Mit Sand und Blut von Yosephia ([Prequel zu Schwarzer Komet]) ================================================================================ Prolog: Die rechtmäßige Erbin ----------------------------- Das Mädchen, welches die Reiter aus der Wüste mitgebracht hatten, hatte langes, schwarzes Haar und ein schmales, grimmiges Gesicht mit trotzig dreinblickenden Augen und einem verkniffenen Mund. Seine Haltung war steif, sein Gang forsch. Überhaupt nicht mädchenhaft und doch auf eine gewisse Art majestätisch. Es war der Gang eines Menschen, der ein ganz klares Ziel vor Augen hatte. Weder die Brandwunden im Gesicht, noch die rissigen Lippen, noch die verdreckte und zerschlissene Kleidung konnten die Wirkung dieses Gangs schmälern. Sofort nach Betreten des Inneren Kreises hatte das Mädchen alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen – und es schien sich dieser Tatsache voll und ganz bewusst zu sein. Es straffte die Schultern noch etwas mehr und reckte entschlossen das Kinn vor, während seine Augen suchend über die anwesenden Männer, Frauen und Kinder huschten. Weder Erschöpfung, noch Schmerz ließ es sich dabei anmerken, obwohl sein äußerer Zustand eindeutig darauf schließen ließ. Innerhalb weniger Herzschläge schien es ein Ziel ausgemacht zu haben, denn es beschleunigte seine Schritte, um seine Begleiter abzuhängen und alleine voran zu schreiten. Mit jedem Akt schien es seine Unabhängigkeit unter Beweis stellen zu wollen, seinen Willen und seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Es ließ sich nicht von den viel älteren Männern mit wesentlich mehr Erfahrung führen, es wollte seinen Weg unbedingt selbst entscheiden. Sein Ziel war nicht etwa einer der Veteranen, die um ein Feuer herum saßen und offenkundig von allen mit großem Respekt bedacht wurden, sondern ein alter Mann, der unscheinbar an einem Kochfeuer saß und an seinem Datteltee schlürfte, während er die Geschehnisse im Inneren Kreis beobachtete. Mit aller Würde, die es in seinem noch so jungen Alter bereits aufbringen konnte, blieb das Mädchen direkt vor ihm stehen, legte die geballte Faust an seine Stirn, verbeugte sich dann und hielt dem Mann die geöffnete Hand entgegen. Die Handlung war dem Mädchen offenkundig viele Male beigebracht worden, aber ihm fehlte noch die Geschmeidigkeit eines Wüstennomaden. Dennoch brandete überraschtes Getuschel auf, welches jedoch sofort wieder verstummte, als der Alte sanft über die dargebotene Hand strich, womit er die respektvolle Grußformel offiziell annahm, und das schmale Glied dann ergriff, um es zu betrachten. „Wer bist du, Kind?“ Das Mädchen entzog etwas zu schnell seine Hand, als hätte es Angst vor der Berührung, und richtete sich wieder zu voller Größe auf. Für einen Moment erzitterte es und seine Worte überschlugen sich beinahe vor Ungeduld, seine Stimme war hoch, als es sprach: „Ich bin Minerva Orland. Ich bin die rechtmäßige Erbin von Sabertooth und ich brauche Eure Hilfe, Wüstenweiser.“ Erneut wurde überall getuschelt: „Sie kennt den Gruß der Ehre.“ „Orland!“ „Was will sie?“ „Das muss die Nichte von Athenaeos sein, seht sie euch an!“ „Sabertooth!“ „Wie hat sie den Meister erkannt?“ „Eine von uns!“ „Orland!“ Was auch immer das Mädchen über die vielen Kommentare denken mochte, es ließ sich nichts anmerken. Es hielt sich aufrecht, die Miene eine Maske der Entschlossenheit, der Blick unverwandt und drängend auf den Wüstenweisen gerichtet. Fasziniert beugte Sting Eucliffe sich auf seinem Platz auf einem der Felssockel hinter dem Wüstenweisen vor. In seinem ganzen, acht Dürren zählenden Leben hatte er noch nie einen solchen Menschen gesehen. Damit meinte er nicht, dass Minerva von außerhalb der Zuflucht kam, obwohl auch das für ihn neu und aufregend war, sondern etwas an ihrer Ausstrahlung. Etwas in ihrem Blick. Da war ein Funken, der Sting bis ins Mark ging, obwohl Minerva ihn nicht einmal direkt ansah. Er bekam eine Gänsehaut, als befände er sich in einer der tiefen Höhlen, wo sie die Lebensmittel kühl lagerten, und doch war es dieses Mal ein anderes Gefühl. Es ging tief unter die Haut, befiel Stings gesamten schlaksigen Körper und ließ ihn erzittern. Orland und Sabertooth waren ihm kein Begriff. Überhaupt hatte er kaum eine Vorstellung vom Leben außerhalb der Zuflucht, obwohl er seinem zehnten Namenstag und damit dem Beginn seiner Ausbildung zum vollwertigen Wüstennomaden bereits entgegen fieberte. Er verstand kaum etwas von dem, was die Erwachsenen da redeten. Er war sich nicht einmal sicher, was Minerva mit ‚rechtmäßiger Erbin’ meinte. Doch eines wusste er mit Gewissheit: Der Wüstenweise musste Minerva helfen! „Wobei brauchst du meine Hilfe, Minerva?“, fragte der Wüstenweise ruhig und es wurde wieder gespenstisch still im Inneren Kreis. „Ich muss Sabertooth beschützen. Mein Vater hat den Thron gestohlen“, erklärte Minerva mit einer Stimme, die sich vor Ungeduld beinahe überschlug, obwohl sie zu versuchen schien, sich zu beherrschen. Die geballten Fäuste an ihren Seiten zitterten. „Ich muss Onkels Erbe beschützen.“ „Eine große Aufgabe für ein Kind“, erwiderte der Alte bedächtig. Langsam erhob er sich, wobei er sich mehr für den Schein als aus tatsächlicher Notwendigkeit heraus auf seinen Stock aus Tamariskenholz stützte, seinem Amtszeichen, und legte Minerva eine Hand auf die Schulter. „Folge mir. Bevor du mir mehr erzählst, brauchst du eine Salbe für deine Wunden und eine vernünftige Mahlzeit.“ Es schien Minerva nicht zu gefallen, zu dem hochgewachsenen Wüstenweisen aufblicken zu müssen. Mit unwillig verzogenem Mund trat sie einen Schritt zurück, sodass die Hand von ihrer Schulter glitt, ehe sie eine steife Verbeugung andeutete – eine merkwürdige Geste, die Sting nur von Erzählungen der Händler kannte. Der Alte nahm diese unhöfliche Distanzierung hin und wies ihr den Weg. Eilig sprang Sting von seinem Platz, landete geschickt in der Hocke und richtete sich sofort in einer geschmeidigen Bewegung auf, um Minerva und dem Wüstenweisen zu folgen, während um ihn herum schon wieder Getuschel erklang. Einer der Reiter, die Minerva in die Zuflucht gebracht hatten, begann zu erzählen, wie er das fast verdurstete Mädchen in der Wüste gefunden und aufgepäppelt hatte. Andere fragten sich, ob es die Wahrheit über Sabertooth gesprochen hatte. Sting interessierte sich für all das nicht. Er wollte zu Minerva, wollte alles von ihr erfahren! Als er jedoch in den Felsspalt eintauchen wollte, der zur Höhle des Wüstenweisen führte, stellte sich ihm ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht und Giftnarben am gesamten rechten Arm in den Weg, ein Reiterveteran. Sting wollte ihn einfach umgehen, doch der Reiter fing ihn wieder ab. Trotzig blickte der Junge auf, aber er musste einsehen, dass es hier kein Durchkommen gab. Allerdings wunderte er sich, wieso ihm der Zutritt verwehrt wurde, denn für gewöhnlich war die Höhle des Wüstenweisens allen zugänglich. „Der Meister hat gesagt, dass er alleine mit ihr reden will“, erklärte der Veteran grimmig. „Verschwinde, Sting.“ Statt auf den Mann zu hören, lehnte Sting sich zur Seite, um an ihm vorbei Minerva hinterher blicken zu können. Sie lief noch immer mit einem gewissen Abstand zum Wüstenweisen, aber ihr Gang hatte sich verändert. Verwirrt beobachtete Sting, wie das Mädchen strauchelte. Ob es daran lag, dass es sich nun mit dem Alten alleine wähnte, oder ob es seine Erschöpfung nicht länger in Schach halten konnte, es hatte sich jedenfalls nicht mehr so gut im Griff wie noch vor wenigen Augenblicken. Der Alte drehte sich zu dem Kind um, unternahm jedoch nichts, um ihm zu helfen. „Du bist deinem Onkel wirklich sehr ähnlich, Minerva. Auch Athenaeos wollte vor Anderen nie schwach wirken“, sagte er mit gedämpfter Stimme, aber Sting konnte ihn dennoch gut verstehen. „Orlands sind nicht schwach“, knurrte Minerva mit der Angriffslust eines in die Ecke gedrängten Tieres, aber sie musste sich an der Felswand abstützen. „In der Tat…“, murmelte der Alte. Er unternahm nichts, als das Mädchen langsam zu Boden ging. „Aber ihr seid auch nur Menschen…“ Sting beobachtete, wie der Wüstenweise seinen Stock an die Wand lehnte, das Mädchen mühelos hochhob und dann weiter in Richtung seiner Höhle trug. Zu gerne wäre der Junge dem Alten gefolgt, aber der Reiter schob sich schon wieder in sein Sichtfeld. „Geh’ zurück zu den Anderen. Das hat dich nicht zu interessieren, Junge“, erklärte der Mann angespannt. Da war Sting ganz anderer Meinung, aber er sah ein, dass er hier keine Chance hatte. Diese Sandschlange war zu groß für ihn. Er musste sie ziehen lassen. Vorerst, dachte er sich trotzig, während er sich abwandte und zurück zum Inneren Kreis ging, wo die Wüstennomaden immer noch wilde Spekulationen über Sabertooth austauschten. Sting kletterte auf einen neuen – höheren – Felsen, von dem aus er den Inneren Kreis gut überblicken konnte, aber seine Gedanken waren noch immer bei diesem Mädchen, das aus einer völlig anderen Welt auf einmal in die seine gestolpert war, die bisher nur aus Späßen und Abenteuern bestanden hatte. Noch immer kribbelte sein Körper und er verspürte das Verlangen, mehr über dieses fremdartige Mädchen und seine selbst auferlegte Aufgabe zu erfahren. Ja, vorerst musste er sich geschlagen geben, aber wie man ihm bereits von frühster Kindheit an eingebläut hatte, konnte selbst die größte Sandschlange beritten werden, wenn man nur den richtigen Moment für den Wurf der Kettensichel abwartete. Und Sting mochte Warten so sehr hassen wie kaum etwas anderes, aber etwas sagte ihm, dass diese Sandschlange es wert war! Kapitel 1: Der lachende Junge ----------------------------- Der angenehm süße Duft von Datteltee kitzelte Minervas Nase, als sie langsam wieder zu sich kam. Nur zu gut kannte sie diesen Duft. Ihr Onkel hatte immer Datteltee getrunken, während er über seiner Schreibtischarbeit gebrütet hatte. Er hatte ihr einmal erklärt, dass dieser Tee ihm half, Kraft zu tanken. Natürlich hatte sie diesen Tee auch selbst ausprobiert und sie mochte ihn, aber für sie war er in erster Linie eine Erinnerung an ihren Onkel – und das verlieh dem Duft nun eine schmerzhaft-bittere Note, die Minervas Kehle für einen Moment eng werden ließ. Langsam öffnete Minerva die Augen. Über sich erkannte sie eine sorgfältig behauene und danach mit roten und blauen Malereien versehene Steindecke. Unter den Motiven erkannte Minerva neben stilisierten Tamarisken, Löwen, Menschenfiguren, Raben und Geiern auch mehrere Basilisken. Noch nie hatte sie einen dieser Drachenartigen mit eigenen Augen gesehen, aber ihr Onkel hatte ihr viel von ihnen erzählt. Er hatte sie immer auf seinen Schoß gezogen und mit ihr die Zeichnungen in einem dicken Buch betrachtet, welche die Basilisken in allen Facetten darstellten. Wo dieser kostbare Foliant jetzt wohl war? Ob ihr Vater ihm überhaupt Beachtung geschenkt hatte, als er das Arbeitszimmer ihres Onkels inspiziert hatte? Minerva wandte den Blick von den Zeichnungen ab und zur Seite. Sie stellte fest, dass sie in einer gemütlichen Schlafnische lag, die zu einer großzügigen Höhle mit eingelassenen Regalen, weiteren Schlafnischen, einer Kochstelle und einer gemütlichen Sitzecke gehörte. In den Regalen standen und lagen einige wenige Bücher, sowie Schriftrollen, geschnitzte und gemeißelte Figuren, Tonkrüge, Bastkörbe und allerhand Tierknochen und –zähne. Es war ein Raum der Nachdenklichkeit, des Beratens und des Lernens. So hatte Minerva sich die Höhle des berühmten Wüstenweisen Gran Doma immer vorgestellt, von dem ihr Onkel immer in den höchsten Tönen gesprochen hatte. Allerdings hielt sich die beruhigende Wirkung der Höhle bei dem Mädchen in Grenzen. Zu frisch war der Schmerz des Verlusts, zu drängend das Pflichtgefühl. Langsam kroch Minerva aus der Schlafnische heraus. Etwas bröckelte von ihren Wangen ab und als sie darauf herum tastete, bemerkte sie erst eine leicht krümelige Paste, die dick darauf aufgetragen war. „Versuche, es dran zu lassen. Deine Haut wird die Feuchtigkeit aufnehmen, das wird die Schmerzen und das Schwindelgefühl lindern.“ Minerva zuckte zusammen und wirbelte herum. Der Wüstenweise stand im Eingang der Höhle und musterte sie aufmerksam. Er war ein großer Mann, größer als die meisten anderen Männer, die Minerva kannte, und er hatte einen langen, ergrauenden Bart und ebenfalls ergrauende Haare, die ihm auf die Schultern gefallen wären, wenn er sie nicht nach Art der Wüstennomaden im Nacken zu einem Zopf geflochten hätte. Seine Gesichtszüge erinnerten Minerva an einen Greifvogel, markant und scharf geschnitten. Seine Augen waren schmal und ihr Blick schien sich direkt in Minervas zu bohren. Das Mädchen fühlte sich wie bei einer Prüfung, was ganz unwillkürlich den Trotz in ihm wach rief. Es würde jede Prüfung bestehen, die es auf sich nehmen musste, um dem Erbe seines Onkels gerecht zu werden! Gran Doma hob die Augenbrauen ob dieser Herausforderung, sagte jedoch nichts dazu, sondern ging mit seinem knorrigen Stock aus Tamariskenholz zum Kochfeuer, um aus der gusseisernen Kanne Tee in zwei tönerne Becher zu schenken. Einen stellte er neben das Feuer, vom anderen nahm er einen vorsichtigen Schluck. Minerva kam der Aufforderung nach, ging zum Feuer und nahm den Becher an sich. Vorsichtig blies sie auf die heiße Flüssigkeit, ehe sie daran nippte. Der Tee schmeckte genau so, wie sie ihn von ihrem Onkel in Erinnerung hatte. Ob er sich immer Datteln von den Wüstennomaden geholt hatte? Es hätte zu ihm gepasst. Seine Wurzeln in der Wüste waren ihm immer sehr wichtig gewesen und das hatte er auch so an Minerva weiter gegeben. „Ich habe vorhin Händler nach Sabertooth geschickt, die heraus finden sollen, was dort vor sich geht“, begann Gran Doma das Gespräch schließlich und blickte über den Rand seines Bechers zu Minerva. „Es wird bis zu einem halben Mond dauern, bis sie wieder da sind. Bis dahin möchte ich deine Sicht der Dinge erfahren. Was ist geschehen? Wieso nimmt ein so junges Mädchen einen so gefährlichen Weg auf sich?“ Vorsichtig nippte Minerva wieder an ihrem Becher und betrachtete die Verwirbelungen der Flüssigkeit darin. Ihre Nase war voll und ganz vom süßen Dattelgeruch erfüllt. Minerva erzitterte, aber sie versuchte, es zu überspielen, indem sie langsam den Becher absetzte und dann direkt in die Augen des Wüstenweisens blickte. „Onkel Athenaeos wollte, dass ich nach ihm Fürstin von Sabertooth werde. Er hat mich immer darauf vorbereitet.“ Bedächtig nickte Gran Doma. „Nach dem Recht der Unsterblichen Kaiserin bist du als Tochter von Fürst Athenaeos’ verstorbener Schwester die einzige legitime Nachfolgerin.“ „Aber Onkel ist tot“, erklärte Minerva gepresst und ganz unwillkürlich schlang sie die Arme um ihre angezogenen Beine. „Und Vater ist jetzt der Regent.“ „Auch das entspricht dem Recht. Du bist zu jung, um bereits auf dem Fürstenthron zu sitzen“, erklärte der Alte leise. „Dem Recht nach ist er der Regent, bis du deine achtzehnte Dürre erreicht hast und dein Erbe antreten kannst.“ „Er wird es mir aber nicht geben!“, erklärte Minerva heftig und sprang auf die Beine, die Hände zu zitternden Fäusten geballt. „Er wollte mich mit einem Lakaien verloben! Er will mich einsperren!“ Unbeeindruckt nahm Gran Doma einen weiteren Schluck Datteltee zu sich, ehe er zu Minerva aufblickte. Er war so groß, dass er im Sitzen beinahe mit der stehenden Minerva auf Augenhöhe war, aber das war es nicht allein, warum Minerva sich immer kleiner und schwächer unter seinem forschenden Blick fühlte. Ihre Wut auf ihn verflog langsam wieder und schließlich ging sie in die Knie, legte ihre Faust gegen die Stirn und bot Gran Doma dann die offene Hand dar, während sie sich verbeugte. „Ich brauche Eure Hilfe. Ich will Onkels Erbe bewahren…“ Der Wüstenweise ließ sich Zeit für noch einen Schluck, ehe er sanft über Minervas Hand strich. Als das Mädchen aufblickte, zog er seinen Stock heran und zeigte ihn Minerva. An das knorrige Holz, das von den vielen Händen der Wüstenweisen bereits glatt poliert war, waren lauter teilweise unterschiedlich eingefärbte Baststricke geknotet worden, an welchen Federn, Knochen, Zähne, Holzstückchen, getrocknete Kräuter, kleine Papierrollen und Haarbüschel befestigt waren. Gran Doma verfolgte einen Strick, der aus einem schwarzen und zwei roten Stricken geflochten worden war und an dessen Ende ein schwarzes Haarbüschel hing, welches er nun hoch hielt. „Dies sind die Haare deines Onkels, Minerva. Er hat als Kind mehrere Zyklen hier verbracht, er ist zum Reiter ausgebildet worden, hat den Herzschlag der Stillen Wüste gespürt, hat unsere Gebräuche kennen gelernt und verinnerlicht. An dem Tag, als er nach Sabertooth zurück gerufen wurde, hat er meinem Vorgänger diese Haare gegeben zum Zeichen seiner Verbundenheit… „Ich habe Athenaeos sehr geschätzt. Alle Wüstennomaden haben ihn sehr geschätzt. In unseren Augen bist du die einzig wahre Fürstin von Sabertooth und deshalb nehmen wir dich gerne hier auf und bieten dir an Schutz und Ausbildung, was wir nur geben können. Aber wir können nicht um deinen Thron kämpfen. Wir sind zu wenige dafür.“ „Aber…“ Verstört starrte Minerva den alten Mann an, in den sie all ihre Hoffnungen gesetzt hatte. Als sie aus Sabertooth in die Stille Wüste geflohen war, hatte sie fest daran geglaubt, dass die Wüstennomaden ihr helfen können würden. Sie hatte für diesen Glauben ihr Leben riskiert! Behutsam knüpfte Gran Doma das Haarbüschel los und ergriff dann Minervas Hand, um die Haare hinein zu legen. „Hat Athenaeos dir etwas darüber beigebracht, wie man Basilisken melkt?“ Zitternd schloss Minerva die Faust um die Haare ihres Onkels und schüttelte den Kopf. Sie brachte es nicht fertig, den Wüstenweisen anzusehen, denn auf einmal brannten ihre Augen auf geradezu schmerzhafte Weise und sie wollte auf gar keinem Fall, dass er sie weinen sah. „Nun, zuallererst braucht es dafür die Erfahrung, das Nest eines Basilisken zu finden“, erklärte der Alte ruhig. „Dann braucht es die Geduld, den Schlupf abzuwarten. Und zu guter letzt braucht es die Besonnenheit, genau in dem Moment zu zugreifen, wenn der junge Basilisk nicht darauf vorbereitet ist.“ Gran Doma beugte sich vor und legte Minerva eine Hand auf die Schulter. Seine Augen wirkten erstaunlich sanft, als das Mädchen gezwungenermaßen aufblickte. „Erfahrung, Geduld und Besonnenheit, Minerva. Das sind deine wichtigsten Werkzeuge zum Thron von Sabertooth.“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ der Junge sich auf einer steinernen Bank im Fürstlichen Garten von Sabertooth nieder. Seine rechte Hand war dick bandagiert und auch um den Kopf trug er einen Verband. An seiner linken Wange klebte eine unangenehm riechende Paste auf einer Schürfwunde und seine linke Seite tat beim Atmen weh. Laut dem nervösen Arzt bestand kein Grund zur Sorge, aber er hatte dazu geraten, einen Heiler zumindest die Prellung an den Rippen kurieren zu lassen. Aber der Junge war natürlich nicht zu einem Heiler gebracht worden. Wieder einmal nicht. Laut seinem Vater würden Heiler die Menschen verweichlichen lassen. Und der Sohn des Blutschakals durfte nicht verweichlichen. Er musste härter, stärker, schneller und klüger als alle anderen sein. Tag ein, Tag aus wurde das dem Jungen eingetrichtert und das schon, solange er sich erinnern konnte. Als kleiner Junge hatte er bereits hölzerne Waffen in die Hand bekommen. Nun, mit acht Sommern, hielt sein Vater ihn für stark genug, um mit richtigen, wenn auch noch stumpfen Waffen zu kämpfen. Was mit den Holzwaffen für den Jungen ganz einfach gewesen war, bereitete ihm nun wieder die größten Schwierigkeiten. Er war das erhöhte Gewicht einfach nicht gewohnt, aber laut seinem Vater war das nur eine faule Ausrede für sein Versagen – und die Bestrafung für Versagen hatte der Junge unbarmherzig zu spüren bekommen. Auch nicht das erste Mal. Zum Glück musste der Blutschakal nun seiner Aufgabe als neuer Rüstungsmeister von Sabertooth nachkommen. Das gab dem Jungen endlich einmal wieder die Gelegenheit, den Frieden des Gartens zu genießen. Hier, im langen, dunklen Schatten einer großen, uralten Pinie, konnte er die einzige Freude genießen, die er in seinem Leben bisher kennen gelernt hatte. Hier musste er nicht hart sein, hier konnte er sich einfach entspannen und die Pflanzen um ihn herum betrachten. Der Garten war nicht besonders groß, maß an jeder Seite vielleicht dreihundert Schrittlängen, und war von Mauern umgeben. Eine kleine Oase im hektischen Getümmel der großen Fürstenstadt. Rückzugsort für Generationen von Orlands. An einem künstlichen Kanal, der einmal quer durch den Garten floss, wuchs hohes Papyrusgras, das zur Hälfte vor kurzem geerntet worden war. Im gesamten Garten standen Apfelbäume, Dattelpalmen, Olivenbäume, Granatapfelbäume und diese eine hoch aufragende Pinie, deren Äste bereits altersschwach und an mehreren Stellen abgebrochen waren. Zwischen den Bäumen befanden sich allerhand Sträucher, darunter auch Myrte. Am weitesten vom Kanal entfernt wuchsen einige Weihrauch- und Myrrhepflanzen. Und auf den freien Grasflächen wuchsen wild durcheinander Safrankrokusse, Bilsenkraut und Hornklee. Gewiss befanden sich noch allerhand mehr Pflanzen in diesem Garten, doch der Junge kannte sie nicht. Ginge es nach seinem Vater, wären ihm auch die aufgezählten unbekannt, doch er hatte sich heimlich ein Buch mit sehr detaillierten Pflanzenzeichnungen besorgt und damit die Pflanzen bestimmt. Einfach um einmal mit etwas anderem als Kämpfen und Gewalt zu tun zu haben… Er konnte nicht einmal erraten, welche Strafe ihm blühen würde, wenn sein Vater jemals davon erfahren sollte, womit er sich in seiner Freizeit beschäftigte, aber er hatte das perfekte Versteck für das Buch gefunden. Sein Vater würde es nie finden, dessen konnte er sich sicher sein. Je länger der Schatten der Pinie wurde, desto behaglicher fühlte der Junge sich. Der Schmerz der Verletzungen war noch immer da, blieb mit jedem Atemzug präsent, aber dennoch verspürte der Junge Geborgenheit. Der Schatten schien ihn einzuhüllen, war lindernd kühl, fühlte sich wie eine schützende Decke an – oder gar wie eine Rüstung… „Raios? Raios, wo bist du?“ Der Junge zuckte zusammen, als die gebrechliche Stimme des Meisters der Bücher vom Garteneingang her erklang. Schnell huschte sein Blick zum Obelisken in der Nähe, dessen Schatten am Boden auf die Markierung für die fünfte Stunde fiel. Obwohl es entsetzlich weh tat, sprang der Junge auf die Beine und beeilte sich, zum Besitzer der Stimme zu kommen. „Verzeiht mir, Meister, ich habe die Zeit vergessen“, erklärte wahrheitsgemäß. Der verhutzelte Mann blickte den Jungen forschend an, sagte jedoch nichts zu den sichtbaren Blessuren oder zur Kurzatmigkeit seines Schülers, wofür dieser ihm aufrichtig dankbar war. Jeder wusste, was er zu erdulden hatte, aber darüber sprechen wollte er nicht, konnte er nicht. „Wir werden heute eine verkürzte Lehrstunde abhalten, damit du rechtzeitig zum Essen kommst. Das können wir uns schon erlauben“, erklärte der Alte nur und drehte seinen dürren Körper, um zurück in den Palastkomplex zu humpeln, schwer auf den Olivenholzstock gestützt. Der Junge beeilte sich, ihm zu folgen, aber im Gehen warf er der Pinie einen letzten sehnsüchtigen Blick zu. Beinahe hatte er den Eindruck, als würde ihr Schatten ihm bedauernd hinterher winken… Ein Dutzend wohlgenährter, aufmerksamer Kindergesichter blickte Minerva entgegen, als sie hinter Gran Doma in die Unterrichtshöhle trat. Sie war mit handgeknüpften Teppichen und mit Bastmatten ausgelegt, einige mit teilweise schon verblassenden Mustern oder Bildern versehen, andere einfarbig. Die Wände waren über und über bemalt, aber es schien ein System hinter all den Motiven zu stecken. Ein Viertel der Wände war mit lauter Tier- und Pflanzenzeichnungen versehen, alle ausgesprochen detailgetreu. Ein Viertel enthielt das fiorianische Alphabet, Konjugations- und Deklinationstabellen, einfache Satzschemata und dann das Ganze noch mal für die boscanische Sprache. Das dritte Viertel schien sich der Mathematik zu widmen. Minerva erkannte viele der Formeln wieder, die ihr Onkel ihr in Sabertooth beigebracht hatte. Gewicht- und Längenmaßeinheiten, Winkelbemessungen. Vieles davon verstand Minerva selbst noch nicht, aber sie hatte die Abbildungen beim Überblättern des Lehrbuches gesehen. Das letzte Viertel war schwieriger zu deuten. Es war in lauter kleinere Segmente eingeteilt. In einigen davon waren vereinfachte Menschen und Basilisken dargestellt, in anderen wiederum nur Mensch, aber in unterschiedlichen Farben. Zwischendurch waren auch Segmente mit Drachen zu sehen. Vielleicht standen diese Segmente für Geschichtslektionen oder für Legenden? Ungewollt zuckte Minerva zusammen, als sie ein Segment mit zwei Löwen sah, die einem Basilisken gegenüber standen. Schnell wandte sie den Blick davon ab und ließ ihn weiter über die Höhle schweifen. Die rund behauene Decke war mit Sternbildern verziert worden, die gewiss auch Unterrichtszwecke hatten. Bei den Wüstennomaden schien alles einem Zweck zu dienen, egal wie sehr es zuerst nach Dekoration aussehen mochte. „Auch wenn ihr es vor zwei Tage wahrscheinlich schon mitbekommen habt, das ist Minerva. Sie wird ab sofort bei uns leben und unsere Lebensweise erlernen. Benehmt euch und macht es ihr nicht schwer“, erklärte Gran Doma mit Strenge in der Stimme. Trotzig schob Minerva das Kinn nach vorn. Sie war eine Orland, sie brauchte nicht den Schutz eines alten Mannes, wenn irgendjemand meinte, sich mit ihr anlegen zu können! Die meisten der Kinder sahen sie mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis an. Doch ein Junge schenkte ihr ein strahlendes Grinsen. Er stach in jedweder Hinsicht aus der Gruppe heraus. Seine Haare hatten die Farbe von Stroh und erinnerten in ihrer gezielten Wildheit an eine Löwenmähne. Es gab kein Anzeichen dafür, dass sie die meiste Zeit unter einem schützenden Kopftuch platt gedrückt wurden, wie es bei den anderen Kindern der Fall war. Auch hatte der Junge im Gegensatz zu den anderen Kindern kein Kopftuch um den Hals hängen. Seine Haut war jedoch gleichmäßig gebräunt und die Haare waren teilweise beinahe weißblond gebleicht, also schien er dennoch viel an der Sonne zu sein. Sein Körper war der eines schlaksigen Jungen von acht Dürren, so wie Minervas Körper auch. Und seine Augen mit den seltsam schlitzartigen Pupillen waren von einem außergewöhnlich tiefen Blau, wie Minerva es bisher nur bei mit kostbarem Indigo gefärbten Kleidungsstücken gesehen hatte. Irgendwie haftete ihm etwas Animalisches an. Anders als die anderen Kinder konnte der Junge kaum still sitzen und er hörte auch dann nicht auf zu grinsen, als Minerva den Blick von ihm abwandte und sich ganz an den Rand der Gruppe setzte, wo sie alle Kinder aus dem Augenwinkel heraus beobachten konnte, während sie Gran Doma ihr Hauptaugenmerk schenkte. Der Wüstenweise blieb bei der Wand mit den vielen Segmenten stehen und deutete auf eines davon. Es zeigte mehrere Menschenfiguren und ihnen gegenüber seltsam unförmige Wesen, deren Konturen nur sehr vage denen eines Menschen ähnelten. Die Menschenfiguren hielten Speere und Säbel in die Höhe, die anderen Wesen schienen unbewaffnet zu sein. „Wir sind beim letzten Mal bei den Golem-Kriegen stehen geblieben. Kann sich einer von euch noch erinnern, was ich darüber erzählt habe… Sting?