Von Peking bis Barcelona von Flokati ================================================================================ 2 - Intermezzo: Rostelecom Cup, Ankunft in Moskau ------------------------------------------------- Wir sind gerade aus dem Flugzeug gestiegen und laufen in Richtung der Gepäckausgabe des Flughafen Sherementevo, als ich bemerke, dass Viktor innerlich aufdreht. „Was ist?“, frage ich, denn eigentlich gibt es nichts, weshalb man jetzt schon herum hibbeln müsste. „Ich kann lesen!“, flüstert er fasziniert. „Ich kann wieder lesen! Da steht прибы́тие!“ „Ja, du kannst lesen“, antworte ich und lache, weil ich unfreiwillig an P. Sherman, 42, Wallaby Way, Sydney denken muss. Ich kann nur das Englische darunter lesen: Arrival. Aber immerhin das. Sobald wir den Flughafen verlassen haben werden, wird Viktor sich darum kümmern müssen, dass wir im Hotel ankommen und ich hoffe, Mütze, Sonnenbrille und Schal reichen aus, ihn bis dahin entsprechend zu tarnen. „Yuuri, wäre es in Ordnung, wenn wir auf dem Weg zum Hotel einen kleinen Zwischenstopp machen?“, fragt er mich und ich weiß, dass er schon wieder diesen Hundeblick aufgesetzt hat, auch wenn ich den wegen der Sonnenbrille nicht sehen kann. „Ok, und wo willst du hin?“ „Ich möchte bei einer Bäckerei halten. Ich hab den Flug über extra nicht viel gegessen, weil ich unbedingt ein Butterbrot haben will. Ich hab schon so lange keins mehr gegessen!“, erklärt er mit heller Begeisterung, dass ich sofort beschämt in die andere Richtung schauen muss. „Gibt's im Flughafen denn keine?“ „Yuuri~“, nölt er und zieht an meinen Arm, „die schmecken alle nicht. Und haben schon keine Ahnung wie viele Stunden in einer Auslage gelegen. Und diese komische Ersatzbutter ist eklig. Und es ist kalt. Kaltes Brot schmeckt nicht. Ich will richtiges Brot. Vom Bäcker. Zimmertemperatur und-“ „Schon gut, ich hab's verstanden“, seufze ich. Prinzessin. Seit er mich das erste Mal seinen Prinzen genannt hat, schwirrt mir ständig diese Bezeichnung für ihn im Kopf herum. Aber den Teufel würde ich tun, ihn so zu nennen, auch wenn er es in Momenten wie diesen verdient hätte. Es sind blöderweise die gleichen Momente, in denen mir bewusst wird, wie er sich mit durchschlagendem Erfolg seinen Weg in mein Herz gebahnt hat. Wäre Viktor abseits der Eisfläche genauso unantastbar, wie er auf dem Eis ist, hätte das mit uns wahrscheinlich nicht funktioniert. Dann wäre ich aus meinem Fan-Modus nie heraus gekommen und ihn hätte es wohl auch nicht interessiert, denn Fans hat er viele. Ihn jedoch so unbefangen zu erleben und zu wissen, dass er sich nur mir so zeigt, ist einfach das Beste, was es gibt. Manchmal fühlt es sich an, als könnte ich es keine Sekunde länger als nötig ertragen, nicht in seiner Nähe sein. Glücklicherweise geht das aber nicht nur mir so, denn Viktor hat zwar wohl meinen Arm losgelassen, aber weicht keinen Zentimeter weiter von mir als absolut nötig. „Ziehst du dir deine Mütze auf?“, frage ich ihn und halte ihn doch wieder an seiner Jacke fest, damit er nicht vor lauter Enthusiasmus, wieder in Russland zu sein, plötzlich irgendwo hinrennt. „Muss das schon sein?“ „Ja, wir sind in der Gepäckhalle, jetzt mach.