Paul von Fara_ThoRn ================================================================================ Kapitel 5: 04. -------------- 04. "Jetzt sag schon! Wie heißt dein Freund?" "Mama", knurre ich. "Nicht mein Freund. Ein Freund. Und du kennst ihn." "Ach ich kenne ihn? Einer deiner Verflossenen?" Sie gibt einfach nicht auf und denkt immer noch, hier würde gleich mein neuer Stecher antanzen. Ich stelle seufzend die Kaffeetasse ab. "Warte doch einfach ab. Er müsste gleich hier sein." Und wie aufs Stichwort ertönt genau in diesem Moment die Türklingel. Meine Mutter, ein überaus neugieriges Wesen, springt vom Stuhl, richtet sich nochmal schnell ihre Kleidung, und flitzt anschließend zur Haustür. Aufgeregt und nervös, wie sie auf Paul reagieren wird, folge ich ihr. Doch nicht allein ihre Reaktion macht mich nervös. Paul wieder gegenüberzustehen bringt meinen Körper schon jetzt total durcheinander. Meine Handflächen werden abermals feucht und von meinem Innenleben mag ich erst gar nicht anfangen zu sprechen. Ich verdränge die leisen Schuldgefühle, wegen den Fantasien, die ich dank ihm die letzten Tage und insbesondere in den Nächten hatte. Trotzdem höre ich mein Blut laut in den Ohren rauschen und fühle, wie meine Wangen heiß werden. Mit etwas Abstand bleibe ich hinter meiner Mutter im schmalen Flur stehen. Sie reißt die Tür auf und … erstarrt. "Ach du … Paul?" Klar erkennt sie ihn sofort. Nicht wie ich, der ewig gebraucht hat, bis der Groschen gefallen ist. "Hallo Edith." Paul lächelt und lächelt. Und ich schmelze und schmelze. Ich schlucke hart muss kurz wegschauen. "Das gibt es ja nicht!", höre ich meine Mutter heiser rufen. "Paul! Wie schön dich wiederzusehen!" Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie die beiden sich fest umarmen und hin und her wiegen. Kleine, hässliche Stiche treffen meine Brust. Das gibt's nicht! Ich bin tatsächlich eifersüchtig! Auf meine Mutter! Ich betitle mich selbst als einen übergroßen Volltrottel und kämpfe das unschöne Gefühl nieder. Ich habe keinen Grund eifersüchtig zu sein. Wie könnte ich auch? Zwischen Paul und mir läuft nichts, wird es auch nie und mal ehrlich: Kämen meine Mutter und er zusammen, würde ich mich für die beiden freuen. Sie hätte so einen tollen Mann wie Paul verdient. Definitiv. Blöd nur, dass ich das für mich selbst auch so sehe … 'Schluss jetzt! Das muss ein Ende haben!' Ich atme tief ein, straffe mich und warte artig, bis die beiden sich wieder voneinander gelöst haben. Mama freut sich so sehr über Pauls Besuch, dass sogar ihre Augenwinkel ein wenig feucht sind. Sie wischt sich eilig darüber und bittet Paul ins Haus. "Wie schön", wiederholt sie und schließt die Tür. "Hallo Paul." Jetzt bin ich dran mit begrüßen. Unsicher erwidere ich seine Umarmung und erlaube mir, für eine Millisekunde die Augen zu schließen und meine Gedanken abschweifen zu lassen. Großer Fehler! Mein Herz ist drauf und dran, aus meiner Brust zu schießen. Schnell löse ich mich wieder von Paul, aus Angst, er könnte meinen heftigen Herzschlag merken, und übergebe ihn wieder meine Mutter, die nach dem ersten Schock des Wiedersehens fröhlich auf Paul einredet. Mit Fragen wie: "Du bist wieder in Deutschland? … Wie lange schon? ... Warum hast du mich