Von Peking bis Barcelona von Flokati ================================================================================ 5 - Fukuoka Airport ------------------- 20. November 2016, Yuutopia Katsuki, 16:09 Uhr Es fühlt sich an wie ein Déjà-vu, als ich alleine mit Koffer durch das Tor des Yuutopia trete, und dennoch ist es völlig anders. Der Transporter steht nicht im Hof und es liegt kein Schnee. Vor allem aber fehlt Makkachin, der an der Leine zerrt und spielen will. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die erste Begegnung zwischen meinem Pudel und Yuuris Vater wie einen Film ablaufen. Ich weiß noch, wie sehr es mich erleichterte zu sehen, dass Makkachin Vertrauen zu Toshiya gefasst hatte. Aber gerade gibt es nichts, was mich beruhigen könnte. Angespannt und völlig geschafft von zu wenig Schlaf und Sorge schleppe ich mich und den Koffer ins Yuutopia und stehe direkt Hiroko gegenüber. „Vicchan?!“ Sie lässt fast die große Flasche mit Sake fallen vor lauter Schreck. Vermutlich sehe ich fürchterlich aus. Mir wird selten schlecht, aber gerade ist mir, als müsste ich mich jeden Moment übergeben. Als hätte man mich in zwei Hälften zerrissen, von denen eine sofort zurück zu Yuuri und die andere so schnell es geht zu Makkachin möchte. Flüchtig sehe ich, dass Mari hinter dem Tuch der Zutrittstür zum Frauenbad hervor lugt. Auch wenn ihr Gesicht größtenteils verdeckt ist, kann ich den Schock aus ihrem Gesicht ablesen, als sie mich bemerkt. Sofort verschwindet sie wieder in den abgetrennten Bereich. Hiroko ist völlig verwirrt, stellt die Flasche orientierungslos auf den Boden und weiß nicht, wohin mit ihren kleinen Händen. „Makkachin no tame ni kaetta no?“ In ihrer aufgebrachten Art erinnert sie mich an Jelena und mir wird noch einmal unwohler. Jelena ist nicht hier. Niemand wäre hier, der mir so vertraut ist, wie sie. Mein Rettungsanker in Momenten wie diesen... Die Frau, die mir die Welt bedeutet; als Freundin, als Unterstützerin, als Mutter. Sie würde mich halten und Trost spenden, würde sofort wissen, was ich brauche, bevor ich es in Worte gefasst hätte. Ich stütze mich schon vielmehr auf meinen Koffer, statt ihn nur zu halten. Hiroko nimmt meinen Arm. „Makkachin ha genki da yo. Genki, Vicchan. Shinpai shinaide. Modoru hitsuyou wa nakatta.“ Ich horche auf. Makkachin geht es gut? Er lebt...? Es...Ich hätte...nicht...Warum hat niemand...? „Yuuri wa doushita no?“ Mir steigen die Tränen in den Augen. Vor Erleichterung über Makkachin, vor Wut über mich selbst, ich weiß es nicht. Ich hätte bleiben müssen und bin geflogen... Yuuri kämpft alleine weiter, damit ich hier sein kann. Dabei kamen die Zweifel schon, als ich am Schalter im Flughafen stand und das Personal mich skeptisch musterte. Sie wussten, dass ich hier nicht sein sollte. Den ganzen Flug über konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es war mir unmöglich, zwischen Richtig und Falsch zu entscheiden... Ich kann nichts mehr für Yuuri tun. Yakov um Hilfe gebeten zu haben, ist keine Ausrede. Als Trainer habe ich vollkommen versagt. „Vicchan, daijoubu yo“, versucht Hiroko mich zu beruhigen. „Yuuri no koto wo shinjite. tsuyoku natte ita kara, genki dashite.“ Ich spüre, dass ich anfange zu zittern. Hiroko macht mir keinen Vorwurf, sie versucht mich aufzuheitern, mir Mut zu machen, dass Yuuri stark ist und dass ich an ihn glauben soll. Ich glaube an Yuuri. Mehr als an irgendwen sonst. Aber ich würde es mir nie verzeihen können, ihn alleine gelassen zu haben, wenn er mich braucht... „Makkachin ha ima doko ni...?