen will, noch in irgendeinen Zusammenhang bringen. Aber Viktor redet einfach weiter: „Seit ich denken kann, hab ich mich anders gefühlt, mich anders verhalten. Die Gesellschaft von Tieren war mir willkommener als die von Menschen. Realität ist etwas, womit ich nicht umgehen kann; ich brauche meine eigene Welt, in der ich leben kann. Müsste ich ihr eine Form wählen, wäre sie das Eis. Nur auf dem Eis bin ich wirklich frei.“ Sofort schießt mir wieder durch den Kopf, was Yurio in Moskau gesagt hat. Viktor ginge lieber sterben, als dass man ihm das Eis wegnehme. Ich kann gar nichts mehr denken, aber ich stelle fest, dass meine Hände schwitzen und kalt geworden sind. „Du hast recht, Yuuri, ich kann nicht vor mir selbst davon laufen. Ich kann nicht ohne das Eis, aber auf dem Eis bin ich alleine. Wenn mich dort niemand finden kann, erfriert mein Herz. Es ist bisher nur zwei Menschen gelungen, mir die Hand zu reichen, aber keiner von ihnen kann mich als einen Partner lieben. Das ist es, was mich quält. Das ist die traurige Wahrheit hinter der lebenden Legende, Yuuri, und sie zeichnet das erbärmliche Bild eines Menschen, der vor Einsamkeit in den Wahnsinn getrieben wird.“ „Du glaubst das nicht wirklich, was du da sagst? Dass niemand dich und deine Welt finden kann...?“, fange ich an zu plappern, nicht wissend, warum ich es überhaupt tue. Oder was ich überhaupt sagen will, die Worte kommen einfach so: „Wenn du auf dem Eis stehst, kann sie jeder sehen. Und jeder liebt sie!“ Viktor wendet sich ab. „Niemand kann sie sehen, Yuuri...“ Ich will ihm schon widersprechen, dann halte ich abrupt inne. Er kann es nicht, aber ich kann es. Weil er nicht weiß, wie er wirkt. Weil er sich nie selbst erfahren hat. Nachdem ich mit ihm die Poster durchgesehen hatte, konnte er die Schneeflocken wieder tanzen lassen. Weil er sich selbst gesehen hat, durch meine Augen...! Aber kann das wirklich sein? Dass er sich selbst nicht begreift? Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, ist Viktor aufgestanden, er geht um sein Bett herum und schlägt die Decke zurück. Ich springe auf und erinnere mich, dass ihm immer noch kalt sein muss. „M-möchtest du was trinken?“ frage ich unsicher, denn ein bisschen Wasser oder ein Tee würde keinesfalls schaden. Zum Einen gegen die Kälte, zum Anderen um Flüssigkeit zuzufügen, nachdem er so viel geweint hat. Viktor mummelt sich in die Decke ein und nickt einfach nur. Ok... Meine Beine fühlen sich merkwürdig unnachgiebig an, als ich zu der kleinen Wasserkocher auf unserem Schreibtisch laufe, um heißes Wasser für den Tee anzuschalten. Während ich die Teebeutel durchgehe und überlege, welchen er trinken wollen würde, versuche ich angestrengt, das auf die Reihe zu bekommen, was er gesagt hat. Nur Earl Grey sollte ich nicht nehmen. Zu viel Tein, damit kann er nicht schlafen und Makkachin ist auch nicht da... Zuerst klang es so, als gäbe es ein Problem mit Viktor, von dem jeder und doch irgendwie keiner etwas weiß und das ist der Grund, warum er gerade so durchgedreht ist... Pfefferminze mag er auch nicht. Riecht ihm zu penetrant... Und irgendwie hängt das alles mit dem Eis zusammen. Seiner Welt. Rooibos schon eher, Früchtetee geht gar nicht. Obst gehört nicht in einen Teebeutel, sagt er. In mir keimen große Zweifel auf. Ich lebe seit acht Monaten mit ihm in einem Haus, bin seit dem Sommer ein bisschen mit ihm zusammen gewesen und seit gut einem Monat sind wir ein Liebespaar, aber mir ist nichts, aber auch gar nichts, aufgefallen, das in diese Richtung deuten würde. Er macht immer einen so sorglosen Eindruck, aber es muss wohl ein einziger Trugschluss gewesen zu sein... Am Besten wäre einfach Kamille. Warum gibt es keinen Kamillentee? Ich seufze. „Viktor, da ist kein Tee, den du gerne trinkst. Willst du Rooibos?