Kaze no Uta von Lady_Ocean (Das Lied des Windes) ================================================================================ Zwiespalt --------- Falls sich noch jemand daran erinnert: Ich hatte am Ende des letzten Kapitels versprochen, in jeden Semesterferien wenigstens ein Kapitel zu schaffen. Nun, ich hab mich dran gehalten. Ist zwar knapp geworden, aber hier kommt das versprochene Kapitel ^^! Auch wenn es jetzt sicher enttäuschend für euch sein wird, dass es bis zum nächsten Kapitel wieder eine Weile hin ist. Nebenbei schreibe ich jetzt hin und wieder noch an "Der Weg zum Glück", weil ich einfach auch mal etwas Abwechslung brauche, aber insgesamt sieht es doch sehr sparsam aus mit meiner Produktivität... Tut mir Leid, dass ihr als Leser das immer ausbaden müsst, indem ich euch so lange darben lasse. Ich hoffe, ihr seid zumindest nicht enttäuscht von dem, was ich euch jetzt präsentiere. Zumindest können die, die gespannt auf die Fortsetzung in der Gegenwart gewartet haben, jetzt erst mal erleichtert aufatmen ^^. Viel Spaß! ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Zwiespalt „... Und das war das letzte Mal, dass ich meine Eltern gesehen habe. Nach diesem Gespräch bin ich erst einmal zu meinem Sensei zurückgekehrt und habe eine Weile bei ihm gewohnt. Über den Sommer habe ich mir eine eigene Wohnung in Liverpool an der Westküste gesucht, weit weg von London und allem, was dort passiert ist. Danach habe ich die elfte Klasse wiederholen müssen, weil ich die ganzen Prüfungen in meiner alten Schule ja verpasst hatte, und zwei Jahre später bin ich schließlich nach Japan geflogen. Mit meiner Mutter habe ich relativ schnell den Kontakt wieder aufnehmen können, aber mit meinem Vater herrscht Funkstille. Und wenn ich ehrlich sein soll, ist es mir so auch lieber. Ich kann es ihm einfach nicht verzeihen, dass ich ihm so wenig bedeute und er so schlecht von mir denkt.“ Nach Stunden hatte Aki seine Erzählung schließlich beendet. Mit versteinertem Gesicht starrte er auf die Teetasse, die er noch immer unangerührt in den Händen hielt, und schaute doch irgendwie durch sie hindurch. Erst langsam schien das Leben in seine Augen und Gesichtszüge zurückzukehren und er entspannte sich ein wenig, doch gleichzeitig nahm sein Gesicht einen sehr verzweifelten Ausdruck an. Yuki hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Er hatte es nicht gewagt, auch nur einen einzigen Ton von sich zu geben, geschweige denn irgendeine Erwiderung auf Akis Worte zu geben. Er hatte nur stumm gewartet und zugehört und zur Beruhigung seine rechte Hand auf die linke seines Freundes gelegt, als diese angefangen hatte, ein wenig zu zittern. Es schien genug Trost und Hilfe zu sein, um dem Braunhaarigen die Kraft zum Weiterreden zu geben. Als die Erzählung jedoch den Punkt erreicht hatte, an dem es um den Tod seines damals besten Freundes ging, war es Aki zusehends schwerer gefallen, die Worte herauszubringen, die er sich vorgenommen hatte, nun endlich jemandem zu offenbaren. Dieser Kampf, den er mit sich selbst führte, hatte schließlich über Yukis Vorsatz gesiegt, einen gewissen Abstand zu seinem Freund einzuhalten, um diesen nicht zu bedrängen. In einem verzweifelten Anflug, ihm irgendwie Halt geben zu können, hatte er den Braunhaarigen in seine Arme gezogen, sodass Akis Kopf seitdem an seiner Schulter ruhte. Zuerst hatte er deutlich gespürt, dass diese plötzliche Aktion seinen Freund verschreckte, als dieser seinen ganzen Körper anspannte und hörbar die Luft einsog, doch nach einigen Augenblicken hatte er sich langsam wieder entspannt. Zwar hatte er es nicht gewagt, die Umarmung zu erwidern, doch er hatte sich zumindest ruhig in den ihm dargebotenen Komfort gelehnt und gedankenverloren seine Teetasse genommen, um sie ein wenig in der Hand herumzudrehen, bis er schließlich die Kraft hatte, endlich weiter zu erzählen. Am Ende der Geschichte fühlte Yuki sich ziemlich mies. Er hatte zwar damit gerechnet, dass Aki ein schweres Geheimnis mit sich herumschleppte, nachdem er diese Andeutung zuvor im Park gemacht hatte, aber dass es so schlimm war, daran hätte er im Traum nicht gedacht. Und er bedrängte ihn auch noch mit seinen Gefühlen! Es war wirklich kein Wunder, dass Aki ihn so angefahren hatte; und dass er sich dennoch so schnell wieder aufgerafft hatte und ihm gefolgt war, erstaunte ihn umso mehr. Natürlich, er hatte es nicht wissen können, aber trotzdem. Das schlechte Gewissen blieb. „Es tut mir so Leid, Aki“, flüsterte er nach einer Weile in die Stille hinein. „Das muss dir doch nicht Leid tun! Du hättest an den Dingen, so wie sie geschehen sind, nichts ändern können“, erwiderte der Angesprochene und schüttelte zur Bestätigung leicht den Kopf, wodurch seine weichen Haarspitzen sanft an Yukis Hals kribbelten. Doch im Moment ignorierte er es. „Das meine ich nicht. Ich habe dich mit meinem Verhalten bedrängt und dir Angst gemacht. Das tut mir Leid.