Christmas Angel von Khaleesi26 (Eine Weihnachtsgeschichte) ================================================================================ Kapitel 2: Mein erfundener Freund --------------------------------- „Du hast dieses Jahr echt Pech, Mimi“, sagte Sora und sah mich mitleidig an, während ich bäuchlings auf ihrem Sofa lag und mein Gesicht in eines der vielen Kissen drückte. „Ich weiß“, nuschelte ich. „Danke, dass du mich noch mal daran erinnerst.“ „So sollte das nicht klingen. Du tust mir nur leid. Erst das mit deinem Studium und deiner Wohnung, die ganzen verpatzten Dates… und dann rast gestern auch noch fast ein Motorradfahrer in dich rein. Ich hoffe, es wird nicht all zu teuer für dich.“ Ich stöhnte in mein Kissen und vergrub mein Gesicht noch tiefer darin. Nicht zuletzt, um diesen widerlichen Plätzchenduft zu entgehen, der schon wieder in der ganzen Wohnung hing. Ich hörte, wie Sora den Backofen öffnete und sie herausholte. Hörte diese Frau eigentlich niemals auf zu backen? „Ich fühle mich, wie die komplette Versagerin“, bemitleidete ich mich nun auch selbst und drehte mich auf den Rücken, da ich trotz des ganzen Dramas doch noch nicht vorhatte, zu ersticken. Und wenn überhaupt, wäre ersticken sicher nicht meine erste Selbstmordwahl. Wobei der Gedanke, gerade zu dieser Zeit schon fast zu verlockend war, denn ich war in der Weihnachtshölle gefangen. Und neben mir stand der Teufel mit einem Dreizack, grinste mir frech entgegen und hielt mir gebackene Plätzchen unter die Nase. „Also, ganz so dramatisch würde ich es jetzt nicht ausdrücken. Hier, willst du? Sind ganz frisch.“ Ich drehte mich angewidert weg und drückte ein Kissen an meine Brust. „Nein, danke. Wenn ich noch ein Plätzchen dieses Jahr esse, kotze ich.“ Sora zuckte mit den Schultern und stellte den Teller mit den duftenden Leckereien auf dem Tisch ab. Zum Glück kannten wir uns schon seit Jahren. Zum Glück war sie meine beste Freundin und wusste, wie sie mich zu nehmen hatte. Und zum Glück ließ sie mich bei sich wohnen, seit ich aus meiner Wohnung geflogen war. Noch nie hatte ich mein Leben weniger im Griff gehabt als jetzt. Einfach alles schien schief zu gehen. Das Erste, was das Rad des Unglücks zum drehen gebracht hatte war das BWL Studium, was ich seit X-Semestern durchzog und kurz vor dem Ende dann doch geschmissen hatte. Danach ging es einfach nur noch steil bergab. Ich verlor meinen Nebenjob und somit auch das Geld für meine eigene Wohnung. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, schienen in letzter Zeit auch noch alle Männer vor mir zu flüchten, die auch nur in meine Nähe kamen, geschweige denn sich auf ein Date mit mir einließen. Mehr, als ein erstes Rendezvous überlebten sie meistens nicht und schon waren sie mit wehenden Fahnen auf und davon. Wenn ich Sora nicht gehabt hätte, wüsste ich nicht, was ich machen sollte. „Kannst du jetzt mal aufhören damit?“, fragte sie mich und ich sah sie überrascht an, da ich überhaupt nicht mitbekommen hatte, dass sie sich zu mir gesetzt hatte. Ich richtete mich auf und verzog das Gesicht. „Womit aufhören?“ „Dich selbst zu bemitleiden.“ „Du hast leicht reden“, schnaufte ich. „Du bist ja auch super erfolgreich in allem, was du tust. Du hast eine tolle Wohnung, einen netten Freund und bist in deiner Kanzlei auf dem aufstrebenden Ast. Ich wünschte, bei mir würde es ein Mal so glatt laufen.