“ Der Blondschopf blinzelte überrascht und sein Kopf drehte sich langsam nach vorn. „Was?“ Einige Kinder um ihn herum kicherten, aber der Junge namens Sting ließ sich keinerlei Verlegenheit anmerken. Gran Doma musterte den Jungen scharf. „Die Golem-Kriege, Sting? Erinnerst du dich?“ „Ähm… das war vor… achthundert Zyklen…“, begann Sting gedehnt. „Achthundertfünfzig“, flüsterte ein Mädchen besserwisserisch neben ihm. Der Blonde schnitt ihr eine Grimasse und blickte dann wieder nach vorn auf das Segment, als könnte es ihm einen Hinweis geben. „Die Menschen wollten die Stille Wüste für sich haben und haben das Brutgebiet der Steingolems angegriffen.“ „Die Golems haben die Menschen angegriffen“, widersprach ein Junge mit dunkelbraunen Haaren eifrig. „Ist doch egal“, knurrte Sting genervt. „So ist es aber nicht gewesen!“, erboste sich der Junge weiter. „Woher sollen wir das wissen?“, erwiderte Sting rebellisch. „Keiner von uns war dabei. Und die Geschichte haben die Menschen weiter erzählt, nicht die Golems.“ Eine lautstarke Diskussion unter den Kindern brach aus. Die meisten hielten daran fest, dass Sting die Geschichte falsch angefangen hatte. Unbeeindruckt saß Sting einer Mehrheit gegenüber, das Kinn trotzig vorgeschoben, die Arme vor der Brust verschränkt. Erst als Gran Doma mit seinem Stock gegen die Wand klopfte, verstummten die Kinder, die meisten von ihnen verlegen oder gar beschämt. „So eine Lektion mag etwas früh sein, aber Sting spricht einen wichtigen Punkt an, Kinder.“ „Aber Meister, Ihr habt gestern selbst gesagt, dass die Golems die Menschen angegriffen haben“, piepste ein schwarzhaariges Mädchen mit großen Augen. „Ich habe gesagt, dass überliefert wird, dass die Golems die Menschen angegriffen haben, Niura, das ist ein Unterschied“, erwiderte der Wüstenweise geduldig. „Sting hat Recht, wenn er sagt, dass keiner von uns die Ereignisse damals mit eigenen Augen beobachten konnte. Wir wissen nur das, was die Menschen darüber erzählt haben, und Menschen wollen es selten zugeben, wenn sie etwas Schlechtes getan haben. Es kann also durchaus sein, dass die Menschen damals als erste angegriffen haben…“ Der Alte verstummte und richtete seinen Blick auf Minerva, die langsam die Hand gehoben hatte. Eines nach dem anderen wandten auch die anderen Kinder ihr die Köpfe zu, offenkundig verwirrt. „Du musst dich nicht melden, Minerva. Hier bei uns hat jeder das Recht, dann zu sprechen, wenn er etwas zu sagen hat.“ Das Mädchen ließ die Hand wieder sinken. Diese Vorgehensweise erschien ihm ausgesprochen unzivilisiert. In Sabertooth hatten die Männer und Frauen stets um Erlaubnis gebeten, bevor sie etwas gesagt hatten. Sogar bei den Versammlungen des Rates von Sabertooth war das so zugegangen. Minerva hatte ein paar Mal dabei sitzen und zuhören dürfen. Nicht dass sie viel von dem Gerede über Sachen wie Steuern, Verträge und Allianzen verstanden hätte, aber sie hatte doch zumindest die Verhaltensregeln verstehen können. Es war für sie schwer vorstellbar, dass das hiesige Vorgehen tatsächlich funktionieren konnte. Nun gut, das war das Problem der Wüstennomaden, tat Minerva es ab und brachte ihr Anliegen zur Sprache: „Wieso lehrt Ihr etwas, von dem Ihr nicht sicher wisst, wie es war? Was bringt das? Ist das nicht Zeitverschwendung?“ Mit großen Augen starrten die Jungen und Mädchen sie an. Ein Junge in ihrer Nähe rutschte sogar etwas von ihr weg. Sie taten gerade so, als hätte Minerva ein Verbrechen begangen. Anscheinend durfte man doch nicht einfach sagen, was man wollte, stellte Minerva beinahe gehässig fest. „Es ist nur dann eine Zeitverschwendung, wenn man nichts daraus lernt, Minerva“, erklärte Gran Doma ruhig, aber mit einer gewissen Strenge in der Stimme. „Wenn man die Dinge so wie Sting hinterfragt, lernt man au-“ „Solltet Ihr nicht stattdessen etwas lehren, was im Kampf weiter hilft?“, platzte es aus Minerva heraus. Einige der Kinder keuchten entsetzt. Sting jedoch bedachte Minerva schon wieder mit diesem strahlenden Grinsen, das sie deutlich genug sah, obwohl sie gar nicht in seine Richtung blickte. Nun blickte Gran Doma sie unverhohlen streng an. „Die Wüstennomaden sind kein Kriegervolk, Minerva. Wir kämpfen, wenn wir uns verteidigen müssen, und darauf werden wir vorbereitet, aber hier und jetzt geht es nicht darum. Das Leben besteht aus sehr viel mehr als aus Kämpfen.“ „Das ist sinnlos!“, begehrte Minerva auf und sprang auf die Beine. „Das hilft mir nicht weiter!“ „Wenn du tatsächlich der Meinung bist, dann kannst du gerne in den Inneren Kreis gehen und dir da eine Beschäftigung suchen“, erwiderte Gran Doma noch immer streng und deutete auf den Ausgang der Höhle. Trotzig stemmte Minerva sich in die Höhe, drehte sich um und verließ die Höhle mit hoch erhobenem Kinn. Noch während sie dem Gang folgte, hörte sie, wie der Wüstenweise mit seiner Lektion über die Golemkriege fortfuhr, als wäre nichts gewesen. Der Gedanke, wie wenig er sich um die kümmerte, erfüllte sie mit bitterer Einsamkeit und ihre Hände ballten sich zu hilflos zitternden Fäusten, während sie versuchte, lauter aufzustapfen. Kapitel 2: Das gesegnete Kind ----------------------------- Als Gran Doma die Kinder endlich aus dem Unterricht entließ, hatte Sting es eilig, in den Inneren Kreis zu kommen, aber zu seiner Enttäuschung fand er Minerva dort nicht. Weder saß sie bei einem der Kochfeuer, noch sah sie bei den Kampfübungen der älteren Kinder zu. Auch auf einem der Aussichtsplätze auf den Felsen sah er sie nicht. Vielleicht war sie in ihrer Schlafhöhle? Aber wo war eigentlich ihre Schlafhöhle? Ob sie zu Sting und den Anderen in die Kinderhöhle kommen würde? Sting beschloss, es auf einen Versuch ankommen zu lassen, und tauchte in einen Höhlengang ein, der tief ins Innere der Zuflucht führte. Der Gang war nur spärlich mit Lampen beleuchtet, um Öl zu sparen, aber wie jeder andere Wüstennomade auch kannte Sting die Zuflucht so gut, dass er damit keine Probleme hatte. Die Eingänge zu den einzelnen Familien- und Gemeinschaftshöhlen waren mit Knüpfteppichen vom Gang abgegrenzt, deren Muster historische oder mythologische Darstellungen enthielten – ganz nach Gefallen des jeweiligen Höhlenältesten. Ganz am Ende des Ganges – gut fünfzig Schritt vom Inneren Kreis an – befand sich die Kinderhöhle. Hier wurden die Waisen untergebracht, die keine Angehörigen hatten. Derzeit wurde sie nur von Sting und vier weiteren Kindern bewohnt, die jedoch allesamt deutlich älter als er waren. Als Sting den großen Teppich mit einer Darstellung des Ersten Ritts zurückschob, erkannte er sofort, dass Minerva nicht hier war. Die einzelnen Schlafnischen waren leer und es gab auch noch keine Anzeichen dafür, dass Minerva hierher umgesiedelt werden sollte. Noch immer waren nur fünf Schlafnischen mit Bastmatten und Knüpfdecken ausgestattet. Welche davon Sting gehörte, war leicht zu erkennen: Seine Decke war unordentlich ans Fußende getreten worden, während die anderen sorgsam zusammen gelegt worden waren. Frustriert machte Sting auf dem Absatz kehrt und ging zurück zum Inneren Kreis. Noch immer gab es dort keine Spur von Minerva. Auf dem Trainingsplatz sah Sting die anderen Kinder seiner Altersgruppe beim Training mit den Holzsäbeln. Einer von ihnen winkte ihm herausfordernd zu, aber Sting reagierte nicht darauf. Normalerweise brannte er darauf, die Kampftechniken der Wüstennomaden zu erlernen, um in die Fußstapfen seiner verstorbenen Mutter zu treten, aber er war im Moment zu unruhig dafür. „Du suchst Minerva.“ Überrascht drehte Sting sich um und erblickte Gran Doma an seiner Lieblingsstelle, wo Minerva ihn bereits vorgestern so forsch um Hilfe gebeten hatte. Wie so oft nippte der Wüstenweise an seinem Datteltee. Der süße Geruch kitzelte Sting in der Nase. Er mochte lieber Apfeltee, etwas, was er mit seiner Mutter gemein hatte, wie man ihm erklärt hatte. „Meister, warum willst du Minerva nicht helfen?“ Der Alte hob die Augenbrauen an. „Denkst du denn, dass ich das tun sollte?“ „Ja!“, erwiderte Sting sofort. „Sie ist eine von uns! Wir müssen ihr helfen!“ „Interessant, dass du das so siehst…“, murmelte Gran Doma und nahm einen weiteren Schluck Datteltee. „Sie ist keine Sandgeborene. Sie versteht noch nichts vom Herzschlag der Wüste. Wie kommst du darauf, dass sie zu uns gehört?“ Verwirrt runzelte Sting die Stirn und suchte nach einer Antwort, aber wenn er ehrlich war, hatte er die nicht. Für ihn war es einfach selbstverständlich, dass Minerva zu den Wüstennomaden gehörte, aber erklären konnte er es nicht. Ahnungsvoll beugte der Wüstenweise sich vor. „Da dir die Sache so wichtig ist, solltest du dich um Minerva kümmern. Sie hat noch ihre Schwierigkeiten mit unseren Lebensgewohnheiten. Nimm einen Tagelmust für sie mit, sie ist draußen bei den Wächtern.“ Sting nickte eifrig und drehte sich bereits um, als Gran Doma noch mal das Wort erhob. „Ach, und Sting…“ Der Junge blickte zurück. Unter seinen buschigen Augenbrauen sah Gran Doma sehr eindringlich zu ihm auf. „Ich habe nie gesagt, dass ich Minerva nicht helfen werde. Ich habe nur gesagt, dass ich ihr jetzt nicht helfen werde.“ Richtig schlau wurde Sting aus diesen Worten nicht, aber er hatte es viel zu eilig, um sich jetzt damit zu beschäftigen. Er tat es einfach mit einem Nicken ab und eilte davon. Nachdenklich blickte Gran Doma dem Jungen hinterher, der von einer der Wäscheleinen einen Tagelmust stibitzte und dann in den Nordgang eintauchte, der durch den Wall führte, der massiven Nordfront der Zuflucht. Sting war schon immer ein besonderer Junge gewesen. Von der Sonne gesegnet, hatte seine Mutter Seral es genannt, als sie das blondhaarige Bündel nach der Geburt im Arm gehalten hatte. Noch gut konnte Gran Doma sich daran erinnern. Er hatte Serals Worte damals nicht verstanden, erst Jahre später, aber heute wusste er, dass Seral damals in der Zone gewesen war, in jenem Zwischenzustand, den Sterbende erreichten, wenn ihre Körperfunktionen Stück für Stück versagten, und der ihnen zuweilen besondere Einblicke gewährte. Vieles, was von den Menschen in der Zone gesagt wurde, ergab für die Lebenden keinen klaren Sinn, aber manchmal konnte dieser sich viele Jahre später erschließen. Bei Sting war das so ein Fall… Dass Sting sich allerdings so sehr für Minerva einsetzte, hatte mit einem anderen Phänomen zu tun, das für Gran Doma nicht minder faszinierend war. Er hatte schon einige Male das Privileg gehabt, es beobachten zu dürfen, aber noch nie war es bei so jungen Kindern aufgetreten. Ob Sting sich dessen bewusst war, dass er vom selben Sand wie Minerva war? Wahrscheinlich nicht. Er ließ sich anscheinend einfach von seinen Instinkten leiten – und die waren schon immer ausgesprochen scharf gewesen. In der Hinsicht war Sting ganz der Sohn seiner Mutter, einer der meist begabten Reiterinnen ihrer Generation… Die Wächter waren vier große Felsnadeln, die sich wie Finger aus dem Sand erhoben, alle etwa in einem Abstand von zwanzig Schritten zum Nordgang. Vor mehreren Generationen waren sie von kunstfertigen Wüstennomaden zu menschenähnlichen Figuren gemeißelt worden und seitdem trugen sie ihren Beinamen, auch wenn der Sand im Wind der Stillen Wüste ihre Konturen bereits wieder abgeschliffen hatte. Für Kinder waren sie der letzte Außenposten der Zuflucht, zu dem sie alleine gehen durften. Danach begann für sie das verbotene Land, weit und verlockend und tödlich. Sehnsüchtig blickte Sting zur Stillen Wüste hinaus, ein schier unendliches Meer aus Sand. Irgendwo dort draußen waren die Basilisken – vielleicht wurde sogar just in diesem Moment einer von ihnen geritten – und all die anderen mysteriösen Bewohner der Wüste. Es gab viele Geschichten darüber, dass es immer noch überlebende Golems gab, und zuweilen wurde auch über andere Dämonen gemunkelt. Sting wünschte sich, er könnte diese Geheimnisse endlich selbst ergründen, aber damit musste er warten, bis er ein vollwertiger Wüstennomade war. Das Flattern des Kopftuches in seiner Hand erinnerte ihn daran, weshalb er hierher gekommen war, und er sah sich suchend nach Minerva um. Tatsächlich entdeckte er sie auf dem Buckligen, dem kleinsten der Wächter, der von den Kinder besonders gerne erklommen wurde. Minerva saß ganz alleine dort oben, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, auf welchen sie das Kinn abgestützt hatte. Ihr Blick war nach Norden gerichtet. Ob sie hoffte, dort ihre Heimat zu sehen? Unwillkürlich zögerte Sting, einfach zu ihr hinauf zu klettern. Alles in ihm trieb ihn in Minervas Richtung, aber er begriff auch, dass sie aus einer ganz anderen Welt als er kam. Sie war inmitten von Grünländern mit ihren Grünländergewohnheiten aufgewachsen. Für sie musste das alles hier fremd und vielleicht sogar beängstigend sein. Zögerlich erklomm Sting schließlich doch den Buckligen und krabbelte über dessen Kuppe hinweg zu Minerva. Sie versteifte sich, als sie ihn hörte, sagte und tat jedoch nichts. Da er selbst auch nicht wusste, was er sonst sagen sollte, legte Sting ihr das Kopftuch über die rabenschwarzen Haare, die sich in der Nachmittagssonne bereits ganz schön aufgeheizt hatten. Die heilende Paste in Minervas Gesicht war auch schon ausgetrocknet und größtenteils von ihren verbrannten Wangen herabgebröselt. „Wenn du in die Sonne gehst, solltest du einen Tagelmust tragen“, sagte Sting daher und machte es sich im Schneidersitz neben Minerva bequem, ehe er seine Feldflasche von seinem Kordelgürtel knüpfte und dem Mädchen hinhielt. „Und du solltest immer Wasser dabei haben.“ „Du trägst doch auch kein Kopftuch“, erwiderte Minerva trotzig und ignorierte sein Wasser. Ihre Stimme war ein heiseres Krächzen, kein gutes Anzeichen, wie Sting wusste. „Ich brauche keins, du schon.“ „Warum nicht?“ „Ist halt so.“ Ratlos zuckte Sting mit den Schultern. Er entkorkte die Feldflasche und spritzte Minerva Wasser ins Gesicht. „Hey!“ Protestierend hob das Mädchen die Hände und funkelte ihn an. Seine Augen waren gerötet und geschwollen. „Weißt du eigentlich, wer ich bin?!“ „Du bist Minerva“, verstand er sie absichtlich falsch und spritzte noch mal mit dem Wasser, ehe er den Korken wieder in die Flasche stopfte und diese dann dem Mädchen in die Hände drückte. „Und du brauchst Wasser, sonst siehst du irgendwann Sandschatten.“ „Ich bin Minerva Orland! Ich bin die zukünftige Fürstin von Sabertooth!“, krächzte sie kläglich. Sting vermutete, dass sie eigentlich hatte rufen wollen, aber ihre ausgedörrte Kehle ließ das nicht mehr zu. „Bei uns gibt es keine Fürsten. Trink’ endlich.“ Minerva knurrte ihn leise an, entkorkte jedoch die Flasche und folgte seiner Anweisung, was ihm ein Grinsen entlockte. Ihre olivgrünen Augen funkelten ihn böse an, doch er ließ sich davon nicht beeindrucken. „Ich bin übrigens Sting Eucliffe.“ Ihre einzige Reaktion darauf war ein Brummen, aber zumindest schickte sie ihn nicht wieder fort und ergriff auch nicht die Flucht. Sie blieb einfach neben ihm sitzen und als sie die Flasche wieder verkorkt hatte, blickte sie erneut nach Norden. „Dort liegt Sabertooth, richtig?“, setzte Sting das Gespräch munter fort. „Irgendwann musst du es mir zeigen, wenn wir Beide richtige Wüstennomaden sind!“ „Wenn es dann überhaupt noch da ist“, murmelte Minerva düster und senkte den Blick auf die Flasche in ihren rissigen Händen. „Ganz bestimmt.“ Mit einem Stirnrunzeln hob das Mädchen den Blick. Sting schenkte ihm ein zuversichtliches Lächeln. „Es wird auf dich warten. Die Menschen dort wissen sicher, wer ihre wahre Fürstin ist, denkst du nicht?“ „Verstehst du überhaupt, was ein Fürst ist?“, fragte die Schwarzhaarige skeptisch. „Ein Anführer, oder? So hat Loirg es mir gestern Abend zumindest erklärt.“ Minerva schien schon zu einer langwierigen Erklärung anzusetzen, doch dann seufzte sie nur und zuckte mit den Schultern. „Ist ja auch egal… Euch kümmert das alles ja sowieso nicht.“ Und sie sank in sich zusammen, die Arme wieder fest um die Beine geschlungen, und sagte kein Wort mehr. Sting hatte das Gefühl, dass sie sehr traurig und einsam war, aber leider wusste er nicht, wie er ihr helfen sollte. Also blieb er schweigend neben ihr sitzen und blickte mit ihr nach Norden, während links von ihnen langsam die Sonne unterging. Minerva rührte sich erst wieder, als einer der Erwachsenen für eine Kontrollrunde nach draußen kam und sie Beide in die Zuflucht zurück rief. Zärtlich strich der Wind durch die kurzen, weißen Haare des Mädchens, das sich am Geländer des Krähennestes festhielt und mit den bloßen Füßen herumschlenkerte. Er spielte mit den Verschnürungen des Rahsegels und ließ die schwarze Flagge mit dem roten Mond hinter zwei weißen Wolken träge flattern. Hoch oben am Himmel hörte das Mädchen zahlreiche Ringschnabelmöwen kreischen, die sich wohl von der großen Kogge Beute erhofften. Doch die Roter Mond war kein Fischerschiff, sie war das größte Handelsschiff von Galuna. Gleichwohl blieben die Möwen ein ständiger Begleiter. Für das Mädchen war ihr Gekreisch daher zu einem alltäglichen Begleitgesang geworden. Eine einzelne Melodie im Orchester des Meeres, begleitet vom Rauschen der Wellen, vom Knarren des Holzes, vom Klatschen des Wassers auf Holz, vom Lachen, Rufen und Fluchen der Matrosen. Das Mädchen war mit diesem Orchester im Ohr aufgewachsen. Es war sein erstes Schlaflied gewesen, war ihm so vertraut, dass es die feinsten Veränderungen sofort wahrnehmen konnte. Seit einiger Zeit war zu diesem Orchester ein neues Element dazu gekommen. Das Klirren von Klingen, die aufeinander trafen. Dumpfe Aufprallgeräusche auf den Planken. Angriffsschreie. Anfeuerungsrufe. Stöhnen und Keuchen. Herausforderungen, Provokationen. Erklärungen. Auch heute spielte dieses neue Element und das Mädchen konnte von seiner erhöhten Position aus die Urheber dieses Elements beobachten. Seine Schwester, zehn Zyklen älter mit edlen Gesichtszügen und langen, weißen Haaren, und der Sohn des Kommandanten, der zur Zeit mit auf der Roter Mond reiste, hochgewachsen, noch etwas schlaksig mit seinen sechzehn Sommern, aber mit einem Herzensbrechergesicht, wie die Schwester des Mädchens es mal spöttisch bezeichnet hatte. Seine rotbraunen Haare klebten ihm im Gesicht, aber selbst jetzt noch hatte er dieses breite, gewinnende Lächeln aufgelegt, das dem Mädchen schon immer so komisch vorgekommen war. Die Schwester hatte ihn dazu überredet, ihr den Umgang mit Schwert und Dolch beizubringen. Er hatte sich zuerst entrüstet, dass ein so schönes Mädchen das Kriegshandwerk nicht erlernen sollte. Daraufhin hatte die Schwester ihn zum Ringen herausgefordert und ihn besiegt. Das Mädchen hatte mit vor Stolz geschwellter Brust zugesehen. Es hatte auch jetzt allen Grund, stolz zu sein. Seine Schwester war sehr talentiert. Sie hatte sich den Respekt der anderen Soldaten an Bord verdient und erhielt jetzt von ihnen allerlei Ratschläge. Jeden Tag wurde sie besser. Bald schon würde sie besser als ihr erster Lehrer sein und auch dann würde sie sich noch weiter entwickeln. Aber das Mädchen war nicht mehr stolz, es war traurig, denn mittlerweile hatte es begriffen, dass seine Schwester nicht aus Spaß diesen Unterricht nahm. Seine Schwester arbeitete auf etwas hin, was unweigerlich zur Trennung führen würde. In wenigen Wochen würde die Roter Mond in Hargeon anlegen, um seine Ladung zu löschen und neue Waren aufzunehmen – und in Hargeon gab es eine Kaserne der Kaiserlichen Armee… „Sehr gut, Sting, deine Angriffe sind schnell, das nimmt deinem Gegner die Gelegenheit, eine funktionierende Verteidigungshaltung einzunehmen“, lobte Nark zufrieden. Er war ein Reiterveteran mit wettergegerbter Haut und einigen Säbelnarben an den muskulösen Oberarmen, seine Augen dunkelbraun, seine Haare ergraut. Um seinen Hals hing der zurückgeschlagene Tagelmust, den jeder Wüstennomade für gewöhnlich immer bei sich trug. Seiner war zerfranst und fadenscheinig, die einstmals blaue Färbung kaum noch zu erkennen, die liebevollen Stickereien nur noch undeutlich. Sting hatte mal gehört, dass Narks erste Gefährtin eine Knüpferin gewesen war, aber er hatte den Säbelmeister nie danach gefragt. Das Leben der Wüstennomaden war hart und verlustreich. Jeder von ihnen hatte sein Päckchen zu schleppen. Narks Miene verdüsterte sich jedoch langsam. „Allerdings wollte ich, dass du dich heute verteidigst, Sting. Das musst du auch lernen.“ „Aber hast du nicht mal gesagt, dass Angriff die beste Verteidigung ist?“, schmollte Sting, dem es nicht passte, dass Nark das ausgerechnet in Niuras Beisein gesagt hatte. Das Mädchen nahm die Anweisungen der Lehrer immer so ungemein wichtig! „Manchmal ist es die beste Verteidigung, aber es ist nicht die einzige“, brummte der Säbelmeister. „Minerva, du bist am Hof in der Kunst des Säbels unterrichtet worden, richtig? Vielleicht willst du uns zeigen, was du dort gelernt hast?“ „Mehr als ihr hier“, schnaubte das Mädchen herablassend und verschränkte die Arme vor der Brust. Aus dem Augenwinkel sah Sting, wie Niura und einige der anderen Kinder die Augen verdrehten. Minerva war nun schon seit einem Mond in der Zuflucht, aber bisher hatte sie sich immer von allen ferngehalten. Sie nahm ihre Mahlzeiten alleine ein, beteiligte sich nicht am Unterricht von Meister Gran Doma und schottete sich auch in der Kinderhöhle immer von Sting und den anderen Waisen ab. Am schlimmsten wog aber für die anderen Kinder, dass Minerva sie immer wieder spüren ließ, dass sie sich für etwas Besseres hielt. Sting glaubte nicht an dieses Gehabe. Wenn er abends Minervas mageren Körper in der Schlafnische sah, kam sie ihm immer nur einsam vor. Wie sie immer und überall alleine saß, das machte ihn irgendwie traurig. Aber er wusste nicht, wie er ihr helfen sollte. So oft schon hatte er versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie ließ ihn einfach nicht an sich heran. Jetzt jedoch witterte er eine Chance und zeigte mit seinem Holzsäbel in Minervas Richtung. „Beweis’ es mir doch!“ Minerva schien ihn zuerst abweisen zu wollen, doch dann zuckte sie mit den Schultern und sprang von dem Felsvorsprung, von dem aus sie die bisherigen Übungskämpfe beobachtet hatte. Geschmeidig wie eine Katze landete sie auf allen Vieren. Sie mochte sich sonst vor den Gebräuchen der Wüstennomaden abschirmen, aber wie jedes Sandkind hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, auf die Felsvorsprünge zu klettern, wann immer sie im Inneren Kreis war. Prüfend wog Minerva den Holzsäbel, den Nark ihr reichte, drehte ihn mehrmals in der rechten Hand, warf ihn dann in die linke Hand und drehte ihn auch dort. Schließlich nickte sie zufrieden und begab sich in eine federnde Halbhockstellung, den Säbel mit der Linken neben dem Gesicht erhoben, die Rechte mit der Handfläche in Stings Richtung gewandt. „Was ist das?“ Irritiert sah Sting von Minerva zu Nark und wieder zurück. „So sieht das aus, wenn man mit Technik kämpft, Sting“, schnaubte der Säbelmeister amüsiert. „Das ist eine Ausgangsstellung.“ Ehe Sting noch nachfragen konnte, griff Minerva an. Sie sprang vor und ging in eine spektakuläre Drehung über, in deren Ende sie den Säbel von rechts oben nach links unten zog. Im letzten Moment sprang Sting nach hinten, landete dabei jedoch auf dem Hosenboden. Verblüfft blickte er zu dem Mädchen auf. So langsam dämmerte ihm, dass er – endlich! – einen anspruchsvollen Gegner in seiner Altersgruppe hatte. Mit einem übermütigen Grinsen stemmte er sich geschickt in die Höhe und sprang Minerva an, den Säbel schräg von unten schlagend. Sie blockte und drückte sich dagegen, ehe sie ruckartig nach hinten auswich. Sting stolperte nach vorn, aber im Fallen drehte er sich und riss den Säbel hoch, sodass er den auf seinen Rücken gezielten Hieb parieren konnte. Ungeschickt landete er mit einer Rückwärtsrolle in der Hocke. Er zitterte vor Aufregung. Minerva war gut. So richtig, richtig gut! Wieder griff er an, probierte all die Finten aus, die Nark ihm bereits beigebracht hatte, und improvisierte ordentlich herum. Minerva war ihm in Sachen Technik und Strategie eindeutig überlegen und sie war auch überraschend stark. Wenn sie ihre Säbel gegeneinander drückten, schaffte es keiner, eindeutig die Oberhand zu gewinnen. Aber Sting bemerkte nach einigen Angriffen, dass Minerva ein begrenztes Repertoire an Angriffs- und Verteidigungstechniken besaß. Jede ihrer Bewegungen wirkte einstudiert. In Sabertooth lernte man wohl ganz anders den Umgang mit dem Säbel als hier bei den Wüstennomaden, wo man die Kinder in der ersten Zeit zunächst nur bei ihren eigenen Übungen beobachtete, ehe man begann, ihnen konkrete Techniken beizubringen. Minerva pflegte einen Kampfstil für eine zivilisierte Arena, die Wüstennomaden hingegen kämpften überwiegend nach Instinkt. Dennoch war es eine aufregende Herausforderung für Sting. Als es nach mehreren Schlagabtäuschen immer noch keinen eindeutigen Sieger gab, waren Sting und Minerva Beide schweißüberströmt und zitterten vor Anstrengung. Sting konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor nach einem Übungskampf derartig erschöpft gewesen zu sein. Selbst im Kampf gegen Loirg, der vier Zyklen älter war, sich allerdings nie besonders viel aus dem Säbel gemacht hatte, hatte Sting sich nicht so verausgabt! „Ich denke, das reicht für heute“, entschied Nark und trat zu ihnen, als sie gerade wieder ihre Säbel gegeneinander drückten. Die Kinder ignorierten ihn und stemmten ihre Übungswaffen mit noch mehr Kraft nach vorn. Stings Blick begegnete dabei Minervas und er erkannte darin eine unbändige Freude. In ihren olivgrünen Augen loderte ein Feuer der Entschlossenheit, das ausnahmsweise mal überhaupt nichts mit ihrem Wunsch, Sabertooth zurück zu erobern, zu tun hatte. Bei diesem Anblick musste Sting vor Freude lachen. „Das ist toll!“, rief er und trat einen halben Schritt zurück, wobei ihm Minerva vor Überraschung beinahe in die Arme fiel. Er wischte sich mit dem nackten Arm über die schweißnasse Stirn. „Du bist stark! Das macht Spaß!“ „Du auch“, nuschelte Minerva, offensichtlich mit der Situation überfordert. „Lass’ uns morgen wieder kämpfen!“, schlug Sting begeistert vor und bot Minerva die Hand an. Sie zögerte kurz, doch dann nickte sie und schlug ein. „Sehr schön.“ Äußerst zufrieden nickte Nark. „Dann hat Sting endlich mal jemanden, der ihn auf Trab hält… Du hattest in Sabertooth einen guten Lehrer, Minerva.