Adventskranz von SamAzo (2017) ================================================================================ Kapitel 1: Leise rieselt das Mehl --------------------------------- Asher war ganz in seinem Element. Für einige war es unverständlich, das er neben seiner Arbeit in der Bäckerei und Konditorei noch Zuhause Tonnen an Plätzchen und Kuchen backte. Doch es steckte ihm im Blut, im wahrsten Sinne. Er wusste um sein Talent. Es war dezent und bislang hatte er nicht herausgefunden, was es auslöste oder woher er es bekommen hatte, doch was auch immer er beim backen empfand, spürte auch derjenige, der später dann sein Backwerk genoss. Aus diesem Grund war es ihm wichtig, das er niemals wütend ans Werk ging. Stress und Sorgen waren ganz zu vermeiden und an Tagen an denen er sich niedergeschlagen fühlte, ging er lieber gar nicht erst arbeiten. Sein Talent war einer der Gründe, wegen denen er leise Jazz-Weihnachtsmusik laufen hatte und ein Becher warmer Kakao neben ihm auf der Arbeitsfäche stand, auf der er soeben einen Lebkuchenteig knetete. Seine Stimmung konnte kaum besser sein und das war ihm wichtig, da alle der Plätzchen, die er an diesem Nachmittag backen wollte, von ihm in die Nahe Obdachlosenspeisung gebracht werden sollten. Sie mussten also etwas besonderes werden. Das es ausgerechnet jetzt an seiner Tür klingelte, war unpassend. Allerdings war es auch überraschend, da er allen seinen Freunden gesagt hatte, das er diesen Nachmittag zwar frei, aber keine Zeit haben würde. Normal kam ihn dann niemand besuchen. „Moment!“, rief er laut genug, das es durch die Tür zu hören sein müsste, ließ den Teig erst einmal und wusch sich schnell die Hände. Noch mit einem Handtuch die Hände abtrocknend öffnete er die Tür und sah einen jungen Mann, von dem er meinte ihn schon einmal auf dem Flur begegnet zu sein. „Hi“, grüßte er freundlich aber auch ein wenig verwirrt über den plötzlichen Besuch. „Ehm, hi.“ Der Andere schien nicht so recht zu wissen, wie er anfangen sollte, aber ihm war anzusehen, das er etwas loswerden wollte. „Kann ich helfen?“, fragte Asher also, um dem anderen so eventuell etwas Starthilfe zu geben. Das schien auch zu helfen, auch wenn der andere erst einmal unsicher den Gang auf und ab schaute. „Ja… also das hoffe ich“, erklärte dieser. „Aber erst einmal: Hi. Ich bin Oliver. Meine Wohnung ist da hinten, ganz den Gang runter. Darum ehm… ist mir aufgefallen, das es bei dir immer so gut riecht und … eh, naja… wäre es möglich, das du mir zeigst, wie man backt? Oder, wenn du keine Zeit hast, könntest du mir ein paar Plätzchen geben?“ Aufmerksam hörte Asher zu und nickte ein wenig vor sich hin, jedes Mal, wenn er zeigen wollte, das er verstanden hatte. Als Oliver zuende gesprochen hatte, grinste er jedoch kopfschüttelnd. „Einfach so, aus heiterem Himmel?“ Die Worte nahmen seinem Nachbarn wieder den Wind aus den Segeln. „Nicht so wirklich“, gab er zu. „Wir haben einen Wettbewerb, bei der Arbeit. Es geht darum, wer die besten Plätzchen macht und ich habe allen gesagt, das ich gewinnen werde. Aber ich kann nicht backen.“ „Das war nicht sehr schlau“, warf Asher ein, öffnete jedoch seine Tür noch etwas weiter, so das Oliver eintreten konnte. Mit einem Handzeichen deutete er ihm zu folgen während er zurück in seine Küche ging. „Und wie kamst du darauf, das ich dir helfen würde?