nicht schon eher besucht?", wird Paul quasi bombardiert, noch bevor er seine Jacke ausziehen kann. "Hätte ich gerne, aber wie ich kürzlich erfahren habe, bist du vor einiger Zeit umgezogen. Und im Telefonbuch habe ich dich auch nicht gefunden", antwortet Paul ihr auf die letzte Frage. Meine Mutter sieht kurz schuldbewusst aus der Wäsche, fängt sich aber wieder. "Schon mal von Facebook gehört?" "Ich bin nicht auf Facebook." Paul wird mir auf Anhieb noch sympathischer. Falls das überhaupt noch möglich ist. "Ich weiß", pöbelt meine Mutter. "Ich habe dich schon x-mal dort gesucht. Hättest du dich mal da angemeldet, hätten wir uns auch gefunden." Paul schmunzelt. "Tut mir leid. So auf den neusten Stand der Dinge bin ich nicht mehr. Diese ganzen Sozialen Medien laufen völlig an mir vorbei." "Ja aber, wie habt ihr beide euch denn dann gefunden?" Meine verwirrte Mutter blickt uns beide abwechselnd fragend an. "Wollen wir nicht lieber rüber in die Küche und uns setzen?", frage ich die beiden. "Dort lässt es sich besser reden." Und das tun wir dann auch. Paul und ich berichten ihr, wie wir uns über den Weg gelaufen sind. Meine Mutter kann es kaum fassen. "Du vermietest eine Wohnung an meinen Sohn und weißt es jahrelang gar nicht?!" Paul wird mit vorwurfsvollen Blicken gestraft. "Was das angeht", erklärt er "das regelte alles ein Verwalter. Die Verträge bekam ich zwar zur Abzeichnung, aber die Namen der Mieter überflog ich meist. Oles Namen ging mir dabei anscheinend unter." "Und welche Ausrede hast du?" Jetzt sieht sie mich böse an. "Kennst du etwa den Namen deines Vermieters?", blaffe ich sie an. "Ja." Mist! "Aber ich bis vor einer Woche nicht. Außerdem hatte ich bis jetzt immer nur mit dem Hausverwalter Kontakt. Und auf dem Mietvertrag steht auch nur P. Lüksch als Mieter. Das hätte jeder sein können." Dazu kannte ich Pauls Nachnamen nie. Für mich war er immer Onkel Pauli. "Männer", faucht meine Mutter und verdreht die Augen. "Aber nun gut. Jetzt erzähl doch mal von dir Paul. Wie ist es dir ergangen?" Paul beginnt zu erzählen. Von England, seinem Burnout und von seiner beruflichen Neuorientierung. "Du bist Heilpraktiker?!" Mama ist schier begeistert. "Wie praktisch! Ich brauche unbedingt einen Termin bei dir! Weißt du, ich habe ständig Probleme mit saurem Aufsto…" "Mama! Nicht beim Essen." Ihgitt! Jetzt habe ich keinen Hunger mehr. Obwohl ich gestehen muss, mein Appetit hält sich heute sowieso in Grenzen. Paul schlägt mir auf den Magen. Wie soll ich den Tag nur überstehen? Nach dem Frühstück, bei dem viel geredet wurde, hauptsächlich von meiner Mutter, besteht Ma, dass wir uns zusammen ins Wohnzimmer setzen. "Wenn das mal kein Anlass ist, um die alten Videos herauszukramen!", freut sie sich und klatscht aufgeregt in die Hände. Ich lächele Paul gequält an, doch der scheint sich über Mamas Vorschlag zu freuen. Wir werden auf die Couch verfrachtet, während sie in einem der Wohnzimmerschränke nach der Box mit den VHS Kassetten sucht. Paul so dicht neben mir zu haben, bringt mich fast um den Verstand. Wie kann man sich so schnell so sehr zu einen anderen Menschen hingezogen fühlen? Klar, wir kannten uns schon vorher, aber das war etwas ganz anderes. "Du siehst nicht glücklich aus", flüstert