Santa Claus und Sankt Nikolaus von abgemeldet (Eine Adventsgeschichte) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Ihr Kinder, stellt die Schuh' hinaus, denn heute kommt der Nikolaus; und wart ihr immer gut und brav, dann lohnt's euch Nikolaus im Schlaf. Er bringt euch Äpfel, Feigen, Nüss' und gutes Backwerk, zuckersüß. Doch für das böse, schlimme Kind legt er die Rute hin geschwind. Dezember 2070 Noch vier Mal schlafen, bis Nikolaus... Der Winter diesen Jahres hatte früh Einzug gehalten. Bereits Anfang November war der erste Schnee gefallen und die anhaltend frostigen Temperaturen ließen Groß und Klein auf ein weißes Weihnachtsfest hoffen. Mit Beginn der Adventszeit brachten sich die Bewohner Portlands durch bunte Lichterketten, Lametta und kitschige Dekoration, welche beinahe an jeder Hausecke zu finden war, in vorweihnachtliche Stimmung. Im Radio und auf den Straßen wurden Weihnachtslieder in Dauerschleife gespielt. Wie jedes Jahr stellte der strahlende Weihnachtsbaum am Pioneer Courthouse Square das Herzstück der Stadt dar und war selbst unter Touristen als Attraktion bekannt. Dass die Tage immer kürzer wurden, störte niemanden wirklich, denn mit beginnender Dunkelheit erstrahlten die Straßen in festlichem Glanz. Die Leute waren besinnlich und jeder freute sich auf das anstehende Fest. Doch unter all den Liebhabern der Weihnachtszeit gab es ein kleines, verträumtes Mädchen, das Weihnachten besonders liebte. Mit ihren geflochtenen, dunkelblonden Zöpfen, den rosigen Wangen und den großen, neugierigen Kulleraugen wurde sie von ihrer Mutter oft als Engel bezeichnet- und das war Hailey auch. Sieben Jahre war sie alt, weswegen sie bereits die zweite Klasse der Buckman Elementary School in Portland besuchte. Ihr Bruder Quinn, welcher mit erstem Namen eigentlich Cedric hieß, besuchte die sechste Klasse der selben Schule. Obwohl er allgemein eine Abneigung gegen Verpflichtungen jeglicher Art zu haben schien, konnte er es kaum abwarten, die Buckman School endlich hinter sich zu lassen und auf die Junior High über zu wechseln. Grund dafür waren seine Freunde, welche allesamt älter waren und deswegen auch bereits weiterführende Schulen besuchten. Obwohl Hailey die Jungs, mit denen ihr Bruder abzuhängen pflegte, nicht leiden konnte, konnte sie ihn verstehen. Immerhin fand sie es schon doof, dass ihre beste Freundin Lynn drei Klassenstufen über ihr war. Im Gegensatz zu ihm hatten sie aber wenigstens die Pausen, die sie gemeinsam verbringen konnten. In der Woche zum 6. Dezember, der in diesem Jahr auf einen Freitag fiel, hörte Hailey im Religionsunterricht zum ersten Mal von einem Mann in Europa, der 'Nikolaus von Myra' genannt wurde. Ebenso wie Santa Claus, der in Haileys Augen beinahe als Held verehrt wurde, besuchte dieser Kinder und brachte ihnen Geschenke. Am heiligen Abend kam zur Bescherung dagegen das 'Christkind', das in Haileys Fantasie fast ein wenig wie ihre Lieblingsbarbie aussah- nur eben in einem langen, weißen Glitzerkleid und mit Heiligenschein. Vom Zauber der Weihnacht und den dazugehörenden Geschichten eingelullt, fiel ihr erst zu Hause ein Umstand auf, der für die Siebenjährige nur schwer nachzuvollziehen war. "Mama, warum bekommen Kinder in Europa eigentlich zweimal Geschenke und ich nur einmal?" Ihre Mutter Lory, welche gerade das Abendessen für die fünfköpfige Patchworkfamilie zubereitete, sah flüchtig zu ihrer Tochter, die auf dem Küchentisch soeben ihren Wunschbrief an Santa schrieb. "Wie meinst du?" "Warum haben wir nicht auch ein Christkind? Warum kommt Santa nicht zweimal?" Waren die Kinder in Europa womöglich