“ „Gar nicht. Ich habe es nur gehofft. Sonst bin ich nämlich verloren.“ „So schlimm wird es schon nicht laufen.“ Asher legte das Tuch zur Seite und widmete sich wieder dem Teig, der auf ihn wartete. „Also, was würdest du denn gerne backen wollen? Zur Auswahl stehen Gewürzkuchen, Lebkuchen, Dominosteine und Zimtsterne. Für all das habe ich Zutaten da.“ Weil es genau die Dinge waren, die er so oder so heute noch machen wollte. Hoffentlich würde sich mit Olivers Anwesenheit nicht noch etwas Frustration in das Enderzeugnis mischen. Aber die Sorge schob Asher schnell zur Seite, schließlich war backen zu zweit sicherlich einfach nur spaßiger. „Das hier ist übrigens Lebkuchen. Ich wollte aus der Hälfte des Teiges Lebkuchen-Figuren machen und aus der anderen kleine Häuser.“ Oliver sah sich in der Küche um und war schließlich ganz fasziniert davon, wie Asher den Teig knetete. Als hätte er dergleichen noch nicht gesehen. „Alles okay bei dir?“, fragte deswegen der Bäcker auch. „Ja… ja, alles gut. Ich überlege nur, was genau gesagt wurde, für den Wettbewerb. Aber ich meine es war nur das es was gebackenes sein soll. Was genau, ist jedem selbst überlassen.“ „Okay. Dann wasch dir mal die Hände und … oh, ich bin übrigens Asher. Meine Freunde nennen mich Ash.“ Kurz sah es so aus, als wollte er Oliver die Hand reichen, doch dann ließ er es und entschuldigte sich nur mit einem Lächeln, bevor er weiter knetete. „Du kannst gleich den Teig ausrollen. Dann zeige ich dir einen kleinen Trick, wie man ihn gleichmäßig hinbekommt. Und wie wäre es, wenn du dir von allem etwas mitnehmen kannst, wo du mir bei hilfst?! Dann kannst du wenigstens ruhigen Gewissens sagen, das du selbst gebacken hast.“ Schien ja niemand etwas gegen Helfer gesagt zu haben. Vielleicht hatte Oliver das aber auch nur weggelassen. Ein wenig starr blieb Oliver stehen und sah Asher einfach nur an, bis dieser wieder seine Aufmerksamkeit auf seinen Gast richtete. „Was ist?“, wollte er wissen. Oliver lächelte und zuckte dann mit den Schultern. „Ich finde nur fantastisch, wie … offen du mich reingelassen hast, um mir zu helfen, obwohl du mich nicht einmal kennst.“ Asher zögerte etwas und sah Oliver ernst an. „Soll ich mir Sorgen machen? Bist du ein verwirrter Irrer, der mich killen will?“ „Nein… Nein! Nein...“ Oliver schüttelte den Kopf, seine Augen ein aufgerissen. Geschockt über die Vermutung, die Asher aussprach. „Ich bin einfach nur überrascht. Ich hätte wohl ein paar mehr Fragen gestellt, bevor ich dich reingelassen hätte“, erklärte er und ging Oliver sich die Hände waschen. Asher lächelte vor sich hin. Sein Talent war vielleicht beim Backen, aber er hatte auch eine gesunde Menschenkenntnis. Kapitel 2: Kerzenlicht ---------------------- Sein Blick war starr auf die Kerzen direkt vor ihm gerichtet. Es waren drei an der Zahl, die, noch ganz frisch, gerade erst ihre kleinen Wachsteiche bildeten. Links und rechts erstreckte sich der breite Kerzenständer, der viele weitere, brennende, weiße Kerzen hielt, aber auch noch sehr viel Platz für weitere bot. Seine Sicht verschwamm, während er die Wärme der unzähligen Kerzen spürte und gegen die Erinnerungen ankämpfte. Er war nicht gläubig. Warum er also hier stand war ihm selbst ein Rätsel, aber das war es jedes Mal, wenn er sich vor dem Kerzengerüst