“  Und Mütze auf den Kopf. In Momenten wie diesen frage ich mich, wie er bisher alleine zurecht kommen konnte oder ob Yakov Feltsman das für ihn erledigt hat. Wobei ich mir andererseits ziemlich sicher bin, dass er die Unbeholfenheit nur spielt, weil er will, dass ich mich um ihn kümmere und er Aufmerksamkeit bekommt. Denn bei der Planung unserer Anreise hat Viktor eindeutig bewiesen, dass er keinesfalls so unbeholfen ist, wie er manchmal tut. Sein Vorschlag, mit einer japanischen Airline zu fliegen, war jetzt da wir gelandet sind, eine brillante Idee: Unter den Fluggästen befanden sich viel mehr Japaner als Russen, sodass ich nicht aufgefallen bin und die wenigen Landsleute von Viktor, die mit an Bord saßen, waren vorrangig grimmig aussehende Geschäftsreisende, die sich nur dafür interessierten, schnellstmöglich zu ihrem nächsten Termin oder nach Hause zu kommen. Eine russische Fluggesellschaft hatte Viktor aus zweierlei Gründen nicht buchen wollen, die miteinander Hand in Hand gehen: Zum Einen hätte er sich kaum in die Economy Class setzen können, da ihn die überwiegend russischen Passagiere sicherlich erkannt hätten und zum Anderen hätte er mit einem Shitstorm rechnen müssen, weil er sich generell in die Economy gesetzt hätte. Er meinte zwar, das habe nichts mit mir zu tun, aber so ganz von der Hand zu weisen ist es auch nicht. Wir hoffen jetzt einfach, dass Viktor keinen Shitstorm kassiert, weil er mit ANA und nicht mit Aeroflot angereist ist. Ohne weitere Umwege einzuschlagen, aber mit strahlenden Augen und wiederkehrendem „Ich kann lesen!“ führt mich Viktor aus dem Gebäude. Schon bei der Landung habe ich gesehen, dass alles weiß bedeckt ist und kaum dass wir in die verschneite Moskauer Luft treten, erblicke ich einen Taxifahrer, der mit meinen Namen auf einem Zettel da steht und uns abholen will. Wäre ich jedoch nicht gut im Raten, hätte ich meinen Namen nicht direkt erkannt. Man soll nicht meinen, was es für einen Unterschied macht, ob Kanji geschrieben oder gemalt sind und diese sind eindeutig gemalt. „Perfekt“, grinst Viktor und geht auf den Fahrer zu, „[/]Dorbe dién!“ „Dobre, Sie gehören zu dem Japaner, dessen Name man nicht aussprechen kann?“ „Genau.“ „Gut, drei Koffer?“ „Ja.“ „Wo geht’s hin?“ „Star Hotel, die Adresse hab ich hier.“ „Star Hotel? Ihr habt Nerven, da sind dieses Wochenende die Wettkämpfer vom Rostelecom Cup einquartiert. Ist jetzt schon alles dicht. Die ganze Presse blockiert die Straße, Viktor Nikiforov wird erwartet.“ „Wissen wir.“ Es dauert einen Moment, die Augen des Taxifahrers wandern Viktors Gestalt auf und ab, bleiben an den wenigen graublonden Haarsträhnen in seinem Gesicht hängen, er schaut zu mir, zählt Eins und Eins zusammen, aber noch bevor er irgendwas sagen kann, fällt ihm Viktor ins Wort: „Unser kleines Geheimnis, okay?“, sagt er, Zeigefinger auf den Lippen. Der Fahrer steht da als hätte er den Schock seines Lebens, aber Viktor redet unbeirrt weiter: „Sie kennen sich hier in Moskau doch bestimmt gut aus, oder? Ich möchte gerne bei einer Bäckerei halten. Keine bestimmte, fahren Sie einfach dahin, wo Sie wissen, dass das Brot am Besten schmeckt.“ Viktor zwinkert. Ich weiß nicht, worüber sie geredet haben, aber etwas anderes weiß ich sicher: Viktor hat den Taxifahrer im Handumdrehen auf seine Seite gezogen. Sein Charme und seine ungezwungene, lockere Art machen es unmöglich, ihm eine Bitte abzuschlagen. Er ist ja auch mein Trainer. Wie hätte ich das abschlagen können? Wir laden unsere Koffer ein, setzen uns ins Taxi und nachdem der Fahrer einige Male tief durchgeatmet hat, fahren wir los. Gott sei Dank hat er vorher ein paar Mal durchgeatmet, denke ich, denn nach nur wenigen hundert Metern und zwei Kreuzungen bin ich fast ausschließlich damit beschäftigt, mir wegen den Fahrkünsten der russischen Autofahrer keine Sorgen um mein Leben zu machen, als großartig auf etwas anderes zu achten als die Straße...! Viktor sitzt davon gänzlich unbeeindruckt vor mir auf dem Beifahrersitz und unterhält sich mit dem Fahrer über keine Ahnung was und er redet wie ein Wasserfall. Der Fahrer lacht ein