“ Sora seufzte und verdrehte kommentarlos die Augen. Ich konnte verstehen, dass sie das alles satt hatte mit mir. Ich war zurzeit wirklich nicht einfach und genaugenommen hatte ich mich sogar selbst ein bisschen satt. „Sag mal, was war das eigentlich für ein Typ, der dich gestern beinahe angefahren hat? Kennst du ihn?“, fragte sie plötzlich neugierig und ich war froh, dass sie vom Thema ablenkte. Wobei dieses Thema auch nicht gerade besser war. Dieser Typ regte mich immer noch auf! Wie selbstgefällig er behauptet hat, ICH wäre schuld gewesen. Gut, vielleicht war ich ein bisschen schuld daran. Aber trotzdem. Die Art, wie er mit mir umgesprungen war, brachte mich einfach nur auf die Palme. „Ach, ich kenne ihn überhaupt nicht. Er heißt Taichi Yagami und ich hoffe, ich muss ihn nie wiedersehen.“ Trotzig sah ich zu Boden, während Sora erstaunt aufsah. „Taichi? Tai Yagami?“ Überrascht sah ich sie an. „Ja, so hat er sich genannt. Wieso?“ Ich hatte eine schlimme Vorahnung. „Ist ja witzig. Wir sind früher zusammen auf die Schule gegangen.“ Oh, Schande. „Ist nicht wahr“, stöhnte ich und warf den Kopf in den Nacken. „Wart ihr etwa befreundet oder wie darf ich das verstehen?“ „Na ja, nicht so richtig. Matt war mit ihm in einer Klasse. Aber nach der Schule ist jeder seiner Wege gegangen. Ich glaube, er hat Lehramt studiert oder so was Ähnliches.“ „Lehrer? Die armen Kinder.“ „Jedenfalls war er danach ein paar Jahre im Ausland. Irgendwie witzig, dass er wieder hier ist und direkt in dich rein rast.“ Sora lachte, doch meine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Schön, dass dich das so amüsiert.“ „Tai war immer voll der Aufreißer“, kicherte Sora plötzlich und brachte mir so ungewollt mehr Informationen über diesen Typ, als ich eigentlich haben wollte. „Ich glaube, er hatte während der Schulzeit nie eine feste Freundin. Aber viele Verehrerinnen. Er sah schon damals unglaublich gut aus. Ist das jetzt immer noch so?“ Neugierig sah sie mich an, doch ich zog nur eine Augenbraue nach oben. „Keine Ahnung?“ Sie lehnte sich wieder zurück und schwelgte in Erinnerungen. Meine Erinnerungen an ihn waren allerdings weniger erfreulich. „Na ja, was soll’s. Vielleicht kommt er mal hier vorbei und wir können ein wenig plaudern.“ „Hoffentlich nicht“, murrte ich und stopfte mir nun doch eines dieser verdammten Plätzchen in den Mund. Sora grinste mich vielsagend an und stand auf. „Ich muss noch ein bisschen arbeiten. Reg dich nicht mehr darüber auf. Tai ist eigentlich ganz in Ordnung. Er wird dich schon nicht komplett ausnehmen.“ Sie zwinkerte mir zu und verschwand in ihr Büro. Von wegen. Auf mich hatte er einen ganz anderen Eindruck gemacht. Ich legte mich zurück in die Kissen und starrte an die Decke. Er war eigentlich ganz in Ordnung? Na, ich war mir da nicht so sicher… Plötzlich klingelte mein Handy. Ich holte es aus meiner Hosentasche und warf einen Blick aufs Display. Unbekannte Nummer. Stirnrunzelnd ging ich ran. „Hallo? Mimi Tachikawa hier.“ „Ja… Tai hier. Taichi Yagami.“ Ich erschrak und schluckte schwer. Oh nein, was wollte der denn jetzt? Wenn man vom Teufel sprach. Kurz überlegte ich einfach wieder aufzulegen, doch als ich ihm nicht antwortete, räusperte er sich. „Du erinnerst dich?“ Ich verdrehte die Augen. „Als ob ich das vergessen könnte.“ „Schön. Bist du zu Hause?“ „Was soll die Frage?“ „Ob du zu Hause bist?“ Seine Stimme klang ziemlich ungeduldig, doch da hatte er die falsche am Telefon. Auf so was hatte ich keine Lust. „Sag mal, stalkst du mich?“, fragte ich daher nur genervt. „Das hättest du wohl gern. Ich habe die Rechnung der Werkstatt. Das Motorrad ist noch nicht repariert, aber ich wollte sie dir schon mal geben.