“, versuche ich, aber es bereitet mir gerade große Schwierigkeiten, die Worte in meinem Kopf zu sortieren. Iru? Oder doch aru? Ich kann mich nicht erinnern. Dass meine erste Bewährungsprobe im Gebrauch der japanischen Sprache das Abholen meines Pudels aus einer Tierklinik sein würde, habe ich nun wirklich nicht gedacht. „Mou byouin de mendou wo mite kureru. Byouin da, byo-u-in.“ Sie betont Krankenhaus sehr deutlich, dass ich es nicht schon wieder mit Frisör verwechsele. „Uchi ni tsurete iku tte dame datta. Kainushi ja nai dakara ne.“ „Doko...?“, wiederhole ich meine Frage. Dass sie Makkachin nicht ohne meine Erlaubnis als Besitzer wieder mitnehmen durften, kann ich verstehen. Vermutlich aber auch, weil niemand die russisch-englische Veterinärbescheinigung lesen kann, falls die überhaupt jemand mitgenommen hat. „Daijoubu da yo“, wiederholt Hiroko mit Nachdruck, streichelt meinen Arm und so langsam glaube ich, dass ich mindestens so schlimm aussehe, wie ich mich fühle. Aber wenn ich schon nicht bei Yuuri sein kann, dann will ich wenigstens für Makkachin tun, was ich kann. Hiroko nimmt meine Hand und tätschelt sie verständnisvoll. „Ochitsuite, Vicchan. Yuuri ha Vicchan no sei de tsuyoku natte ita kara, Yuuri no koto wo shinjite.“ Ich nicke einfach nur. Yuuri... ich glaube ganz fest an dich. 21. November 2016, Yuutopia Katsuki, 6:36 Uhr Am nächsten Morgen sitze in aller Frühe im Gästeraum und verfolge eine Wiederholung der Kür im japanischen Fernsehen. Makkachin liegt auf meinem Schoß und grummelt genervt, weil ich immer noch keine Anstalten mache, mit ihm Gassi zu gehen. Er ist es nicht gewohnt, solange nach dem Aufstehen warten zu müssen. Gestern nach dem Abholen aus der Klinik war die Aufmerksamkeit von Herrchen noch das Beste überhaupt, aber mittlerweile stört es, die ganze Zeit von mir umarmt zu werden, nicht? Sobald die Wiederholung vorbei ist, gehen wir, Makkachin. Versprochen. Den Livestream heute Nacht um 2 Uhr habe ich komplett verschlafen. Obwohl ich den Wecker auf meinem Handy gestellt hatte, bin ich nicht wach geworden, so sehr hatte mich die Müdigkeit dahingerafft. Als ich nach dem Wachwerden sofort die Nachrichten aufrief, fiel mir ein Stein vom Herzen, dass die Überschriften den Finaleinzug verkündeten. Mit einem Blick auf das Endergebnis folgte die Ernüchterung jedoch auf dem Fuß. Es hat nur gerade so gereicht. Yuuri ist Vierter geworden, das Mindeste, was er für die Qualifikation erreichen musste. Einen kurzen Moment war ich in Versuchung, sofort nach einem Video von Yuuris Kür zu suchen. Gleichzeitig aber bekam ich Angst vor dem, was ich sehen könnte. 172,87 Punkte in der Kür, 282,84 Punkte insgesamt, also eine ähnliche Punktzahl wie in Peking vor drei Wochen. Ich könnte positiv argumentieren, dass Yuuri sein Niveau gehalten hat. Doch seine Verfassung in Peking war fürchterlich und damals wie jetzt war ich daran schuld. Außerdem darf man als Trainer nie nur die einzelne Performance bewerten. Zumindest, wenn es nach Yakov geht. Wenn man sich nur verbessern will, ist das ausreichend. Zum Gewinnen muss man aber alle im Blick haben, nicht nur sich selbst. Er hat damit natürlich vollkommen recht, aber ich würde lügen, wenn ich mir als Aktiver je genügend Gedanken darum gemacht hätte. Ich habe nur getan, wonach mir der Sinn stand, weil ich... Nein. Ohne den Gedanken an mich heranzulassen, beschloss ich, Yakovs Beispiel zu folgen und statt einem einzelnen Video im Internet nach einer kompletten Wiederholung im japanischen Fernsehen zu suchen. Yuuri ist nicht ich, ermahnte ich mich, während ich durch das Programm verschiedener Sender auf dem Handy klickte. Was ich mir leisten kann, ist meine Bürde. Das hat