Von Peking bis Barcelona von Flokati ================================================================================ 7 - On Love: Agape ------------------ „Yuri, wie lange willst du noch auf den Mülleimer eintreten?“, fragt Otabek. „‘N Scheiß muss ich!“, rufe ich und trete nochmal gegen das Metall. „Diese Bastarde, was denken die sich überhaupt?!“ „Ich weiß nicht, was du meinst.“ „Viktor wüsste doch gar nicht, dass Katsudon existiert, wenn ich mir das Finale vor 'nem Jahr nicht angeschaut hätte!“ Ich kann mich nicht abregen, jetzt wo sie alle in der U-Bahn verschwunden sind. Warum sollte ich auch, diese Schweine! „Hat gepennt, wie immer! Dann fünf Minuten raus, Hier, schaut her, ich bin der Beste!, alle fallen auf die Knie und das war's!“ „Ich versteh dein Problem nicht.“ „Ich habe Katsudon gefunden!“, rechtfertige ich mich ihm gegenüber. „Und Viktor hat nichts Besseres zu tun, als ihn für sich haben zu wollen!“ Otabek sieht mich fragend an. „Woran machst du fest, dass er-“ „Am Arsch, das merkt man doch!“, platzt es wütend aus mir heraus. „Yakov denkt immer noch, es weiß keiner, aber wie blind muss man sein, um nicht zu checken, dass Viktor schwul ist?! Im Team haben sie 'ne Wette laufen, wer als Erstes unter die Haube kommt und Viktor als Letzter und dreimal darfste raten, warum!“ „Dann ist er jetzt wohl doch der Erste.“ Ich trete noch einmal mit voller Wucht gegen den Mülleimer.  „Das ist die mieseste Nummer überhaupt!“ „Warum?“  „Kannst du auch was anderes als dumme Fragen stellen?!“, motze ich Otabek an. Er lehnt immer noch unbeeindruckt an seinem Motorrad. Die ganze verdammte Zeit hat sich sein Gesichtsausdruck kein bisschen verändert. Er bringt mich auf die Palme! „Sie haben sich verlobt, was ist so schlimm daran?“ „Katsudon soll sich gefälligst auf den Wettkampf konzentrieren!“ „Der Japaner scheint dir wichtig zu sein.“ „Damit ich ihn in den Boden stampfen kann, ich hab noch 'ne Rechnung offen!“ „Yuri,“ beginnt Otabek und sieht in meine Richtung, um direkten Blickkontakt aufzunehmen, „ich glaube, du verwechselst da viele Dinge. Ich kann nicht behaupten, dass Viktor Nikiforov mich übermäßig interessieren würde; weder als Mensch, noch als Konkurrent. Aber er hat jemanden gefunden, der ihn heiraten will und den er auch heiraten will. Das hat doch nichts mit dir zu tun.“ „Hältst du mir 'ne Moralpredigt?!“ „Nein. Aber vielleicht hast du Lust, übermorgen mit einem Freund die Stadt anzuschauen?“ „...Wie, du meinst, mit dir?“ „Willst du oder-“ „Ich will, Mann“, falle ich ihm ins Wort. „Die Zeile hast du drauf, was?“ Er grinst.  „Fahren wir wieder mit dem Motorrad?“ „Ich hab‘s noch vier Tage gemietet.“ „Geiler Scheiß, Mann.“ Otabek und ich sind den direkten Weg an der Küste entlang zurück zum Hotel gefahren. Von den anderen Vollpfosten, die mit der U-Bahn gefahren sind, war keiner mehr zu sehen als wir ankamen, weder Katsudon und Viktor, noch der Schweizer oder der Thailänder. In meinem Zimmer falle ich aufs Bett, ohne Schuhe und Jacke auszuziehen. Es dreht sich immer noch alles in meinem Kopf. Und warum zur Hölle fühl' ich mich so, als müsst ich gleich heulen? Nicht wegen den Idioten, die nur noch auf sich selbst schauen, weil sie von Wolke Sieben nicht mehr runter kommen?! Meine Fresse, dann sind sie halt wirklich ein Paar. Einmal Tröte blasen und Konfettiregen. Muss man deswegen gleich heiraten wollen? Hat Viktor Schiss, dass ihm Katsudon auch gleich wegrennt wie dieser andere Typ? Torschließpanik, oder was?! Ich rolle vom Bauch auf den Rücken und starre an die Decke. Langsam macht sich ein anderer Gedanke in mir breit und er passt mir nicht. War das etwa Katsudons genialer Plan, den er in Moskau angekündigt hat? Gold gewinnen und dann heiraten, weil Viktor ohne das Eis stirbt? Ist der etwa so bescheuert und glaubt