Mord-Semester von Futuhiro (Magister Magicae 3) ================================================================================ Kapitel 1: Studentenleben ------------------------- „Anatolij, kannst du mir auf dem Heimweg bitte ein Weißbrot mitbringen?“, erklang es etwas kleinlaut und beschämt aus dem Hintergrund. „Ich habe nichts mehr zu essen da. Ich geb dir dann das Geld dafür Ende der Woche wieder, wenn ich meinen Lohn bekomme. Ist das in Ordnung für dich?“ Der junge, hagere Mann mit den zurückgegeelten, blonden Haaren drehte sich um, musterte seinen Mitbewohner missbilligend und hörte auf, an seiner gerade übergeworfenen Jacke herum zu knöpfen. „Du hast nichts mehr im Haus?“ „Nein.“ „Und du willst EIN trockenes Weißbrot ohne alles?“ „Das ist nicht so teuer, weißt du? Und es reicht ne Weile“, gab sein Mitbewohner mit schuldbewusst gesenktem Kopf zurück, so daß er ungewollt einen Hundeblick von unten herauf aufgesetzt hatte. „Es ist Montag! Selbst wenn es eine ganze Woche reichen würde – was es nicht tun wird, denn Weißbrot macht nicht satt – dann willst du eine ganze Woche von trockenem Weißbrot leben?“ „Ich will dir nicht noch mehr auf der Tasche liegen ...“ Anatolij schnaubte leise. „Du musst was Vernünftiges essen, Kolja! Im Kühlschrank stehen noch Fleisch und Klöße von gestern. Nimm die mit zur Uni. Und wehe dir, wenn ich heute wiederkomme, und irgendwas davon noch da ist!“ „Aber ...“ Ein finsterer Blick beendete die Diskussion. „Danke“, murmelte Nikolai nur noch unterwürfig. Nikolai war recht klein und zierlich für einen jungen Mann, und er trug seine rabenschwarzen Haare schulterlang, teils weil er für den Friseur zu geizig war, teils weil er lange Haare wirklich mochte. Dafür nahm er gern in Kauf, von seinen Kommilitonen als verkappter Goth angesehen zu werden. „Ich geh auf dem Heimweg einkaufen.“ Mit diesen Worten und einem Kopfschütteln griff Anatolij sich den Schlüssel, verließ die Wohnung und zog die Tür von draußen zu. Weg war er. Nikolai – oder Kolja, wie sein Mitbewohner ihn kameradschaftlich nannte – seufzte leise und setzte sich nach einigem Hadern doch Richtung Kühlschrank in Bewegung. Nikolai war Student und weitestgehend mittellos. Er hatte nur einen Studentenjob, bei dem nicht viel hängen blieb. Und eine Familie, die ihn hätte unterstützen können, hatte er nicht. Sein Kumpel Anatolij war ein paar Jahre älter und hatte schon ein geregeltes Einkommen. Er ließ Nikolai mietfrei mit in seiner Wohnung wohnen und fütterte ihn zur Not auch durch, wenn sein Studentenjob-Gehalt mal wieder eher zu Ende war als der Monat. Nikolai mochte das nicht und versuchte es weitestgehend zu vermeiden, seinem Kumpel irgendwie Kosten zu verursachen, nur immer schaffte er das eben nicht. Dafür war er aber ein Muster-Student und lernte eigentlich rund um die Uhr, um sein Studium möglichst schnell abschließen und ins Berufsleben einsteigen zu können. Ohne Anatolij wäre Nikolai schlicht und ergreifend aufgeschmissen gewesen, seitdem er die Schule beendet hatte. Anatolij war es auch, der ihm ins Gewissen geredet hatte, sein Talent nicht zu verschwenden und gefälligst zu studieren, statt eine gewöhnliche Lehre anzutreten. Das