Von Peking bis Barcelona von Flokati ================================================================================ 3 - Intermezzo: Rostelecom Cup, Kurzprogramm -------------------------------------------- Nach einem gemeinsamen (und für mich viel zu kurzen) Nachmittagsschlaf in Viktors Zimmer geht es am Abend zum ersten, freien Training. Bevor wir dort allerdings aufkreuzen, will er noch mit seinem Trainer telefonieren, um zu erfragen, welche Stimmung bezüglich seiner affektiven Art, mir zu zeigen, dass ich die Kür in China gut gemeistert habe, vorherrscht. Warum Viktor lieber telefoniert statt direkt mit Yakov Feltsman zu sprechen, verstehe ich nicht direkt und steigert meine Unsicherheit, wie ich mich diesem gegenüber verhalten soll. Dabei ist nicht gesagt, dass ich überhaupt mit ihm reden muss, aber die Möglichkeit existiert. Ich sollte wirklich versuchen, mir nicht zu viele Gedanken darum machen. Es gibt ohnehin genug andere Dinge, die mir im Kopf herumschwirren, denn dass ich bereits allen anderen Teilnehmer dieses Vorentscheids gegenüber gestanden habe, hat mir mit einem Holzhammer bewusst gemacht, weshalb wir eigentlich hier sind. Besonders Yurio scheint noch nicht aufgegeben zu haben, Viktor nach Russland zurückzuholen und ich frage mich, ob er da nicht etwas zu verbissen ist. Ich hatte eigentlich gedacht, die Sache sei vom Tisch, aber Yurio ist offensichtlich anderer Meinung. Ich hatte jetzt auch nicht den Eindruck, als würde er nicht ernst machen. Wenn ich weiter mit Viktor ins Finale kommen will, muss mindestens Vierter werden, sonst reichen mir die Qualifikationspunkte nicht. Sollte ich das nicht schaffen, wüsste ich nicht, was danach käme. Ich kann weder einschätzen, was Viktor dann tun würde, geschweige denn, wie es mit uns weiterginge. Ich darf diese Möglichkeit nicht zu nah an mich herankommen lassen, sonst verliere ich mich darin und das darf nicht passieren. Als Viktor sich schließlich von mir runter auf die andere Matratzenhälfte rollt und nach seinem Handy greift, raffe ich mich aus dem Bett hoch und betrete das Badezimmer, um zu duschen. Vor dem Training macht es zwar genau genommen wenig Sinn, aber ich muss irgendwie wieder wach werden, bevor wir los müssen. Der Jetlag ist noch lange nicht überwunden und ich muss mit allen Tricks arbeiten, wenn ich auf dem Eis nicht gleich vor Müdigkeit die Balance will. Wie der Rest dieses Doppelzimmers ist auch das Bad wesentlich geräumiger und besser ausgestattet als der Standard, denn ich glaube nicht, dass ich sowohl Dusche als auch Badewanne und zwei Waschbecken zur Verfügung haben werde. Es ist blitzblank, der schwarze Fliesenboden und die goldenen Armaturen glänzen um die Wette und große, weiche Handtücher ergänzen das Bild eines äußerst noblen Badezimmers, wie man es in europäischen Schlössern erwarten würde. Das scheint wohl der Stil zu sein, der den Russen gefällt, vermute ich, denn die goldenen und geschnörkelten Dekorationen finden sich auch im Schlafzimmer wieder und das Bett war trotz des modernen und kantigen Schnitts mit mehr Kissen bestückt gewesen, als man je zum Schlafen hätte benutzen können. Der russische Pomp stellt einen krassen Gegensatz zur japanischen Schlichtheit dar und ich frage mich beim Umsehen, was Viktor eigentlich besser gefällt. Was es für ein Gebäude ist, in dem er wohnt. Ich weiß, dass er alleine lebt, aber weder ob es ein