“ „Und dafür muss ich zu Hause sein? Warum schickst du sie nicht mit der Schneckenpost?“ War ja wohl nicht sein Ernst, dass er tatsächlich hier aufschlagen wollte. Auf keinen Fall! „Nein, ich bring sie dir vorbei. Ich will nicht, dass sie auf dem Postweg auf irgendeine mysteriöse Art und Weise verschwindet“, sagte er. „Ich bin aber nicht zu Hause“, log ich und dachte dabei sofort an Sora. Sie durften sich hier nicht über den Weg laufen. Sonst plauderten sie am Ende wirklich noch über alte Zeiten und diesen Typen länger zu ertragen als nötig, war absolut keine Option. „Wo bist du dann? Ich komme da hin“, schlug er vor, doch ich verzog das Gesicht. „Ich habe dich aber nicht eingeladen.“ „Und ich habe keine Lust mit dir zu telefonieren, also…?“ „Schmeiß sie mir doch in den Briefkasten.“ So langsam regte mich diese dominante Art von ihm echt auf. Was bildete er sich ein? „Na klar, und dann klaut sie rein zufällig ein Nachbar. Ich bin doch nicht blöd.“ „Du hast doch einen Knall.“ Dachte er ernsthaft, ich würde die Rechnung klammheimlich verschwinden lassen und so der Bezahlung aus dem Weg gehen? Frechheit! „Na gut, wenn’s unbedingt sein muss. Ich bin heute Abend bei meinen Eltern. Du kannst dort kurz vorbeikommen“, lenkte ich schließlich ein und nannte ihm im selben Atemzug die Adresse. Besser er tauchte dort auf als hier. „Ok, geht klar. Macht ihr da ein Weihnachtsessen?“, fragte er aus heiterem Himmel, doch ich hatte nicht vor mit ihm Small Talk zu führen. „Das geht dich nichts an.“ „Zicke.“ „Bis später“, sagte ich und legte auf. Blöder Idiot! Dieser Kerl war der Inbegriff von Unverfrorenheit. Hoffentlich war ich ihn genauso schnell wieder los, wie er gekommen war. Ein paar Stunden später hatte ich mich tatsächlich mal in Schale geworfen und war zu meinen Eltern gefahren. Die ganze Verwandtschaft war da, wie jedes Jahr. Der Tag der Wahrheit war also gekommen. Ich musste meiner Familie beichten, wie es um meine Zukunft zurzeit stand – nämlich nicht besonders rosig. Meine Zukunftsaussichten waren eher wage und ich hatte immer noch keine Ahnung, wo es mich letztendlich hintrieb. Meine Eltern waren beide erfolgreich, in dem, was sie taten. Sogar mehr als das. Mein Vater war Anwalt in der Firma, in der auch Sora arbeitete und meine Mutter hatte eine Kette von Kosmetiksalons aus den Boden gestampft. Man konnte also offen sagen, dass ich eine Enttäuschung für meine Familie sein musste. „Mach was Solides“ – hatten sie gesagt. „Mit BWL kannst du nichts falsch machen“ – hatten sie gesagt. Dass dieses Studium mich absolut nicht glücklich machte und überhaupt nichts für mich war, hatten sie mir nicht gesagt. Und ich hatte mich nie getraut, es zu sagen. Umso schlimmer, dass ich es nun doch tun musste. Bei dem Gedanken drehte sich mir der Magen um. Meine Mutter würde ausrasten, ganz sicher. Und mein Vater würde nur bedauernd den Kopf schütteln und mich mit diesem „Was haben wir nur falsch gemacht“ Blick ansehen. Na, das konnte was werden. Ich bog in die Einfahrt ein und fuhr bis vor die Haustür. Meine Eltern machten keinen Hehl daraus, dass sie viel Geld hatten, deswegen kam auch gleich einer der Angestellten auf mich zu, um mir meine Wagenschlüssel abzunehmen und mein Auto in die Hauseigene Garage zu fahren. Mit wummerndem Herzen ging ich zur Tür. Wenige Sekunden später öffnete meine Mutter die Tür und fiel mir um den Hals. „Mimi, wie schön, dass du da bist“, flötete sie und bat mich rein. „Danke, Mama. Ich freue mich auch.