war nämlich Nikolais eigentlicher Plan gewesen, um zumindest das Lehrlingsgehalt zu bekommen. Er packte sich das Essen in eine Brotbüchse und ging dann den Computer seines Kumpels anschalten. Anatolij war so nett, ihm auch diesen zu überlassen, wenn er ihn für das Studium brauchte. Er musste heute erst nach dem Mittag zu den Vorlesungen. Die Zeit bis dahin konnte er nutzen, um für eine Hausarbeit zu recherchieren, die er für die Universität zu schreiben hatte. Aber erst wenn er mit dem Geschirrspülen fertig war. Wenn er Anatolij schon keine Miete zahlen konnte, dann versuchte er sich zumindest im Haushalt nützlich zu machen. Nikolai tippte an diesem Abend den letzten Artikel in die Kasse ein, überschlug dabei auch im Kopf nochmal, ob die angezeigte Summe stimmen könnte, und stopfte ihn in die Einkaufstüte. „Das macht dann bitte glatt 900 Rubel“, wandte er sich mit einem Lächeln an den Kunden. Er nahm das Geld entgegen, zahlte das Wechselgeld wieder aus und verabschiedete den Mann noch freundlich. Danach wandte er sich an seinen Kollegen, der in Rufweite ein Regal auffüllte. „Ich würde jetzt Schluss machen, okay?“ „Alles klar. Ich hab noch eine Stunde. Schönen Feierabend.“ Nikolai freute sich auf seinen Dienstschluss. Er war hundemüde. Und ihm war durchaus nicht entgangen, daß seine Ablöse noch nicht aufgetaucht war. Er sollte besser zusehen, hier weg zu kommen, bevor der Chef auftauchte und ihm Überstunden aufbrummte, weil die Spätschicht sich krank gemeldet hatte, oder sowas. Hurtig wuselte er um die Ecke in Richtung Aufenthaltsraum, um seine Dienstkleidung loszuwerden. „Nikolai!“, rief es ihm hinterher, kaum daß er die Tür in Sichtweite hatte. Der Student sank unmotiviert ein wenig in sich zusammen. Er erkannte den Chef schon an der Stimme. „nawos“ [Mist], maulte er leise, hatte aber genug Selbstbeherrschung, wieder ein Lächeln aufzusetzen, ehe er sich fragend umwandte. „Ja?“ „Die Metro hat eine technische Panne und fährt nicht. Andrej hat mich gerade angerufen, daß er nicht auf Arbeit kommt. Könntest du vielleicht einspringen?“ „Seine komplette Schicht?“, hakte Nikolai ungläubig nach. „Na, zumindest bis Andrej hier ist. Sieh es mal so: Wenn die Metro nicht fährt, kommst du ja eh nicht nach Hause, nicht wahr?“, lachte der Chef und ging weiter, ohne auf Nikolais endgültige Zusage zu warten. Es stand gar nicht zur Debatte, daß Nikolai vielleicht ablehnen könnte. Nikolai stöhnte leise und machte sich mit hängenden Schultern auf den Weg zurück zur Kasse. Er wäre durchaus auch ohne die U-Bahn nach Hause gekommen. Er war ein Gestaltwandler und konnte sich in irgendein flugfähiges Wesen verwandeln, das ihm gerade in den Sinn kam. Und selbst wenn er das nicht gekonnt hätte, blieb ihm immer noch der Heimweg zu Fuß. Aber half nichts. Er würde weiter arbeiten müssen, ob er wollte oder nicht. An sich hatte er nichts gegen seinen Job in diesem kleinen 24-Stunden-Laden. Es war eine angenehme Arbeit und die Kollegen waren durchweg nett. Nur die Bezahlung war nicht so der Knüller, dafür daß der Ladenbesitzer einen gern zu jeder Tages- und Nachtzeit auf Abruf gehabt hätte. Nikolai hatte ihm schon frühzeitig klar gemacht, daß