einzelnes Haus oder ein Apartment ist oder wie es darin aussieht. Wenn ich anhand seiner Möbelstücke bei uns zuhause entscheiden müsste, dann wäre die Einrichtung ähnlich simpel wie die Japanische, aber das soll nicht heißen, dass sie weniger hermachen würde. Die Materialien machen den Unterschied, denn der weiße Sessel hat einen Wildlederbezug, das Kuhfell auf dem Boden ist echt und der Rahmen des Kopenhagen-Fotos ist wohl wirklich mit Blattgold überzogen. Außerdem hat Viktor für einige Wochen noch diese Büste in seinem Zimmer stehen gehabt, die mehr zu diesem opulent-barocken Hotelzimmer passen würde, sodass es wohl auf eine Kombination aus beidem herauslaufen würde. In Gedanken mache ich mir eine Notiz, Viktor bei Gelegenheit danach zu fragen, dann lege ich meine Kleidung ab und steige in die gläserne Duschkabine. Ein bisschen komisch fühlt sich das schon an, trotz Kabine immer noch nackt in Raum zu stehen. Solche voyeuristischen Elemente würde man in Japan nur in einem Love Hotel vorfinden, aber niemals in einem normalen Hotel. Sofort schießt mir die Schamröte in die Wangen und ich vergrabe mein Gesicht in meinen Handflächen, ohne zu wissen, was mich mehr beschämt: Die unvorbereitete Vorstellung, mit Viktor unter dieser Dusche zu stehen oder mit ihm in ein Love Hotel zu gehen. Eigentlich ist es nichts Ungewöhnliches in Japan, genau dafür sind diese Hotels ja da, aber... Hilfe, was denke ich hier gerade! Der JSF lässt mir keine Unterstützung dafür zukommen, dass ich mit meinem Trainer in ein Love Hotel gehe...! Allein, dass wir überhaupt eine Beziehung führen, fühlt sich, seit wir in Russland angekommen sind, so unendlich verboten an, weil Viktor niemals mit einem Partner in der Öffentlichkeit gestanden hat. Er hat auch nie über Beziehungen gesprochen und mir wird schummerig, wenn ich darüber nachdenke, dass ich derjenige sein könnte, mit dem Viktors unbeschriebenes Image sein Ende finden würde... Ich darf mich nicht davon verrückt machen lassen, ermahne ich mich. Niemand weiß davon. Um meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, drehe ich das Wasser auf, es fängt an zu plätschern und ich schließe die Augen. Das Wasser ist erst lauwarm, wird dann angenehm warm und schließlich angenehm heiß. Ein paar Grad mehr als Körpertemperatur und ich habe das Gefühl, völlig abschalten zu können. Während sich die Wärme in meinem Körper langsam ausbreitet, atme ich tief ein und aus. Für einige Sekunden genieße ich die Stille in meinem Kopf, die Dunkelheit vor mir und das wohltuende Nass. Dann öffne ich die Lider und diesmal fällt mein Blick auf die Badewanne. Ob wir beide dort hinein passen würden? Japanische Badewannen sind nur halb so groß und viel schmaler, aber in dieser ginge es vielleicht... Oh Gott, nicht schon wieder!, denke ich, aber finde den Knopf zum Abschalten nicht. Er. Und ich. In einer Wanne. Ohne Zuschauer. Ohne Bedenken, dass doch plötzlich jemand um die Ecke lugt...! Es ziept mächtig in meiner Bauchgegend. Vorsichtig taste ich an mir nach unten und als ich diese sensible Stelle berühre, halte ich inne. Noch beschämter als zuvor starre ich an mir hinab. Dieser Teil von mir war erst vor Kurzem mit Viktor vereint, hat ihn geliebt und zum Höhepunkt gebracht und trotzdem bedarf es nur solch banaler Dinge wie einer Duschkabine oder einer Badewanne, dass ich ihn erneut begehre... Ich glaube, meine Knie geben gleich