paar Mal, steigt in die Unterhaltung ein und führt wahrscheinlich das beste Gespräch in seiner Berufslaufbahn als Taxifahrer. Während meiner Jugend war es normal, Viktor im Fernsehen bei Wettkämpfen Russisch sprechen zu hören. Gerade aber klingt es überaus befremdlich, weil er zuhause nur Englisch spricht und seit Neustem ja auch Japanisch. Oh Gott, schießt es durch meinen Kopf. Zuhause. Japanisch. Ich krieg das nicht auf die Kette. Und mir wird gleich schlecht, wenn wir noch einmal so um die Kurve fahren! Nach einer für mich wenig entspannten Fahrt halten wir schließlich vor einer Bäckerei. Viktor erklärt dem Fahrer kurz zu warten und steigt aus. Weil mir irgendwie nicht mehr nach Sitzen zumute ist und fester Boden unter den Füßen meinen Nerven sicher gut tut, steige ich ebenfalls aus und folge Viktor in den Laden. Der Duft, der mir beim Betreten der Bäckerei in die Nase steigt, beruhigt mich in nur einem Atemzug. Es riecht angenehm nach Mehl und eine leichte Süße liegt in der Luft, wahrscheinlich von den vielen Torten und Teilchen, die appetitlich aufgereiht aus einer Kühltheke die Kunden anlächeln. Viele davon sind mit Zuckerguss überzogen oder mit Sahne garniert worden, sodass sie mehr nach kleinen Kunstwerken als nach einfachen Lebensmitteln aussehen. In der Auslage daneben erkenne ich Teigtaschen aus Mürbe- und Hefeteig, die ähnlich wie japanische Gyoza aussehen, aber viel größer sind und nach Füllungen sortiert in Flechtkörben angeboten werden. „Willst du auch was?“, fragt Viktor, der mich amüsiert beobachtet. „Hm, ich weiß nicht“, antworte ich abwesend, aber in Anbetracht der Tatsache, dass wir nochmal ins Taxi steigen müssen, ist es das vielleicht keine gute Idee und Umschauen reicht mir voll und ganz. Ich bin von diesem wunderschönen, urigen Stil völlig fasziniert. Selbst in Amerika hatten die Konditoreien nicht den Charme, den diese Bäckerei vermittelt. Es ist ein Gefühl von Tradition und Wertschätzung für das Handwerk, das sie betreiben, das den Raum erfüllt und einen einlädt, daran teilzuhaben. „Guten Tag, Sie wünschen?“ Eine junge Dame mit blonden Haaren und hellblauer Bluse tritt zu uns in den Laden und wischt sich an ihrer Schürze die Hände ab. „Sie machen die belegten Brote frisch?“, Viktor deutet auf eine beschriebene Tafel vor der Theke und nimmt die Sonnenbrille ab. „Ja, das Brot ist heute morgen erst gebacken“, beantwortet sie Viktors Frage mit einem freundlichen Lächeln und sieht ihm dabei direkt in die Augen. Es dauert den Bruchteil einer Sekunde, bis ihr die Gesichtszüge entgleisen; sie starrt Viktor an, blinzelt, dann schlägt sie die Hände vor den Mund. „Oh mein Gott!“, entfährt es ihr um einige Töne höher als zuvor, sie nimmt die Hände vom Gesicht und ein ungläubiges Strahlen liegt in ihren Augen. „Viktor Nikiforov!“ „Ja“, bestätigt Viktor und die Verkäuferin weiß nicht mehr, was sie machen soll, außer überfordert dazustehen, aber ihr Grinsen wird immer breiter, das es beinahe von Ohr zu Ohr reicht. Mit Sicherheit hätte ich ähnlich wie sie reagiert, wenn er einfach so plötzlich vor mir gestanden hätte. Gut, genau genommen stand er plötzlich vor mir, aber ich war durch den Umstand, dass er nackt war, etwas zu sehr abgelenkt, besonders, weil er auch noch aufgestanden ist. Die Verkäuferin schafft es dann doch, sich zu fassen und mich aus meiner Erinnerung in die Realität zurückzuholen: „Ich... oh, bitte entschuldigen Sie... ich hab nun wirklich nicht damit gerechnet!“ „Passiert“, entgegnet Viktor mit einem Grinsen, das nicht weniger breit ist als das der Verkäuferin. „Unser Taxifahrer hat uns hierher gefahren, weil er überzeugt ist, dass es hier das beste Brot gibt. Ich hätte gern zwei belegte Roggenbrote.