Paul mir zu. "Angst, dass die Filme peinlich für dich werden?" Sein Schmunzeln jagt mir heiße Schauer über den Körper. "Ich sehe mich nicht gern auf Videos oder Fotos." Das ist noch nicht mal gelogen. "Nicht? Dabei warst du als kleiner Junge so goldig." Eh?! "Ich WAR goldig?", frage ich ihn bissig, weil ich es nicht verkneifen kann. "Heute bin ich das nicht mehr, oder was?" Paul mustert mich kritisch. Mir wird abermals heiß und ich habe Mühe, seiner Musterung stand zu halten. "Doch. Schon", meint er. "Aber inzwischen bist du noch viel mehr als das." "Wie soll ich den das verstehen?", möchte ich nervös von ihm wissen, wobei die Hitze in mir nochmal enorm zunimmt. Bedauerlicherweise kommt Paul nicht mehr dazu zu antworten. Ma hat den Fernseher angeschaltet und der Ton ist so laut, dass uns beinahe die Ohren davonfliegen. Hastig schnappt sie sich die Fernbedienung und schaltet den Ton aus. "Sorry", ächzt sie. "Ich hatte gestern Abend Musik laufen. Ist wohl ein klein wenig zu laut gewesen." "Sag bloß", meckere ich und reibe mir die Ohren. Mein armes Trommelfell! Weil ich nicht weiß, wie ich auf unser Gesprächsthema zurückkehren soll, und Paul auch nichts mehr dazu sagt, bleibe ich schweigend neben ihm sitzen und warte, bis meine Mutter den Videorekorder startklar gemacht hat. "Es kann losgehen", verkündet sie und setzt sich neben Paul, sodass er nun zwischen uns sitzt. Das dumme Sprichwort 'zwischen den Stühlen sitzen' kommt mir in den Sinn. Weshalb auch immer, denn Paul sitzt ganz sicher nicht zwischen den Stühlen. Es passt überhaupt nicht in die Situation. Wenn ein Sprichwort hier passen würde, dann das mit dem dritten Rad am Wagen. Und das dritte Rad bin eindeutig ich. So fühle ich jedenfalls. Als würde ich bei Mamas und Pauls Date stören … Vielleicht tue ich das ja. Ein Gedanke, der mir überhaupt nicht schmeckt. Weder der Gedanke, sie hätten ein Date, noch, dass ich dabei störe. Es ist irrsinnig sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Nichts davon entspricht der Wahrheit. Dennoch nagt es an mir. Die beiden quatschen wieder angeregt miteinander, richtig vertraut, obwohl so viel Zeit vergangen ist, und ich hocke stumm neben ihnen und verfolge das Geschehen auf dem Bildschirm. Viel sieht man noch nicht. Irgendjemand hat seine Füße gefilmt. Männerbeine. Mein Vater? Scheint so, als wüsste der Kameraführer nicht, wie man das Teil richtig bedient und bemerkt nicht, dass er schon längst filmt. Plötzlich fängt Paul an zu lachen. "Ich wusste gar nicht, dass das Ding schon an war." "Du hast das gefilmt?" Dann war es doch nicht mein Vater. "Hmhm", nickt Paul. "Das war, als du deinen Schulranzen bekommen hast, oder?" Er sieht meine Mutter an, die ihm seine Vermutung bestätigt. "Du warst so stolz auf den Ranzen, hast dein Lieblingsspielzeug darin gebunkert und bist den ganzen Tag damit herumgerannt", kichert sie. "So niedlich! Paul wollte das unbedingt filmen." "Ach so." Daran erinnere ich mich gar nicht mehr. "Hast du den Ton noch aus?" Man hört gar nichts. "Oh." Wieder schnappt sich meine Mutter die Fernbedienung und stellt den Ton wieder an. /Ole?/ Pauls Stimme. /Komm doch mal her und zeig deinen neuen Ranzen./ /Nein!/ Das war ich. /Du musst zu mir kommen!