nichts mit Yuuri zu tun. Nachdem ich fündig geworden war, bin ich mich mit Makkachin in den Gästeraum gegangen und habe den Fernseher eingeschaltet. Die Kür des Tschechen habe ich verpasst und von dem Koreaner nur die Hälfte gesehen, aber sie haben sich beide nicht qualifiziert, also kann es hoffentlich egal sein. Mit gemischten Gefühlen beobachte ich jetzt, wie der Italiener beginnt, seine Kür zu laufen. In dem Nachrichtenartikel stand bereits, dass er fehlerfrei durch sein Programm kam. Er hat Yuuri in der Gesamtwertung um 0,05 Punkte überboten, aber letztendlich hat man Yuuri aufgrund seines zweiten Rangs in China fürs Finale nominiert. Mir fällt auch sofort auf, dass der Ausdruck deutlich stärker ist als im Kurzprogramm. Die Performance ist flüssiger und harmoniert besser mit dem Programminhalt. Ich kann sehen, wieso er seine Bestleistung um 20 Punkte überbieten konnte und wieso das Ergebnis so knapp war. Yuuri hat sicherlich getan, was er konnte, aber sein Retter war doch jemand anders. Der nächste Läufer hat auch seinen Teil zu Yuuris Weiterkommen beigetragen. Hätte sich Yurio nicht noch vor den Italiener geschoben, hätte es für Yuuri nicht mehr gereicht. Meine Anspannung wächst, nachdem die Kür zu Ende ist und Yurio zu Allegro Appassionata startet. Die Hexe hat sich Agape ohne jeden Zweifel ganz genau angeschaut und genüsslich in Einzelteile zerpflückt, bevor sie mit dieser Kür aufgefahren hat. Ihr Programm ist genau das, was Agape nicht ist. Es ist schneller, so wie Yurio es sich vorgestellt hat, anspruchsvoll in seinen Figuren und Bewegungen und stilistisch großes Kino, soll die Leidenschaft und das Brennen für die Ästhetik verkörpern. Ja. Aber es ist nur das, und Schönheit ist vergänglich. Yurio ist dafür zu jung und zu unerfahren. Ihm fehlt der Horizont, mit diesen gegenteiligen Programmen zu arbeiten. Deswegen kommt er trotz hoher technischer Ausführung nicht über JJ hinaus. Die Darstellung von Agape im Kurzprogramm schrie schon „Fickt euch“ und in diesem Programm schreit sie „Fickt euch alle“. Das kann so nicht angehen. Yurio läuft am Limit und kommt auf keinen grünen Zweig, weil die Hexe ihm keine Orientierung bietet. Sie lässt ihn völlig alleine mit sich kämpfen. Dann schwenken die Kameras zu Yuuri. Sofort drücke ich Makkachin fester an mich, versuche zu erkennen, welcher Ausdruck in seinem Gesicht liegt. Bis jetzt wirkte er weitgehend konzentriert, als ich ihn im Bild sah, aber sein Blick auf das Eis verrät mir, dass er zu tief in Gedanken steckt. Ohne es beabsichtigt zu haben, hallen seine Worte aus Peking in meinen Ohren wieder. Ich hätte ihn noch einmal anrufen und sagen müssen, dass alles in Ordnung ist, dass ich bei ihm bin... Dann beginnt er mit seiner Kür. Der Anfang sieht solide aus, es folgt die erste Kombinatio– Ich kann schon nicht mehr hinschauen und vergrabe mein Gesicht in Makkachins Fell. Ganz ruhig. Einfach statt zweifach. Es hätte schlimmer sein können... Ich hebe den Kopf wieder. Die Schritte und die Pirouette sind stabil... Dann der nächste Sprung und sofort drücke ich Makkachin wieder fester an mich. Hand auf beim Salchow. Yuuri...! Ich riskiere einen weiteren Blick. Beide Füße auf beim Rittberger. „Yuuri!“, entfährt es mir aufgebracht und Makkachin bellt vor Schreck. „Wie oft hab ich dir gesagt, du sollst nicht so viel denken, wenn du springst?!