“ „Aber selbstverständlich!“, antwortet sie und ich kann allein an ihrer Stimme hören, dass ihr das Herz bis zum Hals schlägt. „Und einen Kaffee, groß, zum Mitnehmen.“ Zurück im Taxi kann ich das Grinsen ebenfalls nicht mehr unterdrücken, selbst wenn ich in der Bäckerei nichts verstanden habe. Die Verkäuferin hat beim Belegen der Brote nach ihrer Chefin gerufen, die keinen geringeren Schreck über ihren prominenten Kunden hatte als ihre Angestellte. Ich wurde gebeten, mit dem Handy der Chefin ein Foto von Viktor und den beiden Frauen zu machen und auf einem Block gab es improvisiert zwei Autogramme, auch wenn Viktor einen kurzen Moment überlegen musste, wie er seinen Namen auf Russisch und nicht in Katakana zu schreiben hat. Die Damen kicherten verzückt darüber und Viktor hat seine Brote und den Kaffee bekommen, allerdings nicht ohne zu diskutieren, weil er normal bezahlen, die Chefin aber kein Geld annehmen wollte. Nach einigem Hin und Her wurden nur die Brote abgerechnet, der Kaffee ging aufs Haus. Kaum dass wir wieder losgefahren sind, hat Viktor auch schon das erste Brot ausgepackt und beißt genüsslich hinein. Es scheint alle hoheitlichen Ansprüche zu erfüllen und Viktor bedankt sich sofort für den guten Tipp bei unserem Fahrer, der heute nicht nur den besten Tag seines Lebens hat, sondern auch noch eine Geschichte, die er in Zukunft immer wieder erzählen können wird. Die zweite Hälfte unserer Fahrt ist also überaus still, aber damit sind wir alle gut bedient, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Der Taxifahrer wegen Viktor, Viktor wegen seinem Brot und ich, weil ich all das beobachten konnte. Vielleicht ist Russland doch nicht so schlimm, wie ich dachte. Auch wenn diese Ampel ganz eindeutig rot war!!! Nach weiteren 20 Minuten Fahrt biegen wir in die Straße zum Hotel ein. Unser Taxifahrer drängelt sich so gut es geht an den Eingang des Hotels heran und mit jedem Meter, den wir näher kommen, schlägt mein Herz schneller. Vor dem Eingang warten wie angekündigt schon eine Menge Reporter und auch zwei Kamerateams stehen sich vor ihren Vans die Füße in den Bauch. Wir halten etwa 15m zum Hoteleingang entfernt. „Schaffen Sie es gleich noch bis hinter den zweiten Van?“, fragt Viktor und setzt bereits die Sonnenbrille auf. Der Fahrer nickt, dann dreht er sich zu mir und sagt: „Yuuri, nimm' bitte meine Mütze. Ich steige jetzt aus, du fährst noch ein Stück mit ihm bis hinter den Van und nimmst die Koffer mit an die Rezeption. Das Personal soll sie auf die Zimmer bringen. Ich stoße dann zu dir.“ „G-gut“, antworte ich etwas nervös. Es sind wesentlich mehr Reporter als ich mir vorgestellt habe und ich bete einfach nur, dass alles glatt geht und wir keine unseriösen Fragen kassieren. Wir haben zwar getrennte Zimmer gebucht, um die Formalitäten zu wahren, aber ich habe gewisse Zweifel, dass am Ende unser guter Vorsatz noch den Tatsachen entspricht. Während Viktor die Presse bedienen wird, würde ich in unsere Zimmer einchecken und mit etwas Glück auch beide Zimmerkarten erhalten. Damit hätte ich jederzeit die Gelegenheit, mich unbemerkt in Viktors Zimmer stehlen zu können, sollte es mit den Interviews zu lange dauern. Unser guter Vorsatz ist also schon im Ansatz über Bord gegangen, auch wenn ich mir immer noch versuchen kann einzureden, dass es am Jetlag liegt, wenn ich vor Viktor in unsere Zimmer gehen muss. Ich lasse mir von ihm die Mütze geben, er wirft noch einen Blick in den Seitenspiegel und öffnet dann die Tür. Seine Show für die Presse beginnt. Lässig und mit dem Kaffeebecher in der Hand spricht Viktor noch ein paar letzte Worte mit dem Fahrer, ganz so, als sei er alleine im Taxi gewesen. Kaum dass er die Tür geschlossen hat, höre ich auch schon den ersten seinen Namen rufen und meine Nervosität steigt um ein Vielfaches, als ich im Vorbeifahren sehe, wie die Reporter auf Viktor zustürzen, als hinge ihre berufliche Karriere davon ab. „No worry. He's a pro“, spricht mich unser Taxifahrer unvorbereitet an und ich erschrecke mich vielleicht einen Ticken zu sehr davon. „Thank y-you.