“ Aki seufzte erschöpft auf. Das stimmte schon, Yuki hatte ihn wirklich ziemlich erschreckt, aber... „Du hast es nicht wissen können. Woher auch? Im Grunde wollte ich nur weg von alledem. Ich wollte es vergessen und nie wieder hervorkramen. Ich kann nicht einmal sagen, ob ich es jemals freiwillig irgendwem erzählt hätte – selbst dir.“ Wäre es nicht eine so unglaublich schwere Sache gewesen, die ihm der Braunhaarige da anvertraut hatte, wäre er über diese Bemerkung jetzt sicher beleidigt gewesen, doch so konnte er es durchaus nachvollziehen. Zumal er selbst gut genug wusste, dass es Dinge gab, über die man lieber schwieg... „Aber...“, sprach Aki schließlich weiter, „jetzt verstehst du ja, warum das mit uns einfach nichts werden kann. Egal, wie sehr wir es auch wollen, wir können einfach nicht zusammen sein, wir DÜRFEN einfach nicht!“ Bei diesen Worten zog sich der Magen des Japaners schmerzhaft zusammen. Ja, er verstand Akis Angst, doch das war wirklich überreagiert. So schlimm würde sich hier doch niemand über sie zerreißen! Erstens waren sie nicht in England – wer weiß, was da noch für verschrobene Ansichten regierten – und zweitens war das ja nicht Inzest, was sie hier praktizierten. Natürlich war Homosexualität ein gewisser Anstoßpunkt, aber kein dermaßen dramatischer. Zumindest bei weitem nicht dramatisch genug, dass sich seine Gefühle davon im Zaun halten lassen würden. Yuki hatte längst verstanden, dass das bei ihm einfach nicht funktionierte, sondern alles nur schlimmer machte. „... Könntest du denn einfach so weitermachen wie bisher?“, fragte er schließlich, nachdem er eine Weile seine Worte abgewogen hatte. „So tun, als wäre da nichts zwischen uns? Mich ansehen und mich berühren, scheinbar zufällig, mit der Gewissheit im Hinterkopf, was deine Berührungen für Glücksgefühle in mir auslösen? Könntest du dein eigenes Herzklopfen einfach so ignorieren? Ich glaube nicht, dass das jetzt noch gut gehen kann, Aki. Selbst wenn du deine Gefühle verdrängen könntest, ich kann es nicht mehr. Ich gehe daran zugrunde! Vor allem jetzt, wo ich weiß, dass es nichts Einseitiges ist.“ Als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen, fuhr Aki plötzlich aus der Umarmung auf, rückte ein Stück zurück und stellte die Tasse schwungvoll auf den Tisch zurück, sodass etwas Tee über den Rand schwappte. „Und wie stellst du dir das vor?“, fragte er angsterfüllt. „Einfach da rausspazieren und der Welt verkünden, wie verliebt wir in einander sind und darauf warten, dass wir Glückwünsche und freudige Kundgebungen von allen Seiten bekommen? Du weißt jetzt, was beim letzten Mal passiert ist, als meinem besten Freund so eine unglückselige Liebe widerfahren ist! Kannst du dir vorstellen, wie schlimm es damals für mich war, das miterleben zu müssen, wie er nach und nach daran zerbrochen ist? Bis er schließlich keinen anderen Ausweg mehr gesehen hat als den Tod? Yuki, ich könnte das niemals ertragen, wenn ich so etwas noch einmal erleben müsste! Wenn...wenn dir...“ Während dieses Gefühlsausbruchs klang Aki immer verzweifelter. Bei seinen letzten Sätzen hatte er die Distanz zwischen sich und dem Schwarzhaarigen sogar wieder überwunden und klammerte sich nun an dessen Pullover, als wäre es der rettende Strohhalm, dem man dem Ertrinkenden hingeworfen hatte, und sah ihm schmerzerfüllt in die Augen, bis er den Blick schließlich wieder abwandte, weil er von dem Gedanken, den er nicht mehr gewagt hatte auszusprechen, schier erdrückt wurde. Nun schien Yuki zu verstehen, wo genau Akis Problem lag: Die Reaktionen von außerhalb waren gar nicht das Schlimmste. Aki hatte Angst, dass sich etwas Ähnliches wiederholen könnte, dass er wieder miterleben musste, wie ein Mensch, der ihm besonders viel bedeutete, leiden und vielleicht sogar sterben musste... Mit einem beruhigenden Laut schloss er den zitternden Halbjapaner wieder in seine Arme. „Mir wird nichts passieren, das verspreche ich dir.“ „Das hat Jimmy auch getan und wenig später war er tot“, war Akis trockene Antwort. In dieser Hinsicht hatte er seinen Glauben und leider auch sein Urteilsvermögen wohl völlig verloren. Mit Worten kam Yuki da wirklich nicht weiter. Also löste er sich ein wenig von seinem Freund, sodass er dessen Kopf ein Stück anheben konnte, um sich fast im selben Moment zu ihm herunter zu beugen und ihm einen sanften Kuss auf die Lippen zu hauchen. Die Berührung war viel zu kurz, viel zu flüchtig, als dass Aki irgendwie darauf hätte reagieren können, und so sah er den Japaner im ersten Moment nur aus geweiteten Augen an, bis er schließlich seine Sprache wiederfand. „Yuki! Ich hab doch gesagt, dass-“ Doch der Schwarzhaarige legte ihm einfach sanft die Finger auf die Lippen und brachte ihn damit wieder zum Schweigen. Dann ließ er seine Hand sinken und nahm Akis Hand auf, führte sie an die Stelle auf seiner Brust, hinter der sein Herz schlug. „Spürst du das?