nach. Wenn wir es tun, bin ich mir dessen nie wirklich bewusst, weil ich ihn so liebe, wie er ist, aber jedes Mal, wenn sich mir in mein Bewusstsein drängt, wen ich mit geröteten Wangen, laszivem Blick und meinem Namen auf den seufzenden Lippen vor mir liegen habe, dann ist es, als würden in meinem Kopf eine Millionen Sicherungen durchbrennen. Der Taxifahrer, der die beste Fahrt seines Lebens hatte, die beiden Bäckerinnen, die vor lauter Verzückung kein Geld mehr annehmen wollten, die ganzen Journalisten und Fernsehteams, die vor dem Hotel gewartet haben... Er ist es wirklich. Kein täuschend echter Zwilling, sondern wirklich ihr Viktor Nikiforov. Und ich habe ihn ge... G-gestohlen, vom Eis!, was sonst, ich meine, oh Gott, also...! Hilfe. Ich darf mich um Gottes Willen nicht davon verrückt machen lassen. Unser Privatleben geht niemanden etwas an. Wir haben trainiert. Ich bin vorbereitet, ich darf mich nicht einschüchtern lassen. Ich muss ihnen beweisen, dass ich es wert bin, dass Viktor die Zeit für mich geopfert hat. Und jetzt bin ich auch mehr als genug sauber! Wir sollten zum Training! Rostelecom Cup, Kurzprogramm. 19. November 2016 Mit dem Betreten der Lobby am nächsten Tag zur allgemeinen Abfahrt ist der Wettkampf vollends in meinem Bewusstsein angekommen. Die Konkurrenz ist heute keinesfalls zu unterschätzen, obwohl es nach einem kurzen Umsehen mehr nach einer schlechten, amerikanischen Sitcom aussieht als nach dem Versammeln der Teilnehmer eines internationalen Vorentscheids: Da steht die Schöne bei ihrem immer-wachsamen Bruder, daneben der hartnäckige Verehrer, in der Ecke der geheimnisvolle Stille, überall hört man die selbstverliebte Labertasche und am Rand der aggressive Teenager, der von allem genervt ist. Fehlt nur noch eine Rolle für Viktor und mich. Die peinlichen Eltern vielleicht? Das wird was... Etwas unsicher huschen meine Augen hinüber zu Yakov Feltsman, aber es ist die Frau in ihrer gelben Jacke neben ihm, die ungewollt meinen Blick auf sich zieht. Ihre Augen sind so giftig, dass es mir kalt den Rücken hinunter läuft. Sie steht wie versteinert im Raum, hat die Arme vor der Brust verschränkt und eine Miene aufgesetzt, als wäre jeder Einzelne von uns eine Kakerlake, die ausgeräuchert werden sollte, sodass ich unwillkürlich schlucken muss. Yuko hatte mir gegenüber erwähnt, dass Yurio auch von der Exfrau von Yakov Feltsman trainiert werden würde, sodass es logisch wäre, wenn diese Frau besagte Exfrau ist und ich kann mir sofort vorstellen, was Yuko damit meinte, als sie sagte, Yurio würde von morgens bis abends nur angemeckert werden. Diese Frau sieht aus, als hätte man ihr die Seele herausgerissen. Mit einem unguten Gefühl im Bauch wende ich mich ab und folge Viktor zu einem der Kleinbusse, die uns wie gestern zur Halle bringen sollen. Wir nehmen zusammen mit JJ, seinen Trainern, aber auch mit Yurio, Yakov Feltsman und dessen Exfrau im selben Bus Platz. Sofort nach der Abfahrt spielt JJ den Alleinunterhalter in der ersten Reihe und redet ohne Pause, dass es unmöglich ist, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Auf den Plätzen hinter den drei Kanadiern fällt also kein einziges Wort und ich versuche so gut es geht, nicht zuzuhören, wie JJ seine Punkte laufen will, aber es hilft nichts: Irgendwas mit Toeloop am Anfang, weil das ist JJ-Style, und Axel in der Mitte, weil das ist auch JJ-Style, und