er das mit seinem Studium nicht auf einen Nenner bekam und nur abends zur Verfügung stand, und hatte damit nicht gerade Pluspunkte gesammelt. Aber er war ja froh, überhaupt einen Job zu haben, also beschwerte er sich nicht über die Arbeitsbedingungen. Gegen 22 Uhr schneite Anatolij in den Laden herein. Da war Nikolai bereits bis über beide Ohren in der Buchhaltung vergraben. Da es in einem 24-Stunden-Geschäft nie einen Ladenschluss gab, wurden um 22 Uhr der tägliche Kassensturz und die Abrechnung gemacht, denn da war erfahrungsgemäß schon nicht mehr viel los. „Kolja, wo bleibst du denn? Du hättest schon seit 4 Stunden zu Hause sein sollen“, grüßte Anatolij ihn zwischen besorgt und erleichtert. Der Student sah von seiner Abrechnung auf. „Hi. Tut mir leid, ich wurde zum Sonderdienst eingezogen. Andrej ist nicht gekommen.“ „Ich hab versucht, dich anzurufen. Als du ewig nicht rangegangen bist, bin ich losgelaufen und habe dich gesucht. Ich hab mir totale Sorgen gemacht.“ „Das hab ich leider nicht mitbekommen. Mein Handy liegt im Pausenraum. An der Kasse darf ich eh nicht telefonieren.“ Anatolij nickte verstehend und schaute mit auf die herumliegenden Kassenzettel, die gerade zusammengerechnet wurden. Diese alte Kasse konnte wohl die Summe der Tageseinnahmen nicht anzeigen, so daß man per Hand nachrechnen musste, ob die Kasse stimmte. Er war erleichtert, seinen Kumpel wohlbehalten hier aufgefunden zu haben, wusste aber nicht, was er jetzt tun sollte, nun wo er einmal hier war. „Wie lange machst du noch?“ Die Ladentür ging auf und ein Mann im mittleren Alter kam herein. Statt sich im Geschäft das Sortiment anzusehen, hielt er direkt auf die Kasse zu. Nikolai lächelte erfreut. „Da kommt endlich meine Ablöse. Jetzt hab ich Feierabend. Ich zähl nur noch schnell die Kasse fertig, ja?“ „Ist gut. Ich warte auf dich“, meinte Anatolij. „Nikolai, hey. Danke, daß du meine Vertretung übernommen hast“, grüßte der Neuankömmling, Andrej, der inzwischen bis zum Tresen vorgedrungen war. „Ich musste meinem Vater helfen, einen Umzug zu fahren.“ „Einen Umzug zu fahren!?“, empörte sich Nikolai. „Ich dachte, die Metro ist ausgefallen!“ „Ja, das habe ich dem Chef eingeredet, damit er mich nicht rausschmeißt“, lachte Andrej und winkte ab. „Ich geh mich umziehen. Bin gleich wieder da.“ Der Student schaute ihm säuerlich hinterher. „Nette Kollegen hast du da. Du solltest ihn bei deinem Chef verpfeifen“, kommentierte Anatolij von der Seite. „Gott bewahre. Wenn der Chef den kündigt, darf ich ja NUR noch Überstunden schieben, um ihn zu ersetzen. Unbezahlt, versteht sich!“, grummelte Nikolai und vertiefte sich wieder in seine Abrechnung. Andrej war ihm eindeutig was schuldig. Das würde Nikolai ihm nicht vergessen. Am nächsten Vormittag saß Nikolai in einer Vorlesung für Bann-Magie. Das war zwar nicht sein Studienfach, aber auch dafür hatte er ein magisches Talent und wollte dieses so gut es ging mit ausbilden. Mit etwas Glück konnte er später zu seinem Magister Magicae für Gestaltwandlung noch einen Zusatzabschluss auf Bann-Magie machen. Irgendwann, wenn er es sich finanziell leisten konnte, nochmal die Schulbank zu drücken. Meisterte man