“, fragte er leise. „Spürst du, wie schnell es schlägt?“ Ein zögerliches Nicken war die Antwort. Akis Gesichtsausdruck wirkte wie ein rasches Wechselbad aus Furcht und Sehnsucht. „Und ich bin mir sicher, dass dein Herz genauso schlägt. Genauso schnell, genauso sehnsüchtig. Genauso schmerzhaft“, sprach Yuki genauso ruhig weiter. „Es macht einfach, was es will, ohne dass ich es noch irgendwie kontrollieren könnte. Selbst Außenstehende haben inzwischen mitbekommen, dass mit mir etwas nicht stimmt, obwohl ich mir alle Mühe gegeben habe, mir vor anderen nichts anmerken zu lassen. Die Leute um uns herum sind nicht blind. Früher oder später – wahrscheinlich eher früher – würden sie merken, was genau los ist, egal, wie sehr wir uns dagegen sträuben. Weil es einfach nicht mehr geht. Solange wir uns ständig so nah sind, dass wir uns berühren könnten, und es doch nicht zulassen, können wir unsere Gefühle niemals in den Griff bekommen. Wenn du das wirklich abstellen willst, wenn du wirklich willst, dass wir lieber alles vergessen, was zwischen uns ist, dann...dann können wir nicht weiter zusammenleben.“ Die Sehnsucht in Akis Augen verdrängte für diesen Moment die Angst, die neben ihr herrschte, vollkommen. „Nein... Nein, das kann ich nicht! Ich will dich nicht wieder verlieren, Yuki! So lange habe ich darauf gewartet, dich wieder sehen zu können. Und jetzt, wo ich endlich das Gefühl habe, dass alles wieder in Ordnung ist, dass alles so ist, wie es sein sollte, soll ich dem einfach wieder den Rücken kehren und so tun, als wäre ich nie hier gewesen? – Nein, das kann ich nicht!“, wiederholte er noch einmal und griff nach Yukis Hand, als könne er sich daran festhalten. Er schluckte schwer und lehnte sich erschöpft gegen den Sofarücken. Egal, wohin er auch blickte, alles erschien aussichtslos. Weg konnte und wollte er nicht. Sich auf diese Liebe einlassen ging auch nicht. Und einfach nur mit Yuki befreundet sein... Yuki hatte wohl Recht, es würde ebenfalls nicht mehr funktionieren. Diese wackelige Illusion, die er sich mit letzter Hoffnung aufgebaut hatte, war wieder zu nichts zerfallen, als Yuki mit diesem flüchtigen Kuss dieses schmerzhafte Gefühl in ihm ausgelöst hatte. Auch wenn er es gern übergangen und einfach so getan hätte, als wäre nichts weiter dabei; er konnte dieses sanfte Prickeln auf seinen Lippen und diese Sehnsucht nach mehr nicht abstellen. Es war, als würde eine unsichtbare Macht an seinem ganzen Körper ziehen und ihn zu dem Japaner drängen. Doch auch wenn er das nicht leugnen konnte, er durfte es auf keinen Fall zulassen! Wenn er daran dachte, wie lange Yuki sich schon so fühlen musste, dann bewunderte er ihn sogar dafür, dass er das so lange ausgehalten hatte. „Was sollen wir bloß tun?“, fragte der Braunhaarige schließlich müde. Nach einem Moment des Zögerns brachte Yuki einen Vorschlag. „Wie wäre es, wenn wir nur hier, wenn wir unter uns sind und uns niemand sieht, ehrlich zu einander sind und unsere Gefühle zulassen? Niemand würde es bemerken und dieser Schmerz hätte endlich ein Ende. Dann fällt es uns wahrscheinlich auch leichter, uns vor anderen Leuten nichts anmerken zu lassen und niemand würde Verdacht schöpfen. Und wegen möglicher Reaktionen dieser Leute müssten wir uns keine Sorgen machen.“ Yuki konnte die Hoffnung und das Flehen in seiner Stimme kaum verbergen und auch sein Gesicht sprach Bände. Er hörte sich an, als hätte er die ideale Lösung für ihre Situation gefunden. Doch auch wenn das sogar für Akis Ohren nach einem einigermaßen günstigen Kompromiss klang, wenn er versuchte, es irgendwie rational zu betrachten und mit den anderen Möglichkeiten zu vergleichen, so ließen sich die Zweifel dennoch nicht ganz beseitigen. Die Angst, die seit einigen Jahren so schwer auf ihm lastete, ihn umschwärmte wie ein Poltergeist, hatte sich so tief in sein Gewissen eingefressen, war mit seinem Denken verschmolzen, dass er sie nicht einfach so abschütteln konnte, auch wenn er es in diesem Moment gern gewollt hätte. Sie ließ ihn einfach nicht zur Ruhe kommen. Und schließlich gab er den Kampf gegen sich selbst wieder auf. Er war so schwach... Er hasste sich dafür, dass er jeglichen positiven Gedanken im Bezug auf seine Gefühle so rigoros abblockte und sofort in die dunkelsten Abgründe seiner Ängste stürzte, sobald solch ein Gedanke sein Bewusstsein streifte. Dass diese Abgründe ihn lähmten, unfähig machten, auch nur einen einzigen, winzigen Schritt nach vorn zu tun. Er betrachtete Yuki, sah in sein erwartungsvolles Gesicht, seine sehnsüchtigen Augen... Er hasste sich dafür. „Yuki...ich...es tut mir Leid, ich kann das nicht einfach hier und jetzt binnen Sekunden entscheiden“, wich er einer direkten Antwort aus, genauso wie er dabei seinen Blick von Yukis Gesicht abwandte. Den verletzten Ausdruck darin würde er jetzt einfach nicht ertragen können. Es war kaum ein paar Stunden her, seit er seinem besten Freund...seiner heimlichen Liebe...das Herz herausgerissen hatte und skrupellos darauf herumgetrampelt war und nun tat er es schon wieder. Was fand Yuki überhaupt an ihm? Er hätte allemal etwas Besseres verdient. „Kein Problem. Lass dir ruhig noch etwas Zeit und denke in Ruhe darüber nach. So eine Entscheidung ist schließlich sehr wichtig.