artiger als sie? Schwer vorzustellen, wo sich Hailey doch immer so viel Mühe gab, ihrer Mutter keinen Kummer zu bereiten und auch sonst immer zu gefallen. Ganz anders als Quinn, der Lory sogar oft schon zum Weinen gebracht hatte. Zumindest war sich Hailey sicher, dass es ihr Bruder war, weswegen ihre Mutter abends im Schlafzimmer heimlich in ihr Kissen schluchzte. Sie hatte gehört, wie Joshua deswegen geflucht hatte und sie hatte gehört, wie Quinns Name gefallen war. Dass ihr Bruder ihren neuen Stiefvater und auch dessen Sohn Isaac nicht leiden konnte,war kein Geheimnis. Ebenso wenig, dass die Sympathien auf Gegenseitigkeit beruhten. Eine Situation, die für niemanden leicht war. Besonders nicht für Hailey, der viel an Harmonie und Zusammenhalt lag. Doch lag es sicher nicht an ihrem Bruder, dass Santa Claus sich ausschließlich auf die Nacht zum fünfundzwanzigsten Dezember festgelegt hatte. Er sei schließlich nicht immer so gewesen. Etwas, das ihre Mutter ganz oft gegenüber Joshua erwähnte. Außerdem wollte Hailey daran glauben, dass es sich bei Santa um einen gerechten Mann handelte. In ihren Augen wäre alles andere, insbesondere im Bezug auf Quinn, einfach äußerst unfair. "Naja mein Schatz.", setzte ihre Mutter schließlich zögernd zu sprechen an, wobei sie sich nicht im Rühren unterbrach, "... wir leben nun einmal hier und nicht dort. Wir haben andere Traditionen. Und Santa wäre sicher traurig, wenn er wüsste, wie undankbar du gerade denkst." Mit ihrem letzten Satz traf Lory direkt ins Schwarze: augenblicklich machte sich ein schlechtes Gewissen in Hailey breit. Beschämt richtete sie ihre Aufmerksamkeit zurück auf den Brief, womit die Thematik -zumindest für ihre Mutter- beendet war. Noch drei Mal schlafen, bis Nikolaus... In jener Nacht träumte das Mädchen von einem pausbäckigen Mann in genauso rotem Mantel wie Santa Claus, der ihr Geschenke brachte. Auch auf dem Weg zur Schule ließ sie das Thema einfach nicht los. "Quinn?", richtete sie aus diesem Grund das Wort an ihren Bruder, welcher ihr täglicher Begleiter war. Dass ihm diese Verantwortung übergeben worden war, war auf einen taktischen Zug ihrer Mutter zurück zu führen. Egal, wie sehr Quinn sonst auch ausbrach: wenn es um seine kleine Schwester ging, zeigte er sich äußerst fürsorglich. So konnte sie außerdem davon ausgehen, dass er sicher den Weg zur Schule fand und nicht auf dumme Gedanken kam. Dennoch hielt das den Elfjährigen nicht davon ab, sich kaum, dass sie um die nächste Ecke gebogen waren, eine Zigarette in den Mund zu stecken. Das tat er erst seit kurzem, aber Hailey hasste es jetzt schon. Ihn an ihre Mutter zu verpetzen würde ihr dennoch nie in den Sinn kommen. Es war ihr kleines Geheimnis und Quinn wusste das. "Hm?", kam es nur wenig interessiert von ihm, während er einen tiefen Zug nahm und gleich darauf zu husten anfing. Warum er das tat, verstand das Mädchen nicht. Aber seine Freunde taten das auch alle. Und Joshua auch. So schlimm konnte es letzten Endes also gar nicht sein, egal, wie sehr der Rauch auch stank. Als nächstes klärte sie ihn über ihre Gedanken und Sorgen auf. "Meinst du, es liegt vielleicht an mir?" Mit Tradition und Kultur konnte der Blondschopf noch nicht wirklich viel anfangen. "Quatsch." Wieder hustete Quinn und Hailey beobachtete, dass er sich kaum, dass eine Gruppe älterer Mädchen an ihnen vorbei gingen, krampfhaft darin unterbrach. Auch war sein Gang auf einmal anders und sie bemerkte, wie er der Gruppe nachsah. Hailey tat es ihm gleich, um zu verstehen, warum er das tat. Wahrscheinlich hatte er auch die silberne Glitzertasche des einen