wiederfand. Vielleicht trugen ihn seine Beine immer wieder her, weil Kate es so gewollt hätte. Sie hatte ihn immer mitgenommen, wenn sie für ihre Großeltern Kerzen anzünden gegangen war. Es war ihr wichtig. Statt wie sie einmal an den jeweiligen Geburts- und auch Todestagen der Kirche einen Besuch abzustatten, kam er jeden Monat. Nie am gleichen Tag. Nie Sonntags. Aber doch um das Datum ihres Todestages herum. Wenn er denn nüchtern genug war, um es her zu schaffen. Robert kniff die Augen zusammen und wischte sich über die geschlossenen Lider. Mit Zeigefinger und Daumen die Nasenwurzel massierend blieb er stehen. Hinter ihm konnte er Schritte in der sonst so ruhigen Kirche hören. Im ersten Moment machte er sich dafür bereit dem Pastor auf seine erneuten Fragen an den Kopf zu werfen, das dieses Kerzen-Dingen eine enorme Brandgefahr darstellte und eigentlich besser abgeschafft werden sollte, aber beim genaueren hinhören fiel ihm auf, das die Schritte nicht passten. Sie waren zu schwer für den in die Jahre gekommenen Mann. Statt sich herumzudrehen, um nachzusehen, wer sich zu ihm gesellte, blieb Robert mit geschlossenen Augen stehen, massierte weiter und überlegte sich, wie er verschwinden konnte, um nicht in ein Gespräch gedrängt zu werden. Doch es blieb still, bis auf die leisen Geräusche die das anzünden und hinstellen einer Kerze erzeugten. Langsam löste Robert seine Hand von seinem Gesicht, auch wenn er sich noch ein weiteres Mal über die Augen wischte, bevor er beide Hände in die Hosentaschen steckte. Wieder betrachtete er die Kerzen vor sich, konnte seine Neugierde allerdings nicht länger im Zaum halten. Vorsichtig schielte er nach links, um zu sehen, wer da neben ihm stand. Zu seiner Überraschung war es Alexander. Der Cop der ihn in letzter Zeit des öfteren Nachts eingesammelt und in eine Ausnüchterungszelle verfrachtet hatte. Viel wusste er über den anderen noch nicht, nur das ihm der Kerl langsam unheimlich wurde. Im Grunde seit sie sich vorgestellt hatten und Alex ihn gnädigerweise nach Hause gefahren hatte, sah Robert ihn andauernd. Wenn er einkaufen war, oder an der Tankstelle. Auf dem Weg zur Bar oder wenn er einfach nur auf dem Weg nach Hause war. Überall war dieser Cop! Zugegeben war es eine recht kleine Stadt, aber trotzdem; Langsam fühlte er sich verfolgt. Der Polizist stand vor den Kerzen, die Augen geschlossen und die Hände zum Gebet gefaltet. Das warme Kerzenlicht schien auf das fast noch jugendliche Gesicht. Robert musste leicht lächeln, als er bei dem Gedanken automatisch die Unterhaltung im Kopf hatte, bei der Alex Kollegen sich darüber lustig gemacht hatten, dass er noch so aussah, als wäre er eben erst dem Teenager Alter entwachsen. Alexander war da nicht sehr von angetan, den Versuch sich einen Bart wachsen zu lassen, hatte er dann aber wohl abgebrochen. Zu sehen war jedenfalls nichts. Das wieder Bewegung in den anderen kam, fiel Robert erst auf, als sich die Aufmerksamkeit des Cops auf ihn richtete. Fragend blickte er ihn an und erst da fiel Robert auf, das er starrte. „Alles okay?“, fragte Alex. Er klang fast schon ein wenig besorgt, was Robert einen noch größeren Kloß im Hals entstehen ließ. „Ehm, ja. Natürlich!“, versicherte er. „Ich war nur etwas überrascht.“ Alexander fing an zu lächeln. „Weswegen?