“ Angespannt verfolge ich die choreografische Sequenz. In diesem Teil ist die Musik ruhiger und die Elemente haben ihm nie Probleme gemacht... ja, gut. Ich atme auf. Der Axel ist sauber. Yuuris Lieblingssprung. Eigentlich ist der Axel für die meisten Läufer schwierig, aber er springt ihn mit unglaublicher Leichtigkeit. Der dreifache Flip ist ebenfalls gelungen und ich fange an zu lächeln. Er hat aufgehört zu denken, bewegt sich viel sicherer... Wo bist du gerade mit deinen Gefühlen, Yuuri? Aber eigentlich weiß ich es ganz genau. Wenn du so läuft, gibt es nichts, was mich glücklicher macht, als dir zuzusehen. „Makkachin, schau gut hin“, erkläre ich meinem Pudel und streichle seinen Kopf. „Yuuri möchte mit diesem Programm seine Liebe für diejenigen ausdrücken, die ihm wichtig sind. Nicht nur für mich, weil wir zusammen sind. Auch für seine Freunde. Seine Familie. Für alle, die ihn auch lieben und unterstützen.“ Makkachin legt den Kopf schief auf die Seite. „Und für dich auch, obwohl du böse warst und Manjuu gefressen hast!“, beteuere ich, lege meine Stirn auf Makkachins Kopf und wuschele durch sein Fell. Dann schauen wir wieder zum Fernseher. Den letzten Sprung schafft Yuuri jetzt auch noch. Oder auch nicht. „Yuuri!“, zetere ich seinem Fernsehbild zu, „Die Toeloop-Kombination vom Anfang am Schluss nochmal zu versuchen und wieder zu verhauen; darüber unterhalten wir uns noch! Dein Stehvermögen ist groß, aber nicht unendlich! Hat Yurio dich mit seinen Sprüngen angefuchst und du wolltest nachlegen, ja? Das ist nur recht, dass du da gerade fix und fertig auf dem Eis liegst! Von wegen, du schaffst das ohne mich!“ Ich will noch weiter meckern, aber halte inne, als ich sehe, wie Yuuri mit einem Reisklops- und Sushi-Plüschi bei Yakov an der Bande ankommt. Das Bild wirkt so befremdlich auf mich, dass ich glatt vergesse, was ich eigentlich noch sagen wollte. Mein Geliebter und mein Trainer gehen zusammen zur Punktevergabe. Dass ich so etwas mal sehen würde! Aber noch bevor die Punkte bekanntgegeben werden, muss ich furchtbar anfangen zu lachen. Yakov macht Yuuri ein Einlauf, genau so, wie ich gerade noch vorhatte und Yuuri scheint die Ohren komplett auf Durchzug zu stellen. Es ist, als würde ich mich selbst dort sitzen sehen. Yuuri hat ganz eindeutig von mir gelernt - nur irgendwie das Falsche (^-^); Dann wird das Ergebnis eingeblendet. Yuuri und Yakov sehen aus, als seien sie davon überrascht und ich muss zugeben, ich wäre wahrscheinlich auch überrascht gewesen, wenn ich dort gewesen wäre. Aber ich kenne das Ergebnis ja schon und sehe nur eine Wiederhol- ! Vor Schreck ziehe ich Makkachin reflexartig zu mir, als Yuuri Yakov umarmt. Jetzt bin ich doch überrascht. Yuuri...! ... Nur noch fünf Minuten kuscheln, Makkachin. Dann gehen wir Gassi. 22. November 2016, Yuutopia Katsuki, 13:59 Uhr „Tadaima.“ Ich horche auf. Auch Makkachin ist sofort auf den Beinen. Mari ist von ihrem Besuch bei einer Freundin zurück. Als Hiroko und ich mit Makkachin aus der Tierklinik zurückgekommen waren, hatte Mari schon auf das Auto gewartet, um zu einer Freundin fahren zu können. Wegen was wollte sie nicht sagen, aber Hiroko schien besagte Freundin zu kennen und ich war zu fertig, mich groß dafür zu interessieren. Doch mittlerweile hat die Sache einen fahlen Beigeschmack entwickelt. Dass Mari verwundert sein würde, mich zurück im Yuutopia zu sehen, war anzunehmen. Dass sie nicht mit mir reden wollen würde auch. Aber dass sie das Haus für zwei Tage gänzlich verlassen würde, ohne mir die Chance zu geben, mich bei ihr bedanken zu können, war mehr als seltsam. Dass überhaupt Manjuu aufgestellt wurden, erschien mir schon fragwürdig, wo alle hier wissen, dass Makkachin sie ohne zu zögern fressen würde. Um mich keiner voreiligen Schlussfolgerung hinzugeben, bat ich Hiroko, mir zu zeigen, wo sich die Manjuu befunden hatten. Zu meiner Verwunderung führte