Mädchens bemerkt. Die war wirklich schön. Als Quinn schließlich weiter sprach, war seine Stimmlage unstet. Dass die Stimme des Älteren beim Reden gelegentlich unmelodisch in andere Tonlagen übersprang, war ihr in letzter Zeit öfter schon aufgefallen. Langsam begann sie sich darum zu sorgen, dass er krank wurde. Immerhin trug er seine Jacke sogar bei den eisigen Temperaturen offen. Wieder etwas, das er mit seinen komischen Freunden gemeinsam hatte. "Auf so nen Scheiß kommst auch nur du." Obwohl die Blonde seine schroffe Wortwahl eigentlich kannte, fühlte sie sich in diesen Moment verletzt. Das war doch kein Scheiß! Als Quinn sah, wie ihre Augen wässrig wurden, korrigierte er sich kieksend: "Ich meine auf so eine Idee." Die Augen verdrehend, schnippte er die Zigarette bei Seite und boxte seiner Schwester sacht gegen den Arm. "Du bist doch mein kleiner Engel." Indem er ihr ein schiefes Grinsen, das selbst für sein Alter schon ziemlich charismatisch war, schenkte, zeigte er sich weiter versöhnlich. "Vielleicht... wurde der Nikolaus oder das Christkind nur noch nie zu uns eingeladen? Vielleicht waren sie deswegen noch nie bei uns?" Quinn wusste, dass das absoluter Käse war, bemerkte allerdings, wie die Augen seiner Schwester groß wurden und fantasierte deswegen weiter: "Wer noch nie von jemand eingeladen worden ist, kann ja auch nie zu Besuch vorbei kommen. Klingt logisch, oder?" Die Botschaft, die er ihr vermitteln wollte: 'Es liegt nicht an dir'. Wenn es Hailey mit dieser Geschichte besser ging, war es ihm nur recht. Den Rest des Weges wirkte die Blonde ziemlich in Gedanken. "Du hast Recht.", gab sie kurz, bevor sich ihre Wege trennten, nachdenklich von sich. Sie wusste nun, was zu tun war und konnte es kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen. Noch am selben Tag zog sie sich in ihr Kinderzimmer zurück, um dem Nikolaus eine Einladung nach Portland zu schreiben. Lynn sollte sie bei ihrem Vorhaben unterstützen. Schließlich war sie ein paar Jahre älter und konnte ihr helfen, die Wörter richtig zu schreiben. Außerdem vertraute die Blonde darauf, mit Lynns Anleitung eine Karte basteln zu können, mit der sich der Nikolaus mit seinem Rentierschlitten sicher nicht verflog. Zumindest ging Hailey davon aus, dass er einen hatte. Bei all den Parallelen mit Santa war der Nikolaus sicher sein Bruder; eine Vorstellung, die Hailey durchaus gefiel. Nachdem die Kinder Schere, Stifte, Papier und Kleber bereit gelegt hatten, brachte Haileys Mutter zwei dampfende Tassen heißer Schokolade und einen Teller selbstgebackener Lebkuchenmännchen. Lynn war ein sehr gern gesehener Gast und Lory Ashwell hatte Freude daran, die Mädchen zu verwöhnen. Ihr war bewusst, dass das aufgeweckte Mädchen mit den dunklen Haaren ihrer kleinen Tochter gut tat. Geschickter als jeder andere, schaffte sie es, die zumeist schüchterne Hailey aus der Reserve zu locken. Auch hatte sie großen Beitrag dazu geleistet, dass die Blonde den Tod ihres Vaters besser verarbeiten hatte können. Die beiden waren wie Schwestern und obwohl Lynn in ihrer Entwicklung bereits deutlich weiter als die kleine Traumtänzerin war, schien das kein Problem für sie zu sein. Hailey himmelte die Ältere an und manches mal wurde sie von ihrer Mutter dabei erwischt, wie sie sich heimlich darin versuchte, Lynn nachzueifern. Sie war ihre Heldin eine von vielen wenigen zumindest und Lory hoffte für ihre sensible Tochter sehr, dass diese Freundschaft nie vergehen würde. Ein Lebkuchenmännchen in den Mund schiebend, schnappte sich Hailey schließlich einen Stift und machte sich an die Arbeit. Bis zum sechsten Dezember war nicht mehr lange hin, weswegen sie nicht unnötig Zeit verschwenden wollte. In ihrer schönsten Schrift setzte sie an zu schreiben: Lieber Nicolaus, "Mit 'k', Hailey. Den schreibt man mit 'k'." Ordentlich das Lineal benutzend, besserte die Blonde ihren Fehler aus. Dass sie dabei angestrengt ihre Zunge zwischen ihre Lippen schob, fiel ihr überhaupt nicht auf. Lieber Nicolaus, Nikolaus, "Und jetzt?" Ratlos sah Hailey zu Lynn auf. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine Einladung geschrieben. Mit Ausnahme zu ihrem Geburtstag. Aber das war etwas ganz anderes. Außerdem hatte ihr ihre Mutter dabei geholfen. "Was soll ich schreiben?" "Wie wäre denn es mit: 'Ich würde mich freuen, wenn du mich dieses Jahr in Portland besuchen kommst?'" Natürlich wusste die Zehnjährige, was zu tun war. Das wusste sie schließlich immer! Noch während Lynn ihren Vorschlag aussprach, war die Zunge der Siebenjährigen wieder angestrengt zwischen ihre Lippen gewandert. Indem sie versuchte, direkt mitzuschreiben, mischte sich natürlich der ein oder andere Fehler in das Geschriebene, doch waren diese schnell korrigiert. Zuletzt war sie ziemlich stolz auf das, was sie auf Papier gebracht hatte. Monoton, wie es für Kinder ihrer Altersklasse üblich war, las sie die Zeilen noch einmal laut vor: Lieber Nicolaus, Nikolaus, ich würde mich ser sehr freuen, wenn du mich dieses Jahr in Portland bsuchen besuchen kommst. Du kannst bei uns auf dem Soffa Sofa schlafen und Keckse Kekse essen. Und dein Freund auch. Und Karoten Karotten haben wir auch. Ich würde mich wirklich sehr freuen, wen wenn du kommst. Mit freundlichen Grüßen, deine Hailey Grace Radenbrock "Willst du wirklich 'mit freundlichen Grüßen' schreiben?", hakte Lynn beiläufig nach. Wer sensibel auf die Botschaft hinter ihren Worten war, hätte herausgehört, dass sie diese Formalität ein wenig übertrieben fand. Taub dafür erklärte die Blonde nur schlicht: "Mama macht das auch immer so." Dass sie sich insgeheim unheimlich groß dabei fühlte, behielt sie für sich. Wenn Mama das so machte, konnte es schließlich nicht schlecht sein. "Wie du meinst." Schulterzuckend bogen sich Lynns Lippen zu einem Lächeln. "Dann... machen wir jetzt die Karte?" Lynn verabschiedete sich, als es dunkel wurde. Morgen würde Hailey den Brief zur Post bringen und darauf hoffen, dass er seinen Weg zum Nikolaus fand. Abends im Bett hinderten sie ihre Grübeleien davon ab, Schlaf zu finden. Würde Sankt Nikolaus tatsächlich den weiten Weg auf sich nehmen, um sie zu besuchen? Ob er Kekse und Milch wohl genauso gern mochte, wie Santa? Würden seine Rentiere auf der Grünanlage vor ihrem Haus schlafen? Brachte er vielleicht Geschenke mit? "Oh..." An dieser Stelle fiel Hailey etwas wichtiges ein, das sie im Brief unbedingt noch erwähnt haben wollte. Schnell warf sie ihre Decke zur Seite und lief barfuß hinüber zum Schreibtisch, um ihre Gedanken in dem Brief zu ergänzen, bevor sie diese womöglich wieder vergaß. P.s. Bring Quinn bitte keine Rutte mit, er ist ja nicht imer so. Noch zwei Mal schlafen, bis Nikolaus... Die Stunden des dritten Tages zogen sich wie Kaugummi und obwohl Hailey gerne zur Schule ging, konnte sie die letzte Stunde kaum noch abwarten. Mit geröteten Wangen betrat sie schließlich die Post, wo sie sonst immer ihre Briefe an Santa Claus abzugeben pflegte. Heute aber würde sie ihre Einladung an Sankt Nikolaus verschicken. Alleine die Vorstellung ließ Ameisen in ihrem Bauch tanzen. "Kann ich dir helfen, Liebes?" Eine freundlich wirkende Frau mit dicker Hornbrille sah über einen Tresen auf sie hinab. Hailey meinte sich