“ Etwas besseres fällt mir nicht ein und ich versuche angestrengt, nicht gänzlich auszusehen wie ein aufgescheuchtes Reh. Der Fahrer beobachtet mich die letzten Meter weiter im Rückspiegel, als wolle er den Unbehagen nur aus mir herauskitzeln. Als wir halten und ich das Geld für die Fahrt zusammen suche, dreht sich er zu mir um. „No, thank you.“ „Eh?“ Ich reiche ihm irritiert die Scheine, aber er sieht mich nur weiterhin eindringlich an, als wüsste er nicht, wie er das, was er sagen will, auf Englisch ausdrücken soll. Dann entscheidet er sich, als er mir das Wechselgeld nach hinten reicht, einfach nur zu sagen: „He's back.“ Unschlüssig, wie ich diese Aussage einordnen soll, steige ich aus und lasse mir die Koffer geben. Von Viktors Präsenz abgelenkt, schaffe ich es weitgehend unbehelligt an die Hotelrezeption. Dort lege unsere Reservierungen, meinen Reisepass und das Visum der Rezeptionistin vor und übergebe unser Gepäck an den Concierge. Die Dame scheint etwas argwöhnisch sein, aber Viktor ist in Sichtweite und ich erkläre ihr, auf ihn zu warten, sodass sie mir tatsächlich beide Karten übergibt. Um unauffällig zu wirken, bleibe ich in der Nähe stehen und wähle mich ins W-LAN ein; unter anderem, um Mutter zu schreiben, dass wir im Hotel angekommen sind und dass alles in Ordnung ist. Etwas Besseres kann ich derzeit auch nicht machen, denn außer der Vielzahl an Reportern und dem Personal ist außer uns niemand im Eingangbereich des Hotels. Aus dem Augenwinkel beobachte ich, ob ich vielleicht Yurio irgendwo sehen würde. Er wird zusammen mit Yakov Feltsman hier eintreffen und ich frage mich, ob beide schon im Hotel sind oder ob die Ankunft noch aussteht. Allerdings wüsste ich überhaupt nicht, wie ich mich verhalten sollte und das aus verschiedenen Gründen. Yurio hat mich auf seinen Accounts immer noch gesperrt, sodass ich das Meiste nur durch Yuko oder die Berichterstattungen erfahren habe und Yakov Feltsman ist wahrscheinlich der Einzige in Russland, der um die Laison von Viktor und mir weiß. Als Viktor mir nach unserer Rückkehr aus Peking erzählte, er habe sich mit seinem Trainer aussprechen können, war ich überaus erleichtert, nur um im nächsten Moment in Panik zu verfallen, weil er Yakov Feltsman ebenfalls über unsere Beziehung in Kenntnis setzen wollte. Als ich ihn fragte, ob das sein müsste (denn ich käme nie auf die Idee, Celestino davon zu erzählen), erklärte er mir, dass das Verhältnis zwischen ihm und seinem Trainer viel tiefer greife als das normal der Fall ist. Weil es Viktor so wichtig schien, stimmte ich zu, aber gerade verursacht es mir etwas Unbehagen, Yakov Feltsman persönlich zu begegnen. Ich fühle mich noch immer so, als müsste ich mich dafür rechtfertigen, dass Viktor wegen mir nicht mehr auf dem Eis steht, ganz zu schweigen von diesen anderen Dingen zwischen uns...! Gerade weil Viktor nie einen anderen Trainer hatte, macht das die Sache irgendwie noch komplizierter... Bevor ich aber weiter über die Art, mich Yakov Feltsman gegenüber zu verhalten nachdenken kann, betritt ein Elefant den Porzellanladen: Jean-Jacques Leroy aus Kanada, kurz JJ, flaniert mit seinen Trainern ins Hotel und sein