das? Kein Kleinkind stirbt, wenn man ihm den Schnuller klaut! Es plärrt solange, bis es keine Kraft mehr hat oder einen Neuen bekommt. Aber wenn Katsudon an dieser bescheuerten Idee festhält, dann muss er Viktor zurück aufs Eis bringen. Dann geht es nicht, dass Viktor weiter der Trainer von Katsudon bleibt. Das heißt dann, er müsste... Mann, ey, ich will nicht heulen, warum hört das scheiß Gefühl nicht auf?! Ich steh schon wieder wie der letzte Vollidiot da! Ich reiß mir den Arsch auf, Katsudon auseinander zu nehmen und Viktor in sein Versprechen zu zwingen und dann sowas! Und Otabek will mir erklären, das hat nix mit mir zu tun? Es hat verdammt was mit mir zu tun! Wenn Katsudon aufhört und Viktor wieder läuft, dann ist das Einzige, was mir verdammt nochmal bleibt, dieses beknackte Agape-Programm, mit dem ich nicht klarkomme! Ich denke an Opa, die ganze Zeit und es hilft nichts! „Das ist so ein Gefühl“, der hat doch nimmer alle Tassen im Schrank! Ich kann den beschissenen Wiki-Eintrag auswendig hoch und runter beten und da steht nix von irgendeinem Gefühl! „Was soll Agape sein, Viktor, he?!“, rufe ich wütend in mein Hotelzimmer. Es kommt keine Antwort. Meine Gedanken füllen sich mit Erinnerungen an Opa und ich umklammere mein Kissen, als die verfickten Tränen doch kommen. Ich versuche, mir seine Stimme, sein Gesicht, den Geschmack der Piroszki ins Gedächtnis zu rufen, um mich zu beruhigen... Nur er war immer für mich da... Wegen ihm habe ich überhaupt mit dem professionellen Eiskunstlaufen angefangen... Wollte ihn entlasten. Dass er stolz sein kann. Er hat immer alles für uns gemacht. Ist mit mir zum Training gegangen. Hat gekocht, wenn Ma gearbeitet hat. Hat Pa mit der Wohnung geholfen. Hat weniger Bier getrunken, dass ich ein bisschen Taschengeld haben kann, weil die dumme Schwester mir ständig alles abgenommen hat. Und jetzt? Morgen ist meine große Chance, aber ich lieg auf dem Bett und flenne, weil Katsudon und Viktor sich nur noch für sich selbst interessieren! Ich bin ein Kämpfer verdammt, ich habe immer gekämpft! Um alles... Aufmerksamkeit, Anerkennung, gesehen werden...! Ihr seid doch alle…miese Verräter...! Grand Prix Finale, Barcelona. 8. Dezember 2016 Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, bin aber in aller Herrgottsfrühe wieder aufgewacht. Ich krieg 'n Anfall, ich hab nicht mal fest geschlafen. Und noch irgend'nen Rotz dazu geträumt, ich fühl mich wie ausgekotzt. Ich fische mein Handy unter dem Kissen hervor. 8:12 Uhr und eine Million Nachrichten von Yakov, wo ich zur Hölle bin und was das mit diesen Ringen bei Viktor und Katsudon soll. Angepisst schmeiße ich das Handy in den Koffer. Gibt's auch noch ein anderes Thema?! Soll er Viktor halt selbst fragen, der wird’s ja wohl am besten wissen! Für einige Sekunden lasse ich das Handy angenervt im Koffer liegen, dann schnappe ich es mir wieder und schaue alle Nachrichten durch, ob Otabek geschrieben hat. Ich sitze im Schneidersitz auf dem Bett während ich durch den Verlauf scrolle. Nichts, aber was hätte er auch schreiben sollen? Es ist ja alles abgemacht. Trotzdem starre ich auf den Eintrag im Adressbuch. Otabek Altin. Es ist der erste Eintrag, der rein gar nichts mit Verpflichtungen zu tun hat. Er ist da, weil er mir seine Nummer gegeben hat. Und ich ihm meine. Freiwillig. Dann scrolle ich noch etwas nach unten. Viktor Nikiforov, aber die Nummer fehlt. Den Eintrag hatte ich nach der Junior-WM in Helsinki angelegt. Ich wollte bei ihm vorbeischauen, so wie er's versprochen hat. Aber Yakov ist fast an die Decke gegangen, als ich nach der Adresse fragte. Nicht mal im Traum solle ich daran denken. Viktor brauche Erholung und habe Urlaub. Drei Wochen lang. Also hab ich gewartet und plötzlich les' ich, dass er zu dem fetten Schwein abgerückt ist. Wegen