“ Nur eine kleine Notlüge, um ihr nicht gleich die Stimmung zu verderben. Nachdem ich meinen Mantel abgenommen hatte, hakte sie sich bei mir unter und zerrte mich direkt in den Salon. „Tante Zoe ist auch schon da und stell dir vor… sie hat sich von ihrem Freund getrennt. Sprich sie bloß nicht drauf an“, flüsterte sie mir verheißungsvoll zu, um mich anscheinend vorzuwarnen. Dabei war mir das so was von egal. „Echt? Ist ja ein Ding.“ „Und Oma Ai hat mal wieder mit ihrem Rheuma zu kämpfen, also… sei heute ganz besonders nett zu ihr, ja?“ „Natürlich, Mama“, sagte ich und zwang mir ein Lächeln ab, als wir die Tür durchquerten und mich sofort alle erwartungsvoll ansahen. „Mimi!“, rief meine Tante und kam auf mich zu, um mich zu umarmen. „Wie groß und hübsch du geworden bist. Unfassbar! Wie lang haben wir uns nicht gesehen? Drei Jahre?“ Ich grinste lediglich und begrüßte auch den Rest meiner Verwandtschaft, der aus Tanten, Onkeln, meiner Großmutter und meinem nervigen, kleinen Cousin bestand. Auch mein Vater begrüßte mich gewohnt herzlich, ehe ich von meiner Tante direkt in ein Gespräch verwickelt wurde. „Sag mal, was macht dein Studium? Bist du nicht bald fertig? Du müsstest kurz vor den Prüfungen stehen, nicht?“, wollte sie neugierig wissen und strahlte mich an, als könne ich ihr Wunder was erzählen. „Ja… ähm, ich…“ „Mimi ist Jahrgangsbeste“, prahlte mein Vater nun, während mich alle anerkennend ansahen. „Wenn sie ihre Prüfungen bestanden hat, wird sie in meine Firma übernommen. So eine talentierte, kluge, junge Frau können wir dort immer gebrauchen.“ „Papa!“, tadelte ich ihn leise, da es mir wie immer äußerst unangenehm war, dass er so große Stücke auf mich hielt. Und er machte es mir damit nicht gerade leichter. „Hör auf, Keisuke. Du bringst sie in Verlegenheit“, mischte meine Mutter mich ein und nahm mich an der Hand. „Komm mit, Schatz. Du kannst mir in der Küche helfen.“ Danke, Mama. Ergeben folgte ich ihr in die große, geräumige Küche, wo wir ein paar Häppchen vorbereiteten. Sie erzählte mir dies und das. Von Ihrer Arbeit, der neuste Klatsch der Nachbarn. Ich hörte nicht genau hin, denn mir brannte etwas auf der Seele und ich wollte es unbedingt loswerden. „Ich meine, kannst du dir das vorstellen? Ich habe gedacht, ich höre nicht richtig und dann hat sie auch noch…“ „Mama… Kann ich dir was erzählen?“, unterbrach ich sie und sie sah sofort überrascht von ihren Appetithäppchen auf. Der Unterton in meiner Stimme war ihr nicht entgangen. „Was hast du denn, Schatz?“, fragte sie besorgt, als ich eine traurige Miene auflegte. „Ähm… es ist so, ich…“ Komm schon, Mimi! Jetzt, oder nie! „Also ich habe… Ich habe festgestellt, dass BWL nicht das Richtige für mich ist.“ Ich sah, wie meine Mutter mit Bedacht das Messer beiseitelegte und mich fassungslos ansah. „Aber Mimi, was redest du denn da? Gefällt es dir etwa nicht mehr?“ „Nicht so richtig“, gab ich schüchtern zu und versuchte ihrem Blick auszuweichen, der sofort mitleidig wurde. „Eigentlich hat es mir noch nie wirklich Spaß gemacht.“ „Oh, Schatz…“, sagte meine Mutter bedauernd und kam auf mich zu. „Da ist noch etwas“, sagte ich und sah sie an. Alles oder nichts. Wenn ich schon aufräumte, dann konnte ich auch gleich die ganzen Karten auf den Tisch legen. Gefasst sah sie mich an. Als würde gleich eine Lawine über sie hereinbrechen. „Ich… ich habe meinen Nebenjob verloren. Und meine Wohnung“, gestand ich und ging innerlich in Deckung. Sie schlug sich die Hand vor den Mund. „Du hast was? Mimi! Seit wann? Wo… Wo wohnst du denn jetzt? Oh mein Gott.