Blick ist sofort auf Viktor gerichtet, der unverändert im Zentrum des Interesses aller anwesenden Reporter steht. „Welch ein Empfang für den verlorenen Sohn“, kommentiert er lautstark für jeden, der es hören will oder nicht. Man kann an seinem Tonfall bereits hören, dass es JJ nicht schmeckt, dass bei seiner Ankunft alle Augen auf Viktor gerichtet sind. Auch wenn er versucht, es cool klingen zu lassen, ruft mir nur dieser eine Satz sofort ins Gedächtnis zurück, warum JJ letztes Jahr beim Grand Prix in Sochi gefühlt immer und überall präsent war, obwohl niemand Wert darauf gelegt hatte. Er hatte zu jedem Thema einen selbstgefälligen Spruch auf den Lippen und ich erinnere mich, dass er bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Gespräch mit Viktor gesucht hat. JJ hätte sich damals nur zu gerne selbst bewiesen, was er für ein unwiderstehlicher Kerl ist, der von jetzt auf gleich der best Buddy der lebenden Legende werden könnte, ohne den Umweg über Chris gehen zu müssen. Alle Läufer, die neu in der Weltspitze sind, wenden sich einem ungeschriebenen Kodex folgend immer zuerst an Chris als denjenigen, der einen mit Viktor bekannt machen kann. Und in den meisten Fällen hilft sogar das nichts, denn Viktor ist Profi genug, sich so zu verkaufen, dass man es nicht merkt, mit Standardphrasen abgespeist zu werden – so wie es mir nach dem Finale letztes Jahr ergangen ist, als ihn zufällig beim Verlassen der Halle gesehen habe. Viktor war äußerst freundlich gewesen, aber er hatte letztendlich nur das getan, was er für jeden Fan getan hätte und das mit einer Selbstverständlichkeit, die jeden hätte glauben lassen, von dem echten Viktor angesprochen worden zu sein. Mittlerweile weiß ich es jedoch besser, denn Viktor sucht privat selten das Gespräch zu Menschen, die er nicht kennt. Deswegen hoffe ich jetzt einfach, dass der Umstand, dass ich den echten Viktor kenne, nicht dazu führt, dass... „Und da ist ja auch die neuerdings aufgehende Sonne.“ ...Ich hab's kommen sehen und bin völlig überfordert, was ich auf so eine Bemerkung antworten soll. Bevor ich aber auch nur überlegen kann, ob ich etwas sagen will oder nicht, hat JJ sich schon wieder abgewandt und versucht anderweitig eine Reaktion bei Viktor zu erzwingen. „Hey, Viktor!“, ruft er ohne jegliche Rücksicht darauf, dass dieser sich im Interview befindet. „Kann er den Flip schon?“ Einige der Reporter drehen sich irritiert oder empört um. Auch Viktor schaut trotz Sonnenbrille eher so, als wüsste er nicht, welchen Knall JJ nicht gehört hat. „Welchen Flip?“ „Na, deinen!“ „Ach, den. Ich ruf‘ kurz Biene Maja an, die weiß das.“ Es braucht einen Moment, bis JJ Viktors Antwort folgen kann. „Biene Maja?“, gluckst er, aber immer noch mit überheblichen Grinsen im Gesicht. „Habt ihr den Programminhalt jetzt wegen dem kleinen Yuri ohne Bienchen und Blümchen jugendfrei gestaltet?“ Ich schreie gleich! Jugendfrei für Yurio! Natürlich, nichts ist naheliegender als das! Von Katsudon hin zu Eros weiter zu Bienchen ohne Blümchen...! Ich will den Kopf gegen die Wand hauen. „Bei so viel Fürsorge wird mir ja ganz warm ums Herz“, schwatzt er weiter, als wäre es noch pädagogisch wertvoll, was er von sich gibt. „Aber mit Selbstlosigkeit hat noch niemand den Grand Prix gewonnen. Es braucht etwas mehr als einen Streichelzoo, um mich zu besiegen, Viktor. Du solltest die rosa Brille absetzen.“ Viktor zieht die Sonnenbrille nach unten und tippt an das Gestell: „Rosa war leider ausverkauft. Gerade muss ich mich mit sexy Schwarz begnügen.