Lutz am Ende, denn das ist der Ultra-JJ-Style und zusammen mit dem Lied, das er selbst ge-collaboratet hat, ist JJ-Style einfach überall. Nur Yurio ist uns allen einen Schritt voraus, denn er trägt Kopfhörer und die Beschallung mit eigener Musik ist wahrscheinlich auch das Einzige, was gegen JJ-Style hilft. Die Fahrt zur Moskauer Eishalle dauert eine Viertelstunde und wenn die unendliche Darstellung von JJs Programm ein Gutes an sich hatte, dann dass ich plötzlich eine sehr große Erleichterung verspüre, dass wir endlich an der Halle ankommen. Trotzdem muss ich versuchen, meine Konzentration schnellstens wieder zu aufzubauen, denn darauf zu hoffen, dass JJ irgendwann die Klappe hält, ist und bleibt Wunschdenken. Wir steigen einer nach dem anderen aus, der Fahrer gibt uns die Koffer und Taschen aus dem Kofferraum und JJ philosophiert hypothetisch über eine noch bessere Version seines JJ-Styles, denn ein Rittberger wäre die Krönung des Kings und er setzt sich just bei diesen Worten seine Schirmmütze auf. Viktor tippt mich an und flüstert: „Er weiß aber schon, dass es Winter ist und Kappen in den Sommer gehören?“ „Hm...“, antworte ich in Gedanken versunken, denn auch wenn ich Viktor insgeheim zustimmen muss, dass eine Kappe im tiefsten Winter bei Schnee extrem deplatziert wirkt, bin ich gar nicht darauf eingestellt, offen zu lästern. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich mir das erlauben kann, schließlich fängt der Wettkampf erst an und JJ ist kein schwacher Gegner. Auch Yurio schaut schon seit unserer Abfahrt aus dem Hotel so, als könnte er es nicht mehr abwarten, aus uns allen und besonders mir Hackfleisch zu machen. Konzentration, halte ich mich an. Das ist der Schlüssel. Ich muss gut laufen. Ich darf mich nicht beeindrucken lassen. Mit gesenktem Blick drehe ich mich in Richtung Halleneingang. Der Wind bläst kalt in meinen Ohren, Schneeflocken wirbeln durch die Luft und es fröstelt mich äußerlich wie innerlich, mir vorzustellen, meinen härtesten Kritikern im Reich des wahren Königs gegenüber zu treten. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Viktors Landsleute und Fans es begrüßen würden, wenn ich hier in Moskau aus dem Grand Prix ausscheide und Viktor danach zurück aufs Eis käme. Aber so einfach gebe ich diesmal nicht auf. Noch können sie lachen, aber seit China hat sich vieles geändert und was einmal mir gehört, gebe ich so schnell nicht wieder her. „Yuuri~, warum sagst du nichts?“, fragt er irritiert von meinem ausbleibenden Kommentar. Und genau das meine ich. Diesen Viktor, der sich nur mir so zeigt. Die Zeit und Liebe, die er investiert hat, soll nicht umsonst gewesen sein und ich werde es ihnen zeigen. Mein Eislaufen ist das Einzige, an dem es gemessen werden kann und ich werde ganz Russland beweisen, wie stark meine Liebe geworden ist. In der Halle angekommen wird sieht die Realität jedoch etwas anders aus und meine Liebe muss sich in Zurückhaltung üben. Viktor wird sofort von eine Reihe verschiedener Persönlichkeiten und Reporter angesprochen, sodass ich die erste Zeit unnütz daneben stehe und zuhöre, ohne etwas zu verstehen. Es erinnert mich an gestern, als die Reportertraube im Hotel um Viktor herum versammelt war, aber meinen Platz neben ihm werde ich diesmal nicht räumen. Er ist mein Trainer, das ist mein Wettkampf; ich sehe also keinen Grund dazu. Nach einer Weile winken mich