“ Robert dachte kurz nach und kam zu dem Schluss, das es ziemlich dumm klingen würde, wenn er jetzt auch noch aussprach, das er überrascht war Alexander in einer Kirche zu sehen. Er wusste doch nicht wirklich etwas über den anderen. Vielleicht war es für ihn etwas vollkommen normales. „Naja… der Ort“, nuschelte er kaum verständlich und richtete seinen Blick zurück auf die Kerzen. Es wäre Alex nicht zu verdenken, wenn er der Meinung wäre Robert hätte schon wieder etwas getrunken. Es war nicht einmal im Bereich des Unmöglichen. Doch der Polizist sagte nichts sondern richtete seine Aufmerksamkeit zurück auf die Kerze, die er selbst angezündet hatte. „Für meinen Vater“, erklärte er seine Anwesenheit. „Heute wäre er 55 Jahre alt geworden.“ Roberts Augen huschten sofort zurück zu dem Polizisten. Damit hatte er nicht gerechnet und ihm fehlten die Worte. Dabei wollte er etwas sagen. Sein Beileid aussprechen, irgendetwas. Aber da kam nichts. Er beobachtete, wie Alex seine Hand vorsichtig über die Flamme hielt und dann leise seufzte. „Na gut, ich muss wieder zurück an die Arbeit.“ Er machte einen Schritt Rückwärts und drehte sich dann herum, um hinaus zu gelangen. „Warte!“ Robert hatte sich ebenfalls herumgedreht, auch wenn er noch immer bei den Kerzen stehen blieb. „Was bist du?“ Fragend blickte Alexander zu dem anderen und wusste nicht genau, wovon dieser Sprach. „Der nette Cop aus der Nachbarschaft“, sagte er mit einem schwachen Grinsen, wobei er kurz mit zwei Fingern salutierte. „Was sollte ich sonst sein?“ Robert schüttelte den Kopf und winkte ab. „Nichts, nichts. Ich… weiß auch nicht, was ich gedacht habe. War einfach eine Frage die raus wollte.“ Erklären konnte Robert es nicht. Vielleicht sollte er manchmal lieber die Klappe halten. Kapitel 3: Oh Tannenbaum ------------------------ Mallory war eigentlich immer bei Joseph. Im Arbeitszimmer, in der Küche, der Bibliothek und auch im Schlafzimmer und Bad. Mallory war immer da und Joseph hatte sich beinahe schon daran gewöhnt. Zumindest an den Anblick den Anderen im Sessel hockend und aus dem Fenster starrend, oder wenn sie etwas aßen und der Andere ihm gegenüber saß. Lediglich das Mallory auch mit ins Bad kam, verursachte ihm noch immer ein enormes Unbehagen. Entsprechend erleichtert war er, als er es schaffte die Tür hinter sich zu schließen, um einmal ganz alleine duschen zu gehen. Es tat so gut, das er einfach mal länger unter dem heißen Wasserstrahl stehen blieb und seine Zeit alleine genoss. Seit Mallory da war, hatte er das Gefühl von einem Hund gestalkt zu werden. Oder zumindest fühlte sich sich so an, als habe er ein Haustier, das nicht alleine bleiben wollte. Das kam vielleicht eher hin. Zuerst hatte er noch geglaubt sein Leben würde sich ändern, wenn dieser Mann nun bei allem dabei war, um ihn zu überwachen. Er würde bei allem eine Rechenschaft abgeben müssen, mit Mallory diskutieren oder dergleichen, doch alles was Gibsons Schoßhund tat, war schweigend irgendwo herum sitzen. Wie viel er also wirklich mitbekam, war schwer zu sagen und machte die Situation nicht wirklich besser. Auch weil er nicht sagen konnte, was alles davon direkt zu Gibson ging. Wie stark war wohl die Verbindung zwischen den beiden? Wichtig war es, zu wissen, das je länger Mallory hier war, umso mehr wirkte die reale Welt wieder auf ihn. Am schwersten traf das wohl