sie mich ins Elternschlafzimmer und deutete auf den Familienschrein. Dass überraschte mich doppelt, denn genau wegen dem Schrein darf Makkachin in dieses Zimmer eigentlich nicht hinein. Ich erfuhr weiter, dass Hiroko und Toshiya in dieser Nacht auch gar nicht zuhause waren. Wo sie stattdessen waren, musste ich bei Hirokos peinlich verlegenem Gesicht nicht mehr nachfragen. Wahrscheinlich hat die rege Aktivität von Yuuri und mir die Hormone der Eltern ebenfalls in Schwung gebracht und unbemerkt in ein Hotel zu verschwinden ist schwer, wenn das Haus voll ist. Es schien also eine gute Gelegenheit zu sein, dass Yuuri und ich aufgrund des Vorentscheids nicht da waren und folglich war das Elternzimmer in dieser Nacht nicht bezogen. Weil Yuuri bald Geburtstag habe, erklärte Hiroko weiter, wollte man den verstorbenen Vicchan daran teilhaben lassen und da Makkachin Manjuu so gerne möge, dachte man, Vicchan möge das vielleicht auch. Der Gedankengang hatte etwas sehr Fürsorgliches und Ehrbares für den kleinen Pudel an sich und im Grunde wäre dagegen auch nichts einzuwenden gewesen, wenn die Tür geschlossen geblieben wäre. Aber die pure Leichtsinnigkeit, die in diesen Umständen mitschwingt, macht es mir schwer, die Wahrheit zu akzeptieren. Und die Frage, was genau passiert ist, würde mir nur Mari beantworten können. Ich trete hinaus in den Eingangbereich und beobachte, wie sie ihre Jacke und die Schuhe auszieht. Makkachin bleibt ruhig neben mir sitzen, dann legt er sich auf den Boden. „O-kaeri“, sage ich. „Ich wollte mich noch bedanken, dass du dich um Makkachin gekümmert hast.“ „Keine Ursache.“ Es klingt freundlich, aber meine Worte sind steif, genauso wie ihre. Auf der einen Seite bin ich froh, dass sie Makkachin so schnell versorgt hat, auf der anderen unfassbar wütend, dass es überhaupt so weit kam. Aber es ist nicht nur wegen Makkachin. Ich bin wütend über die ganze Situation. Seit Yuuri und ich zusammen sind, hat sie kein Wort mehr mit uns gesprochen und dann ruft sie plötzlich an, obwohl bereits alles getan war, was getan werden konnte. Sie wusste, wie Yuuri auf diese Nachricht reagieren würde. „Kann ich mit dir reden?“, frage ich sie, und versuche den Sturm zu kontrollieren, der in meinem Innern tobt. „Du sprichst nicht wirklich mit mir, gehst mir vielmehr aus dem Weg, aber trotzdem kümmerst du dich um meinem Hund.“ „Das hätte jeder getan“, beschwichtigt sie, doch ihr Gesicht spiegelt nicht die lockere Gleichgültigkeit wie sonst wieder. Auch in ihr tobt ein Sturm, den sie nur mit Anstrengung für sich behalten kann. „Warum hast du angerufen?“ Ich kann mich nicht halten. Dabei bin ich am Meisten sauer auf mich selbst, dass ich Yuuri alleine gelassen habe. „Weil ich nicht wollte, dass der Hund verreckt?“ „Und was hätten wir tun können?“, greife ich sie an. „Yuuri stand mitten im Wettkampf! Meinst du, er rackert sich jeden Tag dafür ab, dass du ihn im ungünstigsten Moment anrufen und in ein Loch stürzen kannst?“ „Ich habe deine Nummer nicht?“, erwidert sie barsch. „Du hast ihn schon in Sochi angerufen.“ Es ist raus. Mit Sicherheit hat sie nicht damit gerechnet, dass ich es weiß. Wahrscheinlich bin ich der Einzige, der in Sochi von Yuuri erfahren hat, dass sein Hund gestorben ist. Mari steht da wie versteinert. „Yuuri ist von Vorwürfen fast aufgefressen worden. Er hat zu viel gegessen, ihm sind die Nerven durchgegangen. Nach dem Finale hat er sich betrunken, um den Kummer zu verdrängen und die Niederlage zu vergessen. Er hatte Träume!“ „Die hat jeder von uns und die meisten erfüllen sich nicht“, versucht sie mich abzuwimmeln. „Und deswegen ist es gerecht, die eines anderen zu zerstören, um sich selbst besser zu fühlen?!