Morooka und sein Team zu sich, sodass ich mich dann doch von Viktor entfernen muss, um meinen eigenen Verpflichtungen als Wettkampfteilnehmer nachzukommen. Auch Yurio befindet sich gerade in einem Interview für einen russischen TV-Sender, aber es ist kein Vergleich zu der Aufmerksamkeit, die Viktor zukommt. Was äußerst paradox ist, wenn man bedenkt, dass Viktor nicht einmal am Wettkampf teilnimmt. Yurio ist zwar neu bei den Seniors, aber als amtierender Weltmeister und Grand Prix-Sieger bei den Juniors gibt es eigentlich keinen Grund, ihn nicht zu beachten. Ein Debüt ist immer schwierig, erst recht wenn man es auf internationaler Ebene bestreiten muss und Yurio will nicht weniger gewinnen als alle anderen auch. Irgendwie tut mir das leid, aber ich kann nicht mal genau erklären warum. Vielleicht, weil Yurio mir mit dem Salchow geholfen hat und ich noch keine Gelegenheit hatte, mich wirklich dafür zu bedanken. Ich könnte ihn später zumindest anfeuern, überlege ich. Das könnte ich sogar auf Russisch und ohne Knoten in die Zunge zu bekommen, davai! Nach meinem Interview mit Morooka müssen alle Teilnehmer zum sechsminütigen Aufwärmen aufs Eis gehen. Das russische Publikum begrüßt uns euphorisch, aber nach nur wenigen Sekunden ist klar, dass der Jubel vorrangig nur Viktor gilt als irgendjemand anders. Während er damit beschäftigt ist, höflich in alle Richtungen zu winken, lasse ich meinen Blick zu den anderen Läufern wandern. Wenn ich in Peking glaubte, Georgi hätte mit seinem Carabosse-Outfit den Vogel abgeschossen, dann muss ich revidieren: Seung-Gil Lee kommt mit seinem Staubwedel-Look verdammt nah dran und diese halbe Ritterrüstung, die Michele Crispino trägt, ist in mehr als nur einer Hinsicht zu viel des Guten. Yurio trägt wie erwartet sein weißes Agape-Outfit unter seiner Trainingsjacke und Emile Nekola präsentiert sich wie ich in Schwarz, nur dass Emile mit Jackett und Jabot deutlich geschmackvoller gekleidet daherkommt. Genau genommen sehe ich im Vergleich zu ihm aus wie eine... Halleluja. Wo ist Chris, das moralische Niveau zum Tiefpunkt zu bringen, wenn man ihn braucht?! Nach dem Aufwärmen geht es für mich, Yurio und JJ wieder backstage und Viktor flüstert mir zu, dass er sich unter JJ-Style etwas anderes vorgestellt hat als eine lavendelfarbene 70er-Jahre-Glitzerstrumpfhose. Zwar muss ich Viktor erneut zustimmen, aber ich frage mich ernsthaft, ob er das Lästern heute nochmal abstellen kann. Andererseits kann ich es ja verstehen. Yurio hat seine Kopfhörertaktik wieder aufgenommen und das aus gutem Grund, denn JJ kommentiert für uns exklusiv den Lauf von Seung-Gil Lee, sodass ich mir an Yurio ein Beispiel nehme und Viktor um meine Ohrstöpsel bitte, um dem zu entgehen. Damit ist Viktor gerade der Einzige, dem nur Weghören als Gegenmaßnahme bleibt. Abgesehen von den Programmroutinen gehe ich im Kopf noch einmal durch, was Viktor und ich gestern Abend nach dem Telefonat mit Yakov Feltsman besprochen haben. Um den Kuss aus China für die Presse zu relativieren, sollen wir, wie Viktor es nannte, eine „unverfängliche Show“ abziehen. Mit anderen Worten sollen wir übertreiben, damit ja jeder versteht, dass alles nur Show ist. Dazu mussten wir zuerst einmal überlegen, was alles „unverfänglich“ sein könnte und am Ende kam heraus, dass wir einfach dasselbe wie schon in Peking machen, nur ohne Kuss auf den Mund: Viktor wird mir wieder