“ Mit dieser Bemerkung zog Yuki Akis Aufmerksamkeit doch schlagartig wieder auf sich. Hatte der Halbjapaner gerade richtig gehört? Yuki hatte gerade nicht wirklich „Kein Problem“ gesagt, oder? Doch an dem recht nervösen Blick des Japaners erkannte Aki sofort, dass er richtig vermutet hatte, was die Reaktion seines Freundes betraf. Es fiel ihm keinesfalls leicht, so etwas zu sagen. Die Enttäuschung stand ihm trotz des recht unbeholfenen Lächelns buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Natürlich wollte er Aki nicht bedrängen, deswegen hatte er versucht, mit ein paar Worten die Situation ein wenig zu verharmlosen, doch im Grunde hatte sich an der Atmosphäre im Raum nichts geändert. Das Schweigen zwischen ihnen wurde mit jeder Sekunde erdrückender. Bis Yuki schließlich aufstand und die Sitzung damit beendete. „Es ist spät. Oder besser: Verdammt früh. Wir sollten zusehen, dass wir noch ein wenig schlafen können, meinst du nicht?“ „Ja, du hast Recht.“ Damit stand Aki auch auf. Im Gegensatz zu Yuki musste er am Morgen wieder zur Uni. Durch seine viele Abwesenheit der letzten Zeit konnte er es sich einfach nicht leisten, noch länger zu fehlen. Und den Stoff, den er in der Zeit verpasst hatte, musste er ebenfalls nachholen. Da half es in der Regel nicht, sich einfach nur die Mitschriften eines Kommilitonen zu kopieren. Ein bisschen würde er schon selbst recherchieren müssen und das dauerte jedes Mal lange. Zwar ging es nur um die Zwischenprüfungen und er schrieb zum Glück nicht bei jedem seiner Professoren eine, doch für die zwei, die vor ihm lagen, gab es noch einiges zu tun. Da Hikawa nicht mehr bei ihnen wohnte, herrschte nun auch wieder die gewohnte Schlafordnung: Aki wandelte ohne Umwege die Couch in eine Schlafgelegenheit um und Yuki ging, nachdem er schnell die Teetassen weggeräumt hatte, in sein Schlafzimmer. „Gute Nacht“, flüsterte er noch einmal in die inzwischen herrschende Dunkelheit zurück. „Gute Nacht“, gab Aki zurück, kurz bevor die Tür sich schloss und damit beide vom Blick des jeweils anderen abschirmte. Wie nicht anders zu erwarten, fühlte Aki sich mehr als mies, als nur wenige Stunden später der Wecker klingelte und ihn erbarmungslos aus dem Schlaf riss. Mehr von der Couch fallend als von ihr aufstehend torkelte er zum Tisch, um den eindringlichen Lärm abzustellen. Für einen Moment war er versucht, einfach auf dem Boden liegen zu bleiben und dort weiterzuschlafen, doch dann riss er sich zusammen und richtete sich schwankend auf, bis er richtig stand. Sein erster Blick fiel auf die geschlossene Schlafzimmertür, hinter der kein Geräusch zu hören war. Manchmal stand Yuki ebenfalls mit auf, wenn Aki zur Uni musste, auch wenn sein Unterricht erst später begann. Heute war damit sicherlich nicht zu rechnen und es versetzte dem Halbjapaner automatisch einen Stich im Herzen, als er das realisierte. Doch dann wiederum...er durfte sich nicht einfach so von seinen Gefühlen mitreißen lassen! Am vergangenen Tag und in der Nacht war so viel passiert, dass seine gesamte Gefühlswelt derzeit ein einziges Chaos war, in dem er sich heillos verlaufen hatte und zu ertrinken drohte. Wie sollte er seine Gefühle in den Griff bekommen, wenn er diesem Drang gleich wieder nachgab? Diesem Drang, ihn sehen, ihn berühren zu wollen... Entschlossen wandte Aki den Blick von der Tür ab und begann, sich fertig zu machen. Er hoffte, dass die Uni ihm halbwegs Ablenkung bringen würde. Vielleicht würde er dann herausfinden können, wo genau seine Gefühle lagen und wie es in Zukunft zwischen Yuki und ihm aussehen könnte. Leider hatte sich seine Hoffnung nicht unbedingt bestätigt, als er nun in der Vorlesung saß und nicht einmal mehr mit halbem Ohr hinhörte, was der Professor vorn am Pult gerade über Sportpsychologie erzählte. Dabei war das eines seiner Prüfungsfächer. Es war einfach zum Verrückt werden! Andauernd ertappte er sich dabei, wie er Löcher in die Luft oder in seinen Schreibblock starrte und darüber sinnierte, ob er Yuki heute morgen nicht doch lieber noch einmal hätte sehen wollen. Er fragte sich, wie es ihm wohl ergehen mochte. Wahrscheinlich hatte er genauso schlecht geschlafen wie er selbst. Ob er inzwischen schon aufgestanden war? Oder lag er im Bett und starrte vielleicht genauso Löcher in die Luft wie er im Moment? Oder schlief er vielleicht noch – was ja auch nicht unwahrscheinlich war, wenn man bedachte, wann sie ins Bett gegangen oder gar eingeschlafen waren! Und falls er wach war...was er dann wohl dachte? Vermutlich dachte er an