“ Sie wedelte sich mit der Hand Luft zu und ging unruhig im Raum auf und ab, als müsste sie erst mal begreifen, dass ihre Tochter Mittel- und Arbeitslos war. „Das ist eine Katastrophe!“ „Ganz so würde ich es jetzt nicht ausdrücken“, meinte ich schulterzuckend. Sie blieb stehen und Tränen des Bedauerns schossen ihr in die Augen. „Oh... Oh, nein, Mama. Bitte nicht weinen. Es ist alles halb so schlimm“, versuchte ich sie zu beschwichtigen. „Ich wohne bei Sora und bis ich weiß, was ich wirklich machen will…“ „Du weißt noch nicht, was du jetzt machen willst?“ Entsetzt sah sie mich an. „Nein. Nicht so richtig. Aber mir fällt schon noch was ein und bis dahin suche ich mir eben einen neuen Nebenjob. In einer Bar oder so. Kellnerinnen werden überall gebraucht.“ Meine Mutter brach prompt in Tränen aus, als hätte ich ihr offenbart, ich bräuchte eine Spenderniere. Ich wusste, es würde hochdramatisch werden, aber das…? Voller Mitleid sah sie mich an und versuchte ihre Tränen unter Kontrolle zu bringen. Ich hielt es nicht aus, dass sie mich so ansah. Ich hatte sie enttäuscht. Ich hatte mich enttäuscht. Und ich würde auch meinen Vater enttäuschen. Scheiß Weihnachten! Das war das schlimmste Jahr seit Ewigkeiten und diese Enttäuschung jetzt in ihren Augen zu sehen, und wie sie mich bemitleidete, brach mir das Herz. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, alles hinzuschmeißen. „Wir kriegen das schon irgendwie hin“, sagte sie schließlich schluchzend und ich konnte sehen, wie sie in ihrem Mutter-Kopf nach einer Lösung für ihre bemitleidenswerte Tochter suchte. „Danke“, sagte ich frustriert und ließ die Schultern hängen. „Mama, ich…“, wollte ich noch sagen, doch die Türklingel unterbrach mich. „Ist schon gut, Schatz. Wir reden später darüber. Kannst du bitte an die Tür gehen?“ Ich ließ den Kopf hängen, während sie sich die letzten Tränen von den Augen wischte und sich wieder auf ihre Häppchen konzentrierte. „Ja, mach ich.“ Ich ging durch den Flur zur Eingangstür, doch der ungebetene Gast hörte einfach nicht auf zu klingeln. „Gott, jaah, ich komme doch!“, rief ich genervt und riss die Tür mit einem Ruck auf. Zwei warme, braune Augen sahen mich an. Kurz schrak ich zurück. Ich hatte doch glatt vergessen, dass er hier aufkreuzen wollte. Diesmal war er nicht in Motorradklamotten gekleidet, sondern trug eine schwarze Jeans, ein weißes Shirt, einen Schal und eine schwarze Jacke. Seine braunen Haare waren jedoch wieder verwuschelt, obwohl er diesmal keinen Helm getragen hatte, sondern sich stattdessen ein paar kleine Schneeflocken auf seinem Kopf sammelten. „Hi“, sagte er und lehnte lässig gegen den Türrahmen. „Dachte schon, das wäre die falsche Adresse.“ Mit großen Augen musterte ich ihn. Gott, wie konnte man nur so verdammt gut aussehen? „Mach den Mund zu, das sieht aus, als hättest du einen Schlaganfall“, sagte er genervt und zog eine Augenbraue in die Höhe. Ich blinzelte ein paar Mal und fasste mich wieder. Arrogantes Arschloch! „Musstest du so oft hier klingeln? Muss ja nicht gleich jeder wissen, dass du hier bist, um mich zu belästigen“, motzte ich und trat einen Schritt nach draußen, um die Tür hinter mir etwas ran zuziehen. Er trat zurück und sah mich fragend an. „Ist dir wohl peinlich.“ Ich verdrehte die Augen. „Was ist jetzt mit der Rechnung? Darum bist du doch hier.“ Ich schlang die Arme um mich, weil ich zu frieren begann und wartete darauf, dass er mir endlich gab, wofür er gekommen war. „Gott, bist du ungeduldig“, entgegnete er und faste in seine Jackentasche. „Was? Hast du gedacht, ich bitte dich auf einen Kaffee rein?