“ Der Freudenfunken in Minervas Augen erlosch sofort wieder und Sting musste mit Bestürzung feststellen, dass auf einmal stattdessen Tränen darin schimmerten. „Ich habe es von Onkel Athenaeos gelernt…“, krächzte sie. Es war, als hätte der Kampf einen Damm in dem Mädchen gebrochen. Es zitterte am ganzen Körper, schniefte und dann brach es richtig in Tränen aus. Sting könnte im Nachhinein nicht mehr erklären, was er sich dabei gedacht hatte, aber etwas in ihm sträubte sich davor, zu zulassen, dass die Anderen Minerva so sehen konnten. Er ließ seinen Säbel einfach fallen, machte einen Schritt nach vorn und zog die Schwarzhaarige in seine Arme, ihr Gesicht an seine Brust gedrückt, damit ihre Tränen vor allen anderen verborgen blieben. Beinahe rechnete er damit, dass sie sich dagegen wehren würde, aber stattdessen klammerte sie sich an ihn und weinte sich hemmungslos alles von der Seele, was sie offensichtlich schon so lange in sich hinein gefressen hatte. Böse blickte Sting in Richtung der anderen Kinder, die unverhohlen gafften und erst damit aufhörten, als Nark sie mit ernster Miene fortschickte. Erst als er sicher sein konnte, ganz alleine mit Minerva zu sein, strich Sting ihr vorsichtig über die rabenschwarzen Haare. Er hatte keine Ahnung, ob das wirklich hilfreich war, aber er hoffte es von ganzem Herzen! Kapitel 3: Der gefallene Krieger -------------------------------- Die Frau war stolz und schön. Sie war ungewöhnlich groß und schlank wie ein Papyrusrohr, gekleidet in eine rot-gelbe Robe, die mit einem Kordelgürtel an der Taille gerafft wurde, darüber ein dunkelroter Burnus. Die Füße steckten in kunstvoll gearbeiteten Lederstiefeln. Langes blaugrünes Haar flutete über ihren schlanken Rücken, über und über mit Schmuck versehen: Geflochtene Zöpfe, Holzperlen, Federn und Bastbänder ergaben mit den Haaren ein Gesamtkunstwerk von wilder, unbezwingbarer Schönheit. Ihre Gesichtszüge waren sehr schmal, ihre Nase winzig, das Kinn spitz, aber den dunklen Augen ruhte eine würdevolle Wildheit inne. Neben ihr stand ein Junge von vielleicht zwölf oder dreizehn Dürren, schlaksig, aber bereits mit Ansätzen von breiten Schultern, die Gesichtszüge breit und grimmig, das vollkommene Gegenteil zu denen der Frau. Seine Haare waren von derselben Farbe, aber unbezwingbar in alle Richtungen abstehend, und er trug eine bestickte gelbe Tunika und schwarze Pluderhosen mit einem breiten Gürtel, der dafür gemacht war, schwere Waffen halten zu können, auch wenn die Schlaufen nun leer waren. Während die Miene der Frau vollkommen ruhig blieb, hatte der Junge die Augen wütend verengt und fletschte die Zähne wie ein angriffslustiger Schakal. Seine großen Hände waren zu zitternden Fäusten geballt und ein Fuß war etwas weiter nach vorn gesetzt. Mit dieser Haltung wäre er jederzeit in der Lage, anzugreifen, aber genau wie seine Mutter war er unbewaffnet und zwischen ihnen und dem Fürsten standen zwei Reihen stummer, bis an die Zähne bewaffneter Soldaten. Der Fürst blickte unbeeindruckt von seinem erhöhten Thron aus Onyxmarmor auf die Beiden herab, angetan im neu entworfenen Ornat des Herrscherhauses. Zwar trug er noch das Wappen und die Farben des Hauses Orland, doch anstatt der Pluderhosen, der knielangen Tunika und des Burnus trug er nun eine Uniform mit auffallend vielen Rüstungselementen. An Schienbeinen und Unterarmen trug er stahlverstärkte Lederschienen, die mächtige Brust wurde von einem gehärteten Lederpanzer umhüllt, die breiten Schultern durch Schulterplatten hervor gehoben. Und anstatt des seit jeher üblichen Tagelmust trug er einen goldverzierten, seidenen Kavuk, an dessen linker Seite drei, schwarz-weiße Schmutzgeierfedern befestigt waren. Sein dicker, weißer Zopf fiel über die Rückenlehne des Throns. „Sie möge sprechen“, knirschte die Stimme des Fürsten. „Herr…“ Die Art und Weise, wie die Frau dieses Wort aussprach, ließ wenig Zweifel daran, was sie in Wahrheit von ihrem Gegenüber hielt, aber noch immer blieb ihre Miene beherrscht und sie schaffte es sogar, sich zu verbeugen, ohne an Würde einzubüßen. „Ich bin Ofra Nanagear, Gattin von Omar Nanagear, der Eurer Familie seit langer Zeit treu als Soldat und schließlich als Rüstungsmeister gedient hat. Dies ist unser dritter Sohn Orga.“ Bei diesen Worten legte sie ihrem Sprössling eine Hand auf den Rücken und dieser neigte steif den Oberkörper in Richtung des Throns, den Blick eisern auf den mosaikverzierten Boden gerichtet. „Wir sind hier, um Eure fürstliche Gnade zu erbitten. Schont das Leben meines Gatten und meiner ersten beiden Söhne. Sie haben nie wider Euch gehandelt, noch haben sie jemals eine derartige Absicht gehegt.“ „Das sehe ich anders“, erwiderte der Fürst bedrohlich. „Dank meines getreuen Schakals gibt es Beweise dafür, dass Omar Nanagear, Jair Nanagear und Sem Nanagear meinen Sturz geplant hatten. Nach dem tragischen Tod meiner Tochter hätten sie damit Sabertooth führerlos zurückgelassen. Zweifelsohne war es ihre Absicht, sich selbst auf diesen Thron zu schwingen.“ Ofra Nanagear öffnete die Lippen, um zu widersprechen, besann sich jedoch in letzter Sekunde anders und schwieg. Ihre dunklen Augen schienen zu glühen und ihre Kiefer mahlten, als sie sich noch tiefer verbeugte. „Dann bitte ich Euch um die Gnade, Abschied von unseren Lieben nehmen zu können.“ Langsam beugte der Fürst sich vor. „Will sie behaupten, sie nenne Landesverräter noch ihre Familie? Hat sie nicht vier weitere Kinder, für die sie sorgen muss?“ Sein Blick richtete sich auf den Jungen, der noch immer zu Boden starrte. Dieser begann vor unterdrückter Wut allmählich zu zittern und seine Finger tasteten – wohl vollkommen unbewusst – die leeren Schlaufen seines Gürtels ab. Der Junge, der Raios gerufen wurde, stand schräg hinter seinem Vater, welcher wiederum mit gestrafften Schultern zur Rechten des Fürsten stand, und fragte sich, was die Gründe für die Wut des älteren Jungen waren. War es die Entwürdigung seiner Familie, die ihn derartig erzürnte? Oder war diese Wut Ausdruck seiner Angst um seinen Vater? Der Junge namens Raios fragte sich, wie sich so etwas wohl anfühlte. Von seinen neuerlich verschärften Trainingseinheiten war ihm Angst wohlbekannt. Die Angst vor dem Ertrinken. Die Angst vor dem Verdursten. Die Angst vor Schmerzen. Die Angst vor Demütigungen... Doch die Angst um etwas oder jemanden war ihm fremd. Stürbe sein Vater hier und jetzt, er hätte wohl keine Angst verspürt. Im Gegenteil war es sogar gut möglich, dass er stattdessen Erleichterung empfände. Er beneidete Orga Nanagear. Obwohl der Junge dabei war, seinen Vater und zwei seiner Brüder zu verlieren, so hatte er doch hier und jetzt eine Familie, die ihm genug bedeutete, um ihren Verlust zu befürchten. Das war weit mehr, als der Junge namens Raios jemals haben würde. Alles, was er hatte, waren die Schatten… „Doch ich bin gnädig“, fuhr der Fürst leise fort. „Ihr und ihren Kindern ist es erlaubt, der Hinrichtung am morgigen Tag in vorderster Reihe beizuwohnen, ehe sie den Hof verlassen. Ihr Besitz verbleibt in den treusorgenden Händen des Throns, auf dass er noblen Zwecken diene.“ Die Miene der hochgewachsenen Frau glich einer Maske verzweifelt unterdrückter Gefühle, die einen tiefen Eindruck beim Jungen namens Raios hinterließen. In den Büchern hatte er davon gelesen, wie viel eine Mutter für ihre Kinder zu tun bereit war. Am eigenen Leib hatte er dies nie erfahren. Für ihn hatte es nie eine Mutter gegeben. Er wusste nicht einmal, was aus ihr geworden war. Den Gerüchten einiger Soldaten zufolge war er gar nicht das Kind einer Menschenfrau, sondern das einer Schakalhündin, die sein Vater überwältigt und geschwängert haben sollte – und das gehörte beinahe noch zu den schmeichelhaften Gerüchten über den weithin gefürchteten Blutschakal und seinen Sohn. „Ihr seid zu gütig, Herr“, antwortete Ofra Nanagear schließlich mit gepresst klingender Stimme. Neben ihr blickte Orga Nanagear ruckartig auf. In seinen Gesichtszügen spiegelten sich mehr Hass und Mordlust wieder, als es für einen Jungen seines Alters möglich schien. Seine Lippen öffneten sich und alle im Thronsaal schienen die Luft anzuhalten, als sie gespannt darauf warteten, ob der Junge so dumm war, sein Leben und das der ihm verbliebenen Familie mit den falschen Worten zu verspielen. Der Junge namens Raios konnte sehen, wie sein Vater die Hand an seine pechschwarze Bosco-Klinge legte, bereit, dem Leben des Jungen ein Ende zu bereiten, der kaum älter als sein eigener Sohn war. Als eben dieser Sohn dem Blick des älteren Jungen für die Dauer einiger Herzschläge begegnete, schüttelte er unmerklich den Kopf. Mehr wagte er nicht zu tun und doch hoffte er, dass der Andere es aller Verzweiflung zum Trotz bemerkt hatte. Etwas in ihm wollte nicht, dass Orga Nanagear starb. Es war unerklärlich, wusste er doch, dass das Leben des Jungen fortan von Armut und Elend geplagt sein würde, doch es war immer noch Leben, immer noch… Hoffnung. Noch ein Wort, dessen Bedeutung der Junge namens Raios nur aus den Büchern kannte, aber es schien ihm hier passend. Ob es der Blickkontakt oder das Zusammenzucken seiner Mutter oder etwas völlig anderes war, Orga Nanagear schloss den Mund wieder, ohne einen Ton von sich zu geben, und verbeugte sich genauso tief wie seine Mutter. Doch er senkte den Blick nicht wieder und sein Rücken blieb in der Verbeugung eindrucksvoll steif. In seinen dunklen Augen loderte ein Versprechen, das für alle offensichtlich sein musste, doch niemand konnte ihn dafür belangen, solange er nichts sagte. Und letztendlich war er in den Augen des Fürsten wohl nur ein naseweiser Bengel ohne Einfluss und ohne Geld, der in der Gosse des Armenviertels schon bald sein Ende finden würde… Zwischen Stings Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet, während er auf das Schachbrett hinunter starrte. Seine Finger zuckten immer wieder. Ein paar Mal machte er sogar Anstalten, nach einer Figur zu greifen, zog die Hand jedoch jedes Mal wieder zurück und zog eine Grimasse. Grinsend saß Minerva ihm gegenüber und beobachtete ihn aufmerksam. Obwohl Sting keinerlei Gespür für Taktik hatte, ließ er sich doch jedes Mal aufs Neue von ihr dazu provozieren, mit ihr Schach zu spielen. Natürlich könnte Minerva auch Meister Gran Doma oder jemand anderen fragen, ob er mit ihr spielte, aber mit Sting machte es ihr am meisten Spaß. Einfach weil der sonst so frohgemute Sting dieses simple Spiel viel zu ernst nahm und sich jedes Mal so schön darüber aufregte, wenn Minerva ihn wieder platt machte. Es war lustig, wenn er immer fahriger und ungeduldiger wurde und wenn er dann – so wie jetzt – in seine grüblerischen Phasen kam und versuchte, ernsthaft eine Strategie zu entwerfen, war sein Mienenspiel unbezahlbar. Endlich ergriff Sting seinen verbliebenen Turm und schlug damit Minervas Läufer. Ohne Zögern schob Minerva ihren eigenen Turm vor und nahm Stings Turm vom Feld, ehe sie ihn angrinste. „Schach.“ „Das kann doch nicht wahr sein!“, brauste Sting auf und deutete anklagend auf Minerva. „Du bist so gemein!“ „Ich kann nichts dafür, wenn du nicht dazu lernst“, erwiderte Minerva noch immer grinsend. Dabei wusste sie ganz genau, dass Sting sehr wohl schon viel dazu gelernt hatte. Als sie vor einem halben Zyklus in Meister Gran Domas Höhle ein altes Schachspiel gefunden hatte, hatte sie Sting die Regeln beigebracht. Dem sonst so quirligen Blondschopf die Regeln für die einzelnen Figuren begreiflich zu machen, war gar nicht so leicht gewesen, es war ihm abstrakt und unsinnig vorgekommen und er hatte immer wieder gemeckert. Irgendwann hatte Minerva es doch aufgegeben und versucht, alleine die alten Partien nachzuspielen, die sie mit ihrem Onkel gehabt hatte. Seit sie groß genug gewesen war, um über die Tischkante zu gucken, hatte ihr Onkel mit ihr Schach gespielt. Das war eine ihrer vielen Traditionen gewesen. Der Anblick des Schachspiels hatte Minerva damals gleichermaßen mit Freude und mit Schmerz erfüllt und sie hatte sich verzweifelt danach gesehnt, wieder zu spielen. Und zwar mit jemandem, der sie verstand. Während dieser einsamen Spiele hatte sie mit Erschrecken festgestellt, wie sehr die Erinnerungen an ihren geliebten Onkel verblasst waren. Sie hatte noch genau seine Hand vor Augen, wie sie die Figuren zielstrebig über das Feld bewegt hatte, aber die einzelnen Züge waren verblasst. Auch von den vielen Erklärungen hatte Minerva nichts mehr behalten und am schlimmsten war, dass sie sich nur noch vage an die Stimme ihres Onkels erinnern konnte. Wenn sie ihn jetzt noch mal hören würde, würde sie ihn dann überhaupt erkennen? Der Gedanke hatte die alte Trauer, die sie überwunden geglaubt hatte, neu entflammt, und sie hatte am helllichten Tag das Schachbrett samt Figuren von ihrem Lieblingsfelsen in den Inneren Kreis hinab geworfen und die Flucht in die Kinderhöhle ergriffen. Das Schachbrett war dabei zerbrochen und die Figuren hatten sich zwischen all den Felsen verteilt und waren teilweise sogar in die Kochfeuer gefallen. Minerva hatte das Spiel genau wie ihre Erinnerungen an ihren geliebten Onkel verloren geglaubt. Umso mehr hatte es sie überrascht, als Sting ihr schließlich alle 32 Figuren – einige davon halb verkohlt, aber doch noch erkennbar, zum Glück waren sie aus Basiliskenzähnen geschnitzt worden – und ein neues Brett gebracht hatte. Seitdem spielten sie, wenn sie nicht gerade ihre Übungen bei Nark oder ihre Lektionen bei Meister Gran Doma hatten. Sie saßen dann immer auf einem der großen Felsen, knabberten getrocknetes Obst oder Nüsse und ärgerten einander. Es war zu einer Tradition geworden, die Minerva genauso heilig geworden war wie ihre Erinnerungen an ihren Onkel. „Noch ein Spiel!“, forderte Sting und stellte die Figuren neu auf. Als eine der Figuren fort zu rollen drohte, streckte Sting blitzschnell die Hand danach aus, wofür er sich auf die Seite fallen und halb vom Felsen hängen lassen musste. Ohne nachzudenken griff Minerva über das Schachbrett hinweg nach Stings Kordelgürtel und hielt ihn eisern fest, damit er nicht herunter fiel. Kaum dass Sting wieder richtig saß, versetzte sie ihm eine Kopfnuss. „Du hättest runterfallen können, du Dattelkopf!“ „Wie denn, wenn du dabei bist?“, erwiderte Sting unbekümmert grinsend und stellte den Bauern aufs Feld. Brummend setzte Minerva sich wieder hin. Sie war jetzt seit zwei Zyklen bei den Wüstennomaden und genauso lange waren sie und Sting Freunde. Minerva hatte sich an das Leben in der Zuflucht gewöhnt, hatte gelernt, auf sich aufzupassen, den Tagelmust zu binden und am Druck in der Luft zu erkennen, ob ein Sandsturm drohte. In Meister Gran Domas Unterricht war sie die gelehrigste Schülerin und gemeinsam mit Sting machte sie unter Narks Obhut so große Fortschritte, dass sie bereits im Umgang mit der Kettensichel unterrichtet wurden – etwas, das normalerweise nicht vor der zwölften Dürre in Angriff genommen wurde, weil die Kettensichel so viel Körpergefühl erforderte. Minerva war zu einem Kind der Wüste geworden und auch wenn sie das nicht einfach so zugeben würde, sie wusste tief in ihrem Herzen, dass das Stings Verdienst war. Denn so aufsässig und dumm sie sich anfangs auch angestellt hatte, Sting hatte immer zu ihr gehalten. Egal wie oft sie ihn angefahren hatte, er hatte an sie geglaubt, hatte ihr immer und immer wieder die Hand der Freundschaft angeboten. Im Scherz behauptete Minerva oft, dass sie schließlich Stings Freundin geworden war, damit er aufhörte, sie zu nerven, doch in Wahrheit hatte sie seinem Charme irgendwann einfach nicht mehr widerstehen können. Gerade wollte Minerva einen ihrer Bauern nach vorn setzen, um die neue Partie zu eröffnen, als sie hörte, wie unten im Inneren Kreis Unruhe entstand. Durch den Tunnel kamen drei Männer, einer von ihnen durch Rebmesser und Kettensichel als Reiter zu erkennen, die anderen durch ihre großen Taschen und Beutel und die edlere Kleidung als Händler. Die Erzeugnisse der Handwerker und die Beutestücke der Jäger und Reiter fanden allein durch die Händler ihren Weg in die Siedlungen der Grünländer, wie die Wüstennomaden jeden nannten, der nicht zu ihnen gehörte. So kam das Wüstenvolk an Gewürze, Metalle und andere wichtige Materialien. „Das sind Asim und Dov“, stellte Sting fest. „Sie waren in Wüstengrün.“ In Stings Stimme schwang Verwirrung mit. Dafür dass die beiden Händler in einer Siedlung gewesen waren, welche sie schon dutzende Male besucht haben mussten, wirkten sie heute ungewöhnlich aufgebracht. Sie gestikulierten wild herum und fragten lautstark nach dem Wüstenweisen. Als eben dieser herannahte, machten ihm alle respektvoll Platz. Asim und Dov warfen sich vor ihm zu Boden, legten ihre Hände an die Stirnen und boten sie dann dem spirituellen Anführer des Wüstenvolkes an. Gemächlich strich Gran Doma erst über Asims, dann über Dovs Hand. „Was ist passiert, Asim?“, fragte er ruhig. Es war nun so still im Inneren Kreis, dass auch Minerva alles gut hören konnte. „Wir haben in…“ Der drahtige Händler zögerte einen Moment und sein Blick zuckte hoch zu Minerva, ehe er fortfuhr. „Wir haben in Sabertooth unsere Geschäfte gemacht, als wir den Ausrufer gehört haben, der die Hinrichtung von Omir Nanagear und seinen beiden ältesten Söhnen verkündet hat.“ Die Wüstennomaden brachen in lautstarkes Geschnatter aus. Viele riefen empört, einige knurrten oder fauchten, manch einer betete. Minerva machte sich nicht die Mühe, auf einen von ihnen besonders zu achten. Sie kletterte behände von dem Felsen herunter und versuchte dann, sich durch die dicht stehenden Männer und Frauen hindurch zu drängen. „Immer langsam, Sandfloh!“, rief ein Reiter und schob sie schroff von sich. „Das geht dich nichts an.“ „Tut es wohl, sie ist die Fürstin von Sabertooth!“, fauchte Sting und trat dem Mann gegen das Schienbein. In einer Hand hielt der Junge das Schachbrett und den Ziegenlederbeutel mit den Figuren, mit der anderen Hand ergriff er Minervas Hand und zog sie um die Gruppe herum, fort von dem Reiter, der Sting wüste Flüche hinterher schickte. Dort, wo der Wüstenweise stand, wagten die Männer und Frauen es nicht, sich so sehr an einander zu drängen. So schafften Sting und Minerva es, ins Innere der Gruppe vor zu dringen, und sie blieben direkt neben Gran Doma stehen, der gerade verkündete, dass er sich Asims und Dovs Geschichte in Ruhe in seiner Höhle anhören wollte. „Ich will dabei sein!“, erklärte Minerva energisch. Mit einem milde überraschten Lächeln sah der Alte zu den beiden Kindern hinab. „Das ist kein Thema für euch.“ „Ist es wohl!“, widersprach Minerva bockig. „Ich will wissen, was mit Onkel Athenaeos’ Freund passiert ist!“ Hinter sich hörte Minerva einige Erwachsene entrüstet schnaufen, aber sie achtete nicht darauf, sondern hielt den Blick stur auf den Wüstenweisen gerichtet, der sie eingehend musterte, bis er schließlich nickte. Mit einer Geste bedeutete er den Händlern, ihm zu folgen. Minerva und Sting folgten ihnen auf dem Fuße. Ein Reiter machte Anstalten, zumindest Sting aufzuhalten, doch der wich der Hand geschickt aus und streckte dem Mann die Zunge heraus. In der Höhle des Wüstenweisen wurden sie wie immer vom süßen Geruch nach Datteltee empfangen und ließen sich am Kochfeuer auf den Bastmatten nieder. Mit einer einladenden Geste deutete Gran Doma auf die gusseiserne Kanne, aber nur Asim bediente sich. Asim war mit vier Dekaden bereits alt und hochangesehen für einen Wüstennomaden. Sein hageres Gesicht war von Altersfalten geziert und seine allmählich ergrauenden Haare lichteten sich. Dov war anderthalb Dekaden jünger und Asims ehemaliger Lehrling. Sein noch faltenfreies Gesicht war breit und kantig, nach den Maßstäben des Wüstenvolks galt er als gutaussehend und wie die meisten Ungebundenen nutzte er das aus, um sich hemmungslos zu vergnügen, was gleichwohl nicht an seiner Qualifikation als Händler rüttelte. „Also… was habt ihr heraus gefunden?“, begann Gran Doma ruhig. „Was wurde Omir Nanagear vorgeworfen?“ „Landesverrat. Er soll ein Komplott gegen den Fürst geplant haben, seine beiden älteren Söhne waren angeblich involviert“, antwortete Asim knapp. „Es gibt keinen Fürsten in Sabertooth!“, begehrte Minerva auf. „So nennt der Fürstregent Jiemma sich jetzt aber. Du wurdest für tot erklärt.“ „Aber Minerva lebt doch noch“, protestierte Sting verwirrt. „Wofür es keinerlei Beweise gibt. Minerva ist in die Wüste geflohen. Eine Achtjährige alleine in der Wüste – wie groß können ihre Chancen schon gewesen sein? Wenn sie damals nicht von den Reitern gefunden worden wäre, wäre sie wirklich gestorben… Also ist es für den Fürstregent viel einfacher gewesen, sie für tot zu erklären“, erläuterte Dov mit schwingenden Händen und ernster Miene. Unsicher blickte Minerva zu Meister Gran Doma. Wenn man sie für tot hielt, wie sollte sie dann überhaupt noch ihren rechtmäßigen Platz einnehmen? Würden die Leute überhaupt noch auf sie warten? „Es ist eine gute Sache“, sagte der Wüstenweise beruhigend. „Das heißt, dass sie dich nicht mehr suchen und dich auch nicht erwarten. Wenn du so weit bist, wird es eine Überraschung für sie… Aber zurück zu Meister Nanagear: Wurde die Hinrichtung vollzogen?“ Asim nickte bedauernd. „Die Burschen wurden gevierteilt und ihr Vater wurde zum Schluss gekreuzigt. Die Köpfe seiner Söhne wurden zu Füßen seines Kreuzes aufgespießt, ihre Körper wurden den Hunden zum Fraß vorgeworfen…“ Vor Minervas innerem Auge tauchte der gutherzige Rüstungsmeister mit seinem breiten, lächelnden Gesicht und dem gewaltigen Brustkorb auf, der jede Rüstung zu sprengen schien. Er hatte Minerva immer Kleine Löwin genannt und mit einer Hand hochgehoben, als wäre sie ein Federgewicht. Und Jair und Sem waren jeder nur ein paar Zyklen älter als Minerva, Jair war gerade erst Soldat geworden und Sem war noch Rekrut gewesen, als Minerva hatte fliehen müssen. Der schlanke, drahtige Sem hatte mit Minerva manchmal im Säbelkampf trainiert. Er hatte sie immer gewinnen lassen, was sie ihm übel genommen hatte. Bei ihrem letzten Kampf hatte sie ihn wüst beschimpft. Sie hatte nie die Gelegenheit gehabt, sich bei ihm zu entschuldigen… Stings Hand auf ihrer Schulter ließ sie aufblicken. Ungewöhnlich ernst musterte der Gleichaltrige sie. Dankbar tätschelte sie seine Hand, ehe ihr etwas einfiel und sie sich an Asim wandte: „Was ist aus Herrin Ofra und den anderen Kindern geworden?“ „Sie wurden enteignet und ins Armenviertel verbannt. Sie mussten in der ersten Reihe stehen, als die Hinrichtung stattfand“, antwortete Asim leise. Minerva biss sich auf die Unterlippe, als sie sich an die übrigen Mitglieder der Familie Nanagear erinnerte. Sie hatte Ofra Nanagear bewundert, hatte genauso eine große Kriegerin wie sie werden wollen… „Du solltest jetzt gehen, Minerva“, entschied Gran Doma leise, aber unnachgiebig. „Ich muss Asim und Dov noch andere Fragen stellen.“ Das Mädchen wollte protestieren, denn es ahnte, dass es bei diesen Fragen immer noch um seine Heimatstadt ging, aber der Blick des Wüstenweisen war ungewohnt streng und hart und das Bild der Familie Nanagear schwebte immer noch vor Minervas Augen. Schwer schluckend stand sie auf und stolperte aus der Höhle. Hätte Sting nicht sofort zu ihr aufgeschlossen und sie geführt, hätte sie es vielleicht nicht zur Kinderhöhle geschafft. Mit jedem Schritt erinnerte sie sich besser an Omir, Ofra und ihre Kinder. Sie hatten in Minervas Weltbild unverrückbar zu ihrer Heimat gehört, waren ein Teil von Sabertooth gewesen. Oft genug hatte Onkel Athenaeos betont, wie wertvoll Freunde wie Omir und Ofra seien… „Ich will sie rächen“, krächzte Minerva, als Sting sie zu ihrer Schlafnische zog und sich dort mit ihr unter den Quilt kuschelte. „Ich will, das er dafür zahlt!“ „Das wird er“, versprach Sting ernsthaft und legte seine Faust auf sein Herz. „In einem Mond dürfen wir endlich mit unserer Reiterausbildung anfangen und in ein paar Zyklen sind wir stark genug, dann erobern wir deine Heimat zurück!“ „Wir?“ „Ja, natürlich wir! Wir sind doch Freunde oder etwa nicht?“ Mit einem aufmunternden Grinsen schlang Sting einen Arm um ihre schmalen Schultern. Bei dem Gedanken, dass sie diese Bürde der Befreiung von Sabertooth nicht alleine schultern musste, traten Minerva auf einmal die Tränen in die Augen. Schniefend wischte sie sich über die Augen und kuschelte sich dann an Sting. „Ja“, murmelte sie, „wir sind Freunde…“ Kapitel 4: Das gestrandete Mädchen ---------------------------------- Das Meer rauschte, wie es das seit jeher getan hatte. Gleichmäßig schaukelnd, so beständig wie nichts anderes auf der Welt. Es war Ewigkeit und Augenblick, es war Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es brachte Geburt und Tod, war die Straße der Welt, Pfad der Magie, Heimat der Leviathane… Für das Mädchen war das Meer alles. Seit jeher war ihm erzählt worden, wie es inmitten eines Jahrhundertsturms an Bord der Roter Mond auf die Welt gekommen war. Sturmkind war das Mädchen oft genannt worden. Ein gutes Omen hatte man es geheißen, dass es an einem solch gefährlichen Tag unbeschadet geboren worden war. Gar von einem Segen der Leviathane hatten die Seeleute gesprochen. In seinen acht Sommern hatte das Mädchen mehrere Stürme miterlebt. Das Grollen des Donners, das Mahlen der Wellen, das Heulen des Windes, das Knirschen geplagten Holzes und die Schreie der Sterbenden waren ihm bekannt, doch auf eine entrückte, abenteuerliche Art und Weise. Stets hatte es sich vollkommen sicher geglaubt. Nie war ihm in den Sinn gekommen, dass auch sein Leben bedroht war. Bis zu jener Nacht… Träge lag das Mädchen am Strand und blickte zum wolkenlosen Himmel hinauf, der das Schicksal des Mädchens Lügen strafte. Die gleichmäßig heranrollenden Wellen spülten über den schlaksigen Kinderkörper hinweg, schienen ihn beinahe zu liebkosen, als könnten sie so vergessen machen, was dem Kind widerfahren war. Der Sturm. Der Blitz, der den Hauptmast traf. Die Flammen an Deck. Die panischen Schreie der Männer. Die schrille Stimme der Mutter, die verzweifelt versuchte, der Situation Herr zu werden. Die immer höher schlagenden Wellen, die das Schiff auf die Seite zu legen drohten. Das gewaltige Krachen, als der knirschende Mast aller Hinderungsversuche zum Trotz auf das Steuerrad fiel. Die heiseren Befehle des Kapitäns, das Schiff zu evakuieren. Das Quietschen der Seilwinden, als das erste Ruderboot zu Wasser gelassen wurde. Die festen, warmen Arme der Mutter in einer letzten Umarmung. Ein Kuss auf die Stirn und ein gewispertes Lebewohl. Das schwindende Gesicht der Mutter, die auf dem Schiff zurück blieb, während das Mädchen zwischen den Männern im Ruderboot saß und vom Ersten Maat eisern festgehalten wurde, egal wie sehr es auch um sich schlug und nach der Mutter schrie. Der Anblick des zweiten Ruderboots, das von den Wellen am Rumpf des Schiffes zerschmettert wurde. Dann aus der Ferne das Schauspiel, als das Schiff von einer Welle auf die Seite gelegt wurde und sich nicht wieder aufzurichten vermochte. Wellen, Wellen und noch mehr Wellen. Kälte und Nässe und Angst. Gebrüllte Befehle, die doch kaum über das Donnern zu hören waren. Immer neue Stöße. Dann eine noch größere Welle, die einfach über das lächerliche Ruderboot hinweg rollte. Holz und strampelnde Körper und so unendlich viel Wasser… Luft… Das Mädchen hatte keine Luft mehr gekriegt, hatte nicht mehr strampeln können, war einfach immer weiter gesunken an einen Ort, wo es nur noch Stille und Dunkelheit gab. Und es hatte gewusst, dass das der Seemannstod war, der so viele bekannte Männer und Frauen ereilt hatte, ohne dass das Mädchen es zuvor je richtig verstanden hätte. Das einst so geliebte Meer war für das Mädchen zu einem nassen, einsamen Grab geworden und das Mädchen hatte sich mit dem Gedanken getröstet, dass zumindest seine Schwester überleben würde, auch wenn diese vor einem Mond in den Krieg gezogen war – was auch immer das bedeuten mochte, es hatte die Mutter auf jeden Fall vor Verzweiflung weinen lassen. Dann waren da Augen gewesen. Riesige Augen von einem schimmernden Blau. Die Augen waren wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatten das Mädchen angestarrt und das Mädchen hatte zurück gestarrt, verwundert darüber, im Sterben auf einmal nicht mehr alleine zu sein. Die Augen waren misstrauisch gewesen, schienen sich vor diesem so viel kleineren Wesen zu fürchten – und das Mädchen hatte die Hände ausgestreckte, um zu zeigen, dass von ihm keine Gefahr ausging, wie es das früher immer bei der kratzbürstigen Schiffskatze getan hatte… Und dann war das Mädchen hier aufgewacht: An einem fremden Strand inmitten von hellbraunen, scharfkantigen Felsen, an welchen sich die Wellen brachen. Das kleine Fleckchen sicheren Strandes, auf das das Mädchen gebettet worden war, war kühl vom Schatten der Felsen, aber das Mädchen fröstelte nicht. Es verspürte auch keinen Durst oder Hunger, nicht einmal Müdigkeit. Alles, woran es denken konnte, war, dass das Meer zu seinem Feind geworden war. Es hatte das Meer geliebt, ihm Lieder vorgesungen und ihm Treue geschworen, doch es hatte ihm erbarmungslos Heimat, Freunde und Familie genommen. Das Meer war schuld daran, dass das Mädchen nun vollkommen alleine war… Als die Ebbe einsetzte, lag das Mädchen schließlich auf dem Trockenen. Der Rückzug des Wassers fühlte sich wie das letzte Loslassen an und ganz abrupt richtete das Mädchen sich auf und drehte dem Meer den Rücken zu, um sich seine neue Heimat zu besehen. Doch alles, was zu erkennen war, waren steil und hoch aufragende Klippen, von welchen die schrillen Rufe und das kaum wahrnehmbare Piepsen von Sturmtauchern und –schwalben zu hören waren – das Mädchen hatte sie auf hoher See zu unterscheiden gelernt, wenn diese Vögel dem Schiff in der Hoffnung auf Beute gefolgt waren. Für das Mädchen klang es, als wollten die Gefiederten es verhöhnen. Trotzig ging es dennoch auf die Klippen zu und lief daran entlang auf der Suche nach einem Pfad. Erst während dieser Wanderung fiel ihm auf, wie schwach es war. Der Magen schmerzte vor Hunger und die Lippen waren aufgerissen und schmerzten, wenn das Mädchen darüber leckte. Der Gedanke an das Meerwasser wurde immer verlockender, aber das Mädchen hatte die Lektionen darüber, wie gefährlich es war, dieses Wasser zu trinken, nicht vergessen. Langsam schleppte es sich weiter, den Blick stur zu Boden gerichtet, um nicht von der sengenden Sonne geblendet zu werden. Wenn es auf die Sonne zulief, dann musste da Süden sein. Das hieß, dass es an der Ostküste von Fiore gestrandet war, oder? Krampfhaft versuchte es, sich an die große Karte auf dem Arbeitstisch der Mutter zu erinnern. Darauf waren so furchtbar viele komplizierte Linien und Wellen und Symbole gewesen. Die Mutter hatte alles erklärt, aber dem Mädchen hatte damals schon der Kopf geschwirrt. Aber dennoch: Es kannte die Inseln im Süden des Kaiserlichen Meeres. Keine davon war so groß wie diese hier. Das hier musste der Kontinent Ishgar sein und dessen gesamter Osten wurde von Fiore beherrscht. Galuna, die Heimat des Mädchens, gehörte auch dem Kaiserreich an. Und die Schwester des Mädchens war der Kaiserlichen Armee beigetreten und kämpfte für die Unsterbliche Kaiserin in Extalia… Vor lauter Erschöpfung bemerkte das Mädchen viel zu spät, wie es in ein Lager stolperte, nämlich erst als es gegen einen großen, grobschlächtigen Mann stieß. Der Mann schien genauso verblüfft wie das Mädchen zu sein und starrte zuerst nur auf eben jenes herab, aber dann begann er breit zu grinsen und ergriff einen Arm des Mädchens, um dann etwas in einer Sprache zu grölen, die das Kind nicht verstand. Der Druck am Arm war jedoch unmissverständlich. Fauchend und kratzend versuchte das Mädchen, sich zu befreien, doch der Mann hielt es einfach immer weiter fest, während nun weitere Männer dazu traten. Schließlich trat ein anderer Mann vor, der wohl der Anführer zu sein schien, da die Anderen ihm respektvoll Platz machten. Er hatte kurze, dunkelblaue Haare, die ihm linksseitig in die Stirn hingen, sodass das Tattoo zweier voneinander abgewandter Halbkreise über seiner rechten Augenbraue gut zu sehen war. Seine Gesichtszüge waren edler als die der anderen Männer, ein kantiges Kinn, eine kleine Nase, ein breites Lächeln, aber seine dunklen Augen lächelten nie mit. Er gehörte zu jener Art von Männern, vor denen die Mutter immer eindringlich gewarnt hatte: Männer, die für ihren eigenen Vorteil über Leichen und Ideale gingen und die keinerlei Ehre kannten – und was Ehre war, das wusste das Mädchen. „Bist du eine Fiore?“, sprach er das Mädchen mit tiefer Stimme und einem starken Akzent an, den das Mädchen nicht kannte. Angstvoll blickte das Kind zu ihm auf. Als der Mann nach ihm greifen wollte, wich es nach hinten aus und zerrte wieder an seinem Arm, doch der andere Mann lachte nur in seiner hart klingenden Sprache. Die umstehenden Männer lachten ebenfalls und das Mädchen wurde trotz heftigster Gegenwehr einfach mitgeschleift, ans Ende einer Gruppe von Menschen unterschiedlichen Alters, alle mit verängstigten, oft auch verweinten Gesichtern. Erst als eine eiserne Fessel um seinen rechten Fuß gelegt wurde, begriff das Mädchen, dass diese Menschen aneinander gekettet waren. Schreiend strampelte es mit den Füßen und trat dem Mann, der gerade einen Stift in die noch offene Seite der Fessel einsetzen wollte, ins Gesicht. Es waren letztendlich drei Männer nötig, um das Mädchen ruhig genug zu halten, damit die Fußfessel erneut angelegt und der Stift eingesetzt und dann mit einer Zange verbogen werden konnte. Durch eine stabile Öse an der Fessel wurde die Kette gezogen, die auch schon die Fußfesseln der anderen Kinder verband, die weinend und zitternd einfach nur zugesehen hatten. „Keine Sorge, Kleine, die Männer werden dir nicht weh tun“, erklärte der Blauhaarige noch immer mit diesem herzlosen Lächeln. „Zumindest nicht allzu sehr.“ Dann drehte er sich den Männern zu und beredete noch etwas mit ihnen in ihrer hässlichen Sprache, ehe er zum Strand ging, wo ein großes Ruderboot mit vier Ruderern auf ihn wartete. Im Heck des Boots konnte das Mädchen eine große Truhe erkennen. Kaum dass der Blauhaarige eingestiegen war, schoben die Ruderer das Boot ins Wasser, bis sie rein springen und rudern konnten. Ihr Ziel war eine Galeere draußen im tieferen Wasser. Sie besaß ungewöhnlich viele Ballisten und an ihrem Hauptmast flatterte eine schwarze Totenkopfflagge. „Wohin bringt ihr mich?“, fragte das Mädchen die Männer, doch die schüttelten verständnislos die Köpfe und lachten wieder, ehe sie sich zum Aufbruch bereit machten. Sie schütteten jedem Kind eine Kelle Wasser über den Kopf. Als das Mädchen an die Reihe kam, legte es den Kopf in den Nacken, um das Wasser mit dem Mund aufzufangen. Es hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin es nun gehen würde, aber die grausame Behandlung dieser Männer hatte seinen Trotz geweckt. Es würde nicht aufgeben. Es würde einen Weg finden, diesen Männern zu entkommen und irgendwann würde es seine Schwester finden…! Das Ei war dickbauchig und riesengroß – beinahe so groß wie Sting selbst mit seinen zehn Dürren – und es war von dunkelgrauer Farbe mit schwarzen Sprenkeln. Halb im Sand vergraben lag es am Südhang einer großen Düne. Fasziniert strich Sting über die vom Sand glatt geschmirgelte Schale, die es Raubtieren enorm erschwerte, die lohnende Beute irgendwie zu greifen, egal ob nun mit Klauen oder Fängen. Wobei Sting sowieso kaum ein Tier einfiel, das groß genug wäre, um solch ein gewaltiges Ei als Beute zu betrachten. Löwen bevorzugten lebendige Beute und ohnehin waren sie eher in den Savannen weiter im Norden anzutreffen als hier in der Wüste, wo sie kaum Beute reißen konnten. Die Vögel der Wüste, die Eier nicht verschmähten, waren zu klein, um diesem Ei etwas anhaben zu können. Allenfalls könnte ein geschickter Wüstenrabe versuchen, die Schale vor Ort aufzubrechen, um an den für ihn wohl schmackhaften Inhalt heran zu kommen. Und Basilisken jagten Beute, die Erschütterungen verursachte, sie würden dieses Ei gar nicht bemerken – und die Chance, dass ein Basilisk zufällig über solch ein Ei walzte, war auch unwahrscheinlich, denn aufgrund eines halbwegs mütterlichen Instinkts wurden diese Eier immer in Gebieten abgelegt, in die sich kaum ein Basilisk verirrte. Soweit reichte der Schutz durch das Muttertier doch noch bei den Basilisken, aber ansonsten waren die berühmten Sandschlangen ausgesprochen lieblos, wenn sie ihre Eier einfach so mir nichts dir nichts im Sand ablegten und dann für immer verschwanden. All das und noch viel mehr hatte Sting im Unterricht von Meister Gran Doma über die Basilisken gelernt, aber es war doch etwas vollkommen anderes, nun das allererste Mal einem echten Basiliskenei gegenüber zu stehen! Unter seiner Hand spürte Sting die Hitze der Schale und darunter ein leichtes Pochen. Hauchfeine Risse zogen sich bereits durch die Oberfläche, eher zu ertasten, als schon richtig zu sehen. Aufgeregt hob Sting den Blick, um Minerva in die Augen sehen zu können, welche auf der anderen Seite des Eis stand, doch die hatte den Blick noch immer gesenkt und beide Hände auf die Schale gelegt. Ihre Miene hatte etwas Ehrfürchtiges, ja, beinahe Gerührtes. Der Anblick dieses Eis schien Minerva tief zu bewegen. Wie könnte er auch nicht? Es war das allererste Mal, dass sie Beide ein Basiliskenei sahen. Und es war ihre Aussicht darauf, schon bald einen echten Basilisken zu sehen – sei es nun ein Schlüpfling oder nicht. „Ist das das einzige Ei?“, fragte Minerva schließlich und hob den Blick zu Adrim an, einem der beiden Reiter, denen sie zugeteilt worden waren. Der Mann war klein und muskulös, sein breites Gesicht auf der linken Hälfte von mehreren Giftnarben geziert. Beinahe jeder Reiter hatte solche Narben, aber sie wurden mit Stolz getragen, denn sie bewiesen, dass man mit dem Tod selbst gerungen und ihn bezwungen hatte. Das Gift von Basilisken war ein hochwirksames Kontaktgift. Bekam man zu viel davon auf die Haut, konnte das bereits den Tod bedeuten. „Nein, das Gelege bestand aus fünf Eiern, ein großes Gelege also. Wir haben die Eier voneinander getrennt und zu verschiedenen Dünen gebracht. Könnt ihr euch denken, warum?“ „Schlüpfen die Basilisken alle gleichzeitig?“, stellte Minerva eine nachdenkliche Gegenfrage. Adrim nickte beifällig. „Beinahe. Je älter das Weibchen ist, desto weniger Pausen macht es zwischen den einzelnen Eiablagen. Die Größe des Geleges lässt bereits darauf schließen, dass es ein altes, kräftiges Weibchen war, das schon ein paar Gelege zustande gebracht hat. Bei den ersten drei bis vier Eiablagen werden es immer nur höchstens zwei Eier.“ „Dann habt ihr die Eier getrennt, damit ihr nicht fünf Basilisken zusammen habt?“, fragte Minerva weiter. „Weil ihr sie dann nicht melken könnt, ohne dass die anderen euch angreifen?“ „Genau. Und damit sie einander nicht angreifen. Basilisken können zwar drei Gelege pro Zyklus zustande bringen, aber wir versuchen dennoch, die Mortalität bei den Schlüpflingen zu reduzieren, damit es später mehr Basilisken gibt.“ „Damit wir sie reiten können?“, warf Sting eifrig ein. „Immer schön langsam“, mahnte Adrim, aber seine Augen funkelten belustigt. „Bevor ihr das erste Mal auf einem Basilisken reiten dürft, werden noch mindestens drei Dürren vergehen.“ Sting wechselte einen Blick mit Minerva. In ihren Augen erkannte er dasselbe rebellische Glühen, das auch ihn umtrieb. Diese Regeln mochten für andere Kinder gelten, aber nicht für sie Beide! Sie würden den Umgang mit der Kettensichel vorher schon meistern und alles lernen, was man nur lernen konnte. Sie konnten es kaum erwarten, endlich ihre ersten Basilisken zu reiten! „Sandflöhe“, murmelte Elias, Adrims Partner. Er war eher drahtig mit einem ebenmäßigen Gesicht und tiefbraunen Augen. Er trug die schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten, dessen Zipfel unter dem Tagelmust hervor lugte, der seinen Kopf vor der sengenden Sonne schützte. „Lass’ sie ruhig träumen, Elias“, lachte Adrim und legte dem jüngeren Reiter vertraulich einen Arm um die Taille. „Du warst auch mal so.“ Elias verzog unwillig das Gesicht. „Du warst gerade einmal fünf Dürren älter, bilde dir nicht so viel darauf ein.“ „Es war genug, um dir zu imponieren.“ Minerva verdrehte die Augen und blickte demonstrativ wieder auf das Ei hinunter, was Sting ein Glucksen entlockte. Als sie in die Zuflucht gekommen war, hatte seine Freundin sich über die Offenheit der Wüstennomaden gewundert, aber mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt. Als Adrim und Elias in der vergangenen Nacht miteinander geschlafen hatten, war Minerva nicht einmal wach geworden. Sting hingegen hatte sich hinreißen lassen, die beiden Männer heimlich zu beobachten. Zwar hatte er ähnliche Beobachtungen schon bei Loirg und Zarah machen können, die während der vergangenen Regenzeit aus der Kinderhöhle ausgezogen waren, aber auch davor schon so manche Nacht das Lager geteilt hatten, aber es hatte ihn doch irgendwie fasziniert, es auch bei Erwachsenen zu sehen. Anders als Minerva, die sich noch überhaupt nicht dafür interessierte und es einfach nur als gegeben hinnahm, war Sting doch irgendwie neugierig darauf, auch wenn er wusste, dass sich noch keiner für einen zehnjährigen Sandfloh wie ihn interessierte. Als das Pochen unter seinen Händen stärker wurde, richtete Sting seine Aufmerksamkeit wieder auf das Ei. Die Risse waren nun deutlich sichtbar und an der Spitze entstand ein winziges Loch. Stings Herz begann heftig zu klopfen. Gleich war es so weit! Sein allererster Basilisk! „Es ist so weit“, stellte Adrim fest und ließ Elias wieder los. „Ihr geht auf den Dünenkamm und schaut aufmerksam zu. Wenn der Basilisk sich freiwinden und auf euch zu kommen sollte, lauft ihr in verschiedene Richtungen, verstanden?“ Sting verzog das Gesicht. Das kam ihm so vor, als würde er Minerva im Stich lassen. Ein beschämender Gedanke. Aber er wusste, dass er nicht zusehen durfte, wenn er nicht auf Adrims und Elias’ Anweisungen hörte, also nickte er ergeben. Neben ihm tat Minerva es ihm gleich, aber sie hatte dabei trotzig die Lippen aufeinander gepresst, wie sie es immer tat, wenn ihr etwas nicht gefiel. Die Kinder traten von dem Ei zurück und kletterten die Düne hinauf, wo sie sich gespannt nebeneinander legten, um zu beobachten, wie die beiden Reiter sich dicke, langärmelige Lederhandschuhe überzogen. Elias entfaltete einen Ledersack, dessen Öffnung groß genug für den Kopf eines ausgewachsenen Mannes wäre, während Adrim so hinter das Ei trat, dass sein Schatten nicht darauf fiel. Dann geschah lange Zeit nichts Spannendes mehr. Das Loch im Ei wuchs auf die Größe einer Männerfaust an und ganz kurz lugte eine schwarze Spitze daraus hervor, doch dann hörte es auf. Das Loch wurde nicht größer und es war auch nichts zu hören. Stings Aufmerksamkeit driftete ab und er verlegte sich darauf, Minerva von der Seite zu betrachten. Unter ihrem Tagelmust war ihr Gesicht verkniffen, was ihm verriet, dass auch sie mit ihren Gedanken nicht mehr ganz bei der Sache war, sondern wieder einmal an ihre Heimatstadt dachte. Seit sie die Nachricht von Meister Nanagears Hinrichtung erhalten hatte, war Minerva verbissener denn je, schnell Fortschritte zu machen. Sting ahnte, dass sie sich die Schuld für den Tod des Mannes gab, aber er wusste nicht, wie er ihr das ausreden konnte. Also versuchte er stattdessen, Minerva zu unterstützen, indem er sie zu Höchstleistungen anspornte. Hier und jetzt hatte er diese Möglichkeit nicht. Er traute sich nicht, die Stille zu durchbrechen, und sie sollten ja hier oben bleiben, solange es ungefährlich war. Das Einzige, was er tun konnte, war, Minervas Hand zu ergreifen und vorsichtig zu drücken. Seine Freundin sah ihn überrascht von der Seite an, ihre olivgrünen Augen groß und verwirrt und schließlich verlegen. Als Sting sie daraufhin angrinste, streckte sie ihm die Zunge raus und richtete ihren Blick wieder auf das Basiliskenei, aber an ihrem Mundwinkel zupfte ein Lächeln und ihre Finger zuckten sachte in Stings Griff. Ohne den Hautkontakt zu unterbrechen, wandte auch Sting seine Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen unter ihnen zu. Noch immer standen Adrim und Elias neben dem Ei bereit, noch immer schien das Loch im Ei nicht größer geworden zu sein. Doch als Minerva sich neben ihm anspannte, verengte Sting aufmerksam die Augen. Und dann erkannte er, dass das Ei vibrierte. Es hatte so sachte begonnen, dass es zuerst nicht aufgefallen war, aber jetzt rutschte der Sand von der glatten Schale und das Ei schwankte leicht hin und her. Adrim und Elias jedoch blieben noch immer ruhig. Nicht einmal das nun rasante Wachstum der Risse scheuchte die Beiden auf, dabei platzte Sting fast vor Aufregung! Und dann ging es auf einmal ganz schnell. Die Eischale schien regelrecht zu zerplatzen und dann entrollte sich der darin befindliche Basilisk, gut eine Mannslänge von der Schnauze bis zur Schwanzspitze, die Schuppen pechschwarz und mit Dotter verklebt, das kleine Maul zum Angriff auf Elias aufgerissen. Genau in dem Moment, da der Drachenartige zuschnappen wollte, griff Adrim nach den Ohrwülsten, schob seine Finger in eben diese und ruckte dann hart. Sofort erstarrte der schlanke, schwarze Körper und Elias stülpte den Ledersack über den Kopf des Basilisken, hielt ihn mit einer Hand dort und schob zwei Finger der freien Hand in die Kehle des Wesens. Der Körper zuckte mehrmals, aber Adrim behielt ihn fest im Griff. Nur am Rande registrierte Sting, wie sich der Ledersack langsam mit dem wertvollen Basiliskengift füllte, das die Händler zu horrenden Preisen auf den Märkten der Grünländer veräußerten, die daraus Medizin herstellten. Stings Aufmerksamkeit galt noch immer dem schlanken, geschmeidigen Körper mit den stark gekielten Schuppen, die an der Wirbelsäule größer wurden und bereits die späteren dort befindlichen Platten erahnen ließen, die beinahe halbe Mannslänge erreichen würden, wenn dieser Basilisk hier tatsächlich so alt werden sollte. Der Schwanz verdünnte sich überraschend schnell und endete in einer beinahe zierlichen Gabelung. Die dort befindlichen Spitzen zuckten unruhig und unter den schwarzen Schuppen wogten mächtige Muskeln, die bereits die Gewalt des ausgewachsenen Basilisken erahnen ließen. Sting hatte bereits Natternhemden von bis zu fünfzehn Schritt langen Basilisken gesehen, hatte Zähne und Schuppen von sogar noch größeren Sandschlangen in Händen gehalten, aber nichts davon hatte ihn auf das vorbereitet, was er nun hier sehen und fühlen konnte. Dieser noch so winzige Körper übte eine unglaubliche Anziehungskraft auf den Jüngling aus. Als gäbe es eine Verbindung zwischen ihnen. Nie zuvor war Sting sich so sicher gewesen, dass er ein Reiter werden wollte! Als Minerva ihn am Arm packte, fiel Sting erst auf, dass er sich in eine hockende Position hochgestemmt hatte und sich immer tiefer in Richtung des Basilisken beugte. Mit großen Augen sah er seine Freundin an. Ihm fehlten die Worte, um zu erklären, was in ihm vorging. Doch Minerva schien auch so zu verstehen. In ihren Augen erkannte er etwas Neues. All die Sorgen und Schuldgefühle der letzten Wochen waren wie fortgewischt. Sie klopfte mahnend auf Stings Arm und wandte ihre Aufmerksamkeit erneut auf das Schauspiel unter ihnen, als befürchtete sie, etwas Wichtiges zu verpassen. Der Ledersack war mittlerweile gut gefüllt. Elias stand der Schweiß auf der Stirn und die Hand, mit der er den Sack hielt, zitterte. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, bewegten sich die beiden Reiter gleichzeitig. Adrim riss den Kopf des Basilisken zurück, während Elias schnell mit beiden Händen nach dem Ledersack griff und mehrere Schritte zurück trat. Für einige Herzschläge rang Adrim mit dem Untier, dann drückte er es zu Boden und stemmte sein Knie auf dessen Rücken. Erst dann blickte er über seine Schulter zu den beiden Kindern hoch. „Wollt ihr ihn anfassen?“ Das ließ Sting sich nicht zweimal sagen! Er hatte es so eilig, nach unten zu kommen, dass er beinahe die Düne herunter gepurzelt wäre. Zitternd vor Aufregung kniete er sich neben den Kopf des Basilisken und betrachtete die feinen Gesichtsschuppen, die Hornwülste, die sich über den Augen und am Nacken andeuteten, die flache Nase mit den geschlitzten Nüstern. Und dann öffnete der Drachenartige seine Augen. Die Iris, die Sting sehen konnte, war von einem geradezu leuchtenden Gelborange, das ihn an die kostbaren Bernsteine erinnerte, die einer der Händler mal mit in die Zuflucht gebracht hatte. Minerva war die Erste, die sich traute, über die Schuppen zu fahren. Nur mit den Fingerspitzen strich sie über die Hornwülste. Sting konnte sehen, wie sie vor Ehrfurcht erzitterte. Als er es schließlich selbst wagte, über die Schuppen zu streichen, war er überrascht, wie glatt und geschmeidig sie sich anfühlten. Im Grunde kaum anders als die Haut eines Menschen, nur sehr viel wärmer. Es war kaum vorstellbar, dass diese Schuppen in ein paar Drürren von Narben zerfurcht und von der Sonne zu einem Graubraun ausgebleicht sein würden. Dieser Basilisk wirkte noch so rein und unschuldig, konnte ja noch nicht einmal geritten werden… „Tretet zurück, ich muss ihn gleich frei lassen“, warnte Adrim. Minerva tat, wie geheißen, aber Sting beugte sich tiefer und blickte direkt in das eine Auge auf seiner Seite. Als er dem Untier zuflüsterte, war seine Stimme heiser. „Irgendwann sehen wir uns wieder und dann werde ich dich reiten!“ Kapitel 5: Die guten Freunde ---------------------------- Der Wind zog und zerrte an Minervas Tagelmust und trieb ihr Sand in die Augen. Unter dem Tuch, welches Mund und Nase vor dem Sand schützte, war die Luft trotz des leichten Stoffs stickig. Ihr Rücken schmerzte wegen der leicht gekrümmten Haltung, in der sie sich seit vielleicht einem Sonnenstreifen befand, und ihre Finger hatten sich um die Griffe der beiden Rebmesser verkrampft. Aber alles, woran Minerva denken konnte, war das Wesen, auf dessen Rücken sie ritt. Unter den dünnen Sohlen ihrer Lederstiefel spürte sie die harten, zerfurchten Schuppen und darunter das Beben von Muskeln und das gewaltige Grollen im Inneren des Wesens. Manchmal bildete Minerva sich sogar ein, den Herzschlag wahrzunehmen – aber vielleicht war das auch ihr eigener aufgeregter Herzschlag. Neben sich hörte sie Stings freudiges Lachen. Er klang aufgekratzt, beinahe manisch vor Euphorie, aber Minerva konnte es ihm nicht verdenken. Es war für sie Beide das erste Mal, dass sie auf einem Basilisken ritten! Das knochenharte Training mit Kettensichel und Rebmessern, das sie sich in den letzten zwei Zyklen abverlangt hatten, hatte sich endlich bezahlt gemacht. Alle anderen Altersgenossen in der Reiterausbildung waren noch nicht einmal ansatzweise so weit wie sie Beide. Es war bedeutungslos, dass Adrim hinter ihnen stand und sie Beide im Auge behielt, während Elias mehrere Schrittlängen vor ihnen zwischen den Ohrwülsten des Drachenartigen stand und das Wesen lenkte. Die Seile, die zur Sicherheit um ihrer Beider Taillen geknotet und an Adrims Gürtel befestigt worden waren, waren nichtig. Was kümmerte es sie, dass sie nur mitritten und nicht bereits selbst den Basilisken lenkten – ja, dass sie sogar noch überwacht wurden –, sie durften endlich auf einem Basilisken reiten! Minerva konnte sich nicht erinnern, jemals so aufgeregt gewesen zu sein. Nicht einmal ihre erste Begegnung mit einem Basiliskenschlüpfling vor zwei Zyklen konnte damit mithalten. Ihr ganzer Körper vibrierte vor Freude und als sie einen Blick mit Sting tauschte und das Leuchten in seinen Augen sah, konnte sie sich ein eigenes verwegenes Grinsen nicht verkneifen. Ein abrupter Halt des Basilisken ließ Sting und Minerva nach vorne torkeln. Beinahe wäre Minerva gestürzt, wenn Adrim das Seil nicht straff gezogen und sie so stabilisiert hätte. Neben ihr stieß Sting einen Fluch aus, als er sein Rebmesser verlor. Es rutschte über die Schuppen und wäre beinahe nach unten in den Sand gefallen, wenn Sting nicht einen gewagten Auswahlschritt gemacht hätte, um danach zu greifen. „Regel Nummer Eins: Niemals die Rebmesser los lassen“, sagte Minerva, woraufhin der sichtbare Teil von Stings Gesicht ihr eine Grimasse schnitt. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass wir schon halten“, schmollte der Blondschopf und blickte nach vorn zu Elias, welcher den Blick nach Osten gerichtet hatte. „Warum reiten wir nicht weiter?“ Mit seinem scharfen Lehrerblick, der Adrims ewige Geduld und Gutmütigkeit vermissen ließ, fixierte Elias die beiden Kinder. Seine schmalen Augenbrauen hatten sich zusammen gezogen und obwohl der Tagelmust seine untere Gesichtshälfte verbarg, wusste Minerva, dass er die Lippen geschürzt hatte. Elias war sehr viel strenger als Adrim, gab ihnen weniger Hilfen, hatte weniger Verständnis dafür, dass sie als Kinder noch nicht so stark und ausdauernd wie er waren. Für Minerva war das ein Ansporn, besser zu werden. Bei Sting war sie sich nie sicher, ob er das genauso empfand oder sich einfach aus einem Urinstinkt heraus herausgefordert fühlte und deshalb noch energischer bei allen Übungen war, die Elias ihnen auftrug. „Sagt ihr es mir.“ Stirnrunzelnd blickte Minerva nach Osten, wie Elias es vorhin getan hatte. Zuerst sah sie nichts anderes als die schier unendliche Wüste. Düne um Düne. Ein Meer aus Sand. Zumindest hatte Minerva als kleines Mädchen gehört, dass das sogenannte Meer genauso endlos wie die Wüste sein sollte – nur dass es aus Salzwasser statt aus Sand bestand – eine absurde Vorstellung! Es dauerte einige Herzschläge, bis Minerva etwas in der Luft auffiel. Ein gewisser, schwer zu beschreibender Druck und ein fernes, fernes Grollen… „Ein Sandsturm“, sagte Sting, bevor Minerva den Mund aufmachen konnte. Für einen Moment war sie frustriert. Immer noch hatte Sting ihr etwas voraus, kannte das Lied der Wüste besser, hatte schärfere Sinne, ein feineres Gespür. Es sollte sie nicht verwundern, da er doch in der Wüste aufgewachsen war, während sie ihre ersten acht Sommer hinter sicheren Mauern verbracht hatte. Doch manchmal ärgerte es sie, immer noch hinterher zu hinken, immer noch unterlegen zu sein. „Ganz richtig, Kinder“, meldete sich Adrims tiefe, gutmütige Stimme hinter ihnen zu Wort. „Und was schlagt ihr jetzt vor?“ „Wir könnten mit dem Basilisken durch den Sturm reiten!“, rief Sting mit aufgeregt leuchtenden Augen. Zur Antwort schnaubte Adrim amüsiert, während Elias’ Miene düsterer wurde. Minerva verdrehte die Augen über den Enthusiasmus ihres Freundes und versuchte, so zu tun, als wäre seine Idee für sie ganz und gar nicht reizvoll. „Wir könnten uns im Sand eingraben und den Sturm hier aussitzen“, ergriff sie schließlich das Wort, damit Elias aufhörte, so auszusehen, als hätte er einen Krampf. „Aber dafür müssten wir den Basilisken ziehen lassen und dann würde er uns wahrscheinlich angreifen. Besser wäre es also, zu den nächsten Felsen zu reiten und dort Unterschlupf zu suchen.“ Elias nickte minimal, mehr Beifall war von ihm einfach nicht zu erwarten. „Und wo sind die nächsten Felsen?“ „Wo sind wir denn?“, stellte Sting eine Gegenfrage und blickte sich suchend um. „Weißt du das nicht?