daran zu erinnern, dass sie ihre Wunschzettel im Vorjahr bereits bei ihr abgegeben hatte. "Ähm... Ich hab da einen Brief...", zögerlich spielte sie mit dem Nikolausbrief in ihren Händen, "... den mag ich bitte abgeben." "Oh, an Santa?" Die Röte auf Haileys Wangen wurde stärker, ehe sie unbeholfen den Kopf schüttelte. "An Sankt Nikolaus." "Den Nikolaus?" In der Art, wie die Frau ihre Augenbrauen in die Höhe zog, wirkte sie ehrlich irritiert. Das verunsicherte Hailey. Dann aber lächelte sie und hielt dem Kind ihre Hand hin. "Wie auch immer. Ich werde sehen, was ich tun kann." Mit einem genuschelten 'Danke' übergab Hailey den Brief, ehe sie sich flink daran machte, den Laden zu verlassen. Nun hieß es warten und geduldig sein. Noch einmal schlafen, bis Nikolaus... Warten und geduldig sein, war nicht gerade einfach. Für kein Kind und besonders nicht für Hailey. Geduld war in der Tat eine Tugend, in der sie sich erst üben musste. Während des Schlittschuhlaufens mit Lynn verging die Zeit zugegeben recht schnell, doch jeden anderen Moment des Tages war sich Hailey sicher, in ihrem Leben noch nie einen längeren Tag erlebt zu haben, als diesen hier. Freitag, 06. Dezember 2017- Nikolaus Endlich! Die Nacht auf Freitag hatte das Mädchen vor Aufregung kaum Schlaf finden können. Sie war ziemlich aufgekratzt und das erste, das sie nach dem Erwachen checkte, waren ihre Schuhe. In der Schule hatte sie gelernt, dass Sankt Nikolaus gerne eine Kleinigkeit in den Schuhen der Kinder abzulegen pflegte. Abgesehen von drei kleinen Kieselsteinchen fand sie aber nichts vor. Da half es auch nichts, ihre Schuhe auf den Kopf zu stellen und ordentlich zu schütteln. Sankt Nikolaus war nicht gekommen. Heftige Enttäuschung machte sich in Hailey breit, während sich zeitgleich eine einzige Frage in ihre Gedanken drängte: Warum? Im Unterricht schweiften Haileys Gedanken öfter als gewöhnlich ab. Ob der Nikolaus ihren Brief erhalten hatte? Hatte er sich vielleicht verflogen? Womöglich konnte er ihre Sprache nicht und hatte den Brief nicht lesen können? Oder... vielleicht wollte Nikolaus sie gar nicht erst besuchen? Was auch immer der Grund für seine Abwesenheit sein mochte: es stimmte die Siebenjährige tieftraurig. So frustriert, wie die Blonde war, konnte sie sich nicht einmal an den dicken Schneeflocken erfreuen, die watteweich auf Portland herunter schwebten. Was das Mädchen nicht ahnte, war, dass sich Sankt Nikolaus tatsächlich bereits darauf vorbereitete, ihr diesen Abend noch einen Besuch abzustatten... Als die Lehrerin ihre Klasse ins Wochenende verabschiedete, machte sie sich geknickt auf den Weg nach Hause. Obwohl sich Quinn alle Mühe gab, seine kleine Schwester aufzuheitern, wollte es ihm nicht recht gelingen. Schließlich gewann sein Ärger Oberhand, weswegen er ungehalten losfluchte: "Ach, scheiß doch auf den Nikolaus! Das ist auch nur ein blöder Wichser!" Gut möglich, dass in seiner Wortwahl auch ein klein wenig Ärger über die Ruten einfloss, die er die letzten Jahre bereits 'geschenkt' bekommen hatte. Auch wenn Hailey nicht wusste, was genau ein 'Wichser' war, wusste sie, dass ihr Bruder dem Mann in Rot nicht gerade geschmeichelt hatte. "Ist er nicht!", verteidigte sie ihn automatisch, während sich Tränen in ihren Augen sammelten. "Wieso ist dir das eigentlich so wichtig?", hakte Quinn mit heiser klingender Stimme nach, während er sich seufzend mit der Hand übers Gesicht fuhr. Obwohl er genervt war, hatte er jetzt schon ein schlechtes Gewissen, sich seiner Schwester gegenüber so ungehalten geäußert zu haben. Sie war schließlich noch ein Kind und glaubte an all