diesem bescheuerten „Be my coach~“! Ich hab noch alle Bilder gespeichert. Alle Bilder, die er von diesem peinlichen Bankett gemacht hat. Das eigene Handy konnte Viktor ja nicht benutzen. Ich hab's erst mitbekommen, als er selbst zum Tanzen antrat und ich schon diesen ganzen Shit von dem Schweizer inklusive Nummer aufm Handy hatte. Ich wollte Viktor die Bilder von ihm und Katsudon irgendwann als Retourkutsche für den ganzen Scheiß unter die Nase reiben. Und jetzt ist eh alles für'n Arsch... Ohne weiter nachzudenken, lösche ich den Eintrag. Eine Weile starre ich den verschwundenen Buchstaben noch nach. Dann stehe ich lustlos auf und gehe zum Fenster. Als ich die Vorhänge zurückziehe, sehe ich wie es dämmert und das Licht im Wasser glänzt. Es erinnert mich an Hasetsu. In St. Petersburg liegt das Meer im Westen, man sieht also immer nur den Sonnenuntergang. Aber in Hasetsu liegt an der Nordküste. Dort konnte man den Sonnenaufgang über dem Wasser sehen... Meine Laune ist eh beschissen, also kann's auch net schlimmer werden. Ich ziehe mich an und gehe nach draußen in Richtung Strand. Sieht keiner und ich will auch niemanden sehen. Aber dann steht er da. Er. Von allen Personen, die dort stehen könnten. Steht da und streckt die Hand nach der Sonne aus. Die Hand, an der seit gestern der Ring von Katsudon steckt. Verlobung. Heiraten. Es kotzt mich an, wie er da steht, zufrieden mit seiner Welt, wenn er alles um ihn herum in Schutt und Asche gelegt hat. Er hat die Hölle aus Yakov rausgeholt, weil er nicht vom Eis weg wollte. Angeblich lieber sterben ginge. Und jetzt? Hat er das Eis vergessen. Yakov vergessen, mich und ganz Russland. Für ein Leben mit dem Schwein. Er ist tot. So was von tot! Diese Verlobung ist verdammt noch mal schlechter Witz! Er wird den Mülleimer von gestern Abend gleich beneiden! Verräter! Verräter, Verräter, Verräter! Auf seinem Rücken prangen meine Schuhabdrücke. „Viktor Nikiforov ist tot!“, rufe ich herablassend. Er dreht sich langsam um, das Gesicht vom Gegenlicht verdunkelt und ohne Regung. „Warum gibste dich damit zufrieden, das Schwein hüten zu können? Macht das so glücklich?“ Er macht einen Schritt auf mich zu, beugt sich vor und grinst anmaßend. „Wolltest du etwa gegen mich antreten?“ „Bild' dir ja nix ein“, antworte ich im gleichen Tonfall wie zuvor. „Nicht alle Läufer schauen zu Viktor Nikiforov auf. Mach' die Biege und verreck', Alter.“ Ohne Vorwarnung packt er mich im Gesicht, der Wind peitscht zwischen uns hindurch. „Der Ring von dem Schwein ist nicht mehr als wertloses Zeug“, provoziere ich ihn. In den Augen spiegelt sich kalte Wut, die Hand zittert, der Griff wird immer fester. „Ich werde gewinnen; und dir beweisen, dass sein Besitzer genauso wertlos ist.“ Alter, will der mir den Kiefer brechen?! „Lass los!“ In einem Anflug von Panik und schlage seine Hand weg. Was soll der Dreck, hat er sie noch alle?! Viktor steht ungerührt da und starrt mich mit leeren Augen an. Erst als ein Hund bellt, dreht er sich langsam wieder in Richtung Sonne. Sagen kann er offenbar auch nichts mehr. Was soll er auch sagen. Er hat uns alle verraten und das weiß er. Ich beobachte ihn noch einen Moment, dann wende ich mich ab. Er wollte es so. Nach ein paar Schritten bleibe ich aber nochmal stehen. „Es erinnert an das Meer in Hasetsu, hier“, rufe ich ihm zu. Auf die Entfernung sehe ich, dass die Gesichtszüge allmählich wieder auftauen. „Das dachte ich auch“, antwortet er. Bis zum Wettkampf am Abend hatte ich den ganzen Scheiß fast komplett vergessen. Aber mit dem Betreten der Eishalle hab ich alles wieder omnipräsent vor Augen. Die bescheuerten Ringe von Viktor und Katsudon gehen in den Bildern hoch und runter, weil die Idioten vercheckt haben, sie links zu tragen statt rechts. Jeder Depp denkt, die hätten geheiratet. Dabei