ihn...an diese seltsame Beziehung, die derzeit zwischen ihnen bestand. Hoffentlich war der Schmerz, mit dem auch er gestern Abend ins Bett gegangen war, inzwischen ein wenig abgeklungen... Ach, es war zum Verrückt werden! Die Vorlesung war fast vorbei und er hatte sich gerade einmal ZWEI Stichpunkte in seinem Block notiert! Jetzt würde er die heutige Vorlesung auch noch nachholen dürfen, obwohl er diesmal doch wenigstens körperlich anwesend war – nur mehr war es leider auch nicht gewesen... ~ Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, ein Bein leicht angewinkelt, starrte Yuki gedankenverloren an die Decke. Er wusste weder, wann er in der Nacht eingeschlafen, noch wann er am Morgen wieder aufgewacht war. Irgendwie war alles ein einziger, zähflüssiger Übergang gewesen, bei dem sich alles nur um eine einzige Person gedreht hatte: Aki. Auch wenn er sich über seine eigenen Gefühle völlig im Klaren war und an die Aufrichtigkeit des zarten Liebesgeständnisses seines Freundes durchaus glaubte, wusste er noch lange nicht, wo sie nun standen, wie es weitergehen würde. Waren Akis Angst und seine Zweifel wirklich so groß, dass sie alles andere in den Schatten stellen und dessen Gefühle unterdrücken konnten? Doch was würde dann aus ihnen werden? Yuki konnte einfach nicht mehr so weitermachen wie bisher. Er würde wahrscheinlich bald daran zerbrechen. Und dann gab es für sie beide keine Zukunft mehr, egal, wie sehr er sich auch danach sehnte. Oder wie gern es Aki sich unterbewusst vielleicht wünschte. Oder würden letztlich die Gefühle seines Freundes über die Angst triumphieren und er sich auf diesen Mittelweg einlassen, den Yuki ihm kurz vor dem Schlafengehen unterbreitet hatte? Es wäre wohl fast zu schön um wahr zu sein. Wenn Aki diesen Schritt erst einmal wagen würde, dann könnte Yuki ihm mit Sicherheit helfen, seine Ängste nach und nach niederzukämpfen und das alles unverkrampfter zu sehen und zu genießen. Denn hieß es nicht immer, die Liebe wäre das Schönste auf der Welt? Aber...Yuki hatte Angst davor, das alles so schön und rosig zu betrachten, auch wenn es sich immer wieder in seine Gedanken schlich. Wie enttäuscht wäre er, wenn Aki sich schließlich gegen ihre Beziehung entscheiden würde? Wie unendlich verletzt? Er konnte und wollte es sich gar nicht vorstellen und deshalb hatte er Angst vor diesen positiven Gedanken. Wenn er wenigstens wüsste, was Aki momentan fühlte, was er dachte... ~ Zum wiederholten Male wollte ein unterdrücktes Seufzen Akis Kehle entkommen, während er resigniert den Kopf auf das Buch vor sich sinken ließ. Zum wievielten Mal hatte er diesen gottverdammten Satz nun schon gelesen? Fünfmal waren es sicherlich schon. Er kam einfach nicht weiter! Okay, die Mitschriften eines Freundes zu Sportpsychologie hatte er sich mittlerweile geben lassen und kopieren können, doch nun saß er seit geschlagenen zwei Stunden über diesem dicken Wälzer und versuchte ein wenig fehlendes Hintergrundwissen zu ergänzen, was ihm einfach nicht gelang, weil er in dieser Zeit gerade mal vier Seiten gelesen hatte. Und was in denen gestanden hatte, wusste er auch längst nicht mehr. Es war zum Verzweifeln! Was hatte Yuki da bloß mit ihm gemacht? Er hatte einen Gefühlssturm in ihm entfesselt, den er einfach nicht mehr eindämmen konnte, egal wie sehr er es auch versuchte. Dauernd drehten sich seine Gedanken um seinen Freund, doch nicht nur sein Kopf wollte nicht auf ihn hören, auch sein Körper sehnte sich nach ihm. Seine Hände prickelten bei dem Gedanken an Yukis warme, sanfte Haut, seine Nase wollte ihm weismachen, dass er noch immer dessen angenehm frischen Geruch wahrnahm, seine Lippen sehnten sich nach denen seines Freundes und riefen pausenlos die Erinnerungen an die wenigen Male, die sie sich geküsst hatten, wach und brachten ihn damit gänzlich aus dem Konzept. Seine Brust schnürte sich zusammen und ließ ihn damit unwillkürlich die Luft anhalten, ein Schwall der Wärme explodierte in seinem Bauch und generell hatte er plötzlich das Gefühl, von seinem Stuhl abzuheben und in höhere Sphären zu entschweben. Und immer, wenn er realisierte, was gerade mit ihm geschah, fuhr er ertappt zusammen und blickte sich nervös um, ob jemand seine Gefühls-Achterbahn bemerkt haben könnte. Und jedes Mal aufs Neue stellte er erleichtert fest, dass kein anderer Student in der Nähe war und er schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass er sich Gott sei Dank in der hintersten und entlegensten Ecke der Bibliothek verschanzt hatte. Wenn er daran dachte, dass einigen Leuten sogar aufgefallen war, dass Yuki sich in letzter Zeit anders verhalten hatte als sonst, dann wurde ihm Angst und Bange, wie auffällig er erst sein musste, wenn ihn jemand so sehen würde! Und wie sollte es dann erst werden, wenn sich beide in der Uni oder sonst irgendwo auf offener Straße begegneten? Oder gemeinsam irgendwohin wollten? Wo