Haus ohne Fenster - eine Wintergeschichte von Suzette_Godault (Geschichte einer Beziehung) ================================================================================ Kapitel 5: Wanderung -------------------- Am nächsten Morgen fühlte ich mich ausgeruht und frisch – und das, wenn ich ehrlich war, zum ersten Mal seit Wochen, wenn nicht gar Monaten. Ich gähnte, rekelte mich und griff nach meinem Baseball-Schläger, der in der Nacht neben mir gelegen hatte. Diesmal machte ich mir zum Frühstück das Radio an, um den Wetterbericht zu hören: es war kein Unwetter für den Tag vorausgesagt –nur Sonnenschein und blauer Himmel. Warum sollte ich den Tag nicht nutzten? Was hier im Haus herumhängen, wenn doch die Sonne lachte? Und bis 15 Uhr, bis ich bei Revier erscheinen sollte, hatte ich genügend Zeit. Ich würde in die Berge gehen. Erfahrung hatte ich ja. Als wir noch in Kalifornien gelebt hatten, waren mein Vater und ich oft ins Gebirge gefahren. Natürlich wusste ich, dass ich nicht allein gehen sollte, doch ich würde mich ja nicht weit vom Haus entfernen. Nur ein paar Schritte, nur ein wenig Bergluft schnuppern, mich bewegen – das brauchte ich jetzt. Im Grunde liebte ich die Berge – auch wenn mir die hiesige Umgebung fremd war. Doch darüber wollte ich mir jetzt keine Gedanken machen – der Tag lag vor mir, ich hatte gut geschlafen, fühlte mich gesättigt und wollte hinaus. Also packte ich mir meinen Rucksack, griff dann nach meinem Baseball-Schläger, wog ihn in meiner Hand. Er war nicht leicht und ich wusste, dass er mein Tempo beeinflussen würde, aber wenn ich ihn hier ließe, würde ich mich nicht gut fühlen. Als ich vor die Haustür trat, empfing mich klirrend kalte Luft und der Schnee unter meinen Schuhen knirschte wie in der letzten Nacht auch. Ich sah mich um, erblickte mein Auto und auch die Spuren, die von meiner nächtlichen Aktivität zeugten. Es war ein tolles Gefühl gewesen, den Schläger zu schwingen und mir dabei einzubilden, ich würde wieder im Stadium stehen. Diesen Moment, als mir klar geworden war, dass es ein Home Run war, würde ich nie vergessen. Ich hatte Ronald nur ganz kurz in die Augen gesehen und seine Hilflosigkeit erkannt, die er hinter einer versteinerten Miene zu verbergen suchte, und war rannte los. Unwillkürlich bückte ich mich jetzt, griff in den Schnee, formte einen Ball, stellte mich in Positur und warf ihn. Ich mochte die Choreographie eines Pitchers. Wenn ich nur einmal mit Ronald gesprochen hätte. Aber es hatte sich nie ergeben. So war das eben. Ich holte tief Luft, sah mich noch einmal um, dann ging ich los. Meinen Baseball-Schläger hatte ich im Rucksack verstaut. Ich trat auf die Straße. Rechter Hand ging es ins Dorf, linker Hand höher in die Berge. Ich würde der Straße folgen und wohl irgendwann auch an Reviers Haus vorbeikommen. Es war jetzt 10 Uhr. Fünf Stunden also blieben mir noch, um die Gegend zu erkunden. Und wie es der Zufall wollte, sah ich nach etwa fünf Minuten ein Hinweisschild, das mir einen Rundwanderweg von drei Stunden in die Berge anzeigte. Warum sollte ich dem nicht folgen? Zurückgehen konnte ich jeder Zeit – meine Spuren wurden im Schnee nicht vergehen. Der Pfad, der sich vor mir – unter dem Schnee fast vollkommen verborgen – auftat, führte recht steil über eine Wiese zu einem Waldsaum hinauf. Ich wusste, dass ich mein Lauftempo würde drosseln müssen, um durchzuhalten. Stetiges, wenn auch langsames Steigen war effizienter, als alle fünf Minuten Pausen einlegen zu müssen. Beim Wandern war der Takt das Entscheidende – und das vor allem im