drei verschiedene Magie-Arten, bekam man hier in Russland den Magister Artificiosus Magicae anerkannt. Das fände Nikolai irre cool. Und im Gegensatz zu den meisten anderen magisch begabten Wesen hatte er auch die nötigen Voraussetzungen dazu. Er hatte tatsächlich so viele magische Veranlagungen. Die meisten Menschen und Genii hatten nur ein einziges, magisches Talent. Bann-Magie und Hellseherei gehörten mit zu den verbreitetsten und gängigsten. Man hatte da wenig Einfluss drauf und konnte sich keine neuen Fähigkeiten durch Lernen aneignen. Alles, was man konnte, war einem angeboren und trat in der Regel zwischen den Kindertagen und der Pubertät erstmals in Erscheinung. Man konnte nur die Fähigkeit, die man schon von Natur aus hatte, ausbilden und trainieren. Die, die noch ein zweites, angeborenes Talent hatten, waren schon seltener. Drei kamen fast nie vor. Das Nikolai dazugehörte, hatte seinen Grund. Er war nämlich für sich genommen schon ein ziemlich seltener Vogel – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Da Nikolai neben seiner Gestaltwandelei also auch eine Veranlagung für Bann-Magie hatte, besuchte er dann und wann entsprechende Vorlesungen, um da schonmal ein wenig vorzuarbeiten, für den Fall, daß er später noch einen Abschluss auf diesem Gebiet machen sollte. Um sein drittes Talent und seine eigentliche Passion, nämlich die Angriffs- und Abwehrzauber, insbesondere die Flüche und Verwünschungen, würde er sich leider zuletzt kümmern müssen. Die Fluch- und Verwunsch-Wissenschaften waren echt ein Hardcore-Studium, das viel Zeit und Durchhaltevermögen in Anspruch nahm. Das würde er nicht bewältigen können, solange er sein Studium noch mit einem Kassierer-Job in einem 24-Stunden-Laden unter einen Hut kriegen musste, wo er teilweise die ganze Nacht durcharbeiten durfte. Das beeinträchtigte seinen Lernerfolg nämlich deutlich. Im Moment musste er zusehen, so schnell wie möglich mit dem Magister Magicae fertig zu werden, um seinem Freund Anatolij nicht mehr auf der Tasche zu liegen, und da war die Gestaltwandlung für ihn der leichteste und erfolgreichste Weg. Denn das beherrschte er am besten. „Eh, Nikolai“, raunte ihm seine Kommilitonin von der Seite zu. „Verstehst du, was der Dozent da vorne labert?“ „Natürlich. So schwer ist das Thema doch nicht“, gab Nikolai verwundert zurück. „Kannst du mir beim Lernen helfen?“ „Keine Zeit“, blockte er sofort ab. Das war nichtmal eine Lüge. „Ehrlich, du solltest Nachhilfe geben. Ich bezahl dich auch dafür.“ Nikolai rollte mit den Augen. „Nadeschda, du willst doch gar nicht lernen. Du willst bloß Zeit mit mir verbringen. Da habe ich keine Lust drauf. Und daran änderst du auch nichts, indem du versuchst, mich zu kaufen.“ „Aber ich versteh das Thema wirklich nicht“, gab das Mädchen mit Schmollschnute zurück. „Besorg dir das Buch 'Wirbelsturm – Windmagie in Bannkreisen' von Seiji Kami. Der hat das verdammt gut erklärt.“ Nadeschda stutzte. „Das Thema der Vorlesung ist aber der Einsatz von Feuer in der Bannmagie.