sich seine Seele genauso wie sein Körper so sehr nach dem Japaner sehnten? Wo es Yuki mit Sicherheit nicht besser ging...? Wie sollten sie sich da noch „normal“ verhalten können? Aki brachte es ja nicht einmal mehr fertig, so eine triviale Aufgabe wie das Lesen eines Buches zu bewältigen! Resigniert stand er auf und nahm den Wälzer mit in den Kopierraum. Die entsprechenden Seiten hatte er ja. Vielleicht konnte er sie später irgendwann lesen. Jetzt ging es einfach nicht. Und Zeit hatte er auch keine mehr, denn seine Schicht in der Konditorei fing bald an. Dass sein Chef ihn noch nicht rausgeschmissen hatte, grenzte sowieso an ein Wunder. Er war kaum ein viertel Jahr dabei und hatte schon zweimal für längere Zeit gefehlt. Da musste er Mizutas Gutmütigkeit nicht noch weiter strapazieren, indem er nun sogar zu spät kam. In der Konditorei war wie immer viel Betrieb. Dadurch, dass sich in dem Gebäude auch ein großes Kaufhaus befand, gingen hier permanent Leute ein und aus und natürlich hielten viele von ihnen an dem kleinen Lädchen an, um noch die ein oder andere Leckerei oder Backware zu kaufen. Heute schien sogar noch etwas mehr Betrieb zu sein als sonst. Viele kamen nicht nur zum Einkaufen, sondern auch, um Aki zu seinem Sieg in der Juniorenmeisterschaft zu gratulieren. Die Stammkunden der Bäckerei kannten ihn natürlich längst und der Wettkampf, an dem der Halbjapaner teilgenommen hatte, hatte durchaus eine gewisse Popularität unter der Bevölkerung erreicht. Da hatte es sich unter Akis Bekannten natürlich herumgesprochen. „Du bist eine wahre Bereicherung für den Laden!“, lachte Mizuta-san und klopfte seinem Gehilfen auf die Schulter, als sie für einen Moment Ruhe hatten. „Jetzt bist du nicht nur ein exotischer Anblick für die Leute, sondern auch noch eine richtige kleine Berühmtheit. Viele würden wahrscheinlich gar nicht hier anhalten, wenn ich dich nicht hätte.“ „Ach was, so besonders bin ich nun wirklich nicht...“, antwortete Aki kleinlaut und wurde ein wenig rot um die Nase. Er füllte gerade den Papiertütenstapel nach und säuberte den Tresen von diversen Kuchenkrümeln, doch seine Gedanken begannen schon wieder zu wandern, kaum dass er nicht mehr vollkommen für seine Arbeit beansprucht wurde. Er hatte noch anderthalb Stunden zu arbeiten, bis der Feierabend für ihn beginnen würde, doch irgendwie konnte es ihm heute gar nicht schnell genug gehen. In jeder freien Sekunde schielte er verstohlen zum Eingang des Gebäudes, so als erwartete er, dass Yuki jeden Moment dort hereinspaziert kommen würde. Er holte ihn oft ab, wenn seine Arbeit sich dem Feierabend zuneigte. Dabei war dieser heute noch so weit entfernt! Und Yuki würde mit Sicherheit nicht kommen. Er wollte ihm Zeit für seine Entscheidung geben. Jedes Mal, wenn er dies aufs Neue realisierte, versetzte es ihm einen kleinen Stich in der Brust. Obwohl er genau wusste, dass es ihm unendlich viel schwerer fallen würde, sich nach außen hin normal zu verhalten, wenn der Japaner plötzlich vor ihm stehen würde, sehnte er sich danach, ihn wiederzusehen. Den ganzen Tag hatte er ihn nicht einen Augenblick zu Gesicht bekommen! So wenig sahen sie sich selten. Eigentlich nie... Er vermisste ihn so sehr, dass er inzwischen wirklich nicht mehr sagen konnte, was schlimmer war: sich in Yukis Gegenwart zusammenreißen zu müssen, ihn nicht berühren zu dürfen, obwohl alles in ihm danach schrie – oder gänzlich auf ihn verzichten zu müssen. Seine Stimme, sein Lächeln, die sanften Augen... „... Aki-san? Hallo, Aki-san! Aufwachen!“ Die Stimme seines Chefs riss ihn aus seinen Gedanken und ließ den Halbjapaner ertappt zusammenfahren. „Ja? Was gibt es?“, fragte er hastig, wischte mit zwei schnellen Zügen den Tresen fertig und beendete die Aufgabe, in der er mittendrin inne gehalten hatte. „Wo warst du denn gerade mit deinen Gedanken? So abwesend habe ich dich noch nie gesehen“, kam es verdutzt von Mizuta-san. „Ah-, ähm...die Prüfungen. Ich war in Gedanken schon wieder bei meinen Prüfungen. In knapp zwei Wochen ist es soweit. Das sind die ersten, die ich schreiben werde, seit ich mit dem Studium begonnen habe. Tut mir Leid...“ Aki atmete innerlich auf, dass es ihm gelungen war, in der Kürze der Zeit eine Ausrede finden zu können. Und ihm fiel regelrecht ein Stein von Herzen, als Mizuta-san ihm das bedenkenlos zu glauben schien. „Ach, mach dir nicht zu viele Gedanken, Aki-san! Du bist ein kluger Bursche. Das wirst du schon schaffen.“ „Danke...