gäb es nur halb so viel Geschiss, wenn der Alte die verfickten Handschuhe angelassen hätte. Laut Yakov soll’s jetzt kein Verlobungsring mehr sein, sondern nur noch ein Paarring. Viktor und Katsudon schmieren der Presse Honig ums Maul und bezeichnen die Ringe als alles Mögliche; Zeichen der Verbundenheit, Glücksbringer, angeblich weil Katsudon abergläubisch ist, und was ihnen sonst noch einfällt. Da blickt doch keine Sau mehr durch, was stimmt. So werden ihnen die Ringe gar nichts nutzen, wenn die sich selbst nicht mal einig sind, was sie bedeuten sollen. Katsudon ist als Erster mit seinem Kurzprogramm dran. Er bleibt nach dem Aufwärmen auf dem Eis, während ich mit Lilia und Yakov wieder nach hinten gehe. Viktor hat seit heute morgen nicht mehr auf mich reagiert und tut so als wär ich nicht da. Bitte. Soll er halt all seine Hoffnungen in den Loser stecken. Man kann Katsudon ansehen, dass er nur noch auf den Flip konzentriert ist. Er will die Punkte, dabei hat er's beim Training gestern morgen grad zweimal geschafft, nicht auf dem Arsch aufzusetzen. Vollidiot. Ich brauch’ da nicht mehr hinzuschauen, gleich hocken sie zu zweit aufm Klo und flennen. Aber dann muss ich wenigstens nicht mehr den Seelendoktor spielen. Ich muss verdammt nochmal endlich anfangen, mich auf Agape zu konzentrieren. Seit ich gestern Abend die Frage nach Viktors Agape in mein Zimmer gerufen habe, krieg ich es noch weniger auf die Reihe als vorher. Ich versuche an Opa zu denken, aber jedes Mal, wenn ich das Gefühl abrufen will, verschwindet es. Stattdessen überkommt ein anderes, mit dem ich nix anzufangen weiß. Ich kann nicht mal Opas Gesicht richtig vor mir erkennen! Wenn das so weiter geht, komm ich gar nicht mehr in Agape rein und es nervt tierisch. Ich will dieses Finale gewinnen, egal was dazu nötig ist! Ich beobachte, wie Yakov kurz weggeht, um sich mit dem Trainer vom Schweizer Käse zu unterhalten. Zu Lilia sagt er nix, wahrscheinlich geht’s um Viktor. Seit der Sache mit dem Köter gibt’s bei Yakov in jeder freien Minute nur noch ein Thema und das ist Viktor, Viktor und nochmal Viktor. Jeder von uns merkt, dass er am Liebsten hätte, wenn Viktor wieder zurück nach St. Petersburg käme und er ihm den Arsch pudern könnte. Lilia kann's auch schon nicht mehr hören, Viktor ist ja noch nicht mal mit ihm verwandt oder sonst was! Ohne es zu wollen, steigt schon wieder dieses Gefühl in mir auf. Und wieder keine Antwort. Ich hab keine Ahnung, was der Mist soll. Aber wenn ich die verdammte Frage schon nicht aus meinem Kopf bekomme, kann ich sie auch aussprechen: „Lilia,“ setze ich an, „was ist Agape?“ Sie schaut mich irritiert an, dann antwortet sie: „Agape hat viele Facetten. Die Liebe und Zuneigung deines Großvaters ist eine davon. Damit bist du bisher immer das Programm gelaufen.“ „Und was noch?“, bohre ich weiter. „Was ist Viktors Agape?“ Wenn ich an JJ vorbei will, muss ich eine andere Agape finden. Eine, die stärker ist! Lilias Augen verengen sich zu Schlitzen und sie schürzt die Lippen. Sofort springe ich von meinem Stuhl auf. „Du weißt es?!“, rufe ich entgeistert. „Warum hast du nie was gesagt?!“ „Weil ich ihm nicht vergeben kann“, sagt sie, sichtlich angewidert. Ihre Augen wandern zu Yakov, um zu checken, dass er uns nicht hört. Ich werfe einen kurzen Blick auf die Übertragung. Der Thailänder fängt schon an zu laufen, sie soll hin machen! Dann redet sie im gleichen Ton weiter: „Yakov hat dieses schneeweiße Kind, das ohne Mutter und ohne Vater nach St. Petersburg kam, angefangen zu lieben wie sein eigenes. Mich hat es abgelehnt, vom ersten Moment an, als ich in diese Augen blicke. Stattdessen wandte es sich dieser Schneiderin Praslova zu. Diese Demütigung werde ich niemals vergeben können.“ „Dann ist Yakov Viktors Agape?!