“ Daran, wie Sting die Augenbrauen zusammen zog, erkannte Minerva, dass er schmollte. Insgeheim pflichtete sie ihm bei, denn Elias’ Frage war wirklich gemein. Um sie herum gab es nichts als Sand, nirgendwo gab es irgendwelche Anhaltspunkte, keine Felsen, keine Oasen, gar nichts. „Ihr hättet aufpassen müssen, in welche Richtung wir reiten“, erklärte ihr Ausbilder missbilligend. „Sei nicht zu streng mit ihnen, Elias“, mahnte Adrim. „Es ist ihr Erster Ritt. Wir alle waren beim Ersten Ritt aufgeregt und haben auf nichts anderes als unsere Sandschlange geachtet.“ „Wenn ich mich nicht irre, hatten die Beiden aber ziemlich ehrgeizige Pläne. Da sollten sie es besser wissen, als sich von ihrer Abenteuerlust mitreißen zu lassen. Oder war das nur heiße Luft?“ Unwillkürlich schloss Minerva die Finger so fest um die Griffe ihrer Rebmesser, dass diese zu zittern begannen. Ja, sie hatten in der Zuflucht lauthals verkündet, dass sie Minervas Thron zurück erobern wollten, nachdem sie sich mit einigen der anderen Kinder geprügelt hatten. Rivalitäten unter den Kindern waren unter den Wüstennomaden nichts Ungewöhnliches und gerade Sting und Minerva forderten das durch ihre ehrgeizigen Fortschritte geradezu heraus, aber Stings lautstarke Ankündigung, dass er Minerva auf den Thron von Sabertooth helfen würde, war von vielen entweder spöttisch oder skeptisch aufgenommen worden. Es gab immer noch nur wenige Wüstennomaden, die eine Notwendigkeit darin sahen, Jiemmas Tyrannei in Sabertooth zu beenden. Dabei hatte jeder Händler, der sich in die große Stadt schlich, nur Schauergeschichten vom Usurpator und seinem berüchtigten Blutschakal zu erzählen. Die Menschen in Sabertooth verarmten, viele von ihnen nagten am Hungertuch, die Kultur kam zum Erliegen Doch ein Großteil der Wüstennomaden war davon nicht betroffen. Jiemmas Arm war bei weitem nicht lang genug, um sie in der Wüste zu erreichen. So wie sie schon viele Generationen vor der Ankunft der Orlands ihr eigenes Leben in der Stillen Wüste geführt hatten, so taten sie es auch heute. Das Elend der Grünländer rührte sie nicht. Nur Minerva hielt es immer wieder in den Nächten wach. Im Geiste wanderte sie jede Nacht durch ein anderes der bunten Viertel ihrer Heimatstadt und fragte sich, wie es jetzt dort aussah, versuchte sich an die Namen der Ältesten zu erinnern, die ihren Onkel und sie immer respektvoll begrüßt hatten, dachte an die Wege, denen sie damals gefolgt war… „Das war keine heiße Luft“, knurrte Sting bedrohlich. Seine sonst noch auf und ab schwankende Stimme klang auf einmal richtig tief und gefährlich, wie ein Raubtier. „Dann lernt schneller als die Anderen“, erwiderte Elias unbeeindruckt und drehte sich wieder herum, um sein rechtes Rebmesser leicht zu drehen. Als der Basilisk unter ihnen ein lautes Zischen ausstieß, war das die einzige Warnung für die Kinder, ehe sich der Drachenartige wieder in Bewegung setzte. Träge schlängelte er sich durch den Sand, doch innerhalb weniger Herzschläge beschleunigte er. Die mächtigen Muskeln unter Minerva zuckten, ließen von Zeit zu Zeit ein widerspenstiges Beben durch den gesamten Körper gehen, wenn er gegen die Kontrolle des Reiters ankämpfte. Doch Elias hielt geschickt dagegen und lenkte das Wesen in die neue Richtung. Minerva war sich sicher, dass er schon längst wusste, wo der nächste geeignete Unterschlupf war. Sie wollte ihrem Lehrer weiter grollen, weil er so abfällig über ihre Ziele gesprochen hatte, aber als sie sich voll und ganz darauf konzentrieren musste, den Griff an ihren Rebmessern nicht zu verlieren und auf den Beinen zu bleiben, gerieten seine harschen Worte in Vergessenheit. Was zählten die schon? Davon hatte Minerva schon mehr als genug gehört, ohne dass es etwas für sie geändert hatte! Ein Stoß an ihrem Fuß ließ sie zu Sting blicken. Obwohl er wegen des aufgewirbelten Sandes die Augen zu Schlitzen verengt hatte und das Halstuch bis über die Nase hochgezogen worden war, erkannte sie, dass er herausfordernd grinste. Dann nickte er nach unten und als sie seinem Hinweis folgte, ließ er für einen winzigen Moment sein linkes Rebmesser los, ehe er wieder zugriff. Dasselbe machte er mit der rechten Hand, dann wieder mit der linken, dann stieß er Minerva wieder mit seinem Fuß an und grinste noch viel breiter. Bevor Minerva sich davon anstacheln lassen konnte, spürten sie Beide einen ermahnenden Zug an ihren Taillen und sie blickten über ihre Schultern zu Adrim zurück, der wenig überzeugend den Kopf schüttelte. Dennoch entschied Minerva sich dafür, sich nicht von Sting provozieren zu lassen. Schon allein, weil ihn das immer so schön ärgerte. Doch als er sie schon wieder mit dem Fuß anstieß, ließ sie es sich nicht nehmen, zumindest einmal kräftig darauf zu steigen. Der Sturm war wie ein tollwütiges Tier. Mordlüstern fiel er über seine Opfer her, drückte sie mal erbarmungslos zu Boden, ohne ihnen auch nur die Chance für eine Bewegung zu geben, und schleuderte sie im nächsten Moment willkürlich hin und her. Es gab keine Regeln, nichts Vorhersehbares. Die unzähligen Luftströmungen innerhalb des Sturms wechselten unablässig die Richtung, peitschten den Sand mit solcher Gewalt herum, dass jedes Stückchen ungeschützter Haut wund gescheuert wurde. In alter Zeit war es eines der grausamsten Todesurteile gewesen, vor einem herannahenden Sturm ohne irgendwelche Hilfsmittel in der offenen Wüste ausgesetzt zu werden. Die schlimmsten Verbrechen waren mit dieser Strafe belegt worden. Doch gleichzeitig hatte es auch die sogenannten Sturmprüfungen gegeben. Für einige Generationen hatte es in der Erblinie der Orlands zur Ausbildung der Thronfolger gehört, den Anwärter mit minimaler Ausrüstung in der Wüste auszusetzen, damit er seine Stärke und Besonnenheit im Angesicht der Todesgefahr unter Beweis stellen konnte. Der Junge namens Raios hatte viel darüber gelesen, seit er nach dem Ableben seines alten Lehrmeisters vor sechs Monden seine Unterrichtseinheiten alleine in der Palastbibliothek abhalten musste. Er hatte die Erfahrungsberichte von Überlebenden gelesen, die Beobachtungsprotokolle von Naturforschern, die Gerichtsurteile über Mörder und Vergewaltiger… Doch er wäre nie auf die Idee gekommen, diese Erfahrung eines Tages selbst zu machen. Im Nachhinein kam es ihm töricht vor. Er hätte vom Blutschakal nur das Schlimmste erwarten sollen. Natürlich musste der Mann auch ohne das Wissen um die alten Begebenheiten darauf kommen, seinen Sohn zu prüfen, indem er ihn in der Wüste aussetzte, ausgerüstet nur mit einem schweren Wasserschlauch, Proviant für drei Tage, einem Dolch und einer Lederplane. Einen ganzen Tag lang war er mit dem Jungen auf einem Sandschlitten in den Süden gefahren, dann hatte er ihn vom Brett gestoßen und zu ihm gesagt, er solle alleine nach Hause finden, ehe er wieder davon gefahren war, sich des drohenden Sturms im Osten nur zu deutlich bewusst. Und der Junge war im Sand sitzen geblieben und sich gefragt, ob er wirklich nach Norden zurück gehen sollte. Nach Sabertooth, wo weitere unmenschliche Prüfungen und Elend ihn erwarteten. Zurück in die Stadt, die gar nicht sein Zuhause war und in der die Bewohner tagtäglich unter der brutalen Regierung des Fürstregenten litten, wie er sich selbst immer noch nannte. Also hatte er gewartet. Auf eine Eingebung, ein Zeichen, irgendein Gefühl, das ihm eine Richtung vorgab. Und er hatte gewartet. Und gewartet… Bis der Sturm ihn erreicht und alles verschlungen hatte. Der Unterschied zwischen Himmel und Erde war verschwunden. Es gab weder Norden noch Süden, weder Osten noch Westen. Sabertooth war ausgelöscht, die ganze Welt war ausgelöscht. Kein Fürstregent, kein Blutschakal. Keine Demütigungen, keine Prüfungen, keine Schmerzen. Für den Jungen namens Raios war die Todesgefahr des Sturms wie eine Erlösung gewesen. In all den Zyklen voller gnadenloser Prüfungen hatte er sich insgeheim nach einem Ausweg gesehnt und hier hatte er ihn sich aufgetan. Denn was sollte der Blutschakal schon tun, wenn sein Sohn hier draußen starb? Dieses Versagen konnte er nicht mit Schlägen bestrafen. Dann musste er sich einen neuen Welpen heran ziehen. Musste mit der Ausbildung von vorne anfangen. Musste ein anderes Kind verprügeln, mit Hunger und Durst und Freiheitsentzug quälen. Musste es in Brunnen werfen und nach oben klettern lassen. Musste ihm einen Dolch in die Hand drücken und auf das Pferd des Kindes deuten. Musste einen neuen Meister der Bücher finden, den er vor den Augen des Kindes ausweiden konnte… Der Junge namens Raios nahm einen tiefen, sandigen Atemzug unter dem Tagelmust, den er sich über Mund und Nase gezogen hatte, und überprüfte den Sitz der Plane, die seinen Oberkörper vor den Gewalten des Sturms schützte. Seine Beine hatte er so tief wie möglich neben einem winzigen Felsen in den Sand gegraben. Der langsam abkühlende Stein drückte unangenehm an seine Seite. Von Zeit zu Zeit fielen kleine Bröckchen vom Stein ab und auf Rücken und Kopf des Jungen, als wollten sie ihn ermahnen, sich nicht der Müdigkeit hinzugeben, die ihn bereits seit so vielen Zyklen quälte. Seine Finger hatten sich um die Zipfel der Plane verkrampft, sein Kopf reagierte auf das Jaulen des Sturms mit einem unablässigen Pochen und seine Kehle fühlte sich an, als sei sie mit Sand gefüllt. Der Gedanke an den Wasserschlauch, den er unter sich im Sand eingegraben hatte, war so furchtbar verlockend. Doch er blieb still liegen und ertrug. Die Taubheit in seinen Beinen. Den Druck des sich anhäufenden Sandes auf seinem Rücken. Das Brennen seiner Augen, die nicht schlafen durften. Noch ein wenig, sagte er sich immer wieder. Nur noch ein wenig. In den Aufzeichnungen, die er gelesen hatte, waren sich alle Autoren einig gewesen: Jeder Sturm hatte irgendwann ein Ende. Und hinter ihm blieb eine neue alte Wüste zurück. Ein Land für neue Spuren und Wege, für neue Hoffnungen und Ideen. Ein Land zum Weitermachen. Oder zum Neuanfangen. Und derjenige, der den Sturm überlebte, war ein stärkerer Mensch. Denn wer einen Sturm überleben konnte, konnte alles überleben. Vielleicht konnte so ein Mensch auch den Blutschakal überleben. Als Minerva erwachte, war das Heulen des Sandsturms immer noch ohrenbetäubend laut, aber das war es nicht, was sie geweckt hatte. Sie hatte schon in der Zuflucht Sandstürme erlebt und auch wenn sie in der Kinderhöhle nicht einmal annähernd so laut zu hören waren, war dafür die allgemeine Geräuschkulisse von Menschen, die normalerweise nur zum Schlafen in ihren Höhlen waren, laut genug. Daran hatte Minerva sich bereits einige Monde nach ihrer Ankunft in der Zuflucht gewöhnt – selbst an die befremdlichen Grunzlaute von Loirg und Zarah. Es war ein Fuß, der versehentlich gegen ihr Schienbein stieß, der sie geweckt. Stings Fuß, um genau zu sein. Unwillig knurrend öffnete sie die Augen, auch wenn das kaum einen Unterschied machte. Adrim und Elias hatten es nicht für nötig befunden, ein Feuer zu entfachen. Bei der Enge der Höhle, die sie in einer kleinen Felsinsel gefunden hatten, wäre ein Feuer nur störend und keiner von ihnen brauchte das Licht oder die Wärme. Oder zumindest Minerva und die beiden Erwachsenen nicht. „Was tust du?“, brummte Minerva. „Ich muss mal“, flüsterte Sting ungeniert. „Nicht hier.“ „Hatte ich doch auch gar nicht vor“, schmollte der Junge sofort beleidigt. „Ich habe den Ausgang gesucht.“ Augen rollend richtete Minerva sich auf. „Du blinde Echse.“ Zur Antwort schnaufte Sting, erhob jedoch keinen Protest. Es war allgemein bekannt, dass er im Dunkeln große Schwierigkeiten hatte, auch nur etwas zu erahnen. Während alle anderen Wüstennomaden schnell lernten, normal in unbeleuchteten Höhlen zu laufen – zumal in ihnen bekannten –, musste er sich dort immer an den Wänden entlang tasten. Vielleicht hing das mit seiner Vorliebe für Sonnenlicht zusammen. Zumindest kannte Minerva niemand anderen, der selbst in der grellen Mittagssonne so gut sehen konnte wie Sting. Ihres Spotts zum Trotz nahm sie ihren Freund bei der Hand und führte ihn durch die kleine Höhle und einen niedrigen Gang entlang. Als sie vor sich Stimmen hörte, hielt sie jedoch inne. Es waren Adrim und Elias, die sich eine eigene Höhle gesucht hatten, um unter sich zu sein. Allerdings klang es gerade nicht so, als würden sie sich miteinander vergnügen – normalerweise der Hauptgrund, warum sie die ihnen anvertrauten Kinder auch mal etwas abseits abluden. „Du solltest nicht zu streng mit ihnen sein, Elias. Sie machen bemerkenswerte Fortschritte. Wir Beide waren nicht so weit in ihrem Alter.“ „Wir Beide haben uns auch nicht so hohe Ziele gesetzt.“ Die Stimme des jüngeren Reiters klang angespannt und war stärker gedämpft, als befürchtete er, dass sie trotz des Sturms bis zur Höhle der Kinder zu hören sein könnte. „Machst du dir etwa Sorgen um die Kleinen?“, schmunzelte Adrim und der folgende Protestlaut ließ Minerva erahnen, dass Adrim seinen Partner an sich gezogen hatte. „Wurde ja auch mal Zeit, dass du zugibst, dass sie dir ans Herz gewachsen sind.“ „Es sind lästige Springmäuse“, protestierte Elias. „Haben lauter Flöhe im Kopf und mehr Temperament, als ihnen in ihrem Alter gut tut.“ „Wie Seral und deine Schwester.“ Dieser Feststellung folgte langes Schweigen, durchbrochen nur vom unablässigen Heulen des Sturms. Minerva fragte sich, was Elias’ Schwester mit Stings Mutter zu tun gehabt hatte. Waren sie Freundinnen gewesen? Das Alter würde zumindest stimmen. Viel wussten Sting und Minerva nicht über die viel bewunderte Reiterin, die ihn zur Welt gebracht hatte. Für Wüstennomaden genügte es, zu sagen, dass Seral ihren Beitrag für das Überleben des Volkes geleistet hatte. Sie schwelgten nicht in Erinnerungen an Tote. Deshalb waren ihnen auch die Namen im Geschichtsunterricht nicht wichtig. Es ging immer nur um das Große Ganze, nicht um die einzelnen Personen. Schließlich seufzte Elias ergeben. „Die Beiden haben mich immer genervt.“ „Ja, du hast dich lieber an Athenaeos gehalten und ihn bewundert“, gluckste Adrim. Zuerst schnaubte Elias widerwillig, aber die folgenden Laute ließen darauf schließen, dass er sich dann doch von seinem Partner milde stimmen ließ. Als Elias ein leises, erregtes Keuchen ausstieß, nahm Minerva das zum Anlass, um mit Sting kehrt zu machen und einen anderen Weg zu einer Stelle zu suchen, an der er seinem Drang nachkommen konnte. Es war nicht so überraschend, dass Adrim und Elias ihren Onkel kannten. Er hatte viele Zyklen bei den Wüstennomaden verbracht, hatte ihre Lebensweise kennen gelernt und verinnerlicht, war zum Reiter ausgebildet worden. Natürlich hatte er dabei auch Kontakte zu den Bewohnern der Zuflucht geknüpft. Höchst wahrscheinlich kannte beinahe jeder Wüstennomade ihn, aber der Einzige, der bisher mit Minerva über ihn gesprochen hatte, war der Wüstenweise gewesen. So unvermittelt ihre Ausbilder über ihn reden zu hören, hatte Minerva kalt erwischt. Als sie einen Ausgang fanden, ließ Minerva Stings Hand los, damit er nach draußen gehen und sich erleichtern konnte. Er beeilte sich damit und wusch sich die Finger mit ein paar Schlucken Wasser aus der Feldflasche, die er am Gürtel trug. Schließlich kehrte er zu Minerva zurück und ergriff mit einem Grinsen ihre Hand, um sie kräftig zu drücken. „Was ist?“, fragte sie irritiert. „Na ja, nach dem, was Adrim und Elias eben gesagt haben, könnte es doch sein, dass dein Onkel und meine Mutter Freunde gewesen sind“, erklärte Sting fröhlich. „Was spielt das für eine Rolle? Sie sind Beide tot“, erwiderte Minerva stirnrunzelnd, auch wenn sie dabei einen schmerzhaften Stich verspürte. „Na und? Deshalb müssen wir doch nicht so tun, als hätte es sie nie gegeben.“ Verdutzt sah Minerva ihren Freund an. Es gab Momente, in denen Sting unglaublich tiefsinnige Sachen von sich gab und dabei dennoch so schlicht und herzerwärmend grinste, als wäre es vollkommen selbstverständlich. Woher nahm Sting bloß solche Einsichten? Wieso hatte er sich von Anfang an um Minerva bemüht, eine Fremde, die sich lange Zeit überhaupt keine Mühe gegeben hatte, sich in die Gemeinschaft der Wüstennomaden einzugliedern, und gerade zu ihm sehr unfreundlich gewesen war? Es war Minerva vollkommen unverständlich. Bevor sie etwas dazu sagen konnte, erklang von draußen ein Geräusch. Zuerst glaubte Minerva, es sich beim Heulen des Sturms nur eingebildet zu haben, aber dann erklang es wieder. „Da draußen ist jemand“, flüsterte sie Sting zu. Der Junge nickte aufgeregt und wollte sich zum Ausgang umdrehen, aber Minerva hielt ihn fest. „Bleib’ hier, du Dattelkopf! Wir wissen doch gar nicht, wer das ist.“ Zur Antwort erhielt sie ein herausforderndes Grinsen. „Hast du etwa Angst?“ Angriffslustig knurrte sie zurück. Sie hatte keine Angst, nur weil sie nicht blindlings in jede potenzielle Gefahr rannte. Mit ziemlicher Sicherheit musste das da draußen ein Wüstennomade sein – wer sonst sollte sich so tief in die Stille Wüste hinein wagen? –, aber etwas Vorsicht konnte doch nicht schaden. Dennoch folgte Minerva dem Blondschopf, als er neben den Ausgang trat und, eine Hand schützend auf Mund und Nase gedrückt, mit zusammen gekniffenen Augen nach draußen starrte, wo das abgehackte Husten nun deutlicher zu hören war. Unwillkürlich tastete Minerva nach dem Übungssäbel, der an ihrem Gürtel hing. Die Waffe mochte aus Sicherheitsgründen stumpf sein, aber mit genug Kraft konnte sie damit auch einem Erwachsenen Schmerzen zufügen. Das Husten kam näher. Wer auch immer da draußen unterwegs war, hatte entweder unverschämt viel Glück oder er kannte diese winzige Felsenansammlung hier gut genug, um zu wissen, wie er in die Höhle gelangte. Aber hatte Adrim ihnen nicht bei ihrer Ankunft hier erklärt, dass die Reiter solche kleinen Felsen eher ungern als Unterschlupf einrichteten? Immerhin war man hier selbst in den Höhlen nicht voll und ganz vor dem Sturm sicher und Elias hatte sogar die Sorge geäußert, dass die Felsen unter der Wucht eines besonders starken Sturms marode würden und irgendwann einbrechen könnten… Der umherwirbelnde Sand machte es den beiden Kindern schwer, irgendetwas zu erkennen. Als endlich die Konturen einer Person auftauchten, wurde Minerva klar, was für einen verhängnisvollen Fehler sie gemacht hatten. Sie hätten Adrim und Elias einfach aufschrecken sollen! Doch als die Person in die Höhle hinein stolperte und hustend zu Boden fiel, verpuffte die drohende Gefahr sofort wieder. Denn dort zu ihren Füßen kauerte ein winziges Mädchen – jünger als sie Beide, abgemagert, mit zerlumpten Kleidern, nackten Füßen und dreckigen, weißen Haaren. Es zitterte vor Erschöpfung und kauerte sich schützend über drei Wasserknollen zusammen. Minerva tauschte einen Blick mit Sting, um sich vollkommen sicher zu sein, dass sie sich nicht irrte. Aber nein, dieses Mädchen gehörte definitiv nicht zu den Wüstennomaden! Als ihm klar wurde, dass es nicht alleine war, sprang das Kind überraschend schnell auf die Beine und wich vor den beiden Älteren zurück, die Knollen wie einen überlebenswichtigen Schatz an sich gedrückt – und wahrscheinlich waren sie das auch, wenn Minerva sich die ausgetrockneten Lippen des Mädchens so ansah. Große, braune Augen zuckten zwischen Minerva und Sting hin und her, erfüllt von Misstrauen und einem beinahe animalischen Überlebenswillen. Mit völliger Sicherheit tasteten sich die nackten Füße über die grobkantigen Felsen und nicht einen Herzschlag lang wandte das Mädchen ihnen den Rücken zu. „Wir tun dir nichts“, sagte Sting und streckte demonstrativ seine Hände aus. „Wer bist du? Was machst du hier?“ Ganz kurz blickte das Mädchen über seine Schulter ins Innere der Höhle, dann betrachtete es die Knollen in seinen Händen. Zu spät wurde Minerva klar, was es vor hatte. „Sting, duck’ dich!“ Die Warnung kam zu spät. Eine der Knollen traf Sting voll am Kopf und die wenigen Herzschläge, die Minerva darauf verwendete, zu ihrem Freund zu blicken, nutzte das Mädchen aus, um die Flucht zu ergreifen. Schneller als das bei den Sicht- und Raumverhältnissen möglich sein sollte, war das Kind aus Minervas Blickfeld verschwunden, ohne auch nur einen Laut zu verursachen. Wäre die Knolle nicht, welche Sting nun jammernd verfluchte, könnte Minerva nicht beschwören, sich das alles nicht nur eingebildet zu haben. Kapitel 6: Das misstrauische Wesen ---------------------------------- Die Höhle lag in einem gut versteckten Teil der Felsinsel. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis sie sie gefunden hatten – nicht jedoch das Mädchen. Und sie war winzig, kaum mehr als eine der Schlafkuhlen, die Sting aus der Kinderhöhle kannte – aber sie war offensichtlich jemandes Zuhause. Getrocknete Gräser, löchrige Felle von Kleintieren und Sand bildeten ein unordentliches Schlaflager. Daneben waren Wasserknollen zu einer Pyramide aufgeschichtet worden. In sorgsam gereinigten Tierschädeln wurden Nüsse, Oliven und Datteln aufbewahrt. In die Wände waren Figuren geritzt worden: seltsame Bauten mit Flügeln auf dem Wasser, Menschen, Vögel und etwas, das vielleicht Basilisken sein sollten. Auf einer großen Basiliskenschuppe neben der Schlafstätte war ein Mühlespielplan geritzt worden, auf dem noch einige Nussschalen und Steine als Spielfiguren lagen. „Das ist eine Überraschung“, murmelte Adrim und ging in die Hocke, um in die Höhle hinein zu gelangen und nach einem Wüstenfuchsfell zu greifen. Beim Abschaben des Fleisches war die Haut in Mitleidenschaft gezogen worden und der Rest der Haut war runzlig, was darauf schließen ließ, dass es keine Möglichkeit gegeben hatte, das Fell zum Trocknen straff aufzuspannen. Über seine Schulter blickte der Reiter zurück zu Sting und Minerva. „Und sie war ganz sicher jünger als ihr?“ „So sah es zumindest aus“, erwiderte Minerva. „Erstaunlich…“ „Unmöglich trifft es eher“, meldete Elias sich zu Wort und deutete auf die Tierschädel. „Die nächsten Oasen mit Datteln sind selbst mit einem Basilisken oder Sandschlitten zwei bis drei Tagesreisen von hier entfernt, von Oliven- und Nusshainen ganz zu schweigen. Unvorstellbar, dass dieses Kind alleine diese Entfernungen zurücklegen kann.“ „Sie hat es offensichtlich dennoch geschafft“, merkte Minerva spitz an, wofür Elias ihr einen entnervten Blick zuwarf. „Wahrscheinlich wird sie hier versteckt gehalten und von Erwachsenen versorgt. Vielleicht eine Grünländer-Angelegenheit. Wir sollten einfach aufbrechen, sobald der Sturm endgültig vorbei ist.“ „Was soll das für eine Angelegenheit sein? Wir sind hier viel zu weit von Sabertooth oder Jadestadt entfernt. Sogar die Zuflucht ist zu weit weg“, argumentierte Minerva. „Sie ist ganz alleine hier. Wir sollten ihr Hilfe anbieten.“ „Sie ist keine von uns.“ „Sie ist ein Kind, Elias…“ „Wie oft will man dieses Argument eigentlich noch verwenden? Wir haben deswegen sogar schon Dämonen in der Zuflucht!“ „Mummy hat die Verantwortung dafür übernommen.“ „Was nützt uns das, wenn diese Kinder irgendwann ihrer wahren Natur folgen?“ Normalerweise war das eine Diskussion, bei der Sting sich lautstark einmischte. Auch wenn er genau wie alle anderen Kinder aus der Debatte vor drei Monden ausgeschlossen worden war, hatte er doch mitbekommen, dass viele dagegen gewesen waren, die Säuglinge aufzunehmen. Schon oft hatte er nach dem Grund dafür gefragt, aber hier und jetzt wurde seine Aufmerksamkeit von etwas anderem gefesselt. Er ließ die Anderen einfach stehen und folgte mit seiner Öllampe einer Wand, auf der sich weitere Bilder befanden. Immer wieder tauchte dieses merkwürdige Gefährt im Wasser auf. Darauf waren Menschen und Vögel flogen drum herum. Anscheinend hatte das Mädchen mit der Zeit mehr Übung bekommen, denn die Bilder wurden besser, je weiter Sting kam. Sie zeigten Details, mit denen er nichts anfangen konnte, Stangenkonstruktionen, die das Segel hielten – ja, es war ein Segel, die Ähnlichkeit zu den Sandschlitten war irgendwann gut genug zu erkennen. Aber welcher Sandschlitten wäre jemals auf dem Wasser gefahren? Und wo gab es überhaupt so viel Wasser? Schließlich kam ein Bild, auf dem das Gefährt kaputt zu sein schien. Die Stangen mit dem Segel lagen im Wasser und um das Gefährt herum waren Menschen im Wasser, das Wellen schlug, die höher als das Gefährt aufragten. Im hinteren Teil des Wasserschlittens, wie Sting ihn in Ermangelung eines passenden Wortes nannte, gab es ein winziges Rad, an dem eine weitere Menschengestalt stand, bei der lange Haare angedeutet waren. Während um sie herum die Menschen ins Wasser sprangen oder fielen, blieb sie dort stehen. Obwohl er die Details nicht verstand, wurde Sting doch flau im Magen. Als er weiter ging, änderte sich die Szenerie. Zuerst sah es für Sting nach einer normalen Karawane aus. Davon hatte er bereits Abbildungen in der Lerngrotte gesehen. So hatten die Wüstennomaden auch mal angefangen, als sie sich noch nicht der Gefahr durch die Basilisken und Golems bewusst gewesen waren. Doch als Sting genauer hin sah, wunderte er sich, warum die Gestalten, die nicht auf den vereinfacht dargestellten Kamelen saßen, aneinander gekettet waren… Was auch immer es damit auf sich haben mochte, die Karawane wurde in der nächsten Darstellung von einem Basilisken angegriffen. Obwohl das Mädchen kein Geschick bei der Darstellung von Menschen und Kamelen hatte, war es beim Basilisken umso besser. Angefangen bei der gegabelten Schwanzspitze über den zackigen Rückenkamm bis hin zu dem riesigen Maul mit den unregelmäßigen Zähnen und dem Gift spritzenden Rachen – es spiegelte die überwältigende Macht der Sandschlange nur allzu deutlich wieder. Im nächsten Bild stand eine winzige Menschengestalt alleine auf einer Düne. Ganz und gar alleine… Unwillkürlich blickte Sting zurück zu Minerva, die mit finsterer Miene zwischen den beiden ausgebildeten Reitern stand und deren anhaltendem Disput lauschte. Er musste daran denken, wie sie in ihrer ersten Zeit bei den Wüstennomaden immer irgendwo alleine gesessen hatte. So alleine wie dieses Mädchen. Ausgesetzt inmitten einer fremden Welt… Abrupt wandte Sting sich von den Anderen ab und folgte mit erhobener Öllampe dem engen Tunnel. Ihm fiel auf, dass nach dem Bild von dem Menschen in der Wüste nichts mehr kam. Als hätte das Mädchen nach diesem Bild nichts mehr zu erzählen gehabt. Als wäre das Bild vom Mädchen alleine in der Wüste das Ende der Geschichte. Eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn erschrocken herum fahren. Er verschüttete Öl auf dem Stein, aber zum Glück fiel ihm die Lampe nicht herunter. Vor ihm stand Minerva, ihr Blick aufmerksam und verständnisvoll. Im Hintergrund diskutierten Adrim und Elias immer noch ungewöhnlich hitzig. „Was willst du tun?“, fragte Minerva mit gedämpfter Stimme und deutete den Tunnel entlang, welchem Sting gefolgt war. „Willst du sie suchen?“ Wollte er? Sting versuchte, richtig darüber nachzudenken. Er kannte dieses Mädchen nicht, wusste nicht, was hinter den Bildern steckte, hatte keine Ahnung, ob das Kind überhaupt seine Sprache verstand. Es war ein Fremdling und misstrauisch noch dazu – und es kam offensichtlich erstaunlich gut alleine in der Wüste zurecht. Dennoch… „Sie ist alleine“, murmelte Sting und blickte Minerva fest in die Augen. Zu seiner Freude fand er keine Ablehnung in ihren olivgrünen Augen. Im Gegenteil. Wieder drückte sie seine Schulter. „Dann lass’ sie uns suchen. Wenn Adrim und Elias irgendwann aufhören mit diskutieren, müssen sie sich erst einmal miteinander versöhnen. Die Zeit sollten wir nutzen.