“ Er antwortete nichts darauf, sondern hielt mir nur kommentarlos das Schriftstück unter die Nase. Mein Blick fiel sofort auf die unten eingekreiste Endsumme. „400.000 Yen?“, rief ich entsetzt und sah ihn an. „Was hast du reparieren lassen? Ein Raumschiff?“ Ich schüttelte ablehnend den Kopf. „Auf keinen Fall! Das bezahle ich nicht! So viel Geld hab ich nicht.“ Tai sah mich stutzig an, ehe sein Blick an dem Haus hinter mir hochwanderte. „Und das soll ich dir jetzt glauben?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn herausfordernd an. „Ich wohne nicht hier, falls du das vergessen hast. Und ich habe nicht so viel Geld. Punkt.“ „Mir ist egal, wo du das Geld auftreibst“, sagte er jedoch nur gelassen, als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen. „Du bezahlst den Schaden. Punkt.“ Also, das war doch… Ich ballte die Hände zu Fäusten und bemerkte vor lauter Wut auf diesen Typen gar nicht, wie hinter mir die Tür aufging. „Mimi, Schatz… Wer ist das?“ Oh, nein. Erschrocken wandte ich mich um, ehe meine Mutter neben mich trat und Tai eingehend musterte. Ein leichtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Bitte. Frag. Nicht. Tu es nicht! „Ist das dein Freund?“ Am liebsten hätte ich mir die Hand vors Gesicht geschlagen. Doch so, wie sie lächelte und wie sie ihn ansah, war sie schlichtweg hin und weg von Tai, von der ersten Sekunde an. Wer konnte es ihr verübeln? Er sah wirklich gut aus. Erwartungsvoll sah sie mich an. Oh, man, warum tat sie das nur? Vor ein paar Minuten noch diese bedauernswerten Blicke und jetzt das? Wie sollte ich die Kraft haben, sie schon wieder zu enttäuschen? Das würde ihr endgültig den Rest geben. Sie lehnte sich zu mir rüber und hielt die Hand vor den Mund. „Er sieht wirklich ausgesprochen gut aus. Guter Fang, Mimi.“ „Oh, ähm… nein, das verstehen Sie falsch. Ich bin…“, setzte Tai an, um diese Sache aufzuklären, doch ich wedelte schnell mit der Hand vor seinem Gesicht rum, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Ja… Ja, er ist mein Freund“, sagte ich eilig und die Augen meiner Mutter begannen zu strahlen. „Ich… bin dein Freund?“, sagte Tai verwirrt und runzelte die Stirn, während ich zu ihm hüpfte und mich bei ihm unterhakte. Er wich ein wenig Zurück und sah mich misstrauisch von oben herab an. „Gott, Mimi. Warum hast du denn nichts gesagt?“, fragte meine Mutter und schmachtete offensichtlich gerade dahin. „Ja, Mimi. Warum hast du nichts gesagt?“, flötete Tai, verengte jedoch die Augen zu Schlitzen. Ich grinste unsicher. „Es… es sollte eine Überraschung werden. Das mit uns ist noch ganz frisch.“ „Kann man so sagen“, kommentierte Tai und ich stupste ihn unauffällig mit dem Bein an. „Aber ehrlich, Schatz. Mir hättest du es doch sagen können. Warum bringst du deinen Freund nicht einfach mit rein? Dein Vater würde sich sicher freuen, ihn kennenzulernen. Achso, ich bin übrigens Satoe.“ Meine Mutter hielt Tai die Hand hin und er ergriff sie zögerlich. „Taichi Yagami. Und ich habe wirklich keine Ahnung…“ „Warum ihr euch nicht schon früher kennengelernt habt. Wir kommen gerne gleich zu euch“, flötete ich. Meine Mutter zwinkerte mir zu und verschwand wieder im Haus. Augenblicklich riss sich Tai aus meiner Umklammerung. „Hast du sie noch alle? Dein Freund?“ Ich stöhnte genervt auf. „Was sollte ich denn machen? Hast du gesehen, wie sie mich angesehen hat? Und wie sie dich angesehen hat?