Mallory selbst, der noch immer nicht wirklich damit zurecht kam, etwas essen zu müssen. Joseph ertappte sich dabei, wie er sich wunderte, wie es wohl in Gibsons Reich war. Bislang hatte er nichts gutes darüber gehört, aber Mallory hielt sich zumeist geschlossen dazu. Nur seine Augen sprachen Bände und die waren es auch, die es Joseph schwer machten den Mann zu hassen, der ihm da vor die Nase gesetzt wurde. Er hatte es versucht. Aber Beleidigungen hatten die gleiche Wirkung wie Ignorieren – Keine. Am Ende hatte er sich also vorgenommen seinen Plan einfach durchzuziehen. Soweit er konnte, hielt er vor Mallory geheim was passieren würde und das dieser nicht lesen konnte, erleichterte sein Vorhaben ungemein. Dieses kleine Geheimnis hatte er ihm entlocken können, als sie sich tatsächlich mal unterhalten hatten. Natürlich könnte es eine Lüge sein, doch bislang gab es keinen Hinweis darauf, das Mallory gelogen hatte. Joseph schüttelte den Kopf, als ihm bewusst wurde, das er schon wieder viel zu sehr über den anderen Nachdachte. Es gab Momente, in denen glaubte er Gibson hatte ihm ausgerechnet diesen jungen Mann geschickt, weil er ihn einfach nur von seinen Vorhaben und Plänen abbringen wollte. Das würde wenigstens ein bisschen was, dessen Verhalten erklären. Nachdem Joseph fertig geduscht war und sich angezogen hatte, öffnete er die Tür zum Flur. Eigentlich erwartete er bereits Mallory dort sitzend vorzufinden, doch der Gang war ungewöhnlich leer. Joseph wusste, das er diesen Umstand auch weiter genießen sollte, doch etwas in ihm ließ ihn nicht. Wo steckte Mallory? War etwas passiert oder las er gerade heimlich alle seine Notizen, um sie dann brühwarm Gibson weiter zu leiten? Ein wenig zu hastig ging er den Gang entlang, über den er zur Treppe kam, um in seinem Arbeitszimmer nach dem rechten zu sehen. Doch so weit musste er gar nicht gehen. Im Augenwinkel erkannte er den anderen im Wohnzimmer, wo am Morgen einige seiner Mitarbeiter einen Weihnachtsbaum aufgestellt hatten. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie den nicht. Für ihn war das eine vollkommen unnötige Anschaffung, aber sie hatten darauf bestanden und von ihnen stammte auch die Dekoration, die – zum Glück nur dieses Zimmer – schmückte. Mallory saß auf dem Teppich vor der großen Tanne und starrte, mit weit aufgerissenen Augen, auf die glänzenden, roten Kugeln, die Holzfiguren, Strohsterne und vielen kleinen Lichter, die der Baum zu bieten hatte. Joseph musste zugeben, das der Baum nicht schlecht aussah, von einem ästhetischen Standpunkt aus betrachtet, aber warum Mallory so reagierte war ihm ein Rätsel. Zumindest solange, bis Joseph in den Sinn kam, das der Andere vielleicht noch nie in seinem Leben einen Tannenbaum gesehen hatte. Gibson hatte ihm erzählt, das die Zeit bei ihm anders lief. Mallory konnte nicht lesen, machte um das meiste an moderner Technik einen großen Bogen und nutzte, wenn er mal sprach, manchmal Worte die andere wohl bereits als ausgestorben ansahen. „Kennst du Weihnachten?“, fragte Joseph darum einfach drauf los und sorgte damit sogar für ein kurzes Zusammenzucken auf Seiten des ungebetenen Gastes. Dieser drehte den Kopf zu ihm und wirkte nicht gerade erfreut über die Störung, sagte dazu jedoch kein Wort. Er beantwortete lediglich Josephs Frage. „Natürlich kenne ich Weihnachten. Ich habe auch schon einmal von diesen Bäumen hier gehört, aber es gab bei uns nie einen.