“ „...Ist egal.“ Dann wird es Rooibos. Mit der heißen Tasse gehe ich zurück zu ihm und stelle sie auf dem Nachtisch ab. Viktor richtet sich direkt auf, nimmt sie in die Hände und beginnt zu pusten. Er muss völlig ausgefroren sein, wenn er sich so sehr an etwas klammert, das ihm Wärme spendet. „Wo warst du überhaupt?“, frage ich und setze mich ihm gegenüber auf mein Bett. Er nippt an der Tasse und betrachtet den dampfenden Tee. „Am Pool. Woanders hätte ich nur mit Bademantel bekleidet kaum hin gekonnt. Außerdem wollte ich alleine sein...“ Ich atme auf. Die Antwort erleichtert mich einerseits, weil er immerhin im Hotel geblieben ist, andererseits ist sie so logisch, dass ich da auch von selbst hätte drauf kommen können... Allerdings frage ich mich, wie er das bei den Temperaturen überhaupt so lange dort oben ausgehalten hat. „Und?“, reißt er mich aus meinen Überlegungen und lächelt mich schief an. „Ist nicht mehr viel übrig von von mir, was? Die Fassade hat ganz schön viele Risse...“ „Du Dummkopf“, entgegne ich trocken. „Also wenn du mir gerade eins bewiesen hast, dann dass du von der Realität wirklich keinen Plan hast.“ Er schaut mich verwundert an. „Trink‘ deinen Tee und dann leg‘ dich zu mir, es ist gleich nach Mitternacht“, fordere ich ihn auf, schlage meine Decke zurück und rücke zur Seite damit er rüber kommen kann. „Du schläfst ja doch nicht, wenn du nicht schmusen kannst.“ Viktor sieht mich einen Moment mit den gleichen, überraschten Augen an, dann plustert er die Wangen auf, aber sie werden auch rosa. „Mach‘ dich nicht lustig...!“ „Tu‘ ich nicht. Trink und dann komm‘ her.“ Viktor nimmt noch ein paar Schluck Tee, stellt die Tasse ab und kommt zu mir ans Bett. Er legt den Bademantel ab, schlüpft zu mir unter die Decke und gut ist. Endlich. Meine Güte, eine Stunde Diskutieren und jetzt liegt er endlich wieder bei mir. „Denkst du, du hast mich mit deinem Geständnis überrascht?“, frage ich vorsichtig, umarme ihn und lege meine Hand auf seine Haare. „Welchen Viktor liebe ich denn? Den, den alle lieben oder meinen Viktor? Mir macht das nichts aus, wenn du das Eis brauchst. Du musst vor mir nicht perfekt sein. Ich bin es doch auch nicht.“ Erst passiert gar nichts, dann sehe ich im Licht der Nachttischlampe, dass die Augen doch wieder feucht werden. „Viktor, bitte“, sage ich und fange an, seinen Kopf zu streicheln. „Ich liebe dich, so wie du bist und daran ändert sich nichts, auch wenn ich übermorgen zum letzten Mal laufe. Ob du weitermachst oder nicht liegt bei dir, ich kann dich nicht zwingen. Aber du hast mir eben selbst gesagt, dass du das Eis und deine Welt zum Leben brauchst, also hör‘ auf, dich selbst zu belügen. Genau dafür habe ich dir den Ring geschenkt. Dass du etwas hast, dass dir sagt, dass ich dich liebe. Und wenn du willst, hast du immer einen Ort, an den du zurückkehren kannst.“ „Ich habe meine Welt verloren, Yuuri... Den Weg dahin. Ich kann nicht mehr laufen.