“ Zum Glück kamen nun wieder Leute vorbei, sodass das kurze Gespräch wirklich zu Ende war und nicht doch noch in eine ungünstige Richtung gehen konnte, zum anderen lenkte es Aki wieder ein wenig von seinen eigentlichen Gedanken ab. Der Abend zog sich noch ein ganzes Weilchen hin und auch wenn es Aki nicht wirklich unangenehm war, hier zu arbeiten, fiel es ihm heute durchaus schwerer als sonst. Dauernd hatte er das Gefühl, die Leute würden ihn heute ein wenig seltsam ansehen. Fast so, als stünden ihm seine Gedanken auf die Stirn geschrieben. Verhielt er sich wirklich so anders oder bildete er es sich nur ein? Er wusste es nicht, doch auf jeden Fall nährte es in ihm den Wunsch, wenigstens eine kurze Zeit lang allein sein zu können. Unbeobachtet von fremden Augen, damit sich wenigstens die Befürchtung, dass die ganze Welt bereits zu wissen schien, welche Gedanken ihn quälten, verflüchtigte. Endlich rückte die Zeit des Ladenschlusses näher und es kamen inzwischen kaum noch Kunden vorbei. Dadurch ließ sich Aki zwar wieder wesentlich häufiger ablenken und es fiel ihm schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, doch wenigstens würde er bald gehen können. Allerdings hieß das auch, dass er Yuki bald wieder sehen würde. Und damit war er auch wieder bei der Frage, die nun schon seit einer ganzen Weile an ihm nagte: Wie würde es ab heute Abend zwischen ihnen weitergehen? Er ertrank fast an seiner Sehnsucht nach Yuki und die Tatsache, dass der Japaner nur auf einen Schritt seinerseits wartete, machte es nur noch schlimmer. Denn selbst wenn sie ihre Liebe versuchen würden geheim zu halten, irgendwann würde es mit Sicherheit doch nach außen durchdringen. Auf welche Weise auch immer. Und dann würde es vorbei sein mit der Ruhe. Und er hatte Angst...um Yuki, denn er wusste, dass es genügend Leute gab, die Homosexualität verabscheuten und deswegen versuchen würden, ihnen das Leben schwer zu machen. Zwar traute Aki sich zu, dass er zur Not damit umgehen können würde, aber wie es mit Yuki aussah, wusste er nicht. Der Japaner wirkte immer wie ein Fels in der Brandung. Ein Ruhepol, ein sicherer Zufluchtsort, wann immer es Probleme gab. Wie oft hatte er Aki mit seinem stetigen Wesen schon Kraft gegeben, wenn er selbst am Zweifeln gewesen war? Aber könnte er mit so etwas auch so locker umgehen? Auch Jimmy war stets der Optimismus in Person gewesen, nichts hatte ihn erschüttern können – bis das Geheimnis zwischen ihm und seiner Schwester bekannt geworden war. Und was vorher sicher niemand geglaubt hätte, war letztlich eingetreten: Jimmy war zerbrochen. An seinen Gefühlen und der beständigen Grausamkeit, mit dem von allen Seiten auf ihm herumgetrampelt worden war. Wer also konnte ihm garantieren, dass es Yuki nicht genauso ergehen könnte? – Niemand. Nicht einmal Yuki selbst. Akis Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Nein! So weit durfte es nicht kommen! Niemals! Und wenn er dafür für immer auf ihr Glück verzichten musste! Doch der Schmerz in Akis Herzen wurde nur noch größer. Warum, verdammt noch mal, war alles nur so ausweglos? „Deine Gedanken sind heute wirklich ganz woanders, was, Aki-san?“ In der Stimme seines Chefs schwang leichte Sorge mit. „Ah, Entschuldigung...“ „Machen dir deine Prüfungen so sehr zu schaffen? Dabei bist du doch immer so gewissenhaft bei der Arbeit! Ich kann mir nicht vorstellen, dass das beim Studium anders sein soll.“ „Nein, natürlich ist mir mein Studium sehr wichtig, aber ich habe leider eine ganze Menge verpasst, als ich diese Woche nicht da war.“ Der Halbjapaner dankte dem Schicksal, dass Mizuta-san den Faden von vorhin so bereitwillig wieder aufgenommen hatte, und dass das mit dem verpassten Stoff sogar stimmte. „Na dann mach dich los“, seufzte der Konditoreibesitzer ergeben. „Atme mal tief durch und ordne deine Gedanken. Auch wenn eine viertel Stunde mehr nicht viel ist. Letztlich muss jetzt nur noch aufgeräumt werden und das kann ich auch allein. Deine verletzte Hand solltest du sowieso noch ein wenig schonen.“ „Danke, Chef.“ Dankbar sammelte Aki seine Sachen zusammen und machte sich auf den Heimweg. Er wollte einfach nur raus und allein sein, geschützt von der tiefen Schwärze der Nacht, die die Stadt inzwischen überzogen hatte. So ganz wurde es dann aber doch nichts mit dem Alleinsein, denn kaum dass er das Gebäude einige Meter hinter sich gelassen hatte, vernahm er eine vertraute Mädchenstimme. „Oh, du hast schon Schluss?“ Er hätte sich nicht einmal umzudrehen brauchen, um zu wissen, dass die Frage von Haruko gekommen war. Aki wusste, dass dieser Ort nicht auf ihrem Heimweg lag, also war sie sicherlich gekommen, um ihn abzuholen. „Ja, mein Chef hat mich etwas eher gehen lassen. Guten Abend!“, antwortete schließlich und drehte sich mit einem halb ehrlichen, halb aufgesetzten Lächeln zu seiner Freundin um. Zwar wäre er jetzt wirklich lieber allein gewesen, doch Haruko...na ja, sie war in gewisser Hinsicht eine Ausnahme. Sie wusste ohnehin, was gerade los war, und mit Sicherheit war das auch genau der Grund, weshalb sie ihn heute hatte abholen wollen. „Dir auch einen schönen Abend. Wollen wir ein Stück zusammen gehen?“ „Gern.“ Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Aki, tief in Gedanken versunken, und Haruko, ihn unauffällig beobachtend. Schließlich entschied sie sich, ihn vorsichtig anzusprechen. „Du siehst aus, als hättet ihr euer Problem noch nicht richtig klären können, was?