die Märchen, die ihr von den Erwachsenen aufgetischt wurden. Ein Teil von ihm wünschte sich sogar, dass sie weiterhin daran glaubte. Zu sehen, wie sie sich von einer europäischen Fantasiefigur so herunterziehen ließ, machte ihn jedoch wütend. "Weil..." Hailey rang nach Worten. Sie hatte keine Antwort darauf. "Ach, weißt du was? Das ist dir doch eh' egal! Und genau deswegen bekommst du auch immer eine Rute!" Mit einem Mal losheulend, stürmte Hailey ihrem Bruder voraus. Quinn rief nach ihr, doch hörte der Blondschopf nicht weiter auf ihn. Halbherzig setzte er ihr nach. Als er sah, wie sie sicher ihren Hauseingang erreichte, bremste er sich aus und zögerte. Das würde Ärger geben. "Ach scheiß drauf..." Eine Zigarette aus seiner Jackentasche ziehend, versteckte er sich hinter der nächsten Hauswand. Wenn er sich schon eine Predigt anhören durfte, wollte er vorher wenigstens eine Runde entspannt haben. Wie gut, dass sein beschissener Stiefvater das Wochenende auf Geschäftsreise war und sein nicht minder bekackter Sohn die nächsten Tage bei seiner Mutter verbrachte. Mit seiner eigenen Mutter würde er schon fertig werden. Lory hatte Hailey bereits eine Tasse Kakao gemacht, als Quinn schließlich Kaugummi kauend zu ihnen stieß. "Quinn? Kannst du mir bitte sagen, was da eben los war?" Die Hände in seinen Hosentaschen vergraben, stand Quinn in der Tür und sah schulterzuckend zu seiner Mutter, welche einen Arm tröstend um Hailey gelegt hatte. Die Augen des Mädchens waren gerötet, ihr Tränenfluss dagegen versiegt. Um nichts falsches zu sagen, schwieg der Junge, nicht aber, ohne dem Blick seiner Mutter provozierend stand zu halten. "Cedric Quinn Radenbrock, ich habe dir eine Frage gestellt!" Dem Gesichtsausdruck des Dunkelhaarigen konnte angesehen werden, wie sehr es ihm gegen den Strich ging, mit vollen Namen angesprochen worden zu sein. Dass er überhaupt nicht gerne 'Cedric' genannt werden wollte, war kein Geheimnis. Hailey war immer noch wütend auf ihn. Bisher hatte sie ihrer Mutter nichts erzählt. Ein Teil von ihr brannte jedoch darauf, ihren Bruder zu verpetzen. Wenn sie ihrer Mama erzählen würde, dass er ein böses Schimpfwort gesagt hatte, würde er sicher Hausarrest bekommen. Zu blöd, dass ihr das Wort nicht mehr einfiel. Ein Moment angespannter Stille trat ein, in dem Mutter und Sohn einen nonverbalen Machtkampf austrugen. Zwar verstand Hailey das nicht wirklich, je länger der Moment jedoch anhielt, desto unwohler fühlte sie sich. "Geh... einfach auf dein Zimmer.", zischte Lory schließlich, "... und erst wenn du deine Sprache wieder gefunden hast, kommst du wieder raus!" Als wäre es ihm egal, zuckte Quinn mit seinen schmächtigen Schultern. Einen letzten Blick auf die schmollende Hailey werfend, drehte sich der Elfjährige um und verkündete mit knallender Tür, in seinem Zimmer angekommen zu sein. Es klickte leise, als er sich selbst einschloss. Dann ertönte lautstark Musik. Gut möglich, dass sich Quinn jetzt durch das Fenster auf und davon machte. Das hatte er schon öfter gemacht. Dann traf er sich heimlich mit seinen Freunden und machte... Ja, was machte er dann eigentlich? Hailey wusste nur, dass ihr Bruder öfter schon weggelaufen war. Ob sie es ihrer Mutter sagen sollte? Lorys Blick auf sich spürend, nippte sie an ihrem Kakao. Abwartend streichelte die Mutter über den blonden Schopf des Kindes. Hailey war froh darüber, dass ihr der Moment gegeben und sie nicht dazu gedrängt wurde, etwas zu sagen. Langsam verpuffte ihr Ärger und machte dem eigentlichen Frust, der Einfluss auf ihre Stimmung genommen hatte, Platz. Ohne es verhindern zu