“ „Du kannst“, entgegne ich. „Du hast es immer gekonnt und du wirst es wieder können.“ „Ich kann nicht...“ „Du kannst“, wiederhole ich nochmal. „Versuch‘ zu schlafen und nach dem Finale entscheiden wir.“ „Yuuri?“ „Hm?“ „Würdest du mich lieben, auch wenn ich nicht mehr könnte?“ „Was versuche ich dir denn die ganze Zeit über klar zu machen? Was muss ich tun, dass du das endlich glaubst?“ „Ich weiß nicht...“ Ich fass‘ es nicht. Das Selbstvertrauen, das mir auf dem Eis fehlt, fehlt ihm doppelt und dreifach, wenn er nicht mehr auf dem Eis steht! Kein Wunder, dass er mit sich nicht klar kommt...! Ich muss dieses Gespräch in eine andere Richtung lenken, sonst drehen wir uns doch nur wieder im Kreis... Aber was wäre am Besten? Ich weiß ja noch nicht mal wirklich, was genau das Problem ist... „Was soll das eingentlich sein, warum du anders bist als andere, Viktor?“, frage ich ruhig, weil ich nicht wüsste, was ich sonst fragen soll. Er hat seine Eigenheiten, ja, aber die hat jeder Mensch. „...Mein Wesen“, antwortet er schließlich. Ich warte, weil noch bringt mich diese Antwort nicht weiter. „Menschen wie ich sind selten“, ergänzt er. „So?“, frage ich, damit er weiter redet. Seine Stimme klingt plötzlich ganz anders, irgendwie befreiter. Es scheint zu helfen. „Wir können Dinge, ohne sie gelernt zu haben. Wir haben Visionen und jagen ihnen nach. Manchmal erscheint unser Tun völlig verrückt, aber nur, weil wir unterbewusst schon einen Schritt weiter sind. Man gibt uns viele Namen, unter anderem eben auch Genie.“ „Ah“, sage ich zugestehend. Genie war das Wort, das er gemeint hat, als er sagte, alle Welt benutze dieses eine Wort für ihn, aber keiner wisse, was es bedeutet. Irgendwie muss ich jetzt doch schmunzeln. Das ganze Drama nur deswegen? Ich fange an, seinen Nacken ein bisschen auf und abzufahren. „Das stimmt. Einem Genie wie dir muss man nichts beibringen. Wenn du es willst, machst du es einfach.“ „Hmm, ja“, nuschelt er und legt den Kopf auf meine Brust, dass ich ihn besser kraulen kann. „Für mich reicht es meist, etwas zu wollen, um zu wissen, dass ich es kann...“ Mit einem Mal schaue ich ihn völlig perplex an. Er schaut mich genauso perplex an. Viktor hat sich die Antwort, nach der gesucht hat, gerade selbst gegeben! Muss ich jetzt an meinem Verstand zweifeln, dass er sie die ganze Zeit in sich hatte und trotzdem nicht drauf gekommen ist?! Seine Augen sind genauso weit aufgerissen wie meine, völlig überrascht von der Erkenntnis. Ich kann förmlich sehen, wie es in ihm beginnt zu arbeiten, dass sich plötzlich etwas aufbaut, dass ich nicht sehen kann, das aber deutlich da ist und ihn vollständig umgibt. „Ich muss es wollen.... um zu wissen, dass ich es kann...?“, wiederholt er seine eigenen Worte gegenüber sich selbst. „Kann ich zurück, wenn ich es einfach nur will...?“ Für den Bruchteil einer Sekunde scheint es, als sei er endlich über den Berg, als alles um ihn herum wieder einstürzt, die Tränen erneut kommen und er sich an mich drückt, weil er verstanden hat, dass er mich nie gebraucht hat und ich mit allem Recht hatte, was ich gesagt und beobachtet habe. Es tut mir nicht weniger weh als ihm, dass ich ihn gehen lassen muss. Er gehört zurück aufs Eis, noch mehr als an meine Seite. Nach diesem Finale wird jeder von uns seine eigene Entscheidung treffen müssen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)