“ Jetzt schreie ich wirklich gleich! Bei so viel Anspielungen in einem Satz stürzt mir fast das Gesicht ab vor lauter Kopfkino! Ich sollte mich schnellstens außer Reichweite begeben, bevor mir noch irgendjemand länger als nötig zuschauen kann. Gefühlt kann man gerade alles von meiner Stirn ablesen. In einem Anflug von Panik fällt mir nichts Besseres ein, als erst einmal auf die Toilette zu verschwinden und zu hoffen, dass bei meiner Rückkehr zumindest JJ das Weite gesucht hat. Als ich nach etwa zehn Minuten wieder zurück komme, ist kein JJ mehr zu hören und zu sehen. Gott sei Dank. Nur noch eine Hand voll Reporter steht bei Viktor und die Fahrstühle sehen auch leer aus. Einen kurzen Moment überlege ich, ob ich schon vorgehen oder doch noch auf Viktor warten soll, aber der Ruf nach einem bequemen Bett ist stärker und da gerade sonst niemand zu sehen ist, sollte ich die Chance nutzen. Ohne die Lobby noch einmal zu betreten, begebe ich mich direkt zu den Aufzügen, drücke den Knopf und warte, als plötzlich der Koreaner Seung-Gil Lee wie aus dem Nichts neben mir auftaucht. Ich bin ihm vorher zwar noch nie begegnet, aber außer mir und Guang-Hong ist er der einzige Ostasiate in diesem Grand Prix und daher einfach zu erkennen. Aber ein freundliches Gesicht, wie man es von einem Asiaten erwarten könnte, sieht anders aus... Es macht mir direkt bewusst, dass im Gegensatz zum Cup of China in diesem Vorentscheid kein einziger Läufer dabei ist, mit dem ich wirklich gut auskomme. Ein Ping ertönt und die Fahrstuhltür öffnet sich, aber moch bevor ich jemanden sehen kann, vernehme ich eine laute Stimme, die sich beschwert, dass jemand garantiert nicht auf ein Date mit seiner Schwester gehen darf. Als die Tür offen ist, erkenne ich, dass Michele Crispino versucht, seine Schwester Sara aufgebracht gegen Emile Nekola zu verteidigen. Was soll das denn? Zuerst war niemand zu sehen und jetzt ist hier Party angesagt? Ich wollte eigentlich nur nach oben fahren und stattdessen lande ich mitten in einer Diskussion wer mit wem zum Essen gehen darf...! Sara Crispino bemerkt mich und erwidert meinen Blick. Wie ihr Bruder Michele und Emile ist auch sie Eiskunstläuferin in der Weltspitze und Teilnehmerin bei den Damen im Rostelecom Cup. „Hi, Yuuri!“, begrüßt sie mich mit einem freundlichen Lächeln und ich frage mich, wieso sie mich so anspricht, als würden wir uns kennen. Ich kenne sie vom Sehen her, weil sie und ihr Bruder letztes Jahr auch am Grand Prix in Sochi teilgenommen haben, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir miteinander gesprochen hätten. Sie wendet mit dem gleichen freundlichen Ton an Seung-Gil Lee: „Hi, Seung-Gil! Hast du gleich Lust, mit uns zum-“ „No“, weist Seung-Gil sie ohne Umschweife ab. „Entschuldige mal. Wenn man einer Dame absagt, kann man das auch anders ausdrücken“, beschwert sie sich direkt. Als Italienerin mit einem starkem Temperament lässt sie sich sicherlich nicht mit so einer knappen Antwort abspeisen. Seung-Gil sieht das offenbar anders und während ich mit einem Ohr noch vernehme, wie Seung-Gil Lee Saras Anwesenheit als ohne Mehrwert hinstellt und damit auch Michele gegen sich aufbringt, höre ich mit dem anderen, wie der zweite Fahrstuhl ankommt. Schnellen Schrittes betrete ich den zweiten Aufzug, denn ich will bestimmt nicht mitdiskutieren, ob Saras Anwesenheit nun Mehrwert hat oder nicht. Drinnen angekommen atme ich auf und drücke erleichtert die 9, als sich ein Sneaker mit blauem Leoprintmuster in die Tür schiebt und sie am Schließen hindert. „Was schleichst du hier so verdächtig rum?“, mault mich meine altbekannte Stimme an und ich sehe auf. Ich hätte es wahrlich schlimmer treffen können. „Hi Yurio. Lange nicht gesehen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)