die Schuhe anziehen und binden, aber nicht backstage, sondern so, dass es alle sehen können. Außerdem soll ich wieder seine Aufmerksamkeit vor dem Start des Programms einfordern. Wie ich das machen soll, muss mir so langsam überlegen, denn viel Zeit habe ich nicht mehr. Zum Schluss noch eine kleine situationsbedingte Showeinlage beim Kiss & Cry und damit wäre es genug. Im Grunde klingt das aber nicht wirklich nach Plan und ich wäre lieber dabei geblieben, so zu tun, als wäre gar nichts... Abgesehen davon soll Yakov Feltsman Viktor am Telefon geraten haben, dass wir weniger mit dicken Eiern als vielmehr mit klarem Kopf aufs Eis gehen sollten und Viktor hat das heute morgen durchaus ernst genommen. Ich würde zwar die leise Vermutung anstellen, dass das weniger als ernst gemeinten Ratschlag, sondern vielmehr als ein Appell an Viktors Vernunft zu verstehen war, aber andererseits wäre ich vielleicht nicht so gefasst, wenn ich mir noch Sorgen machen müsste, ob Viktor nach einer vermasselten Performance noch Lust auf mich hätte oder nicht – als Trainer und als Geliebter. Also hat es womöglich doch etwas Gutes gehabt... Hoffe ich. Auf den Bildschirmen sehe ich, dass Emile Nekola mit seinem Programm beginnt. Seung-Gil ist zuvor eine neue Personal Best gelaufen und nach nur kurzer Zeit fängt JJ an zu klatschen und sieht mich direkt an, weil es unnötige Info zu verteilen gibt. Viktor lehnt an der Wand und zieht bereits ein Gesicht, als hätte er aus Sicherheitsgründen sein Gehör komplett auf Durchzug gestellt. „Eh, sorry, ich hab nichts gehört“, antworte ich freundlich, aber ich will ja auch nichts hören. „Emile hat auch einen vierfachen Rittberger gelandet.“ Hypothetischer JJ-Style, resümiere ich, aber JJ ist schon an mir vorbei gegangen und wendet sich ein weiteres Mal an Viktor. „Viktor, den hast du letztes Jahr auch gesprungen, nicht?!“ „Keine Ahnung, kann sein“, schmettert Viktor JJ ab. „Heeee?!“ „Ich bin vergesslich, du weißt. Yuuri ist gleich dran, du entschuldigst also.“ Viktor bückt sich, greift nach der Tasche mit meinen Sachen und den Schlittschuhen und nickt mir zu, dass wir gehen. Meine Augen huschen noch einmal zu JJs wenig amüsiertem Gesicht und dann kurz zu Yurio, bevor ich loslaufe. Seine Trainerin ist zu ihm gekommen und spricht mit ihm, aber sein Blick trifft meinen und mir wird ein weiteres Mal unmissverständlich klar, dass er bereit ist, alles zu geben. Egal wie ich es drehe und wende, ich komme nicht umhin, in ihm den stärkeren Gegner zu sehen. Vielleicht, weil ich noch nicht einschätzen kann, wie sich Agape seit Onsen on ICE gewandelt hat, denn Yurio hat womöglich noch härter trainiert als ich und JJ-Style kenne ich bereits auswendig. Ich wende mich nach vorne und wir treten durch die Vorhänge in die Halle. Die Show beginnt. --------[EPISODE 8: Kurzprogramm]------- „Yuuri, dein Handy klingelt“, ruft mich Viktor zurück, während ich noch die letzten Sekunden von JJs Lauf auf den Bildschirmen beobachte. Er schaut auf das Display und ich erkenne Verwunderung in seinem Gesicht. Er reicht mir das Telefon und sagt: „Deine Schwester.“ „Mari?“ Warum sollte Mari anrufen? Während dem Wettkampf? Und überhaupt, ist es nicht mitten in der Nacht in Japan? Beunruhigt nehme ich den Anruf an. „Hallo?“ „Yuuri? Tut mir Leid, du steckst mitten im Wettkampf...