/ Paul und Ma lachen. "Welch ein Befehlston." "Ja, den hatte er gut drauf", macht sich Paul über mein junges Ich lustig. Ich verstecke mein Gesicht hinter einem Kopfkissen, was mir Paul allerdings abnimmt. "Hier wird sich nicht versteckt", grinst er. "Und es ist auch kein Grund rot zu werden." Oh verdammt! Ich lächle verkniffen und schaue weiter in die Glotze, wo Paul den Ausgang unserer Küche in unserer alten Wohnung filmt. Ich bin nicht rot, weil mir das Geschehen auf dem Bildschirm peinlich ist, sondern weil Pauls Grinsen mich wieder aus der Fassung bringt. Dazu sitzt er auch noch so verdammt dicht neben mir, dass ich fast schon seine Körperwärme fühlen kann. Das halte ich nicht aus! "Mag noch jemand etwas zu trinken?", frage ich in die Runde. Kopfschütteln. Ich flüchte regelrecht in die Küche. Dort lehne ich mich gegen die Küchenzeile, kämpfe mein Gefühlschaos nieder und frage mich zum wiederholten mal, wie ich mich nur so schnell und heftig in Paul verknallen konnte. Und zwar so sehr, dass mich ein simples Lächeln von ihm total aus der Bahn werfen kann. Das ist doch Wahnsinn! So etwas ist mir noch nie passiert! Selbst bei Basti nicht, den ich aus tiefsten Herzen geliebt habe. Bis er meinte, unsere Beziehung führe zu nichts, was ich bis heute nicht begreife. Aber das ist eine andere Geschichte. Leider eine, die mehr Sinn ergibt, als diese hier, denn ich kann mir immer noch keinen Reim auf meine übersprudelnden Gefühle Paul gegenüber machen. Wenn ich sie doch nur abstellen könnte! "Ole?" Paul! Er hat die Küche betreten. "Willst du nicht wieder rüber kommen?" "Doch, doch", antworte ich und hole geschäftig drei Gläser aus dem Schrank. "Geht es dir nicht gut?" Scheiße! Er hat was gemerkt. "Wie kommst du den darauf?" "Du wirkst heute so abwesend." Hilflos schließe ich die Schranktür und überlege nach einer guten Ausrede. "Hab nicht gut geschlafen", ist alles, was mir einfällt. "Schlafprobleme?" "Ein wenig." Das stimmt sogar. Die meiste Zeit über geistert mir Nachts ein gewisser Onkel Pauli durch die Gedanken. Ein ziemlich schamloser ... "Hast du Stress?" Ja! Wegen dir! "Wird das jetzt ein Patientengespräch?", frage ich ihn eine Spur zu biestig. "Wenn du magst." Paul bleibt ganz ruhig. Kein Wunder. Als ich noch ein aufmüpfiges Kindergartenkind war, wusste er auch immer mit mir umzugehen. Den Beweis haben wir bestimmt irgendwo auf Video. "Mir geht es gut", versuche ich das Thema abzuwürgen und drücke ihm eine Flasche Wasser in die Hand. "Kannst du die mit rüber nehmen?" Im Wohnzimmer stelle ich die Gläser auf den Tisch und setze mich wieder. "Wo wart ihr denn so lange? Ich habe den Film angehalten." "Fein", murmle ich. Paul ist auch wieder da, reicht mir die Wasserflasche und setzt sich ebenfalls wieder. Dabei muss er an mir vorbei rutschen und berührt auf diese Weise natürlich meine Knie. Umständlich mache ich ihm mehr Platz und bin froh, als er wieder zwischen Ma und mir Platz genommen hat. "Kann es weitergehen?" Wir nicken, Ma startet den Film und ich schenke uns Wasser ein. Meine Kehle ist wie ausgedörrt. Ich leere mein Glas in wenigen Zügen. Auf dem Fernseher spielt nun meine Mutter die Kamerafrau. In ihrem Fokus, ich mit Ranzen auf dem Rücken und Paul, der vor mir kniet und an den Schulterriemen