“ „Das Prinzip ist das gleiche. Man kann das problemlos von Wind auf Feuer umrechnen, wenn man die Grundstrukturen der Windmagie und der Feuermagie kennt“, gab Nikolai leise zurück, versuchte sich wieder auf die Vorlesung zu konzentrieren, konnte sich aber doch des hilflosen Blickes seiner Banknachbarin nicht erwehren. „Du hast auch keine Ahnung von den Grundstrukturen der Elementar-Magien, oder?“, vermutete er unwillig. Er wusste ja, daß Nadeschda nicht gerade zu den fleißigsten Studenten gehörte, aber das gehörte für ihn echt zum Urschleim. „Nicht so tief, daß ich da irgendwas ummünzen könnte.“ „Die Studenten in der dritten Reihe, die da die ganze Zeit quatschen ... Wenn euch das Thema nicht interessiert, dann könnt ihr gern meine Vorlesung verlassen!“, meinte der Dozent etwas genervt und unterbrach die Debatte damit nachhaltig. „Entschuldigung“, gab Nikolai nur laut zurück. Als der Professor daraufhin mit seinem Unterrichtsstoff fortfuhr, schnappte sich Nikolai einen Notizzettel, kritzelte 'such dir 'nen anderen Nachhilfelehrer' darauf und schob ihn Nadeschda kommentarlos hinüber. Dann hörte er wieder dem Dozenten vorn zu. Der junge Mann mit den langen, schwarzen Haaren blieb mürrisch stehen und wartete, bis seine Verfolgerin zu ihm aufgeholt hatte. „Verrätst du mir mal, warum du mir nachläufst, Nadeschda? Du wohnst in einer anderen Richtung.“ „Ich laufe dir nicht nach. Ich hab nur zufällig das gleiche Ziel.“ „Und wo willst du hin?“ „Zu Anatolij“, gab die Bannmagie-Studentin selbstzufrieden zurück. „Bitte was? Was willst du von Anatolij?“ „Er ist mein Freund! Wir sind zusammen!“ Nikolai hatte kurz Mühe, seine Mimik im Griff zu behalten. „Seit wann das denn?“ „Seit letzter Woche.“ Nadeschda lächelte und stiefelte an ihm vorbei. Nun war es Nikolai, der ihr notgedrungen nachlaufen musste. Sie marschierte die letzten paar Meter bis zum Haus vornweg, klingelte ganz selbstverständlich und tatsächlich tauchte kurz darauf der blonde Schopf seines Kumpels im Fenster auf. „Nadeschda, hey, da bist du ja! Warte, ich lass dich rein!“, rief Anatolij und krachte das Fenster wieder zu, ohne Nikolai beachtet zu haben. Nur Sekunden später öffnete sich die Haustür. Anatolij musste wirklich im Tiefflug die drei Etagen heruntergespurtet sein. Sofort fiel Nadeschda ihm in die Arme und sie begannen sich wild und ungezügelt zu küssen. Nikolai stand einen Augenblick unbeachtet daneben, die Hände in den Jackentaschen, musste gegen seine Übelkeit ankämpfen, und zückte schließlich seinen Schlüssel, um schonmal hoch zu gehen, solange die zwei Turteltäubchen noch damit beschäftigt waren, sich gegenseitig die Zungen in den Hals zu stecken. Auf offener Straße, einfach widerlich. Und das Schlimmste war: wenn Nadeschda jetzt ernsthaft mit Anatolij zusammen war, würde sie permanent in dessen Wohnung herumhängen. „Kolja?“, rief Anatolij ihm nach, ehe er ganz im Treppenhaus verschwinden konnte. Nikolai drehte sich säuerlich wieder um. „Du ... ähm ... hast heute nicht zufällig Dienst im 24-Stunden-Laden, oder?“ Anatolij kam Stunden später wieder ins Wohnzimmer. Da war es schon dunkel und er hatte Nadeschda nun wieder verabschiedet. Endlich. Nikolai saß mit einem Buch auf dem Sofa und versuchte zu lernen. Er zog eine leicht verbissene Miene, sagte aber nichts. „Na? Bist du mit deiner Hausarbeit weitergekommen?