“ Das erklärte natürlich seine Reaktion ein wenig, aber vor allem feuerte es Josephs Neugierde an. „Wann bist du geboren worden, Mallory?“ Möglichst gelassen schlenderte er durch den Raum, zu einem Hocker, der ihm einen guten Blick auf den Befragten gestattete, während der seine Aufmerksamkeit erst einmal wieder auf den Baum richtete. Die Frage jedoch schien ihn stark nachdenken lassen zu müssen und am Ende kam nur ein Schulterzucken. „Bin mir nicht mehr sicher“, gestand er im nächsten Moment. „Das ist bei vielen Dingen so. Sie verschwimmen irgendwann und ...“ Wieder zuckte er mit den Schultern. „Aber ich weiß noch, das ich ein Bild von Königin Viktoria und ihrer Familie gesehen habe, mit ihrem Baum im Palast.“ Jetzt war es an Joseph große Augen zu bekommen. Auch wenn er bereits auf den Gedanken gekommen war, das durch Gibsons Welt Mallory und wer auch immer sonst noch dort war, in der Zeit quasi eingefroren war, so war es ein kleiner Schock zu erfahren, das es tatsächlich so zu sein schien. „Willst du mir sagen, das du etwa 200 Jahre alt bist?“ „Was? Nein! Ich bin 26…“ Kapitel 4: Heilige Nacht ------------------------ Es war schon erstaunlich, wie viel Schnee in nur drei Tagen vom Himmel fallen konnte. Autos fuhren keine mehr. Keiner wollte seinen Wagen aus dem Berg befreien, unter dem der Winterdienst sie zurückgelassen hatte und selbst die hatten irgendwann gestern wohl aufgegeben, denn noch war nichts auf den Straßen passiert. Wenn sich jemand hinaus traute, dann nur bis zu einem der nahegelegenen Läden, wenn denn dessen Besitzer oder einer der Mitarbeiter den Weg dorthin geschafft hatte, um zu öffnen. Sam hatte Glück gehabt. Der Besitzer des Food Market hatte sich einfach im Pausenraum ein Schlafzimmer eingerichtet, um die eingeschneiten Tage hier verbringen zu können – wie er allen Kunden erzählte, die hereinkamen. Sam durfte sich die Geschichte drei mal anhören, während er sich mit dem Nötigsten für die nächsten Tage eindeckte. Er kaufte vor allem etwas zu Essen, was bei Neal oft Mangelware war. Manchmal fragte er sich schon, wovon sich sein Freund ernährte, wenn er nicht gerade dort war. Wieder nahm er sich vor eine der unbeschrifteten, silbernen Dosen genauer in Augenschein zu nehmen, von denen Neal zu verschiedenen Tageszeiten gerne mal eine trank. Manchmal, wenn er über diese Tatsache und auch die besonders gute Heilung seines Freundes nachdachte, kam er auf die fantastischsten Ideen. Neal könnte ein Vampir sein. Auch wenn er problemlos ins Sonnenlicht konnte und Knoblauch viel zu gerne aß. Es war also vollkommen abwegig das zu glauben. Außerdem: Vampire gab es nicht! Allerdings hatte Sam das auch von einigen anderen Dingen und Wesen angenommen, bis er ihnen begegnet war. Trotzdem redete er sich ein, das es unmöglich war und auch Neal hatte diese Vermutung mit einem Kopfschütteln und einem Schmunzeln abgetan. „Meine Familie ist vielleicht merkwürdig und ungewöhnlich, aber ganz sicher nicht untot“, war der einzige Kommentar, den Sam bekam, als er ein weiteres Mal nachgefragt hatte. Damit war es für ihn erledigt. Schließlich glaubte er Neal. Nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten, gab es keinen Grund an seinem Freund zu zweifeln. Und