können, kullerten gleich darauf frische Tränen über ihre Wangen. Wortlos wurde sie von ihrer Mutter in den Arm genommen. Die Berührung tat gut und während sich Hailey fest an sie drückte, dachte sie sich, wie gut ihre Mama doch roch. Schließlich erzählte sie, was ihr eigentlich auf dem Herzen lag und dass Quinn eigentlich fast gar keine Schuld an dem Ganzen hatte. "Ach Schätzchen..." Lory zog Hailey erneut ganz nah an sich und das Kind ließ sich, vor Enttäuschung immer noch weinend, in die Umarmung fallen. "Das wird schon wieder..." Wie sehr Hailey es hasste, wenn das jemand zu ihr sagte. Trotzdem war das immer noch besser als die Alternative: 'Ich habe es dir doch gesagt!'. "Hm... Was hältst du davon, wenn wir noch ein Blech Kekse backen? Im Kühlschrank ist noch ein Teig." Hailey zögerte, doch nachdem sie von ihrer Mutter sanft angestupst wurde, gab sie sich einen Ruck. "Okay." Portland lag inzwischen im Dunkeln. Aus Quinns Zimmer dröhnte immer noch lautstark Musik und das Mutter-Tochter-Gespann war mitten in der Arbeit, als es unerwartet an der Haustür klingelte. "Nanu?" Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es kurz vor halb sieben war. "Erwartest du noch Besuch, Liebes?" Kopfschüttelnd verneinte Hailey und ihre Mutter trat an die Spüle, um sich die Hände zu waschen. "Geh bitte, und mach schon mal auf." Im Pferdegalopp hopste das Mädchen zur Tür. Das Backen hatte sie abgelenkt und beinahe hatte sie auf ihre Enttäuschung vergessen. Mehlbestäubt öffnete Hailey die Tür und sah einen hoch gewachsenen Mann vor sich stehen. Er trug einen langen, roten Umhang und hatte eine komische Mütze mit einem goldenen Kreuz auf seinem Kopf. Sein Bart war wie der von Santa lang und weiß und während er in seiner einen Hand ein goldenes Buch hielt, hielt er in seiner anderen einen langen, goldenen Stab. Frischer Schnee glänzte auf seiner Kleidung und seinem Bart. "Bist du die kleine Mrs. Hailey Grace Radenbrock?" Hailey erstarrte und ihre Augen wurden beinahe so groß wie Handteller. Der Mann lächelte gütig, als er weiter sprach: "Meine Engel haben mir einen Brief gegeben..." Erst jetzt erkannte Hailey den Briefumschlag, den der Nikolaus mit seinem Buch in der Hand hielt. Ihr Brief war angekommen. Der Nikolaus war tatsächlich gekommen, um sie zu besuchen! Ein plötzliches Leuchten ließ ihre Augen strahlen, ehe sie ein hohes Quietschen ausstieß und dem Nikolaus unvermittelt um den Hals fiel. "Mama! Mama! Der Nikolaus ist da!" Ihre Hände an einem Handtuch abwischend, trat Lory in den Gang und sah dem Mann in Rot lächelnd entgegen. "Hallo, lieber Nikolaus. Willst du nicht reinkommen? Wir haben gerade Kekse gebacken." Dass ihre Mutter überhaupt nicht überrascht schien, bemerkte Hailey keineswegs. Vor Aufregung auf dem Fleck springend, machte sie dem Nikolaus Platz, dass dieser eintreten konnte. "Au, ja, Kekse! Magst du Kekse?" Der Nikolaus hatte keine Chance Antwort zu geben, als das Mädchen bereits davon stürmte. "Quiiiiiiiiiiinn, der Nikolaus ist da!" So laut, wie die Kleine brüllte, übertönte sie sogar das Hard-Rock Gedöns, das der Ältere so cool fand. Der Nikolaus fand sich gerade im Wohnzimmer ein, als Hailey mit einem Teller frisch gebackener Kekse und einem Glas Milch angelaufen kam. In ihrer Hektik wäre sie beinahe gegen ihren Bruder geprallt, welcher sich offenbar doch nicht auf und davon gemacht hatte. "Was schreist du denn so rum?" "Der Nikolaus! Der Nikolaus, Quinn! Er ist da, er ist wirklich, wirklich da!" Während Sankt Nikolaus ein paar Kekse naschte -Haileys Wangen glühten vor Stolz, als er behauptete, nie bessere gegessen zu haben-, sang