“, dränge ich. „Yakov würde ihm alles vergeben. Er liebt ihn wie einen Sohn.“ „Wie einen Sohn...?“, wiederhole ich, aber die Antwort schmeckt mir nicht. „Was soll das, da ist kein Unterschied zu meinem Opa!“ „Eros und Agape,“ spricht Lilia unbeeindruckt weiter, „Sünde und Vergebung. Sexuelle Lust führt zu Sünde, göttliche Liebe verspricht Vergebung.“ Was zur...?! „Euer Gott ist vom Eis geflohen, um Mensch zu sein. Er will geliebt werden, aber er weiß, dass man ihn dafür verurteilt. Agape ist seine Bitte um Vergebung bei all jenen, die ihn als einen Sünder betrachten.“ Verurteilt...? Als Sünder...? Der Alte meint doch nicht etwa...?! Agape Christi, schießt es wie von selbst durch meinen Kopf. Von den Massen ans Kreuz geschlagen; dem Vater ergeben bis in den Tod, bat er um Vergebung für all jene, die nicht wussten, was sie taten. Agape heißt also nicht nur selbstlos zu lieben... Sondern zu vergeben?! „Woher weißt du das alles?!“, greife ich sie haltlos an, weil ich gerade auf null auf den Shit klarkomme. Sie hätte damit früher rausrücken sollen und nicht kurz vor knapp! Das ist 'ne Nummer zu hoch für mich! „Odette“, antwortet sie tonlos und deutet auf mein Kostüm. „Die Menschlichkeit hat Nikiforov schon vor Jahren fasziniert. Mir war alles klar ab dem Moment, als ich das Kostüm der Schwanenprinzessin wiedersah.“ Lilia steht auf und wechselt in einen sanfterem Ton: „Du brauchst ihn nicht, Yuri Plisetsky. Denk' an deinen Großvater. An diejenigen, die dir geholfen haben, so weit zu kommen. Ihre Liebe ist es, die dich wachsen und leuchten lässt. Du hast auch ohne Viktor Nikiforov alles, was du zum Gewinnen brauchst.“ Ich weiß gar nicht, was ich denken soll. Vor mir läuft ein Film wie im Zeitraffer ab. Von dem Moment an, als ich in Hasetsu ankam. Viktor, Katsudon, das Training, Yuko, Opa, der Wettkampf, die Niederlage, die Rückkehr nach Russland. „Es liegt an dir, ob du mit diesem Programm gewinnst oder nicht.“ Er hat mir Agape nicht einfach so zugeteilt... er wusste ganz genau, warum. In Gedanken folge ich Lilia und Yakov zurück in die Halle, werfe einen Blick nach links und da hocken die zwei verknallten Idioten im Kiss & Cry, als hätten sie Exklusivtickets dafür gebucht. Die kriegen doch echt nix mehr mit. Mit voller Wucht trete ich dagegen. „Sag ma', wie lange wollt ihr da noch dumm hocken bleiben?!“, motze ich sie an. „Y-Yurio...“, jammert Katsudon. „Davai~“ D: Tz, ich hab's kapiert, Alter. Hat lange gedauert, aber ich hab's kapiert. Du lässt mich vor, um mit Katsudon glücklich sein zu können? Ist das deine Art, dein Versprechen doch noch zu halten? So viel Scharfsinn traut man dir sonst gar nicht zu... Verdammtes Genie. An der Bande richtet Lilia meine Haare noch ein letztes Mal, dann fahre ich auf Eis. Diesmal werde ich JJ und Katsudon sowas von in den Arsch treten. Großvater. Agape. Das Gefühl drängt wieder nach oben, aber ich lasse es gewähren. „Next on the ice, representing Russia – Yuri Plisetsky!“ Viktor, ich vergebe dir. -----[On love: Agape]----- Die Reporter und ich schauen wie gebannt auf Yurios Vorstellung Agape. Es ist nicht nur seine Technik beim Springen, die diesmal anders ist. Die Performance lässt einem überall Gänsehaut sprießen. Nur vage realisiere ich, dass Viktor nicht mehr da ist. Er war gerade noch hier? Ist er in die Halle gelaufen, um Yurio live und nicht nur am Bildschirm zu sehen? Es wäre möglich, schließlich ist Agape sein Programm. Sogesehen wäre es nur verständlich, aber dass er einfach gehen würde, verwundert mich doch etwas. Ich entschuldige mich eilig bei meinen Interviewpartnern und laufe schnell in Richtung der Tribüne. Alsbald höre ich den ohrenbetäubenden Applaus zum Ende von Yurios Performance, aber noch bevor ich die Stufen zur Tribüne nach oben gestiegen bin, sehe ich Viktor am Geländer stehen. „Vikto-!