“ „Hör' auf!“ Mari steigen Tränen in die Augen, ihr Gesicht verzerrt sich, ihre Hände zittern. „Was willst du von mir?! Was denkst du eigentlich, wer du bist?! Du kommst einfach hierher, machst einen auf Trainer, nistest dich in unserer Familie ein, wirst die Schlampe meines Bruders und alle sind soooo glücklich, ich könnt kotzen!“ Ich halte den Atem an. Die ganze Fassade fällt gerade in sich zusammen, um der unschönen Wahrheit Platz zu machen. „Du hast keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man um alles kämpfen muss oder sich für alles rechtfertigen muss!“ „Meinst du?“, widerspreche ich. „Meinst du, ich stünde vollkommen ohne den geringsten Zweifel an meinem Leben hier? Ja?“ Ich warte einen Moment, ob sie reagiert, aber sie schweigt. Ich fahre fort: „Du beschwerst dich, dass ich hier bin, behandelst mich als Eindringling in deiner heilen Welt, die nur dann funktioniert, wenn du beweisen kannst, Macht über Yuuri zu haben, um dich selbst weniger schlecht zu fühlen, weil du selbst nichts auf die Reihe kriegst? Du träumst davon, irgendwelche Stars zu begeistern, die heimliche Geliebte zu werden und so zu Anerkennung zu gelangen, statt dir die Anerkennung selbst zu erarbeiten! Wenn dir dein Leben nicht passt, dann ändere es!“ „Und wie?!“, geht sie mich an. „Ich hab' kein Talent, für nichts; es kommt auch kein Prinz auf einem Pferd daher für jemanden wie mich; ich krieg' nicht mal 'nen anderen Job, wenn ich einen wollte!“ „Und ist das Yuuris Schuld? Oder meine? Denkst du, der ganze Eiskunstlauf ist nur Spaß? Weil wir nichts Besseres zu tun haben? Dein Bruder verdient sein Geld damit, das ist sein Job! Er ist mental nicht stabil und das weißt du, also warum rufst du ihn an?“ „SEI STILL!“ Hiroko steht mittlerweile auch bei uns. Sie versteht unser Englisch nicht, aber der Anblick ihrer Tochter muss ihr mehr sagen, als ihr lieb ist. Maris Gesicht ist zwischen ihren verkrampften Fingern vergraben, die Knöchel sind hervorgetreten und ihre Haltung gebückt, als könne sie sich gerade noch so auf den Beinen halten. „Was hätte ich denn tun sollen...?“, wimmert sie vor sich hin. „Was hätte ich denn tun sollen...?“ Sie hätte unzählige Möglichkeiten gehabt. Von Achtsamkeit über die Tür bis hin zu ihrem Verhalten am Telefon. Sie hätte Yuuri gar nichts sagen dürfen, sondern sofort nach mir verlangen sollen. Sie sah eine Gelegenheit, ihrem Bruder zu zeigen, dass sie auch wichtig ist. Wichtiger als der Wettkampf, wichtiger als die internationale Aufmerksamkeit oder wichtiger als ich. Ich kann sie in dieser Hinsicht sogar etwas verstehen. Wie es ist, wenn man etwas sein soll, das man nicht ist und darum kämpfen muss, gesehen zu werden. Was ich aber nicht verstehen kann und nie verstehen werde, ist dass man diesen Kampf zu gewinnen versucht, indem man anderen Steine in den Weg legt, statt sich selbst zu verändern. Aber letztendlich mache ich mir doch nur selbst etwas vor. Ich bin mit der Absicht, Yuuris Trainer zu sein, nach Hasetsu gekommen. Und jetzt? Bin ich „die Schlampe ihres Bruders“, rede und handele wie Yakov es tun würde, weil ich gescheitert bin und nicht mehr weiß, was ich noch tun kann. Oder wie ich es rechtfertigen sollte, weiter an Yuuris Seite bleiben zu können ohne Trainer zu sein, dass ich aus Wut über mich selbst Mari diesen hässlichen Spiegel vorgehalten habe. Hiroko kniet neben ihrer Tochter nieder, um sie zu beruhigen. Sie weint. Ich kann mit Situationen nicht umgehen, in denen jemand weint; erst recht nicht, wenn ich daran Schuld bin. Ich weiß dann nicht, wie ich