“, wollte Anatolij wissen, da er Nikolai nicht wie erwartet am Computer fand. „Nein, bin ich nicht. Wenn du im Schlafzimmer lautstark deine Tussi vögelst, daß man es im ganzen Haus hört, kann ich mich hier nicht konzentrieren.“ Der Ältere seufzte verstehend. „Bist du sauer?“ „Das hier ist deine Wohnung. Du kannst hier machen, was du möchtest. Aber wenn du mich loshaben willst, dann sag mir das nächstes Mal eher.“ Der Ältere verzog vielsagend das Gesicht. „Ich will dich doch nicht loshaben.“ „Du hast gefragt, ob ich nicht Dienst hätte!“ „Das ist doch nicht der eigentliche Punkt, oder?“ Nikolai sah endlich aus seinem Lehrbuch hoch, auf das er sich sowieso nicht hatte konzentrieren können. „Anatolij, warum ausgerechnet sie?“ „Warum nicht? Sie ist doch süß!“ „Sie ist ein Flittchen! Wenn sie mal so viel Energie ins Lernen stecken würde, wie mit Jungs rum zu machen ... Sie trifft sich mit ihren Kommilitonen unter dem Vorwand, Nachhilfe zu brauchen, und geht ihnen dann an die Wäsche. Bei mir hat sie das auch schon zweimal versucht. Sie schläft mit dem halben Jahrgang!“ „Na, solange es nur der halbe ist ...“, lachte sein Kumpel unbesorgt. „Die andere Hälfte ist weiblich“, klärte Nikolai ihn humorlos auf. „Ich meine das ernst. Ich gönne dir ja eine Freundin. Aber sie ist nichts für eine Beziehung.“ „Ach was. Du kannst sie bloß nicht leiden und willst sie nicht in unserer Wohnung haben, das ist alles“, entschied Anatolij und verzog sich wieder aus dem Wohnzimmer. Wohl in die Küche, etwas zu essen holen. Nikolai ließ resignierend den Kopf in den Nacken fallen. Warum nur benahmen sich Verliebte immer so furchtbar unvernünftig? Naja, egal. Jetzt wo Nadeschda wieder weg war, konnte er vielleicht endlich an seiner Hausarbeit weiterschreiben, entschied er und legte das Buch zur Seite. Er würde Anatolij gelegentlich seinen Dienstplan für die nächsten drei Wochen aufschreiben, damit der sich seine neue Tussi vorzugsweise dann einlud, wenn Nikolai nicht da war. Kirill vollführte eine verschnörkelte Handbewegung und schoss damit einen Schockzauber nach Nikolai. Der Zauber hatte die Wirkung eines gewaltigen Rammbocks, der den kleingeratenen, zierlichen Studenten hart anprellte und gute zwei Meter rückwärts durch die Luft schleuderte. Nikolai krachte unkoordiniert auf den Boden, überschlug sich bei der Landung nochmal und blieb liegen. „Oh, entschuldige!“, entfuhr es Kirill, selbst etwas erschrocken über die Wucht seines Angriffs. Eilig hechtete er herbei. „Ist alles okay bei dir?“ Nikolai stöhnte nur leise und hustete gepresst. Dann versuchte er sich vorsichtig zu bewegen, um zu sehen, ob an seinem Körper noch alles heil war. Aus seiner Nase schoss Blut. Aber zumindest Luft bekam er noch. „Tut mir leid. Ich dachte, du könntest sowas abwehren“, beteuerte Kirill und hielt ihm ein Taschentuch hin. „Was war das für´n linkes Ding?“, wollte Nikolai mit belegter Stimme wissen und setzte sich langsam wieder auf. Er strich sich die langen Haare aus dem Gesicht, damit er wieder etwas sah. „Klassische Handzeichen-Magie war das nicht. Die hätte mein Schutzschild eigentlich abblocken müssen.