“ rufe ich, aber der letzte Ton bleibt mir im Hals stecken. Er steht absolut regungslos da, als wäre er gar nicht anwesend. Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle unter. Viktor ist nicht der Typ, der anderen zusehen kann, ohne einen Kommentar dazu abzugeben oder stillzuhalten. Ich weiß, dass er sich manchmal auch von Emotionen fangen lässt, aber selbst dann fallen ihm hinterher noch Dinge auf, an die ich im Leben nicht gedacht hätte. Dass er jetzt nach dem Ende der Performance immer noch vollkommen versunken dasteht ohne die geringste Regung zu zeigen, kann eigentlich nur bedeuten, dass Agape um ein Vielfaches besser war, als ich angenommen habe... Ich will den Gedanken gar nicht zu Ende denken und das Adrenalin in meinem Körper schießt um ein Vielfaches in die Höhe, als die Punkteansage ertönt: „The score for Yuri Plisetsky is... 118,56 points. Ladies and gentlemen, this is new world record!“ Nach der ersten Schrecksekunde bricht in der Halle Beifall wie ein Donnergrollen aus. Weltrekord?! Das kann doch nicht...! Yurio hat Viktor überboten...?! Ich stehe da wie versteinert. Genau in dem Moment dreht sich Viktor zu mir um, scheinbar überrascht, mich zu sehen, aber ich stutze nicht weniger bei seinem Anblick. Er sieht gänzlich unbeeindruckt aus, fast so, als hätte er nie etwas anderes erwartet. „Ah, ich wollte auch den Wettkampf schauen...“, erkläre ich meine Verwunderung schnell, aber abschalten kann ich sie nicht. Er hat gerade den Weltrekord, den er seit drei Jahren hält, verloren und sein Gesicht spiegelt keinerlei Emotion wieder? „Okay, Chris ist gleich dran. Setzen wir uns?“, fordert er mich auf, der Tonfall erschreckend normal. Interessiert ihn das gar nicht? „Ja“, sage ich und eile zu ihm. Offenbar interessiert es ihn wirklich nicht? Macht es ihm vielleicht deswegen nichts aus, weil Agape sein Programm ist? Es wäre eine Erklärung, aber keine sonderlich Gute. Wir lassen unsere Blicke über die Ränge schweifen und ich sehe einige freie Plätze bei Sara Crispino, ihrem Bruder und Emile Nekola. Ich deute dorthin, damit Viktor es auch sieht, Sara fängt meinen Blick und winkt mir zu, dass wir herkommen können. „Hi Yuuri,“ begrüßt sie mich freundlich, aber die Verlegenheit steht ihr ins Gesicht geschrieben. Ich hoffe einfach mal, dass das nicht an mir oder Viktor liegt, oder generell an der Tatsache, dass uns seit heute morgen entweder alle für verlobt oder für verheiratet halten. „Now on the ice, representing Switzerland, Christophe Giacometti.“ Viktor lehnt sich zu mir herüber und flüstert: „Yurios Agape war fantastisch. Genau so, wie ich mir das vorgestellt habe!“ „Ja... Super“, antworte ich, aber was soll ich auch anderes sagen, wenn Weltrekord unter diesem Kurzprogramm steht? Ich fühle mich, als fehlte mir jeglicher Boden unter den Füßen. Yurio ist satte 21 Punkte besser gelaufen als ich... Und ich habe es in dieser Saison noch nicht einmal geschafft, fehlerfrei durch meine Kür zu kommen. Die Chance, dass ich bei diesem Finale Gold gewinne, ist so gut wie dahin. Yurio wird sich mit JJ um den Sieg duellieren, aber ich werde in diesen Kampf nicht mehr eingreifen können. Wenn ich das schaffen wollte, müsste ich übermorgen eine Kür auf Viktors Niveau laufen, mit vier Vierfachsprüngen und dem Flip am Ende, ohne Fehler und perfekt im Ausdruck. Das ist so wahrscheinlich, als würde Chris die Unschuld in seinem Programm wieder finden. Ich riskiere einen Blick hinüber zu Viktor. Er wirkt beinahe sehnsüchtig und genießt es sichtlich, Chris bei seiner Performance zuzuschauen. Ich kann es deutlich sehen, wie schon bei Yurio gerade eben. Auch da hatte ich den Eindruck, dass das Eis Viktor wieder zu sich ruft. Erst recht, jetzt da sein Rekord gebrochen wurde... Viktor hat sich in den letzten Jahren nur noch selbst