herumzieht. Er scheint nachzuschauen, ob auch alles sitzt. "Das war, glaube ich, einen Monat, bevor ich nach England bin", überlegt Paul. "Ja, kommt hin", bestätigt meine Mutter. "Ole wollte den Ranzen gar nicht mehr aufsetzen, so sehr hat er wegen dir getrauert." "Ma!" Muss sie ihm das erzählen? "Wirklich?" Paul sieht mich erschüttert an. "Weiß nicht mehr." Ich zucke mit den Schultern. Ich weiß es wirklich nicht mehr. Einzig an das Gefühl, nachdem er weg war, kann ich mich erinnern. Die Leere und die Frage, warum er denn gehen musste. "Ich war einfach nur traurig." "Oh je", macht Paul und legt plötzlich seinen Arm um mich. Mein Herz bleibt stehen! "Das es so schlimm für dich war wusste ich nicht." "Ging schon", nuschle ich und strenge mich an, nicht allzu zu verkrampfen. "Habs überlebt." "Ole hatte sehr an deinem Umzug zu knabbern", mischt sich Mama wieder ein. Kann sie nicht mal ruhig sein?! Ich kann Pauls mitleidige Blicke regelrecht auf mir spüren, während ich krampfhaft weiter auf den Fernseher starre. Dort hat Paul meinem sechsjährigen ich den Ranzen endlich angepasst. /Sitzt, wackelt und hat Luft/, sagt er und lächelt sein Paul-Lächeln. Und was tut mein vergangenes Ich? Springt ihm glucksend um den Hals und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. Paul lacht laut. Im Fernsehen, wie auch neben mir. "Wie anhänglich du immer warst", kichert er. "Wenn ich da war, wolltest du mich mit niemanden teilen." Das kommt mir irgendwie bekannt vor … "Hast du noch die Aufnahmen von seinem sechsten Geburtstag?", möchte er von meiner Mutter wissen. "Ja. Die habe ich vorhin in der Hand gehabt." Sie springt auf und durchwühlt abermals die Videokassetten. "Jedes Mal, wenn ich mich einem deiner kleinen Gäste zugewandt habe, bist du zur Furie geworden." Oh Gott! "Das weiß ich auch nicht mehr", lüge ich, denn dieses Mal kann ich mich noch ganz gut daran erinnern. Klar wollte ich Paul damals mit niemanden teilen. Meine Eltern waren frisch geschieden und mein Papa die meiste Zeit des Jahres unterwegs. Und dann war Paul da, verwöhnte mich mit Zuneigung und wurde für mich zu einer Art Vaterersatz. Ich wollte nicht, dass ihn mir jemand wieder wegnimmt. Schon gar nicht einer meiner Kindergartenfreunde. "Hier ist es!", ruft meine Mutter und hält eine VHS Kassette hoch. Sie legt das Tape ein und drückt auf Play. Kindermusik ertönt. Wieder unser altes Wohnzimmer. Der Couchtisch ist gegen eine lange Bierzeltgarnitur ausgetauscht. Die Couch ganz dicht an die Heizung unter das Fenster gerückt, damit genug Platz ist. Die Hälfte meiner Kindergartenfreunde sitzt an dem Tisch, der mit einer blauen Tischdecke abgedeckt, und mit vielen Luftschlangen, Konfetti und bunten Partyhüten dekoriert ist. In der Mitte steht eine große Schokotorte. Darauf mit blauer Zuckerschrift eine dicke 6 und sie obligatorischen sechs Kuchenkerzen. Hinter der Torte ist Paul zu sehen, der mich festhält, da ich auf der Bank stehe. In meiner rechten Hand halte ich ein Kuchenmesser, das Paul zusätzlich festhält. Meine Mutter fängt an zu lachen. "Als würdet ihr eine Hochzeitstorte anschneiden!" Puff! Meine Wangen fangen Feuer. Es sieht wirklich so aus wie in den Filmen, wo Braut und Bräutigam die Hochzeitstorte