“ Ein erleichtertes Grinsen breitete sich auf Stings Gesicht aus, als er sich wieder herum drehte und nun gemeinsam mit seiner Freundin weiter dem Tunnel folgte. Es war für ihn genauso unerklärlich wie seine damalige Faszination für Minerva, aber er spürte tief in sich drin, dass er diesem Mädchen helfen wollte, das ihm mit einer Wasserknolle eine Beule beschert hatte. Er hatte Minerva damals nicht alleine gelassen und dieses Mädchen würde er auch nicht alleine lassen! Müde kauerte das Mädchen sich in einem viel zu engen Spalt zusammen, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, die Stirn gegen die Knie gedrückt. Es hatte Hunger und Durst, aber es traute sich nicht, eine der Wasserknollen anzuschneiden, um das kostbare Nass aus dem Fruchtfleisch heraus zu nuckeln. Es musste aufpassen. Die Menschen hatten die Höhle gefunden. Vielleicht würden sie die Felle und Vorräte mitnehmen. Vage erinnerte das Mädchen sich, dass es Namen dafür gab, wenn Menschen so etwas taten. Diebstahl oder Raub oder Plünderung. Jemand hatte mal davon erzählt, wie schlecht solch ein Verhalten war. Es gab sogar Regeln, die das verboten – wer auch immer sie gemacht hatte. Aber das Mädchen hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass sich das Leben nicht an Regeln hielt. Es bedeutete nichts. Mittlerweile wusste das Mädchen, wie man das Fleisch am besten von den Fellen bekam. Es kannte die nächstgelegenen Oasen, es fand Wasserknollen schneller, es konnte besser jagen. Ja, es würde die Verluste schnell ausgleichen können, sobald es sich ein neues Versteck gesucht hatte. Es gab andere Steininseln, die geeignet waren. Diese hier bedeutete nichts weiter. Nichts hier bedeutete irgendetwas. Wichtig war nur, dass das Mädchen seine Freiheit behielt… „Hallo?!“ Der Ruf hallte unangenehm laut durch das brüchige Höhlensystem, das lange Zeit stumm geblieben war. Schritte näherten sich, tappten ungeschickt herum und stießen dabei immer wieder gegen lose Steine. „Bist du hier?“ Es war der Junge, erkannte das Mädchen. Der, dem es eine seiner kostbaren Wasserknollen gegen den Kopf geworfen hatte. Seine Stimme schwankte merkwürdig, war mal hoch und dann wieder tiefer, knirschte und kratzte zuweilen vor Heiserkeit. Ungeachtet dessen sprach der Junge weiter: „Du versteckst dich hier irgendwo, nicht wahr? Es tut uns Leid, dass wir dich erschreckt haben. Das wollten wir nicht. Komm’ doch raus. Wir haben Wasser für dich.“ Zitternd zog das Mädchen sich noch tiefer in den Spalt zurück, als sich ihm Licht näherte. Feuer! Wann hatte es das letzte Mal Feuer gesehen? Es hatte keine Ahnung, wie man Feuer machte. Es hatte lernen müssen, ohne auszukommen. Der Schein der Lampe genügte nicht, um den Spalt auszuleuchten, dennoch hatte das Kind furchtbare Angst, als der Junge nicht einmal drei Schrittlängen entfernt wieder stehen blieb. Er hatte die Stirn gerunzelt, während seine Augen die Umgebung absuchten. Seine Augen wirkten beim unsteten Licht der Lampe einfach nur dunkel, aber deutlich zu erkennen war die Farbe seiner Haare. Sie erinnerten an die Sonne, strahlend hell. Aus irgendeinem Grund passte das sehr gut zu dem Jungen. „Sting, hast du etwas gefunden?“ Die zweite Stimme ließ das versteckte Mädchen zusammen zucken. Es hatte sich so sehr auf den Jungen konzentriert, dass es das zweite Schrittpaar nicht gehört hatte. Jetzt trat ein Mädchen zu dem Jungen. Es überragte ihn um ein oder zwei Fingerbreiten und hatte pechschwarze Haare, die zu einem langen Zopf geflochten waren. Es wirkte schroffer, grober, erinnerte das Kind an jemanden aus der Vergangenheit, an dem es schon sehr lange nicht mehr gedacht hatte. „Noch nicht. Streiten Elias und Adrim immer noch?“ „Ich glaube schon, auch wenn sie’s jetzt auf andere Art tun. Sie reden nicht mehr miteinander. Elias hat sich in eine andere Höhle zurück gezogen.“ „Die machen es sich ganz schön kompliziert“, schnaufte der Junge. Zur Antwort zuckte seine Begleiterin mit den schlaksigen Schultern. „Die werden sich schon wieder vertragen. Die sind wie ein altes Ehepaar.“ „Das verstehe ich immer noch nicht“, murmelte der Junge. „Wozu soll die Ehe gut sein?“ „Nicht jeder will jede Nacht mit einem anderen Partner verbringen. Siehst du doch bei den Beiden. Adrim hat sogar Selim abgewiesen und du weißt, wie beliebt der ist.“ „Dabei wäre es doch nur ein bisschen Spaß gewesen.“ Das Mädchen schnaubte abfällig. „Als ob du so viel Ahnung davon hättest.“ Beleidigt schob der Junge die Lippen vor, sagte jedoch nichts weiter, sondern verlegte sich wieder darauf, seine Umgebung abzusuchen. In seinem Versteck fragte das Mädchen sich, wovon die Beiden gesprochen hatten. Es lebte schon so lange alleine, dass es nichts mehr davon verstand, wie Menschen miteinander interagierten. Die Worte der Schwarzhaarigen hatten jedenfalls sehr bösartig geklungen, aber irgendwie auch wieder nicht. Sie grinste den Jungen frech an und auch wenn der so tat, als wäre er beleidigt, entfernte er sich nicht von ihr. Ganz im Gegenteil, sie standen vertrauensvoll dicht nebeneinander. Vertrauen. Wann hatte das Mädchen zuletzt einem Menschen vertraut? Wenn es an Menschen dachte, kamen ihm immer zuerst seine jüngsten Erfahrungen mit Menschen in Erinnerung. Und selbst diese lagen so lange zurück… „Sting, ich denke, wir sollten aufhören.“ „Was?! Aber-“ Bevor der Junge richtig aufbrausen konnte, schlug seine Freundin ihm auf den Hinterkopf. „Ich sage nicht, dass wir aufgeben sollen, du Dattelkopf. Denk’ nach: Sie kennt sich hier viel besser aus als wir und du trampelst wie ein Ochse durch die Höhlen.“ „Gar nicht wahr“, schmollte der Junge. „Du weißt doch nicht einmal, was ein Ochse ist.“ „Wenn du schon so fies davon sprichst, ist es garantiert nichts Gutes.“ Zur Antwort grinste die Schwarzhaarige fies, ehe ihre Miene wieder ernst wurde. „Lass’ uns bei der Schlafhöhle warten. Vielleicht kommt sie zu uns, wenn wir ihr nicht das Gefühl geben, sie zu jagen.“ „Und wenn sie einfach weg geht? Der Sturm ist fast vorbei.“ Nachdenklich legte die Schwarzhaarige den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite. „Ich glaube, sie wird uns eine Chance geben.“ Verwirrt runzelte der Junge die Stirn. „Wie meinst du das?“ Ratlos zuckte das Mädchen mit den Schultern. „Nur so ein Gefühl.“ Aus irgendeinem Grund schien diese Erklärung dem Jungen zu genügen. Er nahm ein kleines Säckchen von seinem Gürtel und legte es auf den Boden, dann folgte er seiner Freundin den Tunnel zurück. Als er über einen Stein stolperte, fluchte er leise, während das Mädchen gehässig kicherte. Daraufhin stieß er sie mit dem Ellenbogen an. Sie stieß zurück. Er wich aus. Danach waren sie nicht mehr zu sehen. So leise, wie es nur konnte, kroch das Mädchen aus seinem Versteck und lauschte dabei den Plänkeleien der beiden Kinder, die sich immer weiter entfernten. Zigfach vergewisserte es sich, dass es tatsächlich alleine war, dann glitt es durch den Spalt und ging davor in die Hocke. Zögerlich streckte es die Finger nach dem Säckchen aus, eine Hand auf das Messer gelegt, welches es an dem Strick trug, der seine zerlumpten Hosen festhielt. Erst in der Sicherheit seines Verstecks traute es sich, in das Säckchen hinein zu fassen. Ein dezenter süßer Geruch schlug ihm entgegen und er zog einen lederartigen, platten Ring hervor. Es dauerte einige Herzschläge, bis dem Mädchen der Name dafür einfiel. Apfelringe. Eine seltene Nascherei aus alten Tagen… Zaghaft führte das Mädchen das getrocknete Obststück zum Mund und nahm einen winzigen Bissen. Der Geschmack erinnerte es an seine Mutter, an zärtliche Gesten, an Umarmungen und Wärme und an… Vertrauen. Leise schniefend wischte es sich übers Gesicht und steckte sich den gesamten Apfelring in den Mund, ehe es gleich den nächsten aus dem Säckchen heraus holte. Ein unsanfter Rippenstoß riss Sting aus seinen Dämmerzustand und ließ ihn den Kopf von Minervas Schulter nehmen. Wann hatte er eigentlich seinen Kopf gegen ihre Schulter gelehnt? Wie lange saßen sie hier eigentlich schon neben der winzigen Wohnhöhle und warteten? Er wollte sich bei Minerva über ihre Weckmethode beschweren, aber sie hielt ihm den Mund zu und ruckte dann mit dem Kopf in die Richtung des breiteren Tunnels, der zu der Höhle führte. Da das Öl der Lampe fast aufgebraucht war, hatte Minerva den Docht gekürzt, was zur Folge hatte, dass nur noch ein Umkreis von vielleicht zwei Schrittlängen beschienen wurde. Jenseits dessen konnte Sting nichts weiter erkennen, weshalb er den Kopf schräg legte und lauschte. Schließlich konnte er ein ganz leises Tappen hören. Viel zu leise, als dass es von Adrim oder Elias stammen könnte, zumal keiner der Beiden einen Grund hatte, jetzt schon hierher zu kommen. Draußen hatte der Sturm vor einer Weile auf einmal wieder an Kraft gewonnen. An einen Aufbruch war noch lange nicht zu denken. Neben sich spürte Sting Minervas Anspannung und ganz unwillkürlich beugte er sich selbst etwas weiter vor und versuchte angestrengt, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Dennoch kam es für ihn völlig überraschend, als das Mädchen knapp außerhalb des Lichtscheins auftauchte. Aus der Nähe sah es noch schlimmer aus. Es war kaum mehr als Haut und Knochen, seine dreckigen Haare waren unordentlich gestutzt worden – nicht dass Sting glaubte, er könnte sich selbst die Haare besser schneiden. Die Tunika und die Hose waren unzumutbare Lumpen. Zum wiederholten Mal fragte Sting sich, wie dieses Mädchen es geschafft hatte, so lange alleine zu überleben – denn dass es schon länger als nur ein paar Mondumläufe in der Wüste lebte, stand wohl außer Frage. Stings Blick fiel auf ein Messer, welches das Mädchen an der Hüfte trug. Die Schneide war unregelmäßig abgehauen worden, teilweise schartig und sogar brüchig, ganz offensichtlich nicht die Arbeit eines kundigen Waffenherstellers – und dennoch eine respekteinflößende Waffe. Schon allein aufgrund der Tatsache, dass es aus einem Basilikenzahn bestand. Selbst für Reiter mit vielen Zyklen Erfahrungen war es so gut wie unmöglich, an einen intakten Basiliskenzahn heran zu kommen. Einem lebenden Basilisken konnte man die Zähne nicht entfernen, nicht einmal einem Schlüpfling. Die Giftkonzentration im Speichel, der auch die Zähne tränkte, war zu gefährlich, ätzte sich selbst durch dicke Lederhandschuhe. Immerhin konnten schon winzige Tropfen Basiliskengift fürchterliche Narben hinterlassen. Die Zähne toter Basilisken waren durch eben jenes Gift meist schon zu porös, weil Basilisken aus einem Instinkt heraus mit ihrem letzten Atemzug noch mal eine besonders hohe Dosis Gift in ihrem Rachen sammelten. Die einzige Gelegenheit war im Grund der regelmäßige Zahnwechsel der Sandschlangen, aber die meisten dieser Zähne wurden von den Drachenartigen selbst verschluckt und die wenigen, die ausgespuckt wurden, wurden nur allzu schnell vom Wüstensand vergraben. Solch einen Zahn zu finden, war der reinste Glücksfall. Als das Mädchen ein Krächzen ausstieß, richtete Sting seine Aufmerksamkeit wieder auf das schmale, hohlwangige Gesicht. Die braunen Augen huschten hin und her und die ausgetrockneten Lippen zitterten. Mehrere Herzschläge lang schien das Kind um Worte zu ringen, dann riss es die rechte Hand hoch, in der es das Säckchen mit den Apfelringen hielt, und würgte ein kaum verständliches Danke hervor. Hastig beugte es sich vor und ließ das Geschenk vor Stings und Minervas Füßen zu Boden fallen, ehe es sich wieder in sicherem Abstand hinkauerte. Angesichts des schlankeren Inhalts stand außer Frage, dass das Mädchen sich tatsächlich an den Apfelringen bedient hatte. Ein strahlendes Lächeln bereitete sich auf Stings Gesicht aus und er beugte sich aufgeregt nach vorn. „Dafür brauchst du nicht zu danken! Freut mich, dass sie dir geschmeckt haben!“ Das Mädchen zuckte wieder zurück und Sting brauchte nicht Minervas Rippenstoß, um zu begreifen, dass er zu laut gesprochen hatte. Dennoch knurrte er unwillig, als Minerva ihn zurück an die Wand zog, ehe sie das Wort ergriff. „Tut mir Leid, dieser Dattelkopf hat dich wahrscheinlich erschreckt, oder? Das ist seine Spezialität, aber er ist harmlos, versprochen.“ Obwohl die Worte alles andere als schmeichelhaft für seine eigene Person waren, staunte Sting doch eher über Minervas Tonfall. Er war es gewohnt, dass sie sehr brüsk mit ihrer Meinung umging. Selbst gegenüber Erwachsenen bemühte sie sich selten um einen respektvollen Tonfall. Ihr Stolz verlangte wohl von ihr, so auf die Leute zu reagieren, wie sie sich ihr gegenüber verhielten. Aber hier und jetzt klang sie sehr sanft und ruhig, beinahe schon schwesterlich. Dass Minerva zu derartigen Zügen in der Lage war, wusste Sting, er hatte die feinen, kleinen Anzeichen zu erkennen gelernt. Doch es überraschte ihn, dass sie diese Seite ausgerechnet gegenüber einer Fremden so bloßlegte. Vielleicht lag es daran, weil dieses Mädchen keine Fremde war. Nicht für Minerva und auch nicht für Sting. Zumindest fühlte es sich nicht so für den Jungen an. „Ich bin Minerva“, fuhr sie leise fort und streckte vorsichtig eine Hand aus, die leere Handfläche demonstrativ nach oben gerichtet. „Und ich bin Sting“, flüsterte Sting und legte seine Hand mit nach oben gerichteter Handfläche auf Minervas. Das Mädchen streckte beinahe sofort eine Hand aus, zog sie jedoch fast genauso schnell wieder zurück, als wäre es über seine eigene Waghalsigkeit erschrocken. Unruhig verlagerte es sein Gewicht von einem nackten Fuß auf den anderen, während sein Blick zwischen den beiden älteren Kindern hin und her huschte und seine Hände sich immer wieder zu Fäusten schlossen und dann wieder öffneten. Schließlich kroch es eine Fußlänge nach vorn, streckte wieder die Hand aus, zog sie wieder zurück. Sting zwang sich, ruhig zu bleiben und einfach nur in die Augen des Mädchens zu blicken, sobald das mal möglich war. Als sich schließlich eine winzige, zitternde Hand in seine legte, machte sein Herz einen freudigen Hüpfer. Neben ihm bewegte Minerva ganz behutsam ihre Hand, bis sie die des Mädchens abdeckte. So als würden sie und Sting die Jüngere umhüllen und beschützen. Selten zuvor hatte sich ein Gedanke für Sting so richtig angefühlt wie dieser. Und mit jedem Herzschlag ließ das Zittern der mageren Finger nach und das Mädchen traute sich endlich, richtigen Blickkontakt herzustellen. Dann öffnete es die Lippen und krächzte ein einziges Wort. Es schien ihm schwer von der Zunge zu gehen – wer wusste, wie lange es schon nicht mehr gesprochen hatte? – und war beim ersten Mal vollkommen unverständlich. Unzufrieden mit diesem Misserfolg kaute es sich auf der Unterlippe herum. Sting spürte mehr, als dass er es sah, wie Minervas Finger sich ganz zwar um die des Mädchens schlossen, und er imitierte die Geste. Das schien der Jüngeren genug Mut einzuflößen, es ein zweites Mal zu versuchen. Es war immer noch ein heiseres Krächzen, aber dieses Mal war für Sting vollkommen klar, dass es der Name seiner neuen Freundin war: „Yukino.“ Kapitel 7: Die besorgten Lehrer ------------------------------- Als Minerva den Teppich anhob, der den Zugang zur Kinderhöhle bedeckte, kam ihr der scharfe Geruch von Schweiß und männlichem Samen entgegen. Bis auf dem Feuer im Zentrum der Höhle waren alle Lichter gelöscht worden, aber ein lautes, zweistimmiges Stöhnen lenkte Minervas Blick auf genau die Schlafnische, mit der sie schon gerechnet hatte. Zwei schlanke Körper waren dort zu erkennen, über einander gekauert und offensichtlich zitternd vor Erregung. Obwohl die Stellungen anderes vermuten lassen würden, war die Person, die unten lag, eindeutig fordernder und gab das Tempo vor. Wenn sie nicht unterbrochen würden, könnte sich dieses Spiel noch eine Weile hinziehen. Mit einem Augenrollen zog Minerva eines ihrer Rebmesser aus der Gürtelschlaufe und schlug mit dem Knauf gegen den Stein neben ihr, um einen lauten, hellen Ton zu erzeugen, der ihr sofort die Aufmerksamkeit der beiden Gestalten sicher stellte. „Sting, beeil’ dich, wir wollen bald los.“ „Verschwinde, Grünländerin!“, grollte eine aggressive Stimme, die Minerva sehr bekannt vorkam. Skeptisch zog sie die Augenbrauen in die Höhe. „Halt’ die Klappe“, fauchte Sting und stemmte sich trotz des größeren Körpergewichts des Älteren in die Höhe, um den Kopf aus der Schlafnische heraus zu strecken. Selbst unter den schwachen Lichtbedingungen war sein Grinsen nicht zu übersehen. „Geh’ schon mal vor, Nerva, ich bin gleich da.“ Schnaubend drehte sie sich wieder herum und hob den Teppich an. „Überanstreng’ dich nicht.“ Lachend zog Sting den Kopf wieder in die Schlafnische und drängte sich wieder gegen seinen Partner, so fest und hart, dass dessen Protestlaut in einem lauten Stöhnen unterging. Kommentarlos verließ Minerva die Höhle wieder und folgte dem Gang zurück zum Tageslicht. Im Inneren Kreis herrschte die übliche Geschäftigkeit. Eine kleine Gruppe Kinder von vielleicht fünf oder sechs Dürren prügelte mit stoffumwickelten Übungssäbeln blindwütig aufeinander ein, beiläufig überwacht von den Erwachsenen in ihrer Nähe. Kein Lehrer stand daneben. Richtigen Unterricht erhielten die Kinder erst mit acht Dürren, vorher ließ man ihnen ihren Spaß. Das Gelächter und Geschrei der Kinder hallte im Steinrund wieder, aber niemand störte sich daran. Die Frauen und Männer an den Kochfeuern und beim Teppichknüpfen gingen ungerührt ihrer Arbeit nach. Eine Frau saß mit entblößten Brüsten am Rand und stillte ihr Kind. Ein anderer Säugling krabbelte nach Herzenslust zwischen den Felsen herum und wurde nur von Erwachsenen umgeleitet, wenn er in die Nähe der Kochfeuer zu geraten drohte. Es war nicht einmal klar, wer die Mutter oder der Vater des Kindes war. In einem ruhigeren Winkel des Inneren Kreises entdeckte Minerva Yukino. In den vier Dürren, seit Yukino sich ihnen angeschlossen hatte, hatte sie sich in so mancher Hinsicht verändert. Obwohl immer noch sehr zierlich, war sie nicht mehr so mager wie damals. Langsam deuteten sich bei ihr sogar zarte, weibliche Rundungen an, die ihr bereits die Aufmerksamkeit einiger Jugendlicher einbrachte. Sie trug Pluderhosen, Tunika und Tagelmust nach Art der Wüstennomaden, aber sie verzichtete auf die geschmeidigen Lederstiefel und blieb barfuß – eine Angewohnheit, die oft schief beäugt wurde, aber Fakt blieb, dass Yukino besser klettern konnte als jeder andere hier und dass sie trotz der zwei Dürren Altersunterschied bereits eine genauso geschickte Reiterin wie Sting und Minerva war. Während Sting seine scharfen Instinkte und Minerva ihre hart trainierte Technik hatten, war Yukinos Vorteil die Erfahrung, die sie während ihrer Zeit alleine in der Stillen Wüste gesammelt hatte. Bei Yukino waren Aki und Toraan. Die beiden Dämonenkinder waren jetzt fast fünf Dürren alt, hatten aber noch kaum Kontrolle über ihre Fähigkeiten – ein Grund mehr, warum es immer noch Stimmen gab, die dafür plädierten, sie auszusetzen. Im Moment befand sich Aki in seiner Wolfsform. Er reichte Yukino fast bis zur Hüfte, aber seine Pfoten waren noch viel zu groß für seinen Körper. Zwischen dem struppigen Fell am Kopf wuchsen zwei noch winzige Hörner heraus. In einer von Meister Gran Domas Schriftrollen hatte Minerva mal gelesen, dass ausgewachsene Wolfsdämonen in ihrer tierischen Form zwischen anderthalb und zwei Mannslängen groß werden konnten. Aki hatte also noch einen langen Weg vor sich und wenn man sich so ansah, wie er immer wieder über seine eigenen Pfoten stolperte und ins Leere schnappte, wenn er eigentlich versuchte, die von Yukino geworfenen Stöckchen zu fangen, wirkte er tatsächlich noch wie ein Welpe. Seine Rute wedelte wie verrückt, wann immer er es schaffte, ein Stöckchen zu fangen. Toraan neben Yukino klatschte dabei jedes Mal laut mit den Händchen und der Sand umwirbelte dann immer ihre nackten Füße. Aki war der Erste, der Minerva bemerkte. Mit einem aufgeregten Kläffen galoppierte er auf sie zu, stoppte jedoch zu spät und krachte mit beeindruckender Kraft gegen ihre Beine. Beherzt griff Minerva in das dichte Nackenfell des Dämons, um ihn auf die Beine zu ziehen. „Pass’ auf, wie schnell du läufst“, mahnte sie mit einem Zungenschnalzen. Zur Antwort kläffte Aki wieder nur, schüttelte ihre Hand ab und galoppierte zurück zu Yukino. Unterwegs machte er mehrere lustige Bocksprünge und dann fiel ihm ganz plötzlich ein, dass er seine Rute jagen wollte. Kopf schüttelnd folgte Minerva ihm und ignorierte den Schmerz an ihren Beinen. Das würden wahrscheinlich blaue Flecken werden, aber wer sich von Sting zu allen möglichen Waghalsigkeiten anstacheln ließ, war sowieso schon bei so etwas abgehärtet. Außerdem wollte Minerva den Wüstennomaden, die den Zusammenprall beobachtet hatten, nicht die Genugtuung geben, einen weiteren Vorwand zu haben, Aki etwas vorwerfen zu können. „Wie lange ist Aki schon in seiner Wolfsform?“, wandte sie sich fragend an Yukino. „Seit dem Morgen“, antwortete die und hob den Blick zur Sonne, die beinahe im Zenit stand. „Dann dürfte er wohl bald müde genug sein“, stellte Minerva fest. Protestierend jaulte Aki und kratzte sich dann so heftig hinterm Ohr, dass er auf die Seite fiel. Toraan lachte vergnügt und vor ihr schoss eine kleine Sandfontäne in die Luft. Leise kicherte Yukino in sich hinein, ehe sie wieder zu Minerva aufblickte. „Mummy müsste bald da sein.“ „Es eilt nicht“, erwiderte Minerva gedehnt. „Sting ist auch noch beschäftigt.“ „Was macht er denn?“, piepste Toraan und blickte neugierig zwischen ihnen hin und her. „Ich hatte ein wenig Spaß“, lachte es hinter Minerva. Als sie sich herum drehte, stand der Blonde vor ihr und band gerade seinen Kordelgürtel richtig. Seine Wangen waren von der Anstrengung noch erhitzt, aber er grinste schamlos, während er sich durch die Haare fuhr, um sie in Form zu bringen. „Das ging ja schnell“, stellte Minerva trocken fest. „Man muss nur wissen, wie’s geht“, war die erhabene Antwort. „Schon klar, aber wie bist du auf die Idee gekommen, mit Loirg das Lager zu teilen?“ Ungerührt zuckte Sting mit den Schultern. „Hatte sich halt so angeboten. Er ist wohl frustriert, weil Zara schon wieder schwanger ist und er nicht ran darf.“ Minerva schnaubte leise. Dass Loirg, der sich seit sechs Dürren eine Höhle mit Zara teilte, sich jedes Mal wie ein tollwütiger Schakal verhielt, sobald seine Partnerin wieder freudiger Erwartung war, war nichts Neues. Vielleicht frustrierte es ihn doch, dass zwei seiner drei Höhlenkinder offensichtlich nicht von ihm sondern von anderen Männern waren, jedenfalls nahm er alles, was er kriegen konnte. Bevorzugt Frauen, aber Stings starke Anziehungskraft schien auch auf ihn zu wirken. „War allerdings nicht sehr befriedigend, kann ich dir nicht empfehlen“, urteilte Sting und deutete zur Unterstreichung ein Gähnen an. Da das Thema für Sting bereits erledigt zu sein schien, bückte er sich, um eines der Stöckchen aufzuheben, die Aki wieder angeschleppt hatte, und für den Welpen zu werfen. Der machte einen spektakulären Sprung und fing das Holz auf, unterschätzte dabei jedoch die Kraft seines eigenen Kiefers und zermalmte das Stück. Verdutzt landete er auf allen Vieren und drehte sich zu den Anderen herum. Lachend trabte Sting zu dem Dämon hinüber, um ihm einen dicken Stock für ein Zerrspiel anzubieten. Minerva setzte sich neben Yukino in den Sand, um die Beiden zu beobachten, und dachte dabei an Stings Worte. Es hatte sich vorhin nicht so angehört, als hätte Sting keinen Gefallen am Beischlaf mit Loirg gehabt, und nach allem, was Minerva bereits vom Höhlengeflüster gehört hatte, traf der Ältere mit seiner harten, gierigen Art Stings Partnergeschmack ziemlich gut. Aber Loirg war nicht der Erste, den Sting abgeschoben hatte, nachdem er Minerva beleidigt hatte. Sie wusste nicht, wie sie das ansprechen sollte. Dass Sting sie über alle Anderen stellte und es sich ihretwegen immer wieder mit potenziellen Partnern verscherzte, rührte sie, aber gleichzeitig fragte sie sich, ob sie das verdient hatte. Was machte es schon, wie einige der Wüstennomaden noch immer mit ihr umgingen? In der nächsten Dürre würde die Reiterinitiation stattfinden, an der auch Minerva endlich teilnehmen durfte. Danach würde sie sich auf den Weg nach Sabertooth machen. Danach würde sie mit den Wüstennomaden nicht mehr viel zu tun haben. Sting sollte es sich ihretwegen nicht mit seinem Volk verscherzen… Yukinos zierliche Hand auf ihrem Bein ließ sie aufblicken. Die großen, braunen Augen musterten sie aufmerksam. Um die schmalen Lippen spielte ein verständnisvolles Lächeln. Ganz unwillkürlich legte Minerva ihre Hand auf Yukinos und drückte diese sachte. Obwohl die Umstände jeweils vollkommen anders waren, steckten sie hier in der Zuflucht in derselben Situation. Sie waren Beide Fremdlinge in den Augen der Wüstennomaden. Bei vielen mochten sie sich mit ihren herausragenden Fähigkeiten als Reiterinnen Respekt verdient haben, aber es gab auch genug Männer und Frauen, die sie Beide immer noch als Grünländer sahen und es wohl auch immer tun würden. Der Einzige, der sich nie darum gekümmert und immer zu ihnen gehalten hatte, war Sting. Sie hatten keine Chance gehabt, sich das in irgendeiner Form zu verdienen, Sting hatte ihnen seine bedingungslose Treue einfach geschenkt. Sowohl vor acht Zyklen bei Minerva als auch vor vier Zyklen bei Yukino war es für ihn vollkommen selbstverständlich gewesen. Weil er schon viel früher als sie Beide etwas gewusst hatte, was ihnen keiner je hätte beibringen können. Nachdenklich grub Minerva ihre freie Hand in den Sand und ließ ihn langsam wieder zu Boden rieseln. Ihr war es wirklich erst vor einem Zyklus richtig klar geworden, als sie in Meister Gran Domas Höhle eine Schriftrolle studiert hatte, in der erklärt worden war, war es bedeutete, vom selben Sand zu sein. Als sie Sting und Yukino davon erzählt hatte, hatte Sting sie nur angesehen, als hätte sie ihm gesagt, dass es in der Wüste Sand gäbe. „Mummy!“ Neben Yukino sprang Toraan auf die Beine und rannte zum Nordgang hinüber, aus welchem eine Gruppe Jäger trat. Mit einem jubelnden Kläffen überholte Aki das Mädchen und erreichte vor ihm die hochgewachsene, blonde Jägerin, die ihre Beute mit beiden Händen festhalten musste, als der Wolf gegen ihre Beine krachte. Ihres Tadels zum Trotz sprang er danach hechelnd um sie herum. Mitten in einem Sprung verwandelte er sich in seine menschliche Form. Ohne sich seiner Nacktheit zu stören, plapperte er munter drauflos und fragte seine Ziehmutter nach ihren Erlebnissen während ihres Jagdausflugs aus. Vor Minerva und Yukino baute sich Sting auf. „Also können wir gehen, oder?