überboten; es müsste ihn doch reizen, wieder selbst zu laufen. Den Rekord zurückzuholen, zu gewinnen... Ich wende mich wieder Chris zu. Er hat ein wahrlich schweres Los, direkt nach einer so unerwarteten Leistung laufen zu müssen. Man merkt es ihm aber aufgrund seiner langjährigen Erfahrung nicht an und er vollführt alle Elemente wie gewohnt auf sehr hohem Niveau. Der letzte Sprung war nicht ganz sauber, aber ansonsten war alles genau sein Ding. Er liegt womöglich auch vor mir... Ganz ruhig, ermahne ich mich. Ich muss abwarten. Noch sind nicht alle dran gewesen. Es bringt gar nichts, sich jetzt schon verrückt zu machen. „The score for Christophe Giacometti... 102,37 points!“ Wie zu erwarten. Aber es sind nur fünf Punkte Unterschied, das ist nicht die Welt. Solange Viktor noch optimistisch ist, will ich versuchen, das auch so zu sehen. Er ruft nach Chris, winkt ihm zu und ich habe flüchtig den Eindruck, dass Sara mir etwas sagen will, als plötzlich ein Paar Sneaker unvorbereitet zwischen ihr und mir auf die Rückenlehne knallen. Erschrocken drehen wir uns nach hinten um und sehen Yurio eine Reihe hinter uns sitzen. Sein Gesicht ist wieder gereizt wie immer und er scheint wieder allzeit bereit zu zeigen, dass er auf Krawall gebürstet ist. Agape hat sich innerhalb kürzester Zeit gänzlich verflüchtigt, aber ich muss mich doch wundern. Eigentlich hätte ich ja erwartet, dass er die Schuhe zwischen mich und Viktor haut, aber dem ist offensichtlich nicht so. „Next on the ice representing Kasachstan: Otabek Altin!“ „Davai!“, ruft ihm Yurio über alle unsere Köpfe hinweg zu und Otabek gibt ihm den Daumen hoch, sodass ich mich gleich nochmal wundern muss. Die Zwei haben sich gestern wirklich angefreundet. Nicht schlecht. Ich erinnere mich mittlerweile auch, dass Otabek bei der WM letztes Jahr Dritter geworden ist und zusammen mit Viktor und Chris auf dem Podest stand, aber ich habe ihn ehrlich gesagt noch nie vorher laufen gesehen. Oder er ist mir einfach nie aufgefallen, dabei kann das gar nicht sein; zumindest nicht, wenn er sich davor schon so präsentiert hat wie jetzt. Er hat eine unglaublich starke Präsenz auf dem Eis, die sich einem regelrecht ins Gedächtnis brennt... „Otabek hat früher keinen solchen Eindruck hinterlassen, oder?“, bemerkt Sara, die damit ausspricht, was scheinbar jeder von uns denkt. „Bei den Juniors hat er keine große Rolle gespielt“, bestätigt ihr Bruder. „Er wirkt wie ausgewechselt.“ Also bin nicht nur ich es, der so denke, aber niemand sagt danach auch nur noch einen Ton. Bis zum Ende seines Programms bleibt Otabek in den Sprüngen fehlerfrei, er zögert keine Sekunde und diese Direktheit ist das, was seinen Stil ausmacht... Es fesselt einen. Obwohl er so ungestüm ist, bleibt die Technik sauber. Es ist in der Tat großes Kino auf dem Eis, das man so nicht alle Tage zu sehen bekommt und das Publikum dankt es Otabek mit einem tosendem Applaus. „Und nochmal mehr Punkte als das Schnitzel“, höhnt Yurio von hinten und ich muss leider zugeben, dass er damit nicht Unrecht haben wird. „Der kann's. Richtig exotisch“, kommentiert Viktor neben mir und da ist das zweite Messer in meinen Rücken. „Wie ein frischer Wind.“ Das bedeutet dann wohl den fünften Startplatz für morgen, es ist nur noch JJ dran... Es ist letztendlich doch der vierte Platz, von dem aus ich in die Kür starte. JJ ist durch einen völlig unvorhersehbaren Blackout auf den letzten Rang zurückgefallen, den keiner von uns erklären konnte, am Wenigsten aber JJ selbst. Seine Familie und Fans sind noch in der Halle aufgesprungen, um ihm ihre Solidarität zuzusprechen und für einen Moment schien es, als sei die ganze Halle auf seiner Seite gewesen. Mit der ein oder anderen russischen Ausnahme vielleicht. Das große Finale wird erst übermorgen stattfinden, sodass JJ damit