anschneiden. "Soweit ich mich erinnere ist das auch Oles Wunsch gewesen", amüsiert sich Paul neben mir. "Was?" Verdattert schaue ich Paul an. "Erinnerst du dich nicht mehr? Du wolltest mich immer heiraten, wenn du groß bist." Wumm, wumm! Wumm, wumm! Ich bekomme Herzrasen. "'Onkel Pauli! Wenn ich erwachsen bin musst du mich heiraten!', hast du immer zu mir gesagt." Mama kichert. "Hast du auch artig ja gesagt?", fragt sie Paul amüsiert. "Natürlich habe ich ja gesagt. Wer konnte diesem süßen Gesicht schon widerstehen?" Wo ist das nächste Erdloch zum verkriechen? "Soll ich schon mal auf das Standesamt und einen Termin machen? Die Homoehe ist ja endlich durch. Ihr könntet sofort loslegen." "Ha, ha", mache ich. "Sehr witzig." Paul hat immer noch seinen Arm um mich gelegt und drückt mich kurz an sich. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, oder wie ich überhaupt darauf reagieren soll, also bleibe ich starr sitzen und schaue mir zu, wie ich erst die Kerzen auspuste und dann zusammen mit Paul die Schokotorte anschneide. Alle klatschen. Das erste Stück geht an Paul. Darauf hat klein Ole lautstark bestanden. Erst danach dürfen meine Gäste auch ein Stück Torte ab haben. "Ihr zwei wart so süß", fiepst Mama. "Wie er dir immer nach ist. 'Onkel Pauli! Onkel Pauli!'. Das höre ich heute noch." "Musst du ständig über mich reden? Guck mal lieber wie du herumgelaufen bist. Dauerwellenalarm sage ich nur." Meine Mutter rennt durchs Bild. Diesmal filmt wirklich mein Vater. Einer seiner seltenen Besuche. Ich glaube, bei meinen siebten, achten und neunten Geburtstag war er gar nicht dabei. "Das war damals modern", sagt Mama achselzuckend. "So sind alle herumgelaufen." "Und wie dünn du warst", frotzelt Paul. Ich ziehe die Ohren ein, aber es kommt kein Donnerwetter von Mama, so wie man es von ihr eigentlich erwarten könnte. Sie wirkt mit einem mal ziemlich nachdenklich. "Da habe ich noch Kette geraucht", meint sie. "Und dazu der Stress an der Arbeit. … Es war schwer. Nach unserer Scheidung war Hannes nur noch beruflich unterwegs. Mehr als vorher. Trotzdem hat er immer am Hungertuch geknabbert, weil er immer zu gutmütig war, um für seine Arbeit eine entsprechende Entlohnung zu fordern. Darüber habe ich mich immer am meisten aufgeregt. Ich wusste nicht, woher noch das Geld kommen sollte. Vor und auch nach der Scheidung. Und dann das schlechte Gewissen, weil ich so viel gearbeitet habe, und so wenig Zeit für Ole hatte … Ich war so froh, dass du für uns da warst, Paul." Sie lehnt sich gegen seine Schulter. Paul nimmt ihre Hand und drückt sie fest. Mir wächst ein Knoten im Bauch. Schnell wo anders hinschauen. Lief damals doch etwas zwischen den beiden? "Zum Glück konnte ich dann später halbtags von zuhause aus arbeiten, als Ole in die Schule gekommen ist. Dafür bin ich meinem Chef immer noch dankbar. Nicht jeder hätte das mitgemacht." "Wäre ich bloß nicht nach England gegangen", seufzt Paul. "Du hättest dir in den Hintern gebissen, hättest du es nicht wenigstens probiert", erwidert meine Mutter. "Ja, aber ab da lief alles schief. Wir hätten doch unseren Plan verwirklichen sollen." "Was für einen Plan?" Da ich damals noch so klein war, weiß ich so gut wie überhaupt nichts von irgendwelchen Plänen, ihrer