“ „Was du hättest machen sollen? Ihr vielleicht sagen, dass ich NICHT dein Freund bin?“ Er war außer sich vor Wut. Spießer! Das war doch nur eine Notlüge, verstand er das denn gar nicht? „Du hast ja keine Ahnung, in was für einer Lage ich gerade stecke“, versuchte ich ihm meine Situation klarzumachen. „Das ist das schlimmste Weihnachtsfest meines Lebens und ich hab es einfach nicht übers Herz gebracht, sie schon wieder zu enttäuschen. Also, stell dich nicht so an und komm mit.“ Ich packte ihn eilig am Ärmel seiner Jacke und wollte ihn mit mir ziehen, wurde jedoch zurückgerissen, weil er wie eine Salzsäule dastand und sich keinen Zentimeter bewegte. „Hast du einen Knall? Auf keinen Fall gehe ich mit dir da rein!“ „Was? Aber warum nicht?“, entgegnete ich totunglücklich und war der Verzweiflung nahe. „Weil ich dich überhaupt nicht kenne?“ Tai lehnte sich leicht nach vorn und sah mich ernsthaft an, als wäre ich bescheuert. „Dann lernst du mich eben kennen.“ „Kein Bock!“, erwiderte er genervt und wandte sich zum Gehen um, als ich trotzig mit dem Fuß auf den Boden aufstampfte und einen kleinen Wutschrei von mir stieß. Er war gerade dabei zu gehen, als ich ihm hinterherrief und somit alle Register zog. „Taichi Yagami. Entweder du spielst heute Nachmittag meinen Freund oder du siehst keinen Cent von deinem Geld!“ Abrupt blieb er stehen, drehte sich langsam um und funkelte mich böse an. „Was?“ „Du hast schon richtig gehört!“ „Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ihn herausfordernd an, damit er sah, wie ernst es mir war. Er ging einige Schritte auf mich zu und kam mir bedrohlich nahe. Doch ich wich nicht zurück. „Das ist Erpressung! Und ich werde ganz sicher nicht deinen Freund spielen! Das kannst du knicken!“, sagte er mit Nachdruck. Kurz war ich dabei mich in seinen eindringlichen Augen zu verlieren, doch dann zuckte ich mit den Schultern. „Dann kannst du die Rechnung gleich wieder mitnehmen. Von mir kriegst du gar nichts.“ „Das ist doch…“ Ihm fehlten offensichtlich die Worte. Und mir auch. Dass ich so durchtrieben sein konnte, war mir gar nicht bewusst. „Ach, komm schon. Es wird dich schon nicht umbringen, einen Nachmittag lang so zu tun, als wärst du mein Freund. Was ist so schlimm daran?“ Er richtete sich zu voller Größe auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hast echt Nerven, weißt du das?“, sagte er bissig. Ich versuchte ein unschuldiges Lächeln aufzulegen. Einen besseren Plan gab es gerade nicht. Meiner Mutter zu sagen, dass ich Mittel-, Arbeits- UND auch noch Freundlos war kam einfach nicht in Frage. Es war so schon alles schlimm genug. „Bitte?“, säuselte ich und warf ihm meinen lieblichsten Blick zu. Tai dachte nach, stöhnte dann jedoch und fuhr sich gestresst durch die Haare. „Ich kann nicht fassen, dass ich das hier gerade wirklich tue.“ „Super!“, jubelte ich und klatschte in die Hände, ehe ich ihn bei der Hand nahm und hinter mir herzog. „Danke, dass du das für mich machst.“ „Ich mache das nicht für dich.“ „Was? Na, wie auch immer. Danach bezahle ich dir deine Rechnung, versprochen! Ach, und sei nett zu meiner Familie. Es ist Ewigkeiten her, dass ich einen Freund hatte und ihn mit nach Hause genommen habe.“ „Ach, kann mir gar nicht vorstellen, warum“, nuschelte Tai in sich hinein und verdrehte die Augen, doch das war mir egal. Er sah gut aus, war smart und ungefähr in meinem Alter. Und wenn meine Mutter wollte, dass er mein gutaussehender, erfolgreicher Freund war, dann sollte es so sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)