ihm das Mädchen ein paar ihrer liebsten Weihnachtslieder vor. Zwar handelte kein einziges von ihm, aber das schien ihn nicht sonderlich zu stören. Außerdem trug sie ihm ein Gedicht zum Muttertag vor. Es war das einzige, das sie auswendig konnte und selbst an dem schien sich der Bärtige zu erfreuen. Zuletzt zog er aus der Tasche seines Umhangs einen kleinen Jutesack, den er Hailey überreichte. "Das habe ich für dich mitgebracht." Wieder wurde der Mann stürmisch umarmt, ehe sich die Siebenjährige jauchzend daran machte, den Inhalt zu erkunden. Quinn stand die ganze Zeit wortlos neben seiner Mutter. Die Arme hielt er vor der Brust verschränkt, während sein Blick abweisend war. Wer zum Henker war der Spinner und was hatte er in ihrem Wohnzimmer zu suchen?! Als Sankt Nikolaus jedoch einen zweiten Jutesack aus seiner Manteltasche zog, weiteten sich auch Quinns Augen merklich. "Mir wurde gesagt, dass du mehr, als nur eine Rute verdient hast.", setzte Nikolaus an zu reden und hielt Quinn den Beutel entgegen. "Ich glaube dem. Es liegt immer an einem selbst, welchen Weg man einschlägt." Ungläubig nahm der Dunkelhaarige den Beutel entgegen. Als er ein 'Danke' stammelte, überschlug sich seine Stimme hörbar. Lory lächelte glücklich und genoss den Moment, in dem ihr sonst schon so 'erwachsener' Sohn einfach nur Kind war und sich des Augenblickes erfreute. Bevor sich Nikolaus wieder verabschiedete, stand er Hailey Rede und Antwort. Warum er noch nie in Portland gewesen war? "Mein Freund, Santa Claus, kümmert sich um die Kinder hier, während ich mich um die Kinder in Europa kümmere. Und das kann ich auch nur, weil ich so viele, fleißige Helfer habe. Ohne sie, wäre das überhaupt nicht möglich." Er schaffte es auch leider nicht immer, jedes Kind zu besuchen. Wenn Hailey daran dachte, wie viele Kinder alleine auf ihre Schule gingen, klang das logisch für sie. Reiste er mit einem Schlitten? "Durchaus, aber heutzutage geht es mit dem Flugzeug oder dem Auto manchmal einfach schneller." Das erklärte auch, wieso in ihrem Vorgarten keine Rentiere grasten. Wo sein Freund geblieben war? "Der trifft sich gerade mit dem Christkind, um Weihnachten zu organisieren. Da muss ich auch gleich wieder hin." Ob er sie bald wieder besuchen kommen würde? "Ich werde sehen, wie ich die Zeit dazu finde. Bis dahin bleibt aber immer schön artig und brav. Meine Engel sehen und erzählen mir nämlich alles." Ein Lächeln war unter seinem Bart zu erkennen, als er den Radenbrock Sprösslingen zuzwinkerte. Bevor er ging, wurde er ein weiteres Mal von Hailey gedrückt und auch Quinn ließ sich wenigstens zu einem Händedruck hinreißen. "Danke, lieber Nikolaus!" An diesem Abend schlief die kleine Hailey Grace Radenbrock mit einem Lächeln auf den Lippen ein. Ihre Welt war in Ordnung. Der Nikolaus war real und er hatte sie besucht. Sie hatte ein Geschenk bekommen und Quinn auch. Nachdem Sankt Nikolaus gegangen war, wusste Hailey auch, was ihr Bruder die Zeit über in seinem Zimmer getrieben hatte. "Das ist für dich." Mit diesen Worten hatte er ihr ein selbst gemaltes Bild überreicht, auf dem er eine Karikatur seiner Lieblingsfiguren, den Simpsons, gezeichnet hatte. Zwar war er nicht der beste Künstler, doch die Szene, die er darstellen hatte wollen, gefiel Hailey. Es war seine Art, sich bei seiner kleinen Schwester zu entschuldigen. Und Hailey nahm diese Entschuldigung nur zu gerne an. Sie hasste Streit. Und Quinn war ja schließlich nicht immer so. Was lange währt, wird endlich gut. Frohen Nikolaus und eine besinnliche Weihnachtszeit! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)