“ In seinen blauen Augen spiegelten sich Aufregung und Neugierde wieder. Bevor sie sich in die Höhe stemmte, atmete Yukino tief durch. Minerva bemerkte, wie ihre Hand nach der kleinen Ledertasche tastete, die sie neben ihren Waffen und dem Wasserschlauch an ihrem Kordelgürtel trug. Was sich darin befand, wusste Minerva nicht, aber sie hatte auch nie danach gefragt. Sie hatte nur gewusst, dass es Yukino wichtig war und dass es damit zusammenhing, warum sie in den letzten vier Zyklen immer wieder mal für einen oder zwei Tage verschwunden war. Obwohl sie Yukino nie dazu gedrängt hätte, war sie jetzt doch froh, dass die Jüngere ihr und Sting dieses Geheimnis endlich anvertrauen wollte. Gemeinsam machten sie sich auf dem Weg zum Nordgang. Auf dem Weg dorthin zauste Sting die Haare der beiden Dämonenkinder, die Mummy mittlerweile lange genug angebettelt hatten, um von ihr hoch gehoben zu werden. Jauchzend wedelte Aki mit den Armen und betrachtete die Welt von oben, während Toraan sich vertrauensvoll an Mummys Hals klammerte. „Danke, dass ihr auf sie aufgepasst habt“, sagte Mummy und nickte den drei Jugendlichen zu. „Machen wir gerne“, winkte Yukino lächelnd ab und strich zum Abschied sanft über Toraans Haare. „Passt gut auf euch auf“, rief Mummy ihnen noch hinterher. Zur Antwort winkte Sting nachlässig, ehe er breit grinsend die Arme hinter dem Kopf verschränkte. Es war offensichtlich, dass er den Ausflug alleine in die Wüste auf die leichte Schulter nahm, aber wenn Minerva ehrlich war, sah sie genauso wenig ein Problem darin. Elias weigerte sich zwar immer noch, es anzuerkennen, aber sie hatten alle Drei bereits alles über das Basiliskenreiten gelernt, was man ihnen durch Erklärungen überhaupt beibringen konnte. Und selbst wenn einem von ihnen noch ein Fehler unterlaufen sollte, waren ja noch die anderen Beiden da, um zur Hilfe zu kommen. Das war für Minerva so sicher wie nichts anderes auf der Welt – und deshalb gab es für sie nicht den geringsten Grund, Sting und Yukino nicht hinaus in die offene Wüste zu folgen. „Sie sind noch nicht so weit.“ Mit finsterer Miene und vor der Brust verschränkten Armen saß Elias neben Gran Doma. Aus dem Augenwinkel konnte der Wüstenweise sehen, dass der Reiter nicht einen Herzschlag lang den Blick von den drei Jugendlichen ließ, die sich gerade mit Mummy unterhielten. Sein Unterkiefer mahlte unablässig und seine Finger schlossen sich so fest um seine Oberarme, dass die Knöchel hervorgehoben wurden. „Sie haben nichts als Sand im Kopf, stürzen sich in jedes Abenteuer, das ihnen auch nur zuzwinkert, und haben mehr Selbstvertrauen, als jemals angemessen wäre.“ „Klingt ganz nach dem, was man von ihrem Alter erwartet“, murmelte Nark zu Gran Domas anderer Seite und warf ein neues Holzscheit ins Feuer. „Deshalb warten wir mit der Initiation ja auch immer bis zur siebzehnten Dürre, aber bei den Beiden… In meinem Unterricht können sie nichts mehr lernen, soviel steht fest. Sie sind ihren Altersgenossen weit voraus.“ „Beim Reiten ist es ganz genauso. Ich habe damals schon gestaunt, als Elias schon so früh den Umgang mit der Kettensichel gemeistert hat, aber Sting und Minerva sind sogar noch besser als er“, erklärte Adrim und legte beruhigend eine Hand auf den Oberschenkel seines Partners. „Und von Yukinos feinen Gespür für die Muskelbewegungen der Basilisken fange ich lieber gar nicht erst an. Ich bin seit zwanzig Dürren da draußen unterwegs, aber in dieser Hinsicht ist Yukino mir weit überlegen.“ „Es spielt keine Rolle, wie gut sie vielleicht sind. Sie sind unreif. Bei der Initiation geht es um mehr als nur ihre Lernfortschritte“, knurrte Elias. „Na ja, um ehrlich zu sein, geht es nur darum bei der Initiation“, widersprach Asim auf der anderen Seite des Feuers. Neben ihm zog Dov den Kopf ein, aber der ältere Händler fuhr fort. „Die Initiation beweist, dass wir unsere Ausbildung abgeschlossen haben. Über unsere Reife verrät es nichts. Kann es auch gar nicht. Keine zwei Kinder sind gleich. Das eine wird früher erwachsen, das andere später. Dov hier hätte unter dem Gesichtspunkt erst mit zwanzig Dürren seine Initiation kriegen sollen.“ Der junge Mann verzog missmutig das Gesicht, war jedoch klug genug, nicht zu widersprechen. Elias hingegen schien mit diesem Argument nicht zufrieden zu sein. Er schob Adrims beruhigende Hand von sich und beugte sich vor. Seine Stimme war jetzt ein bedrohliches Zischen. „Sie brauchen noch mindestens eine Dürre unter Aufsicht. Jetzt sind sie definitiv noch nicht reif genug, um die Initiation vorzeitig zu erhalten.“ Gran Doma unterdrückte einen Seufzer und beobachtete, wie Sting, Minerva und Yukino sich von Mummy und den beiden Dämonenkindern verabschiedeten, ehe sie auf den Nordgang zuhielten. Sie hatten sich sehr verändert im Vergleich zu den vorlauten Kindern vor acht Dürren. Damals war Sting noch ein Rotzbengel gewesen, der jeden Tag nur nach einem spaßigen Abenteuer gesucht und sich auf seine Reiterausbildung gefreut hatte. Heute mochte er immer noch vorlaut und ein Abenteurer sein, aber wenn Gran Doma jetzt in seine Augen blickte, erkannte er so viel mehr darin. Für diejenigen, die vom selben Sand wie er waren, war Sting bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Er war wild dazu entschlossen, Minerva zu helfen und zu beschützen. Eine leise Stimme in Gran Domas Hinterkopf fragte sich, wie das enden mochte… Und Minerva… Sie war das Ebenbild ihres Onkels geworden. Ihr Umgangston – vor allem mit Sting – mochte sehr viel derber sein, aber in ihren olivgrünen Katzenaugen, die Athenaeos’ so ähnlich waren, spiegelten sich ein überaus wacher Geist und eine unglaubliche Entschlossenheit wieder. Acht Dürren lang hatte Minerva alles gelernt, was sie nur hatte lernen können, hatte sich tagtäglich neuen Herausforderungen gestellt, Geist und Körper gestählt – immer mit ihrem Ziel vor Augen, das Erbe ihres Onkels anzutreten. Zuletzt war da noch Yukino, eine weitere große Überraschung in Gran Domas so wendungsreichem Leben. Bis heute konnte er nur erahnen, was dem Mädchen in der Zeit, bevor es von Sting und den Anderen gefunden worden war, widerfahren war, und er hatte nicht die leiseste Vorstellung davon, an was für einem Ort es aufgewachsen war, bevor sein Weg es in die Stille Wüste geführt hatte. Aber es war so viel stärker, als Gran Doma es bei anderen Kindern seines Alters erlebt hatte. Es hatte Schmerz gesehen und gespürt, war Zeuge von Grausamkeit und Tod geworden – aber wie durch ein Wunder war es darüber nicht zerbrochen, sondern stärker geworden. Stark genug, um sich dafür zu entscheiden, sich Stings und Minervas Kampf anzuschließen. Dass ein so junges Mädchen sich für solch ein Unternehmen meldete, verlieh dem Ganzen in gewisser Weise eine völlig neue Ebene. Drei vollkommen unterschiedliche Kinder und sie waren alle vom selben Sand und wussten es mittlerweile sogar. Solch ein festes Band hatte Gran Doma in all den Zyklen seines schon so langen Lebens nie zuvor gesehen. Sie schafften es, aus diesem Band Stärke zu schöpfen, ihr Vertrauen ineinander war grenzenlos… Vielleicht war genau das der Knackpunkt für Elias. Gran Domas Blick wanderte zu dem jungen Mann, der sich eine heftige Diskussion mit Asim lieferte, während sein Partner mit einem besorgten Stirnrunzeln daneben saß. Gewiss machte auch Adrim sich seine Gedanken über Elias’ Gebaren. Lange genug schon waren sie Partner, dass Adrim über die Familiengeschichte des Jüngeren Bescheid wusste. Die Ähnlichkeit zwischen Elias’ Schwester Elem damals und den drei Kindern konnte Adrim auch nicht entgangen sein. „Meister, wenn wir Sting und Minerva wirklich jetzt schon für die Initiation zulassen, werden sie danach sofort nach Sabertooth gehen“, unterbrach Elias seinen Streit mit Asim und drehte sich wieder Gran Doma zu. Seine Miene wirkte aller Beherrschtheit zum Trotz beinahe gequält. „Gebt ihnen noch diesen einen Zyklus, um stärker zu werden und mehr Erfahrungen zu sammeln. Sie sind immer noch halbe Kinder. Sie sind nicht bereit für das, was sie in Sabertooth erwartet.“ „Als ob du so viel davon wüsstest, was sie in Sabertooth erwartet“, schnaubte Asim und warf sich in die Brust. „Wer ist denn seit Athenaeos’ Tod immer wieder dort gewesen und hat gesehen, wie das Elend dort wächst? Ich! Das Volk braucht endlich eine gute Fürstin, sonst ist bald nichts mehr davon übrig!“ Bevor Elias zu einer scharfen Erwiderung ansehen konnte, warf Nark eine ausgetrocknete Wasserknolle ins Feuer. Die Funken stoben in die Höhe und ein leises Zischen erklang, als die Flammen die gut versteckte Restfeuchtigkeit in der Knolle verdampfen ließ. „Asim, es ist nicht unsere Aufgabe, die Entscheidung über Stings und Minervas Initiation von Sabertooths Schicksal abhängig zu machen. Egal wie dringend man dort Hilfe braucht, wenn die Beiden dorthin aufbrechen, obwohl sie noch nicht so weit sind, bringt das nichts weiter als noch mehr Kummer und Elend. Ich bin für die Initiation, weil ich Sting und Minerva nichts mehr beibringen kann, mehr kann ich nicht beurteilen.“ Der alte Krieger warf eine weitere Knolle in die Flammen, ohne den Blick zu heben. In der freien Hand hielt er einen Zipfel seines alten Tagelmust. Das gute Stück war vor einer Weile zerrissen. Seitdem trug Nark ihn um den Gürtel geknotet weiter bei sich. Gran Doma versuchte, sich an die Frau zu erinnern, die ihn geknüpft hatte, aber er musste sich selbst eingestehen, dass ihm nur noch wenig zu ihr einfiel. Sie und Nark waren nur zehn Dürren jünger als Gran Doma gewesen und sie hatten außergewöhnlich früh den Bund geschlossen. Jeder hätte erwartet, dass Nark nach ihrem Tod eine neue Frau für seine Höhle suchte, aber das war bis heute nicht geschehen. Ein seltener Fall innerhalb des Freien Volkes. Nach den Worten des erfahrenen Lehrmeisters wagte keiner der Anderen es noch, das Wort zu erheben, also entschied Gran Doma sich dafür, die Stille zu durchbrechen. „Ich habe eure Argumente gehört und ich kann mir auch eure Gründe dafür denken. Bis zur Initiationszeremonie haben wir noch einen halben Mond Zeit. Ich werde diese Tage nutzen, um zu einer Entscheidung zu kommen.“ „Meister-“ „Elias, nicht“, mahnte Adrim leise, die Miene geradezu schmerzlich sanft, während er nach der Hand seines Partners griff. „Der Wüstenweise wird entscheiden, wie er es für richtig befindet. Hab’ Vertrauen.“ Noch einmal öffnete Elias die Lippen, dann seufzte er nur resigniert und stemmte sich in die Höhe, um sich schnell entfernen zu können. Adrim murmelte eine Entschuldigung, dann folgte er seinem Partner eilig. Wortlos blickte Gran Doma ihnen hinterher und beobachtete, wie Adrim den Jüngeren einholte und fest in die Arme schloss, um leise auf ihn einzureden. Als Gran Doma das erste Mal den Namen Elem von Adrims Lippen abzulesen meinte, machte Elias Anstalten, sich freizuwinden. Es entstand sogar ein Gerangel, ehe sich der junge Reiter wieder unter Kontrolle hatte. Wenn Gran Doma ehrlich war, war er überrascht, wie tief es den sonst so beherrschten Elias auch heute noch traf, an seine ältere Schwester erinnert zu werden. Obwohl Elems Tod nie bestätigt worden war, war sie innerhalb der Zuflucht genauso vergessen wie jeder andere Tote. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ausgerechnet Adrim und Elias für die Ausbildung von Sting und Minerva auszuwählen. Damals hatte Gran Doma so entschieden, weil sie in seinen Augen trotz ihres jungen Alters die besten Lehrer für die beiden Kinder gewesen waren. Aber womöglich hätte er damals schon die indirekte Verbindung zwischen Elias und den beiden Kindern berücksichtigen sollen. Vielleicht war seine Entscheidungsfähigkeit aller gegensätzlichen Bemühungen zum Trotz doch getrübt. Denn zumindest vor sich selbst konnte er nicht leugnen, dass er bei der Frage nach Stings und Minervas vorzeitiger Initiation weder Sabertooth noch ihre tatsächliche Ausbildung im Hinterkopf hatte. Er konnte es nur besser verstecken als Elias. Seit Beginn ihrer Ausbildung hatte Minerva schon viele Basilisken gesehen, darunter auch einige besonders große Exemplare von fünfzehn und mehr Mannslängen. Bei allem Respekt und aller Bewunderung, die sie immer noch für die mächtigen Wesen empfand, hätte sie doch nicht geglaubt, dass der Anblick eines Basilisken sie noch aus der Fassung bringen konnte. Doch nun stand sie hier und starrte fassungslos zu dem Wesen hoch, welches sich hinter Yukinos zierlicher Gestalt im Sand nieder gelassen hatte. Allein der leicht erhobene Kopf war gut doppelt so groß wie Yukino. Die Länge des Körpers war unmöglich vernünftig einzuschätzen, aber Minerva würde eine Menge darum wetten, dass es mindestens dreißig Mannslängen waren. Allein der gegabelte Schwanz war beängstigend lang. Wahrscheinlich könnte allein der Schlag dieses Schwanzes einen ausgewachsenen Mann zermalmen. Die Schuppen des Wesens waren tief zerklüftet und zu einem hellen Graubraun ausgeblichen. Der gesamte Körper war von Narben bedeckt: Abgebrochene Schuppenkämme, tiefe Furchen, vage Kratzspuren, teilweise sogar herausgerissene Schuppen. Doch es waren alte Narben, Zeichen einer längst vergangenen Zeit. Denn das Wesen war alt. Uralt. Minerva war sich nicht klar, woher sie diese Gewissheit nahm, aber sie war da. Dieser Basilisk war älter als jeder andere Basilisk, dem sie jemals begegnet war. Älter als Meister Gran Doma, älter vielleicht sogar als die Unsterbliche Kaiserin, von der Minervas Onkel immer in den höchsten Tönen gesprochen hatte. Mit dem großen, bernsteinfarbenen Auge, welches der Basilisk Sting und Minerva zugewandt hatte, musterte er die Menschen. Keine Aggressivität ging von ihm aus, keine Fressgier, kein Zerstörungswahn. Er war ruhig, beinahe gelassen, aufmerksam, womöglich sogar neugierig. „Bei den Ausgeburten aller Höhlen!“, keuchte Sting neben Minerva und ging zitternd in die Knie. „Was ist das? Wie geht das? Das… das…“ Er stieß einen Würgelaut aus und strich sich fahrig durch die Haare. Stocksteif blieb Minerva stehen und ihr Blick wanderte langsam zu Yukino hinüber. Das Mädchen hatte seine Knochenflöte zurück in die Gürteltasche gesteckt und wandte sich jetzt dem Basilisken zu. Vertrauensvoll legte es seine Hände auf die großen Nüstern des Wesens – und dann lehnte es sogar seine Stirn gegen die Schuppenplatte zwischen den Nüstern. Zur Antwort senkte der Drachenartige seine Lider. Die Zuneigungsbekundung des Menschenkindes schien ihn mit Zufriedenheit zu erfüllen. „Unglaublich“, murmelte Sting und rang heftig mit den Armen. „Unmöglich! Keiner hat je… Die Geschichten…“ „Ich weiß auch nicht, wie es möglich ist“, erhob Yukino schließlich das Wort und drehte sich wieder zu ihren Freunden herum, eine Hand noch immer auf dem linken Nasenschlitz des Basilisken. „Aber Ophiuchus hat mich gerettet, als ich ganz alleine in der Wüste war und noch überhaupt nichts davon wusste, wie man hier überlebt.“ „Ophiuchus?“, echote Sting und ließ sich auf den Hosenboden plumpsen, um die Beine für einen Schneidersitz anzuziehen. Seine Haare waren völlig durcheinander und seine Stimme klang heiser. „Du hast ihm einen Namen gegeben?“ „Natürlich“, antwortete Yukino und in ihre Augen trat eine ganz besondere Zärtlichkeit, als sie kurz zu dem Wesen aufblickte. „Ophiuchus ist so viele Monde lang mein einziger Freund gewesen. Ich musste ihm unbedingt einen Namen geben…“ Minerva musste schwer schlucken. Sie selbst war damals bei ihrer Flucht aus Sabertooth nur ein paar Tage alleine in der Stillen Wüste unterwegs gewesen, ehe die Reiter sie gefunden und zur Zuflucht gebracht hatten, aber allein diese kurze Zeit hatte sie beinahe an den Rande des Wahnsinns gebracht. Sie hatte entsetzliche Angst gehabt, der Durst war unerträglich geworden, sie hatte halluziniert und in die Wüste hinein geschrien… Seit sie Yukino das erste Mal begegnet war, hatte sie sich gefragt, wie die Jüngere es geschafft hatte, inmitten dieser lebensfeindliche Umgebung zu überleben und stark zu werden. Jetzt verstand sie. „Dann hast du ihn jedes Mal besucht, wenn du die Zuflucht verlassen hast?“, fragte Sting und blickte vorsichtig zu Ophiuchus hoch. „Genau. Er hat mir gefehlt“, gestand Yukino und strich zärtlich über die harten Schuppen. „Es tut mir Leid, dass ich es euch so lange verschwiegen habe. Ich wusste lange Zeit nicht, wie ich es euch erklären sollte…“ Obwohl der Basilisk die Berührung wohl kaum spüren konnte, schloss er die Augen und drängte mit seinem Kopf nach vorn. Mit einem erschrockenen Aufschrei sprang Sting auf und Minerva machte einen Schritt nach vorn, obwohl sie wusste, dass sie viel zu spät sein würde – aber Yukino nutzte den Schwung des Drachenartigen und sprang auf seine Nase. Mit völliger Sicherheit fanden ihre nackten Füße auf den Gesichtsschuppen den Weg nach oben zum Hinterkopf des Wesens, wo man sich normalerweise auch positionierte, um einen Basilisken zu reiten. Die Rebmesser blieben in ihrem Gürtel stecken, als sie sich zwischen den Ohrwülsten der Sandschlange im Schneidersitz niederließ und wieder zu Sting und Minerva hinunter blickte. Ihre Miene spiegelte Hoffnung wieder. „Wollt mit uns reiten?“ Wieder musste Minerva schwer schlucken und sie blickte nach rechts, um zu sehen, was Sting machte. Der Blondschopf kaute sich auf der Unterlippe herum und schien einen Moment zu zögern, doch als er sich zu Minerva herum drehte, erkannte sie in seinen Augen keine Angst mehr, sondern Aufregung und Abenteuerlust. In Minervas Inneren machte sich ein Kribbeln breit. Dies war ein Geheimnis, das ganz allein ihnen Dreien gehörte. Kein anderer Wüstennomade würde jemals auf so einem großen Basilisken reiten. War es da noch wichtig, eine Erklärung für Ophiuchus’ Existenz und sein zahmes Verhalten zu finden? Nein! „Wer zuletzt oben ist!“, sagte Sting mit übermütig blitzenden Augen. Gleichzeitig setzten sie sich in Bewegung. Kapitel 8: Die ungleichen Väter ------------------------------- Sie befanden sich in der Nähe des nördlichen Hafens. Im ärmsten Teil von Sabertooth, wo es normal war, dass Krüppel auf der Straße herum lagen und auf den Tod warteten. Wo viel zu junge Mädchen ihre Körper für eine karge Mahlzeit feilboten. Wo Banditen Kinder entführten, um sie an boscanische Sklavenhändler zu verkaufen. Das Gebiet wurde sich selbst überlassen. Keine Hilfe für die Kriegsversehrten, die vor drei Zyklen aus Edolas zurückgekehrt waren. Keine Heime für die Scharen von verwaisten Kindern. Nicht einmal mit den Toten half man, derer täglich sicher ein Dutzend in den von Exkrementen versumpften Gassen gefunden wurde. Weil kaum jemand sich Holz und Öl für die Brandbestattung vor den Toren der Stadt leisten konnte, waren die verzweifelten Angehörigen gezwungen, ihre Toten in den Fluss zu werfen – nackt, denn selbst der widerlichste Lumpen mochte wenigstens noch irgendetwas einbringen. Und sei es auch nur den Bruchteil einer Prise Traumsalz. Von den insgesamt zwanzig Stadtvierteln, die sich im Verlauf der Geschichte gebildet hatten und vielfach aufgeteilt, verbunden und umbenannt worden waren, waren die drei Viertel nördlich des Schlangenflusses schon immer die ärmsten und dreckigsten gewesen. Sie waren nicht erst durch den Thronräuber zur Brutstätte des schlimmsten Elends geworden. Generationen von Orlands hatten sich mit diesem Gebiet befasst oder eben auch nicht und es war immer der Schandfleck der stetig wachsenden Stadt gewesen. Aber die grausame Politik Fürst Jiemmas hatte die Dinge in den Nordvierteln wahrscheinlich sogar noch verschlimmert. Hinter sich hörte der junge Mann das Scharren von Stiefeln und das angewiderte Schnaufen der drei Soldaten, die ihn und seinen Vater begleiteten. Für diese Männer war das Elend der Menschen hier bedeutungslos. Keiner von ihnen kümmerte sich um den Mann am Boden, der nur noch Haut und Knochen war und aus weit aufgerissenen, merkwürdig leer wirkenden Augen zu ihnen aufblickte. Sein rechter Arm endete eine Handspanne unter der Schulter, die linke Hand war zitternd erhoben. Es war ausgerechnet der Blutschakal, der Anführer der kleinen Gruppe, der vor dem Mann stehen blieb. Der Krüppel hob den Blick ein wenig mehr, aber kein Erkennen blitzte angesichts der pechschwarzen Rüstung und der blutroten Augen in seinen eigenen Augen auf. In seiner abgestumpften Welt schien jedwede Aufmerksamkeit ein ausreichender Grund zur Freude zu sein. Als er irre lächelte, kamen verfaulte Zahnstümpfe und schwarzes Zahnfleisch zum Vorschein – eines von mehreren möglichen Anzeichen dafür, dass die Seuche von Edolas ihn eingeholt hatte. „Wo hast du gekämpft, Soldat?“, fragte der Blutschakal mit seiner geschmeidigen Stimme und legte den Kopf schief. Von der Seite konnte sein Sohn sehen, dass auf seinen bleichen Gesichtszügen das für ihn so charakteristische Lächeln lag, das eigentlich keines war. Der Mann brauchte lange, um mit seiner ausgetrockneten Kehle Laute hervor zu bringen. Er wedelte zuerst nur hilflos mit der Zunge, als müsste er überhaupt erst wieder herausfinden, wie Sprechen funktionierte. Schließlich röchelte er: „L-louen…“ „Ah, Louen…“ Der Blutschakal legte seinen Kopf auf die andere Seite und das Nicht-Lächeln wurde intensiver. „Ich habe viel davon gehört. Der Tanz von Löwe und Wolf. Eine fürchterlich langatmige Ballade, aber es war ein glorreicher Kampf, nicht wahr?“ Der Krüppel starrte nur. Wahrscheinlich war er schon viel zu abgestumpft, um den grausamen Spott in den Worten zu bemerken. „Vielen Dank für deinen Einsatz, Soldat“, sagte der Blutschakal und nickte zackig, dann ging er einfach weiter. Und sein Sohn folgte auf dem Fuße, blickte nicht einmal über seine Schulter zu dem Kriegsveteran zurück – denn er wusste, dass sein Vater es bemerken würde. Sein Vater hatte es immer bemerkt und sie waren schon längst über den Status hinaus, dass Schmerzen noch Bestandteil der Züchtigung des Sohnes waren. Der Blutschakal hatte jetzt andere Methoden. Ihr Weg führte sie in immer engere, immer dreckigere Gassen. Gebeugte, abgemagerte Gestalten huschten vor ihnen von Schatten zu Schatten, röchelnd, wimmernd, zischend. Keiner von ihnen wagte es, sich der kleinen Gruppe zu nähern, ein Großteil von ihnen war sich wahrscheinlich nicht einmal darüber in Klaren, dass es Raios Cheney war, der hier durch ihr Gebiet ging, der Blutschakal, Schwertmeister von Sabertooth und Rechte Hand von Fürst Jiemma. Die Schatten fühlten sich für den Sohn hier anders an, waren finsterer, kälter, gieriger. Sie flüsterten von Tod und Verfall und Wahnsinn, verschlangen Konturen und ganze Menschen. Das waren andere Schatten als jener des Obelisken im Fürstlichen Garten des Sandpalasts, der dem Sohn so vertraut war. Für alle Anderen waren sie wohl ganz normale Schatten, aber für den Sohn waren sie krank und fremd, hatten das Elend unzähliger Generationen in sich aufgesogen. Doch die Gedanken des Sohnes blieben klar und unberührt von dieser Infektion. Er registrierte die Andersartigkeit aus der Distanz, wie es ihm seit seiner Geburt beigebracht worden war. Vor dem einzigen zweistöckigen Gebäude weit und breit hielt der Blutschakal. Es mochte einstmals sogar ein stattliches Haus gewesen sein. Über der Tür, deren Holz trotz des offensichtlich hohen Alters noch solide wirkte, war eine Zierkachel ins Mauerwerk eingelassen worden. Das Wappen der Orlands war noch vage zu erkennen: die beiden Löwen, die dem Basilisken gegenüber standen. In die Fenster war echtes Glas eingelassen worden, das in all der Zeit der mangelnden Pflege milchig geworden war. Unter nun ergrautem und abbröckelndem Putz tauchte an vielen Stellen das feste Mauerwerk auf. Keine profane Lehmhütte wie man sie sonst hier im Viertel sah. Davor war eine kleine Freifläche zu erkennen, vielleicht zehn Mannslängen im Durchmesser. In deren Zentrum befand sich ein leerer Sockel, auf welchem noch die Füße einer Statue zu erkennen waren. Mit einer knappen Handgeste veranlasste der Blutschakal die drei Soldaten dazu, an ihm vorbei zur Tür des Gebäudes zu gehen. Sie hielten sich nicht daran auf, um Einlass zu bitten, sondern traten die Tür rücksichtslos auf und stürmten mit gezogenen Säbeln hinein. Langsamer folgten der Blutschakal und sein Sohn, ihre dunklen Bosco-Klingen noch unberührt in den Scheiden. Anders als in sonst üblichen Wohnhäusern besaß dieses Gebäude einen kleinen Empfangsraum. Alte Bänke, auf welchen schlicht geknüpfte Teppiche lagen, boten sich den Ankömmlingen entlang der Wände an. Das Holz der Bänke mochte einstmals von hoher Qualität gewesen sein, nun jedoch war es ergraut und rissig, die Lehnen von eingeritzten Namen und Nachrichten verunziert, die selten wirklich leserlich waren. Die Teppiche waren neu dazu gekommen und hatten zweifellos Teppiche oder Kissen von weitaus höherer Qualität abgelöst. Trotz dieser offensichtlichen Mängel hatte man versucht, den Raum ordentlich zu halten. Der gepflasterte Boden – noch ein Unterschied zu anderen Gebäuden, deren Böden nur aus fest gestampfter Erde bestanden – war gründlich ausgefegt worden und die Öllampen, die an Haken entlang der Wände hingen, waren liebevoll von Hand bemalt worden. Im Nebenraum erklangen ein erstickter Schrei, dann das Poltern von Holz und ein kurzes Handgemenge. Als der Blutschakal und sein Sohn in den Raum traten, hatten die Soldaten die einzige Person im Raum bereits überwältigt und allem Anschein nach auch mehrfach geschlagen. Aus der Nase des Mannes rann Blut, an der Stirn hatte er eine Schnittwunde und sein schlichtes Wams war zerrissen. Er röchelte mühsam im harten Griff des Soldaten, der einen Arm um seinen Hals geschlungen hatte, seine Hände verzweifelt an die Unterarmschiene gekrallt, ohne dass sie etwas ausrichten konnten. „Du bist Abdul Ben Ahmad, nicht wahr?“, durchbrach der Blutschakal die kurze Stille. Der Mann röchelte noch mehr, seine Augen angsterfüllt geweitet. Er war eine mickrige Erscheinung, einen ganzen Kopf kleiner als jeder der Soldaten, sein Haar schütter, seine Haut runzlig, seine Statur zu dürr für den weißen Burnus und die bodenlange, an der Taille gegürtete Tunika. Seine Füße in den Bastsandalen lugten kaum unter dem Saum der Tunika hervor. Sein Alter war kaum zu schätzen, aber er schien etwa so viele Dürren wie der Blutschakal erlebt zu haben. „Wie war das?“ Der Blutschakal legte den Kopf schief und lächelte schon wieder sein Nicht-Lächeln. „Sprich lauter. Bist du Abdul Ben Ahmad?“ „J-ja Herr!“, stieß der Mann mühsam aus. „Der von Fürst Athenaeos mit dem Alnnaqil-Viertel betraute Verwalter?“ „Ja, Herr“, antwortete der Mann. Er schlotterte am ganzen Körper, als hätten sie gerade Regenzeit und nicht Dürre. Der Blutschakal schwieg und ging gemächlich um den Schreibtisch herum, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Er ließ sich auf dem Stuhl nieder und studierte die Papyri auf dem Tisch. Und es herrschte weiter Schweigen, unterbrochen nur vom Rascheln des Schreibmaterials. Der Bosco blickte nicht ein einziges Mal in Abduls Richtung, konzentrierte sich einzig und allein auf sein Studium. Der Verwalter zitterte immer schlimmer. Mit einem lauten Poltern wurde die zweite Tür aufgeschlagen und eine weitere Person stürmte in den Raum. Der Sohn des Blutschakals stand am nächsten und griff reflexartig zu. Mühelos schloss sich seine Hand um das Gelenk einer viel kleineren, schwächeren, die sich um einen schartigen Dolch verkrampft hatte. Die andere Hand legte er auf die Schulter des Jungen, der Druck fest genug, um ihn einknicken zu lassen. Mehr als zwölf Dürren konnte der Junge kaum zählen. Er war schlaksig und noch klein, wie es für sein Alter typisch war, seine Haut stark gebräunt, seine Augen hellbraun, beinahe gelb, die schwarzen Haare zu lang, sodass sie ihm ins Gesicht fielen. Ein vollkommen harmloser Junge, vielleicht ein bisschen besser genährt und gekleidet als die Gestalten da draußen, doch der entscheidende Unterschied waren seine wild funkelnden Augen. Dieser Junge hatte freie, lebhafte Gedanken, war in seiner Seele unberührt von der infektiösen Stumpfheit der zahllosen Waisen in den Nordvierteln. „Metta!