“ „Doch, das war schon Handzeichen-Magie, aber der Angriff basierte nicht direkt auf der Handbewegung an sich, sondern auf der Zahl 1. Ich hab diese Handbewegung einmal gemacht. Hätte ich sie mehrfach gemacht, wäre die Wirkung eine andere gewesen.“ „Zahlenmagie also?“ „Ja.“ „Du bist ne fiese Sau!“, hielt Nikolai seinem Übungspartner vor. „Aua ...“ Er krümmte sich nochmal zusammen, um seine Bauchschmerzen zu dämpfen. Der Schockzauber fühlte sich an wie ein Schlag in den Magen. „Wie gesagt, ich dachte du würdest das kennen.“ Nikolai kämpfte sich wieder auf die Beine. „Okay, wenn das Zahlenmagie auf 1 ist, dann muss ich in meinen Schutzschild als Komplementär die Zahl 9 mit einbinden“, überlegte er los, eine Hand noch mit dem Taschentuch auf die Nase gepresst. „Damit es wieder 10 werden. ... Ich glaub ich weiß, wie ich das anstelle. Greif mich nochmal mit diesem Zauber an!“ „Hast du nicht genug eingesteckt?“, wollte Kirill besorgt wissen. „Warte doch wenigstens erstmal, bis das Nasenbluten wieder aufgehört hat.“ „Greif an, hab ich gesagt!“ Hinnehmend ging Kirill wieder auf Kampfabstand. Normalerweise trainierte er ja ganz gern mit dem Gestaltwandler. Außer wenn sein Ehrgeiz wieder derart den Rahmen der Vernunft sprengte wie jetzt. Nikolai war verdammt talentiert und man konnte eine Menge von ihm lernen. Sie hatten Spaß daran, die Wirksamkeit von Angriffen und Abwehren zu erforschen, die man in der Uni nicht lernte. Das erweiterte den Horizont ungemein und brachte sie auch für den offiziellen Lehrstoff weiter. In den letzten Wochen hatten sie sich fast täglich nach der Uni hier auf dem Sportplatz getroffen und sich trainingsmäßig geprügelt. Soviel Kirill wusste, wollte Nikolai derzeit bloß nicht mehr zu Hause rumhängen als unbedingt nötig, weil sein Mitbewohner eine neue Freundin hatte und sie in Ruhe flachlegen wollte. Im Moment war das Kirill auch ganz recht. Aber es ging langsam auf die nächsten Prüfungen zu und er würde sich ans Lernen machen müssen. Dann konnte er nicht mehr jeden Tag stundenlang mit Nikolai auf dem Sportplatz stehen. Nikolai schloss die Wohnung auf und lauschte, aber drinnen war es still. Gut, also keine Nadeschda mehr da. Es hatten ja auch keine Schuhe vor der Tür gestanden. Zufrieden kam er herein und warf seinen Schlüsselbund im Flur auf die Kommode. Der landete klirrend auf einem Briefumschlag mit dem Logo der Universität von Moskau. Fragend ging er hin und schnappte sich den Brief. „Hi, Kolja. Wieder zurück?“, wollte Anatolij gut gelaunt wissen, als sein Kopf in der Wohnzimmertür auftauchte. „Ah ja, du hast Post von der Uni“, fügte er überflüssigerweise an und deutete auf den Umschlag, den Nikolai bereits in Händen hielt. „Ich seh´s schon.“ „Hast du was ausgefressen?“, grinste Anatolij. „Mh. Wahrscheinlich die Mitteilung, daß meine letzte Hausarbeit benotet wurde und ich sie in der Sprechstunde abholen soll. Der Dozent verschickt lieber Briefe als e-mails, wenn es drauf ankommt. ... Allerdings wäre er da diesmal ziemlich schnell gewesen.“ „Sag mal, hast du eine auf´s Maul bekommen?“, wollte Anatolij unfein wissen, weil ihm in diesem Moment die blutverkrustete Nase seines Kumpels auffiel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)