mich verhalten soll, weil ich kein Mitleid empfinden kann. Hilflos schaue ich auf die Uhr. Es würde noch knapp zwei Stunden dauern, bis Yuuri in Fukuoka landet. Ich müsste am Flughafen warten, aber hier bleiben kann ich auch nicht. „Yuuri wo mukae ni itte kimasu“, sage ich kurzentschlossen, mache auf dem Absatz kehrt und noch bevor Hiroko mich davon abhalten kann, bin ich barfuß in die Schuhe geschlüpft, habe den Mantel übergeworfen und Makkachin folgt mir auf dem Weg zum Flughafen. Die Zugfahrt über bin ich völlig in meinen Gedanken verloren. Eine Weile lang betrachte ich meine Reflexion in der Glasscheibe und versuche etwas zu erkennen, dass mich nicht an die erste Zeit nach Sochi erinnert. Meine Haare sind durcheinander, meine Augen müde und meine Haltung schlaff; so wie damals, als ich Tag für Tag spät nachts nach Hause kam und in das gleiche, unglückselige Gesicht im Spiegel blickte. Ich wollte mich nicht mehr verlieben. Ich dachte, solange ich nur auf dem Eis bliebe, könnte mir alles andere egal sein. Solange ich für mich neue Stärke generieren könnte, wäre alles kein Problem. Aber die Einsamkeit ist ein furchtbarer Feind, den man nicht alleine zu bezwingen vermag. Aus meiner Einsamkeit wuchs Sehnsucht. Aus Sehnsucht entstand Hoffnung. Hoffnung, dass ich eines Tages jemanden finden könnte, der mich lieben könnte als der, der ich bin. Jemand, dem ich meine Welt nicht mehr erklären müsste, sondern der mir und ihr die Hand reichen würde. Mein Seelenverwandter. Weiß Gott, ich hätte es nicht geglaubt. Dass ich emotional so abhängig von Yuuri werden würde, dass ich mich kaum kontrollieren kann, wenn er nicht da ist. Dass Mari meine Zielscheibe würde... Ich bin ein fürchterlicher Mensch. Aber es wundert mich nicht, ich hatte die beste Lehrerin der Welt. Sie hat mir beigebracht, dass mir jedes Mittel recht sein muss, um mich zu verteidigen. Yuuri... Ich weiß nicht, was ich als Trainer für dich noch tun kann oder wer ich für dich sein soll. Müsste ich noch einmal entscheiden, wäre meine Antwort die deine: Nur Viktor. Nicht Lebende Legende, nicht Idol, nicht Trainer... Einfach nur Viktor. Aber ich habe auch Angst davor, sehr sogar. So starke Gefühle wie in den letzten Monaten habe ich noch nie empfunden und sie sind mir fremd. Ich weiß nicht, wie ich ihnen ohne den Rückhalt begegnen soll, den du mir gibst. Lass' mich nicht allein... Yuuri... „Yuuri...!“ Es ist nur ein tonloses, unterdrücktes Rufen nach dir, das über meine Lippen kriecht. Makkachins Pfoten liegen auf meinen Oberschenkeln, er sieht mich mitfühlend an, während ich alle Kraft, die mir bleibt, dazu aufbringen muss, die letzten drei Stationen bis zum Flughafen noch durchzuhalten, ohne den Schmerz heraus zu weinen. 22. November 2016, Fukuoka Airport, International Terminal, 16:08 Uhr Es kommen keine neuen Koffer mehr aufs Band und meine waren definitiv nicht dabei. Nur zwei einsame, schwarze Koffer drehen noch herrenlos ihre Runde und es scheint, als seien diese beiden Gepäckstücke mit meinen vertauscht worden. Der rote Koffer mit meinen persönlichen Sachen wäre irgendwie noch zu verschmerzen, aber dass der Weiße mit meinen Kostümen, den Schlittschuhen und allem, was ich zur Wettkampfteilnahme brauche, am anderen Ende der Welt gelandet sein könnte, will ich mir gar nicht ausmalen. Es ist mir auch noch nie passiert, dass meine Koffer nicht angekommen sind, dabei bin ich mir sicher, sie in Moskau korrekt aufgegeben zu haben. Die Tags kleben noch auf meinem Boarding Pass und mit einem unguten Gefühl trete ich an eines der beiden schwarzen Gepäckstücke heran, um zu lesen, für welchen Flughafen