“, krächzte Abdul, das gebräunte Gesicht auf einmal aschfahl. „Junge, was tust du?!“ „Was wohl?!“, spie der Junge aus und rüttelte verzweifelt an seinem gefangenen Handgelenk. „Ich helfe dir!“ Abdul schloss die Augen, als würde er um Kraft flehen. Als er sie wieder öffnete, entging dem Sohn des Blutschakals nicht, wie sein Blick kurz zu der Tür zuckte, durch welche Metta gerade herein gekommen war. Auch sein Vater hatte es bemerkt, denn er gab den beiden Soldaten, die neben der anderen Tür Stellung bezogen hatten, ein knappes Zeichen. „Nein, Herr! Ich flehe euch an!“, jaulte Abdul, doch die Soldaten gingen ungerührt an ihm vorbei durch die zweite Tür. Entgegen aller Vernunft versuchte der Verwalter, sich aus dem Griff des dritten Soldaten zu befreien, während im Nachbarraum Gepolter zu hören war. „H-herr, verschont meine Kinder, ich bitte euch! Sie sind unschuldig!“ „Ganz gewiss sind sie das, dafür hast du Sorge getragen, nicht wahr, Abdul?“, erwiderte der Blutschakal und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Papyri. Das Poltern wanderte noch einen Raum weiter und dann schien es sich ins obere Stockwerk zu verlagern. Abdul wimmerte vor Verzweiflung, sein Gesicht bald tränenüberströmt. Metta hingegen wehrte sich immer heftiger, bis der junge Mann gezwungen war, seinen Griff zu ändern. Er übte einen gezielten Druck auf den Handrücken des Jungen aus, bis sich seine um den Dolch verkrampften Finger öffneten. Klirrend fiel die alte Waffe zu Boden, während ihrem Besitzer beide Hände auf den Rücken gedreht wurden. Als kurz darauf im oberen Stockwerk ein lautes Kreischen erklang, zuckte Metta heftig zusammen und Abdul jaulte wieder auf. Doch während der Vater gleich darauf völlig erschlaffte, wehrte der Sohn sich nun entschlossener denn je. Er war stark. Sein Körper mochte noch mickrig sein, kannte keinen Drill, hatte keine geschärften Reflexe, geschweige denn Muskeln. Aber sein Geist war stark. Stärker sogar als der vieler Erwachsener. Unter völlig anderen Umständen hätte aus Metta wahrscheinlich ein hervorragender Krieger werden können. Die Soldaten kehrten zurück, jeder mit einem Mädchen im Griff. Das ältere Mädchen war schon auf der Schwelle zum Frausein, mochte bereits vierzehn oder fünfzehn Dürren zählen. Unter der Tunika deuteten sich frauliche Rundungen an und eine dichte Flut schwarzer Locken umgab ein ebenmäßiges Gesicht mit ängstlich flackernden Augen und fest zusammen gepressten Lippen. Seine jüngere Schwester war gut zehn Zyklen jünger und ähnelte eher dem Bruder. Kreischend schlug sie immer noch um sich. Der Griff des Soldaten um ihren zarten Oberarm hinterließ bereits ein sichtbares Mal. „Farah… Sana…“ Abduls Stimme war gebrochen, ein schwaches Keuchen. Die mageren Schultern des Verwalters zitterten unter lautlosen Schluchzern. Als hätte er den ganzen Tumult überhaupt nicht bemerkt, sah der Blutschakal erst jetzt von den Unterlagen auf. Die beiden Mädchen würdigte er nicht einmal eines Blickes, seine Aufmerksamkeit galt weiterhin dem wimmernden Mann, der mehr im Griff des Soldaten hing, als dass er tatsächlich stand. „Du bist in der Tat ein geschickter Verwalter, Abdul. Dein Wissen über die… Bewohner des Viertels ist bemerkenswert. Obwohl hier so viel nutzloses Pack herumstreunt, hast du es viele Zyklen lang geschafft, die Verwaltung aufrecht zu erhalten, hast die richtigen Leute zur Kasse gebeten und anscheinend hast du sogar einiges von dem Straßengesocks in die anderen Viertel vermittelt. Angesichts der Umstände eine beachtliche Leistung.“ Die schmalen Lippen des Mannes kräuselten sich zu einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Die Kunstpause wurde so drückend, das Nicht-Lächeln so stechend, dass sogar das jüngere Mädchen endlich verstummte. „Wenn da nur nicht die Tatsache wäre, dass du deinem Fürsten seit neun Zyklen immer wieder geschrieben hast, du könntest ihm keine Abgaben schicken.“ Mit einem verzweifelten Stöhnen krümmte Abdul sich zusammen. Dem Soldaten wurde es müßig, ihn weiter festzuhalten, und er ließ ihn nach vorn fallen. Der Blutschakal kam langsam um den Tisch herum, während er weiter sprach. „Du hast das Geld, das deinem rechtmäßigen Fürsten zusteht, dafür verwendet, um deine Kinder durchzufüttern. Ganz so, als würde das Geld, das der Fürst einem jeden seiner Verwalter für diese Zwecke schickt, nicht ausreichen…“ „Es ist nie hier angekommen!“, schrie Metta so laut, dass dem jungen Mann hinter ihm die Ohren klingelten. „Die Kuriere haben es selbst eingesteckt und dem Thronräuber war es egal!“ „Metta!“, zischte seine ältere Schwester und ihr Blick zuckte panisch zum Blutschakal hinüber. Dessen Augen schienen nun beinahe manisch zu funkeln. „Thronräuber? Du leugnest den Anspruch deines Fürsten?“ „Er ist nicht mein Fürst!“, rief Metta unbeirrt. „Er ist kein Orland! Meine Familie dient nur den Orlands!“ Dem jungen Mann war es ein Rätsel, wie dieser Junge inmitten dieses Sumpfs aus Elend noch solchen Kampfgeist besitzen konnte. Woher wusste er überhaupt von den einstigen Fürsten der Stadt? Er konnte unmöglich richtige Erinnerungen an sie besitzen. Wie kam ein Junge in diesem Alter dazu, solch törichte Dinge hinaus zu posaunen? Gemächlich trat der Blutschakal auf den Jungen zu und ergriff dessen Kinn, um sein Gesicht hin und her zu drehen und eingehend betrachten zu können. „Du willst also nur den Orlands dienen, ja? Nun gut, das lässt sich einrichten…“ Der Mann richtete sich wieder richtig auf und nickte seinem Sohn zu – und der verstand sofort, was von ihm erwartet wurde. Ohne mit der Wimper zu zucken, stieß er seinen Gefangenen nach vorn und zog noch in derselben Bewegung seine Bosco-Klinge. Mit einem einzigen machtvollen Streich durchtrennte er die Fußsehnen des Jungen. Das Kind brüllte vor unsäglichen Schmerzen, seine Schwestern kreischten, sein Vater jaulte auf, als würde er die Schmerzen am eigenen Leibe spüren. Die drei Soldaten verzogen die Gesichter ob des Lärms, nur der Blutschakal und sein Sohn ließen sich nicht das Geringste anmerken. „Fesselt sie.“ „Herr!“, jammerte Abdul und rutschte auf den Knien zum Blutschakal. Sein Blick zuckte immer wieder von Metta zu den Mädchen und schließlich hoch zum Gesicht des Mannes, von dem nun sein Leben abhing. Seine Stimme war erstickt von Schluchzern. „B-bitte verschont meine Ki-kinder! Ich f-f-flehe euch an!“ „Was sollte dein Junge jetzt noch da draußen erreichen?“, fragte der Blutschakal und legte interessiert den Kopf schräg. „Soll er sich als bettelnder Krüppel durchs Leben schlagen? Und deine Töchter? Wie lange wird es da draußen wohl dauern, bis die Sklavenhändler sie in die Hände kriegen…?“ Der Blutschakal war bekannt dafür, mit welcher Gnadenlosigkeit er selbst Säuglinge töten konnte, aber sein Sohn fragte sich, ob auch nur einer der Bewohner von Sabertooth sich darüber in Klaren war, was der wahrhaft schlimmste Zug des Mannes war: Einem treusorgenden, verzweifelten Familienvater derart grausame Schicksale der Kinder vor Augen zu halten, dass dieser in ihrem Tod sogar etwas Besseres sehen konnte… „Aber vielleicht hat Raios ja Interesse daran, deine Tochter in sein Bett zu holen.“ Der Blutschakal wandte sich der älteren Tochter zu. „Hast du schon bei einem Mann gelegen, Kind?“ Mit vor Entsetzen geweiteten Augen schüttelte sie heftig den Kopf. Sie wagte es nicht einmal, in Richtung des jungen Mannes zu blicken, dem sie gerade feilgeboten wurde. Dessen Miene blieb unbewegt, als sein Vater sich ihm fragend zuwandte. Wenn er dieses Mädchen jetzt aufnehmen würde, würde es vorerst sein Leben retten, aber schon nach wenigen Nächten würde sein Vater erwarten, dass er das Mädchen entweder tötete oder den Soldaten überließ, einer Meute von Männern, die darauf gedrillt waren, den abartigen Anforderungen des Schwertmeisters von Sabertooth zu genügen, grausam, brutal, blutrünstig. Das Mädchen würde in ihren Händen einen langsamen, qualvollen Tod sterben. Wortlos schüttelte er den Kopf, auch wenn ihm bewusst war, dass sein Vater damit nicht zufrieden war, aber dieses Mädchen, das heute seine gesamte Familie verlieren würde, sollte wenigstens an der Seite eben jener sterben können. Das war die einzige Gnade, die man ihm noch schenken konnte. Nun nicht mehr lächelnd gab der Blutschakal seinen Soldaten ein Zeichen und sie fesselten Vater und Töchter aneinander und an den Fuß des alten Schreibtischs. Dann ging einer der Soldaten ins Nebenzimmer und kehrte mit einer großen Amphora zurück. Um die Familie herum vergoss er das darin befindliche Öl. Auf den Wink des Blutschakals hin verschüttete er den Rest über den vor Schmerz besinnungslosen Metta. Gemeinsam mit den Soldaten trat der Sohn zur Tür, während der Blutschakal zum Schreibtisch zurückging und die Öllampe aufnahm, welche neben den Unterlagen stand. „Der Junge will den Orlands dienen. Den Toten können nur Tote dienen. Von daher…“ Beinahe als würde er es bedauern, senkte der Blutschakal die Lampe nur langsam. Dann ließ er sie mitten in das Öl fallen. Die Flammen breiteten sich sofort aus, umschlossen die Familie und erfassten Metta. Brüllend kam der Junge wieder zu sich und schlug verzweifelt um sich, wälzte sich am Boden, während seine Familie nach ihm schrie. Gemächlich, als hätte er nicht gerade vier Menschen zu einem grausamen Tode verurteilt, verließ der Blutschakal den Raum und dann das Gebäude. Sein Sohn und die drei Soldaten folgten. Hinter ihnen verriegelten die Soldaten die Tür des Gebäudes von außen, ansonsten unternahmen sie nichts, um eine spätere Ausbreitung des Feuers zu verhindern. Als sie bereits auf der Fähre standen, die sie über den Schlangenfluss bringen sollte, trat der Blutschakal neben seinen Sohn und musterte ihn eingehend von der Seite, sagte jedoch lange Zeit nichts. Erst als sie schon fast am anderen Ufer waren, erhob er die Stimme gerade laut genug, damit sein Sohn ihn klar und deutlich verstehen konnte. „Gnade ist eine Schwäche, Raios. Vergiss das niemals.“ Der Sohn erwiderte nichts darauf. Das hatte er noch nie. Es waren vier angehende Reiter, die im Zentrum des Inneren Kreises vor dem Wüstenguru knieten. Vier von sieben, die vor sieben Zyklen die Reiterausbildung begonnen hatten, ging es Sting durch den Kopf, während er immer wieder nach links und rechts schielte, um die Anderen beobachten zu können. Genau wie er selbst trugen sie weiße Tuniken und Pluderhosen, dazu schlichte Kordelgürtel, die Füße nackt. Es war ungewohnt für Sting. Die Gewichte von Kettensichel, Rebmessern und Säbel waren nun schon so lange sein Alltag gewesen, dass er sich ohne sie verletzlich und bloßgestellt fühlte. Und das Fehlen des Wasserschlauches, den jeder Wüstennomade schon im Kleinkindalter immer bei sich trug, machte es gleich noch viel schlimmer. Zu seiner Linken kniete Minerva im Sand. Selbst in dieser Position noch strahlte sie Disziplin und Würde aus. Sie mochte die Sitten der Wüstennomaden befolgen und mochte genauso gekleidet sein wie sie, aber letztendlich war sie nie eine richtige Wüstennomadin geworden. Die Nachricht, die ihre Haltung vermittelte, war unmissverständlich: Sie war eine Orland. Sie war dazu geboren, über Sabertooth zu herrschen. Und Sting war dazu geboren, ihr dabei zu helfen… Eine Bewegung hinter Minerva lenkte Stings Aufmerksamkeit zu den Wüstennomaden, welche sich zwischen den Felsfingern im Inneren Kreis drängten. Zwischen ihnen standen bereits die anderen nun als vollwertige Erwachsene anerkannte Wüstennomaden aus Stings und Minervas Altersgruppe. Die Jäger mit ihren wertvollen Bögen und Köchern, die Händler mit ihren bunten Burnussen, die Knüpfer mit den bunten Kordeln, an denen die langen Nadeln hingen… Die Reiter waren immer die Letzten in der Nacht der Initiation. Auf einem der Felsfinger saß Yukino. Sie hatte die Beine angezogen und die Arme darum geschlungen. Als sie Stings Blick bemerkte, lächelte sie aufmunternd und nickte sachte. Ganz unwillkürlich antwortete Sting mit einem Grinsen. Erst als sich am Rande seines Blickfeldes Gran Doma bewegte, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn. Der Wüstenweise trug eine reinweiße, bodenlange Tunika und darüber einen ebenso weißen Burnus. Der schwarze Kordelgürtel an der Taille und der Ältestenstab mit all seinen Anhängseln bildeten einen scharfen Kontrast dazu. Sein Blick war scharf, als er die vier Jugendlichen vor sich betrachtete. Als er Stings Blick begegnete, glaubte der Blondschopf, ein Zucken im Gesicht des alten Mannes zu bemerken, aber es war genauso schnell verschwunden, wie es gekommen war, und dann richtete der Wüstenweise seinen Blick auf die Menge von Wüstennomaden hinter den vier Jugendlichen. „Heute begrüßen wir vier neue Reiter in unseren Reihen“, begann er mit seiner tiefen Stimme. Er sprach in normaler Lautstärke, aber alle Anderen waren so still, dass er im gesamten Inneren Kreis zu hören war. „Sie haben gelernt, die Sandschlangen zu lenken. Sie haben gelernt, das Basiliskengift zu ernten. Sie sind stark geworden. Sie haben überlebt…“ In der kurzen Sprechpause musste Sting an die drei Personen denken, die mit ihnen die Reiterausbildung begonnen hatten und gestorben waren. Faylid hatte bei einem ihrer ersten selbstständigen Ritte die Kontrolle verloren und war von ihrem Basilisken zermalmt worden. Murat war beim Melken von einem Schlüpfling gebissen worden. Und Rasima war nach einem Sandsturm vor einem Zyklus verschwunden. Sting hatte keinem von ihnen besonders nahe gestanden, sie waren nicht einmal Freunde gewesen, aber letztendlich waren sie alle Wüstennomaden gewesen und hatten sich den gleichen Gefahren gestellt. Ihr Schicksal hätte genauso gut Stings sein können – und das jedes anderen der Wüstennomaden, die heute hier standen. Es störte Sting, dass die Zeremonie der Initiation das Schicksal dieser Drei nicht würdigte. Der Wüstenweise ergriff einen Korb, der auf einem Felsen neben ihm bereit gelegen hatte, und trat damit vor, bis er vor Makram stand, der zweite Jugendliche zu Stings Rechten. Er war ein grimmiger, junger Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und einem forschen, durchdringenden Blick. Jetzt hielt er den Blick gesenkt, während der Wüstenweise eine Handvoll Sand aus dem Korb über seinen Kopf streute. „Wir begrüßen Makram, einen neuen Reiter“, erhob Gran Doma wieder das Wort. Von der Seite kam ein Reiterveteran, der Makram in den letzten sieben Zyklen ausgebildet hatte. Er hängte Rebmesser und Kettensichel an den Kordelgürtel und drückte den Säbel in die Hand seines ehemaligen Schülers, ehe er wieder zurück trat. Makram drückte die flache Seite seines Säbels gegen seine Stirn, dann kniete er sich erneut vor den Wüstenweisen und bot ihm die Waffe mit beiden Händen ehrerbietig dar. „Möge er noch viele Sandschlangen reiten und der Gemeinschaft dienen“, intonierte Gran Doma zuletzt, während er eine weitere Handvoll Sand über den Säbel streute. „Makram, der Reiter.“ „Makram, der Reiter“, wiederholten die Wüstennomaden im Chor. Der junge Mann erhob sich und drehte sich herum, um seine Stammesgenossen mit erhobenem Säbel zu begrüßen, ehe er sich zu seinem alten Lehrmeister gesellte. Danach wiederholte Gran Doma die ganze Zeremonie mit Yasir, ehe er schließlich vor Sting trat. Die Waffen, die Sting von Adrim übergeben wurden, waren alt, aber gut gepflegt, das Leder an den Griffen ausgeblichen, aber noch immer geschmeidig, als hätte jemand es regelmäßig mit Öl eingerieben. Normalerweise wurden die Lederriemen ausgetauscht, bevor die Waffen einem neuen Besitzer übergeben wurden, aber etwas an diesem alten Leder fühlte sich richtig für Sting an. Als es auch für ihn an der Zeit war, den Wüstennomaden seinen Gruß zu entbieten, wandte er sich stattdessen Minerva zu, die als Letzte im Sand kniete. Noch einmal legte er die flache Seite seines Säbels an seine Stirn, ehe er sich wieder in den Sand kniete und den Säbel Minerva darbot. Das war seine Entscheidung. Schon vor neun Zyklen war sie es gewesen und sie hatte sich bis heute nicht geändert. Er war ein Reiter geworden, hatte gelernt, war stark geworden, um Minerva bei ihrer Aufgabe helfen zu können. Neben ihm erklang ein Rascheln und als er zur Seite schielte, erkannte er Yukino, die nun ebenfalls im Sand kniete und Minerva ebenfalls einen Säbel anbot. Minimal hob Sting den Blick, um die Reaktion der Schwarzhaarigen beobachten zu können. In ihren olivgrünen Augen spiegelte sich zuerst Überraschung wieder, dann wurden ihre Gesichtszüge für den Bruchteil eines Herzschlags so weich, wie Sting es nie zuvor bei ihr gesehen hatte, ehe sie härter und entschlossener denn je wurden.. Das zunehmend entrüstete und aufgeregte Getuschel der Wüstennomaden ignorierend griff Minerva mit beiden Händen in den Sand und erhob sich dann mit geballten Fäusten, aus denen der Sand rieselte. Mit zwei großen Schritten war sie bei Sting und Yukino und ließ den Restsand über die Klingen ihrer Säbel fallen. Der Sand kitzelte wieder in Stings Nase, aber er verdrängte das Gefühl und erhob sich mit gestrafften Schultern. Neben ihm kam auch Yukino wieder auf die Beine, das Kinn entschlossen nach vorn geschoben, als wollte sie die immer noch tuschelnden Wüstennomaden dazu herausfordern, offen Protest gegen ihren zweifachen Bruch mit den Traditionen zu erheben. Unwillkürlich erfasste Sting ein irrationaler Stolz darüber, wie stark Yukino geworden war, und er suchte Minervas Blick, um sie triumphierend anzugrinsen. Sie antwortete mit einem minimalen Kopfschütteln und verdrehte die Augen, ehe sie sich Gran Doma zuwandte, ihre Faust an ihre Stirn legte und sich dann vor ihn kniete, um ihm ihre offene Hand anzubieten. Als auch Sting seine Aufmerksamkeit auf den Wüstenweisen richtete, war er überrascht, wie alt der auf einmal wirkte. Als würde ihn etwas niederdrücken. War er enttäuscht oder verärgert wegen Stings Verhaltens? Aber warum hatte er die Sache dann nicht unterbunden? Während Stings Gedanken noch rasten, vollzog sich wieder eine Veränderung in Gran Domas Haltung. Er richtete sich zu seiner beeindruckenden Größe auf, hob die Hand und ließ einen scharfen Blick über die versammelten Wüstennomaden gleiten. Widerwillig verstummten diese schließlich, auch wenn einige von ihnen Mienen machten, als hätten sie Sand auf der Zunge. Als es endlich wieder still im Inneren Kreis war, strich Gran Doma über Minervas Handfläche und deutete dann auf die Stelle, wo sie vorher gekniet hatte. „Lasst uns weiter machen“, sagte er, seine Stimme so ruhig, als wäre gar nichts geschehen. Eine Hand auf seiner Schulter lenkte Stings Aufmerksamkeit zu Adrim, der mit einem schiefen Lächeln zwischen ihm und Yukino stand, seine andere Hand auf der Schulter des Mädchens. „Kommt mit. Ihr habt genug Aufruhr für einen Abend verursacht“, flüsterte er, aber seine Stimme ließ jede Strenge vermissen. Unbekümmert grinsend folgte Sting der Anweisung seines Mentors und gesellte sich mit ihm und Yukino zu Elias, der Rebmesser, Kettensichel und Säbel für Minerva bereit hielt und Sting und Yukino giftig anblickte. „Damit hättet ihr nicht warten können, bis die Initiation vorbei ist, oder?“, zischte er. „Natürlich konnten sie das nicht. Du kennst sie doch, Elias“, gluckste Adrim, aber seine Hand drückte Stings Schulter für einen Moment viel zu fest, ehe sie ihn losließ. „Kleine, nervige Sandteufel“, murrte Elias und richtete seine Aufmerksamkeit demonstrativ auf Minerva und Gran Doma, die traditionsgemäß das Ritual der Initiation durchliefen. Als es an der Zeit war, dass Minerva ihre Waffen erhielt, trat Elias zu ihnen und rüstete sie aus. Nachdem er ihr auch den Säbel in die Hand gedrückt hatte, legte er ihr kurz eine Hand auf die Schulter. Minerva legte ihre eigene auf seine Hand und nickte ihm einmal ruppig zu. Hinter sich hörte Sting Adrims leises Seufzen und er tauschte einen wissenden Blick mit Yukino. Elias gab sich immer alle Mühe, so zu tun, als wären seine drei Schützlinge lästige, ungelehrige Sandflöhe. Er war strenger als alle anderen Lehrer, humorlos und gegenüber allen außer Adrim unnahbar – und dennoch hatte Sting das Gefühl, dass sie alle Drei keinen besseren Lehrer hätten haben können. Schließlich trat Elias zurück zu ihnen, seine Miene wieder betont streng. Seine steife Haltung lockerte sich erst etwas, als Adrim ihm sanft über den Arm strich. Minerva hielt sich an den traditionellen Ablauf der Initiation und entbot den Wüstennomaden ihren Gruß, die sie weniger lautstark als zuvor bei die Anderen als Reiterin begrüßt hatten. Es war ihr bestimmt nicht entgangen, sie und Sting kannten das schon seit ihrer Ankunft in der Zuflucht vor neun Zyklen. Aber wie so oft bewahrte Minerva ihre Haltung. Wahrscheinlich ging es gegen ihren Stolz, sich auch nur ansehen zu lassen, dass sie die Missachtung durch einige der Wüstennomaden bemerkt hatte. Schließlich ließ Minerva ihren Säbel sinken und drehte sich erneut Gran Doma zu, um ihm ein zweites Mal den Gruß der Ehrerbietung zu geben. „Meister Gran Doma, ich bitte Euch um die Erlaubnis, vor der Versammlung zu sprechen.“ Sofort erklang wieder Getuschel um Sting und Yukino herum und Elias atmete schwer ein, Gran Doma jedoch sah nicht im Mindesten überrascht aus, sondern strich ohne Zögern über die dargebotene Hand, ehe er zurück trat, um Minerva das Wort zu überlassen. Geschmeidig erhob sie sich wieder und wandte sich erneut den Wüstennomaden zu, wartete, bis sie endlich verstummten. Ihr scharfer Blick glitt über die Versammlung und sie hatte in diesem Moment so viel von einer Fürstin, dass Sting vor Aufregung zu zittern begann und sich auch nicht von Yukinos ermahnenden Kniff an seiner Seite ablenken ließ. „Ihr habt mir vor neun Zyklen das Leben gerettet“, begann Minerva mit ruhiger, klarer Stimme. Sie wurde nicht lauter, um auch die letzten Tuschelnden zum Stillschweigen zu bringen. Stattdessen signalisierte allein mit ihrer Haltung, dass jene, die ihr nicht zuhören wollten, auch gar nicht ihrer Worte wert waren. Sting grinste noch breiter. Minerva war eine Meisterin der Provokation. „Ihr habt mich aufgenommen, habt mich die Geheimnisse der Wüste gelehrt, habt mich ausgebildet. Ich könnte gar nicht tiefer in eurer Schuld stehen und dennoch bitte ich euch erneut um Hilfe.“ Die Worte wogen schwer. Langsam aber sicher breitete sich ein geradezu beklemmendes Schweigen im Inneren Kreis aus. Als Sting es wagte, sich kurz umzusehen, erkannte er immer noch viele zweifelnde Mienen, aber die Tatsache, dass Minerva das, was die Wüstennomaden für sie getan hatten, zuallererst ansprach, schien sie etwas milder zu stimmen. „Ich bin Minerva Orland. Ich bin die rechtmäßige Fürstin von Sabertooth. Wäre der Usurpator ein guter Fürst, der für das ihm anvertraute Volk und Land gewissenhaft Sorge trägt, würde ich auf meinen Anspruch verzichten, Basilisken reiten und den Wüstennomaden so meinen Dienst erweisen… Aber der Usurpator ist kein guter Fürst. Er macht all die Errungenschaften meiner Vorfahren zunichte und raubt sein eigenes Volk aus, tyrannisiert es, verkauft es sogar an die Sklaverei. Generationen lang haben die Orlands die Sklavenhändler von Bosco aus der Stillen Wüste ferngehalten, nun sind sie wieder da und treiben ihr Unwesen. Piraten ankern an den Wüstenklippen. Dörfer sterben aus, Oasen veröden und es werden sogar Basilisken gejagt.“ Es war nicht die Art der Wüstennomaden, Reden zu halten oder zu hören. Sting hatte also keine Referenzen, aber für sein Dafürhalten machte Minerva ihre Sache gut. Ihre Stimme wurde mit jedem Satz eindringlicher und in ihren Augen war ein wild entschlossenes Funkeln zu erkennen. Mittlerweile war es vollkommen still in der Zuflucht geworden. „Beim nächsten Neumond werde ich aufbrechen“, fuhr Minerva fort. „Ich werde nach Sabertooth reisen und alles daran setzen, den Usurpator zu entmachten und die Stadt meiner Vorfahren zu neuer Größer erheben. Ich werde die Sklavenhändler und Piraten und Basiliskenjäger bis zum letzten Mann verfolgen und ihrer gerechten Strafe zuführen. Ich werde alle Völker der Stillen Wüste befreien und ich werde alles in meiner Macht stehende dafür tun, um sie fortan zu beschützen. Aber ich kann das nicht alleine tun. Ich brauche Hilfe, eure Hilfe. Ich brauche Krieger und Händler, die mit mir nach Sabertooth kommen. Keinem von euch kann ich garantieren, dass er lebend heimkehren wird. Womöglich werden wir alle bei dem Versuch, Sabertooth zu befreien, ums Leben kommen. Aber jedem, der sich mir bei diesem Versuch anschließt, werde ich ewig dankbar sein.“ Wieder ließ Minerva ihren Blick über die Wüstennomaden schweifen. Sting konnte spüren, wie die Männer und Frauen unruhig wurden. Viele von ihnen scharrten mit den Füßen oder knirschten mit den Zähnen. Einige tuschelten wieder oder zischten abfällig, andere brummten beifällig. Die Stimmung war zum Zerreißen gespannt. „Ich erwarte keine Rechtfertigungen oder Versprechen. Beim nächsten Neumond werde ich auf einen Sandschlitten steigen und nach Norden fahren. Wenn keiner von euch zur besagten Zeit da sein wird, werde ich alleine fahren, ohne auch nur zu zögern. Wer von euch sich mir anschließt, braucht keinen Eid zu leisten. Ihr seid das freie Volk der Wüste und wenn einer von euch sich entschließt, an meiner Seite zu kämpfen, dann schwöre ich ihm, dass er auch für die Freiheit der Wüstennomaden kämpfen wird.“ Um Sting herum brach ein regelrechter Tumult aus. Die Wüstennomaden begannen, lautstark miteinander über das Für und Wider einer Einmischung in die Belange von Sabertooth zu diskutieren. Sting waren sie allesamt gleichgültig. Seine Füße bewegten sich wie von selbst, trugen ihn zurück zu seinem angestammten Platz neben Minerva. Er brauchte ihre Versprechen nicht. Die Risiken waren ihm egal. Alles, was zählte, war, dass Minerva und Yukino und er vom selben Sand waren. Wenn Minerva sich dieser Lebensgefahr stellte, würde er es auch tun. Wieder folgte Yukino seinem Beispiel und positionierte sich schließlich zu Minervas anderer Seite. Es war keine Überraschung. Auch wenn Yukino eigentlich zu jung war, um in einen Krieg zu ziehen, wussten Sting und Minerva, dass nichts sie hier halten würde. Ihnen blieb nichts anders übrig, als alles in ihrer Macht stehende zu tun, um die Jüngere zu beschützen. Zu Stings Überraschung – und soweit er es sagen konnte, auch zu Minervas – lösten einige der Wüstennomaden sich bereits aus der stetig lauter werdenden Menge. Adrim und Elias waren als Erste bei ihnen und boten Minerva ihre Säbel dar, wie Sting und Yukino es vorhin getan hatten. Ihnen folgten Nark, Asim und Dov und schließlich auch Mummy, nachdem sie sich aus der Menge frei gekämpft hatte. „Ihr braucht eindeutig immer noch jemanden, der auf euch aufpasst“, knurrte Elias, als er sich wieder erhoben hatte. Neben ihm brummte Adrim zustimmend, die Miene ungewöhnlich ernst. „Ja, das brauchen wir wohl“, antwortete Minerva bedächtig und blickte erst Yukino und dann Sting an. Er erwiderte ihren Blick unerschütterlich, eine Hand auf dem Knauf des Säbels, den er soeben von Adrim empfangen hatte. Es war ihm gleichgültig, wie viele oder wenige Wüstennomaden sich ihnen noch anschließen sollten. Er würde beim nächsten Neumond an Minervas Seite sein – und bei allen anderen Zeiten, die da kommen mochten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)