Schnee. Ich musste mir meinen eigenen Rhythmus suchen und ihn versuchen zu halten. Sollte ich zu schnell sein und dadurch an Kraft verlieren, musste ich mir das ehrlich eingestehen, sonst würde ich keine Chance haben, diese drei Stunden durchzuhalten. Trotzdem musste ich bald die erste Pause einlegen. Ich hatte Durst und auch ein wenig Hunger. Hinzukam, dass ich leicht zu schwitzen begonnen hatte. Kein schönes Gefühl, wenn einen von außen die Kälte anging und man von innen her kochte. Trotzdem wollte ich weiter, aufgeben kam für mich nicht in Frage. Der Schnee war tief, ging mir bei jedem Schritt bis zu den Waden. Ich schnaufte leise, huckte den Rucksack ab, holte mehrere Male tief Luft. Glasklar war sie und dünn. Ich musste einige Male schnappen, um das Gefühl zu haben, wirklich Sauerstoff aufgenommen zu haben. Derweil sah ich mich um, bemerkte meine Spuren im Schnee – ich hatte bisher nur ein kleines Stück des Wegs geschafft, war noch nicht einmal bis zum Waldrand vorgedrungen. Dort oben, so vermutete ich, würde es leichter gehen. Aber bis dahin galt es noch an die 100 Höhenmeter zu überwinden. Ohne Schnee ein Kinderspiel, doch jetzt … Aufgeben aber kam für mich nicht in Frage. Also huckte ich meinen Rucksack wieder auf und stapfte weiter. Im Wald war es tatsächlich erträglicher. Der Weg verlief flacher und hie und da erhaschte ich sogar einen Blick hinab ins Tal. Ich erkannte zwei Häuser, die in einiger Entfernung voneinander dicht an den Hang gebaut waren: das meiner Mutter und das von Revier, noch etwas weiter bergan gelegen. Und tief unten im Tal: das Dorf, so klein. Ich sah auf meine Uhr: Es war kurz nach 11 Uhr. Eine Stunde hatte ich für das kleine Stückchen Weg benötigt. Gut, Zeit genug blieb mir noch, aber ich ahnte, dass ich den Rundweg wohl in drei Stunden nicht würde schaffen können, denn schon zeigte mir ein neuerliches Schild an, dass ich höher in die Berge steigen müsse. Und wieder blies ich die Wangen auf, denn ich spürte meinen Rucksack nun sehr deutlich auf meinem Rücken. Aber was, wenn ich tatsächlich darauf verzichtet hätte, meinen Baseball-Schläger mitzunehmen und mir etwas passieren würde? Wusste ich denn, wer sich hier herumtrieb? Irgendwann lichtete sich der Wald und vor mir tat sich eine große, von Bergmassiven umsäumte Ebene auf. Und augenblicklich schlug mir ein eisiger Wind entgegen, der mir den Atem raubte. Fröstelnd zog ich mir den Schal hoch vor den Mund und vergrub meine Hände in den Taschen meines Anoraks. Mir war so, als träfen tausender pieckender Eiskristalle im Gesicht. Auch spürte ich, dass Schnee in meinen linken Schuh eingedrungen war und nun zu schmelzen begann. Ich war verschwitzt, fror gleichzeitig und hatte einen nassen Fuß. Ich überlegte, ob ich diese Wanderung tatsächlich fortsetzen sollte. Doch in dem Moment, da ich mich wieder dem Wald zuwenden wollte, bemerkte ich einen See. Ich brauchte nur einige Schritte, um sein Ufer zu erreichen. Von seiner spiegelglatten Oberfläche wirbelte mir der Schnee entgegen. Und obwohl mir auch das unangenehm war, konnte ich doch meinen Blick nicht von der scheinbaren Nebelwand über dem Eis abwenden. Einerseits diese Ruhe, andererseits der Wind, der alles in Bewegung versetzte, der mir an der Kleidung riss und mich eisige Schneeflocken atmen ließ. Unwillkürlich tat ich einige Schritte auf den See hinaus. Ich wusste, dass ich keine Angst zu haben brauchte, das Eis würde halten. Aber dann sah ich plötzlich eine Gestalt zwischen den aufwirbelnden Flocken … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)