sie bestimmt waren. ICN-KIX. Flüchtig verspüre ich Erleichterung. Weil es so ungewöhnlich ist, kann ich das Ankunftskürzel sofort zuordnen. Ich habe es oft genug gelesen, wenn ich von Japan nach Detroit gestartet bin: Kansai International Airport, also Osaka. Es muss nichts heißen, aber wenn ich Glück habe, dann befinden sich meine Koffer trotz allem in Japan und ich hätte gute Chancen, sie schnell zurückzubekommen. Ich laufe noch eine letzte, ergebnislose Runde um das Gepäckband, dann gebe ich auf. Die Zollbeamten haben mich schon eine Weile beobachtet, aber sie sprechen mich nicht an, als ich zwischen den Passagieren einer Maschine aus Shanghai die Grenze passiere. Bevor ich nach Hasetsu fahren kann, muss ich zuerst noch den Verlust bei Korean Air melden, aber ich weiß gar nicht, wo ich die Schalter das letzte Mal gesehen habe. Es würde also länger dauern, bis ich zuhause ankommen würde. Meine Gedanken wandern zu Viktor, als ich durch die Schranke trete. Ich hatte vor, die erste Bahn zu nehmen, die ich bekommen könnte, dass ich so schnell wie nur möglich wieder bei ihm sein könnte. Es gibt so viel, dass ich ihm sagen will, was ich erzählen will... In meinem Augenwinkel erkenne ich etwas Braunes, das auf mich zustürmt und ich vernehme so etwas wie ein Bellen hinter Glasfront. Ist das etwa Makkachin? Ich sehe auf. Er ist es! Und Viktor! Da sitzt er, sieht zu mir und steht sofort auf. Er hat gar nicht gesagt, dass er zum Flughafen kommt! Hat er etwa gewartet, während ich eine Runde nach der anderen um das Gepäckband gelaufen bin? Sofort beginne ich zu rennen, er rennt mit mir. Er sieht so müde aus, so fertig... Als hätte er kein Auge zugetan...! Ich erreiche die Glastür, trippele nervös, weil sie zu langsam öffnet; er steht schon da mit ausgestreckten Armen und nur zwei Schritte weiter haben wir uns wieder. Mein geliebter Viktor... Endlich kann ich ihn wieder halten. Ich habe nicht damit gerechnet, aber jetzt wo er hier ist, hätte ich keine Sekunde länger warten können. Seine Wärme, sein Geruch... Ich bin wieder zuhause. Der einzige Ort, an dem ich wirklich sein will, ist bei ihm. „Yuuri,“ beginnt er und klingt so schwermütig, „ich habe nachgedacht, was ich als Trainer noch für dich tun kann...“ „Ich habe auch nachgedacht...“, gestehe ich. Ihn haben also die gleichen Gedanken beschäftigt... Es quält ihn, genauso wie mich. Halte noch etwas durch, Viktor. Ich werde dich beschützen; mit allem, was mir zur Verfügung steht. Ich verspreche es...! „Viktor,“ sage ich entschlossen, greife seine Schultern und sehe ihm direkt in die Augen, „bitte, darf ich noch um deine Hand anhalten, bis ich zurücktrete?“ Er steht völlig perplex da. Nach ein paar Sekunden verschwindet die Überraschung aus seinem Gesicht und er lächelt erleichtert, nimmt meine linke Hand und küsst mir den Ringfinger. Die Verlegenheit über meine plötzliche Frage lässt seine müden Augen wieder etwas leuchten, als er antwortet: „Das ist ja fast wie ein Antrag.“ …Ein bisschen, aber mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich trete einen Schritt heran, umarme ihn wieder, lege meine Hände auf seinen Rücken. Gerade fühlt er sich an, als sei er das zerbrechlichste Geschöpf auf dieser Welt. „Ich wünschte, du würdest nie zurücktreten“, flüstert er leise. Es sticht sofort in meiner Brust, Tränen schießen mir unvorbereitet in die Augen. Das geht nicht... und das weißt du, Viktor. Du darfst nicht sterben. „Wir gewinnen zusammen Gold beim Finale, ja...?“ Es geht nur noch um ein paar Wochen... Wenn der Grand Prix vorbei ist, bist du frei. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)