ein ganzer Tag bleibt, alles sacken zu lassen. Zurück in unserem Zimmer sitze ich auf meinem Bett und scrolle mit dem Handy durch Tweets und Kommentare von Fans und Läufern, während Viktor duscht. Er war beim Verlassen der Halle überaus gut gelaunt und hat Yurio noch auf der Tribüne als Erster zu seinem Weltrekord gratuliert. Das klingt nach einer großen Geste und ich war im ersten Moment durchaus irritiert, denn eigentlich war ich mir hundertprozentig sicher, dass eine reine Gratulation ohne Seitenhieb bei Viktor nicht möglich ist und prompt kam die Bestätigung: Als Yurio schon fast abgehoben war, ging es los mit der Fragerei, warum das mit Agape so lange gedauert habe, warum Yurio sich noch nicht bei ihm für die Tritte entschuldigt habe und dass es doch endlich mal an der Zeit wäre, sich bei ihm für das tolle Programm zu bedanken. Yurio fand das überhaupt nicht witzig und war schon kurz vorm Randalieren, bis ein trockenes „Er hat aber Recht“ von Otabek Altin dem kleinen Wutanfall Einhalt gebot, sodass letztendlich nicht Viktor Yurio die Hand gereicht hat, sondern Yurio Viktor. Damit war die alte Ordnung wiederhergestellt und Viktor „Arschkeks“ Nikiforov war trotz verlorenem Weltrekord der heimliche Sieger des Abends. Das Wasser im Bad wird abgedreht, es wird leiser. Gleich ist es soweit, denke ich, und wische jetzt vielmehr durch die Kommentare, als sie ernsthaft zu lesen. Hoffentlich hat sich Viktor die Reihenfolge bezüglich des Ablaufs des restlichen Abends nicht insgeheim anders überlegt. Ich will zuerst mit ihm reden, danach können wir tun, was immer ihm beliebt. Denn schon als wir ins Zimmer traten, war Viktor nicht mehr nur aufgedreht, sondern auch erregt. Er hat mich geküsst und mir deutliche Signale gegeben, dass er mehr möchte, aber im Moment habe ich den Kopf gar nicht frei dafür. Nicht, weil ich nicht wollte, aber ich habe lange überlegt, wann und wie ich es ihm sagen soll, dass dieses Finale mein Letztes sein wird und ich denke einfach, es wäre besser, keine unnötige Zeit damit zu verschwenden. Wenn das Finale übermorgen vorbei ist, soll er frei sein, egal wie es ausgeht. Ich höre die Badtür und Viktor schlappt im weißen Bademantel zu mir herüber. Mit den Augen hänge ich an einem Selfie von Phichit und Chris fest, als er sich mir gegenüber auf die niedere Fensterbank unseres Hotelzimmers setzt. Er rubbelt die Haare noch mit einem Handtuch trocken und ich habe die leise Vermutung, dass wenn ich nicht noch mit ihm reden wollen würde, ich mit Sicherheit die Frage gestellt bekäme, welche Aussicht schöner ist: Barcelona bei Nacht oder er, während er sich quälend langsam den Bademantel vom Körper streift. Verführen kann er, ohne Frage, aber der Bademantel bleibt Gott sei Dank geschlossen. Ich wische noch ein Bild weiter. „Minako-sensei scheint mit Celestino in einer Bar trinken zu sein“, bemerke ich beiläufig. „Wow, da sollten wir besser nicht einfallen“, antwortet er. Nicht, dass das er vorgehabt hätte. Er legt das Handtuch aus der Hand. „Aber jetzt sag, Yuuri. Über was willst du mit mir reden?“ „Hm,“ beginne ich und lasse das Handy sinken. Es ist soweit. Ich weiß nicht, wie er es aufnehmen wird, aber es ist das Beste für uns beide. Das muss Vorrang haben. Ich atme noch einmal tief ein, mein Griff wird fester. Ihm in die Augen zu sehen schaffe ich nicht, sonst verlässt mich der Mut. „Nach dem Finale trennen wir uns.“ Ich sehe vorsichtig auf und erblicke die heillose Verwirrung in seinem Gesicht. Dann spreche ich weiter: „Du hast in den letzten acht Monaten mehr als genug für mich getan. Dank dir konnte ich in meiner letzten Saison noch einmal alles geben.“ Ich verneige mich vor ihm, senke den Kopf. „Danke für alles, Viktor. Du musst kein Trainer mehr sein.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)