Arbeit oder sonst irgendwelchen Dingen, die nicht mich betroffen haben. Nur das, was ich von Paul und Ma erzählt bekommen habe. "Wir hatten mit dem Gedanken gespielt, eine eigene Werbeagentur aufziehen", erklärt meine Mutter mir. Davon höre ich tatsächlich das erste Mal. "Aber dann bekam Paul das Angebot aus England und der Plan wurde begraben." "England hat mir das Genick gebrochen. Wenn ich heute daran denke …" Paul schüttelt sich. "Aber dann wärst du heute vielleicht kein Heilpraktiker und könntest mich in Zukunft nicht behandeln." "Das stimmt", lacht Paul. "Meine Kasse übernimmt übrigens Naturheilverfahren. Nur so am Rande erwähnt." "Wirklich?" Ma nickt feierlich. Ab hier klinke ich mich aus. Mich interessiert es nicht, bei welcher Krankenkasse meine Mutter ist, oder sonstiger Firlefanz. Meine Gedanken drehen sich ohnehin um das Gespräch davor. Das meine Mutter wirklich vorgehabt hatte, sich selbstständig zu machen, und das zusammen mit Paul, das stimmt mich nachdenklich. Also MUSS was zwischen den beiden gelaufen sein. Ansonsten hätten sie doch niemals solche Zukunftspläne geschmiedet, oder? 'Dann war und bin ich für Paul wirklich nur eine Art Ziehsohn …' Der Gedanke schmerzt. Mehr als ich zugeben möchte. Für einen Moment habe ich das Gefühl, es schnürt mir die Kehle zu. Besonders da immer noch sein Arm um meine Schultern liegt. Sein Daumen reibt sogar hin und wieder über meinen Oberarm. Wahrscheinlich tut er das nur unbewusst, denn er hält ebenfalls noch immer Mamas Hand umschlossen. Ich beiße mir auf die Unterlippe. So fest, dass es schmerzt. Wenn die beiden tatsächlich (wieder) zusammen kommen, was dann? 'Dann lächelst du und freust dich für deine Mutter. Aber vorher siehst du zu, dass du die Gefühle für Paul begräbst.' *** "Es war so schön, dass du hier warst." Meine Mutter umarmt Paul fest. Ich zwinge mich, nicht wieder wegzuschauen. Daran werde ich mich gewöhnen müssen. Ob ich will oder nicht. "Das fand ich auch", erwidert er und gibt Mama einen Kuss auf die Wange. "Wir telefonieren?" "Logisch! Ab heute wirst du mich nicht mehr los. Selbst wenn du wieder nach England gehen solltest." Sie zwinkert Paul zu, was ihm wieder eins seiner hinreißenden Lächler entlockt. Meine Knie werden weich wie Wackelpudding. "Tschüss Ole. Wir sehen uns spätestens beim Mietertreffen." "Jepp." Paul zieht mich an sich. Wieder stellen sich all meine Haare am Körper auf. Besonders, als seine Finger meinen Nacken streifen, dort kurz verweilen und dann abwärts wandern. "Bis bald", nuschle ich und gehe auf Abstand, was mir unheimlich schwer fällt. Besonders, da Paul mir ein Lächeln schenkt, das verboten gehört. Als er hinter der Eingangstür verschwunden ist, atme ich innerlich erleichtert auf. "Willst du auch schon gehen?", fragt mich meine Mutter. "Nein. Ich helfe dir noch beim Aufräumen." "Ach, das ist aber nett von dir", kichert sie und kneift mir großmütterlich in die Wange. Dankeschön. Bevor ich ihr in die Küche folge, räume ich noch schnell den Wohnzimmertisch ab und packe die VHS Kassetten wieder in den Schrank, genau wie die Fotoalben, die meine Mutter natürlich ebenfalls herausgekramt hat. Kurz bleibe ich an einem der alten Fotos hängen. Es zeigt mich, wie soll es auch anders