“ Ihre Stimme klingt aufgebracht. „Makkachin hat Manjuu geschlungen und sie stecken im Hals fest. Wir sind schon beim Tierarzt, aber wir wissen nicht, ob er es überlebt...“ Meine Augen weiten sich vor Schock. „Was sollen wir machen?“ Ich kann überhaupt nichts sagen. Makkachin hat Manjuu geschlungen? Und könnte sterben, jetzt in dieser Minute, wo Viktor und ich in Moskau sind? So wie damals bei Vicchan? „...Ist Viktor in deiner Nähe? Kannst du ihn fragen?“ „N-nicht nötig, i-ich sag' ihm Bescheid...“, würge ich irgendwelche Worte aus mir heraus. Ich bin wie gelähmt. „Ich ruf' gleich zurück...“ Ich lege auf. Für ein paar Sekunden ist es in meinem Kopf völlig leer. Dann fasse ich einen Entschluss. „Viktor!“, wende ich mich an ihn. „Du musst sofort zurück nach Japan! Ich schaff' die Kür morgen auch alleine!“ Er schaut mich völlig entgeistert an. „Was ist passiert?“ Ich will es ihm eigentlich nicht vor allen Leuten sagen, aber ich habe keine Wahl: „Makkachin geht es sehr schlecht. Du musst zurück, sofort!“ „Moment mal, Yuuri, ganz ruhig. Ich kann jetzt nicht einfach zurück“, widerspricht er und die Mitanwesenden schauen nicht minder irritiert wie Viktor selbst. „Ich schaff' das alleine. Aber wenn du bleibst, verzeihst du dir das womöglich dein Leben lang nicht mehr! Makkachin könnte sterben, Viktor!“ Das hier ist nur ein Wettkampf, aber Makkachin ist Teil seines Lebens, er begleitet ihn schon so lange wie ich ihn kenne! Das wiegt viel mehr. Ich will nicht, dass er genau wie ich weitermacht und sich dann deswegen Vorwürfe machen müsste! Ich komme auch alleine zurecht, aber er braucht Makkachin und Makkachin braucht ihn! Auf mich muss niemand Rücksicht nehmen! „Warum stirbt Makkachin?“, fragt er, die Hände erhoben, als wolle er Abstand zu der Situation wahren. „Er hat [Manjuu gefressen und könnte ersticken, jetzt in diesem Moment“, erkläre ich aufgebracht, weil er nicht drauf eingeht. „Viktor, du musst zurück! Nimm' es nicht auf die leichte Schulter, ich weiß, wovon ich rede!“ Er sieht besorgt aus, aber er zögert weiterhin. Warum? Makkachin ist sein Ein und Alles. „Yuuri, wir sind mitten im Wettkampf, ich bin dein Trainer, ich kann jetzt nicht einfach zurück“, wiederholt er, als würde er ein Mantra herunterbeten, dass er auswendig gelernt hat. Ich gehe einen Schritt auf ihn zu. „Wegen mir musst du dir keine Sorgen machen! Aber wenn du jetzt nicht fliegst-“ „Eben wegen dir geht das jetzt nicht!“ Sein Ton klingt gequält. Er versucht die Contenance zu bewahren, der Kopf ist gesenkt und er greift sich mit der Hand an die Stirn, als denke er angestrengt nach, dabei gibt es nichts, worüber man nachdenken müsste! Plötzlich sieht er auf. „Yakov!“, ruft er und läuft los. Ich sehe in die Richtung, in die er eilt. Yakov Feltsman und Yurio kommen auf uns zu und hinter ihnen erkenne ich auch Yakov Feltsmans Exfrau in ihrer gelben Jacke. Viktors Schritte beschleunigen sich. „Ein Glück...!“, ruft er und fällt Yakov Feltsman beinahe um den Hals. „Du weißt, dass du immer der einzige wahre Trainer für mich sein wirst.“ Yakov Feltsman legt den Kopf auf die Seite, hin- und hergerissen zwischen Verwirrung und Amüsement über Viktors Verhalten. „Was soll das, willst du wieder zurück?“ „Ich bitte dich, für nur den einen Tag morgen“, beginnt Viktor, und jetzt höre ich deutlich, wie aufgebracht er wirklich ist. „Kannst du mich als Yuuris Trainer vertreten?“ Moment, BITTE WAS?! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)