doch wusste Sam einfach, das da noch etwas war. Er spürte es mit jeder Faser seines Körpers und konnte es doch nicht erklären. Es gab ein Geheimnis, das Neal umgab und das dieser sehr gut zu schützen wusste. Vollgepackt mit Einkaufstüten, deren Inhalt auch reichen dürfte, wenn sie noch eine ganze Woche eingeschneit sein sollten, stapfte Sam den Flur zu Neals Wohnung entlang. Er hatte den Schlüssel zum Glück mitgenommen und musste sich keine weiteren Gedanken dazu machen, ob Neal noch schlief oder nicht. Vorsichtig stellte Sam die Tüten im Flur ab, um erneut einen Schritt hinaus zu machen, damit er die Jacke ausziehen und ausschütteln konnte. Erst als er das erledigt hatte, schloss er die Wohnungstür, entledigte sich auch noch seiner Schuhe und konnte sich dem Einkauf widmen. Die Wohnung war still, was ihn glauben ließ Neal wäre tatsächlich noch im Bett. Seine Arbeitsmoral hatte verlangt jede der vergangenen Nächte arbeiten zu gehen und so war er erst vor wenigen Stunden ins Bett gefallen. Möglichst leise räumte Sam die verschiedenen Zutaten, Kaffee und andere Getränke in die Schränke, als er einen merkwürdigen Geruch bemerkte. Obwohl es ungewöhnlich war, erzeugte die Duftnote keine Panik in ihm. Es war kein Rauch, der seine Aufmerksamkeit in Form von einem Eimer Wasser oder des Feuerlöschers brauchte. Dennoch musste er wissen was es war und folgte dem Geruch durch die kleine Wohnung. Seine Nase brachte ihn raus aus der Küche, durch das Wohnzimmer und bis vor die Tür des Schlafzimmers. Durch den Spalt konnte er erkennen, das ein flackerndes Licht den ansonsten stockdunklen Raum schwach erhellte und seine Neugierde war geweckt. Mit einem leichten Stupsen, schob er die Tür weiter auf, um hinein sehen zu können. Geräuschlos glitt sie in ihre neue Position und Sam konnte einen Schritt hinein machen. Das Licht kam von einer großen Kerze, die dort nicht gewesen war, als Sam das letzte Mal das Zimmer betreten hatte. Neben der Kerze stand ein kleines Stövchen, mit dem etwas verbrannt wurde, das Sam nicht benennen konnte. Neal kniete davor. Mit dem Rücken zu Sam, so das er nicht erkennen konnte, was genau dort gerade passierte. „Neal?“, fragte Sam leise und machte einen weiteren Schritt ins Schlafzimmer. Der Angesprochene reagierte nicht und so ging Sam noch weiter hinein, um zu sehen was hier passierte. Sam musste halb auf das Bett, bevor er sehen konnte, das Neal die Augen geschlossen hatte. Er atmete tief ein und aus und reagierte auch auf ein leichtes anstupsen nicht. Dieses Verhalten kannte Sam noch nicht und er fragte sich, wofür es gut sein sollte. Das würde er wohl erfragen, sobald Neal wieder ansprechbar war. Erst einmal entschloss sich Sam dazu den Raum wieder zu verlassen und den anderen erst einmal seine Ruhe zu geben. Doch bevor er seine Hand an den Türknauf legen konnte, hörte er ein leises Räuspern von Neal. „Die längste Nacht des Jahres ist ein wichtiger Zeitpunkt für mich. Die heiligste aller Nächte… und ich bin spät dran.“ „Erzähl es mir später. Ich will dich nicht stören.“ Irgendwann würde er das alles schon noch verstehen, auch wenn jetzt erst einmal wieder die Vampir-Geschichte in seinem Kopf Formen annahm. Sam schüttelte für sich den Kopf. Es gab sicher noch andere, die die Nacht anbeteten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)