sein, zusammen mit Paul, der mich an der Hand hält. Wir laufen auf einem der vielen Wege im Park entlang, während wir beide ein Eis essen. Wie jung er da aussah. Auch auf den Filmen. Damals war er jünger als ich jetzt. Nicht älter als vierundzwanzig, wenn ich richtig gerechnet habe. Laut klappe ich das Fotoalbum zu und stelle es zu den anderen zurück. Keine Zeit, länger in Erinnerungen zu schwelgen, denn eigentlich bleibe ich nicht nur länger, weil ich ihr beim Aufräumen helfen möchte. Ich verfolge noch einen weiteren Plan. Ich muss sie unbedingt etwas fragen, sonst bekomme ich nachher kein Auge zu, weil ich an nichts anderes denken kann. In der Küche räume ich die Gläser in die Spülmaschine, stelle die Flasche Wasser auf die Küchenzeile und helfe dann weiter den Frühstückstisch abzuräumen und alles an Ort und Stelle zu verstauen. Ma hat das Radio angestellt. Leise Popmusik trällert durch die Luft, die meine Mutter leise mitsummt. "Hast du Paul eigentlich auch vermisst?", frage ich sie frei heraus, taste mich so an meine eigentliche Frage heran. "Am Anfang sehr, ja", nickt sie. "Mit der Zeit wurde es weniger, auch wenn ich sehr oft an ihn gedacht habe. Besonders in den letzten Jahren. Schon lustig, dass du ihn gefunden hast." Sie tätschelt mir im Vorbeigehen den Kopf. "Seid ihr nicht in Kontakt geblieben?" Weiteres voran tasten. "Zu Beginn ja, aber du weißt doch, wie sowas ist. Erst telefoniert man viel miteinander, verspricht, sich mal gegenseitig zu besuchen, doch das wird nie was. Die Telefonate werden weniger, bis sie ganz aufhören." "Stimmt." So ging es mir mit ein paar meiner Grundschulfreunde. Von einigen weiß ich bis heute nicht, wo sie sind und was sie tun. Ein Versuch, alle für ein Ehemaligentreffen aufzuspüren, schlug fehl. "Als ich damals hier her gezogen bin, ist mir Pauls alte Visitenkarte beim Ausräumen meiner alten Wohnung in die Hände gefallen. Leider war die Nummer nicht mehr vergeben. Ich habe dann in der Firma in Großbritannien angerufen, aber dort arbeitete er ja nicht mehr. Und wie gesagt, auf Facebook war der werte Herr auch nicht." Sie zuckt mit den Schultern. "Möchtest du noch einen Milchkaffee?" "Gern." Ich setze mich an den aufgeräumten Küchentisch, während meine Ma zwei Tassen Milchkaffee zubereitet. In Gedanken überlege ich, wie ich am besten fragen soll. Am Besten, ich tue es einfach gerade heraus. Ohne viel Geplänkel. Eben eine ganz normale Frage, die ein Sohn seiner Mutter stellt. Als sie die beiden Milchkaffee fertig hat, und sich mir gegenüber setzt, gebe ich mir einen Ruck. "Warst du eigentlich damals mit Paul zusammen?" Ich hoffe, mein Tonfall ist so beiläufig rübergekommen, wie ich es beabsichtigt habe. "Was?" Meine Mutter sieht mich überrascht an. "Du fragst mich, ob wir ein Paar waren?" "Ja." Ich nicke und setze einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck auf. Sie soll nicht sehen, wie sehr mich die kommende Antwort jetzt schon aufwühlt. "Machst du Witze?", lacht sie. "Hast du es denn nicht bemerkt?" "Was bemerkt?" Ich verstehe nicht. Was ist an der Frage so lustig? "Paul ist schwul." Wie bitte?! ****** Jaaaa, ich weiß. Schon wieder ein Cliffhänger. Ich bin aber auch gemein xD Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)