“ „Nein...nicht so richtig. Na ja, eigentlich ist es fast schon wieder ein neues Problem...“ An der Art, wie Aki um den heißen Brei herumredete, merkte das Mädchen gleich, dass ihr Freund noch nicht so richtig mit der ganzen Sprache herausrücken wollte. Und ihn dazu zu zwingen, würde erst recht nichts bringen. Es stimmte sie ein wenig traurig, dass Aki selbst seiner besten Freundin gegenüber so verschlossen war, doch was konnte sie schon tun außer zu warten, bis er von selbst auf sie zukam? „Diese ganze Sache ist mit Sicherheit nicht einfach, das glaube ich dir. Aber vergiss bitte nie, Aki: Ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst. Egal, worum es geht oder was passiert ist. Du bist mein Freund und daran wird sie nie etwas ändern.“ Ein trauriges Lächeln schlich sich auf Akis Gesicht. „Ich weiß. Manchmal bist du wie eine gute Fee, weißt du das, Haruko? Du bist genau wie Yuki: immer da, wenn man ihn braucht. Und ich danke es dir noch nicht einmal richtig.“ Doch die Japanerin schüttelte den Kopf. „Du wirst schon wissen, wann du mit mir reden möchtest. Ich höre auf jeden Fall zu. Aber ich zwinge dich zu nichts. Ruf einfach an oder komm vorbei, wenn dir der Sinn danach steht.“ „Klar, werd ich machen.“ Und Aki nahm sich vor, sie irgendwann wirklich in seine Vergangenheit einzuweihen. Momentan hatte er nicht die Kraft dafür. Sein Entscheidungsproblem zehrte viel zu sehr an seinen Nerven. Doch wenn das irgendwann ins Reine gekommen war, würde er mit Haruko reden. An der nächsten Weggabelung blieben beide stehen. Hier trennten sich ihre Wege, denn wenn die Japanerin ihn weiter begleitete, müsste sie einen ziemlichen Umweg in Kauf nehmen. „Kopf hoch, Aki! Ich kann nicht entscheiden, wie es mit dir und Yuki in Zukunft weiter gehen soll, aber egal was kommt, du bist nicht allein! Denk bitte immer daran.“ „Ja. Danke, Haruko!“ „Du musst dich nicht bedanken. Im Moment kann ich leider gar nichts für euch tun“, seufzte sie etwas resigniert. „Doch, du tust viel! Allein schon dadurch, dass du einfach da bist.“ Sie kicherte ein wenig. „Na wenn du meinst. Dann vergiss es aber auch nicht.“ „Werd ich nicht, versprochen.“ „Gut. Dann kann ich dich jetzt also allein nach Hause lassen?“ „Tz! Du kannst ja richtig frech sein!“ „Ach was! Ich doch nicht“, antwortete sie scheinheilig und setzte sich in Bewegung. „Also bis später!“ „Ja, bis später!“ Jetzt ging auch Aki weiter. Es war schon seltsam mit Haruko. Den ganzen Tag über war er von seinen Gedanken und Gefühlen fast erdrückt worden und jetzt hatte schon ein kurzes Gespräch mit seiner besten Freundin geholfen, um seine Seele wenigstens für einige Momente von diesem schweren Gewicht zu befreien, was auf ihr lastete. Er versuchte, das noch eine Weile auf sich wirken zu lassen, doch spätestens, als er vor der Eingangstür des Studentenwohnheims ankam, war ihm der Rest der zeitweiligen Leichtigkeit entglitten und die erdrückende, aussichtslose Schwere war zurückgekehrt. Mit heftig klopfendem Herzen drehte er den Schlüssel im Schloss um und ging zum Aufzug. Das Kribbeln in seinem Körper kehrte zurück und nahm mit jedem Schritt, jedem Atemzug an Intensität zu. Während er wartete, bis er in seiner Etage angekommen war, meldete sich ein leiser Gedanke in seinem Hinterkopf, der ihm riet, dass es vielleicht besser war, einfach auf dem Absatz kehrt zu machen und lieber noch ein bisschen zu warten, bis er Yuki wieder gegenüber trat. Doch diese Stimme wurde von den Gefühlen, die sich mittlerweile in ihm überschlugen, gnadenlos niedergekämpft. Die Türen des Aufzugs öffneten sich und seine Beine führten ihn automatisch, fast schon gegen seinen Willen, zur entsprechenden Wohnungstür. Schon von draußen hatte er gesehen, dass Licht in der Wohnung brannte. Es waren nur noch Sekunden, die ihn von Yuki trennten. Sekunden und eine dünne Holztür, die jeden Augenblick aufschwingen würde und die letzte Sichtbarriere verschwinden ließ. Ein wenig zittrig näherte sich der Schlüssel in Akis Hand dem Schloss, öffnete die Schließvorrichtung und ließ das dünne Holz ein Stück nach innen schwingen. Neugier und Sehnsucht trieben ihn trotz der beinah überwältigenden Angst dazu, durch den dünnen Türspalt zu linsen, doch dort war noch niemand zu sehen. Auch Geräusche vernahm er keine. Routiniert streifte er die Schuhe von den Füßen und trat schließlich ein, lugte um die Ecke und bemerkte Yukis Schatten auf dem Wohnzimmerteppich. Als die Tür leise ins Schloss zurückfiel, bewegte der Schatten sich erst ein wenig, wuchs dann aber schnell an und ließ nur Sekunden später seinen Besitzer folgen, der sich stumm, mit unsicher fragendem Blick von innen gegen den Türrahmen lehnte und wartete. Einige Augenblicke war Aki wie gelähmt. Die Sehnsucht war schier überwältigend, kaum dass ihre Blicke sich trafen und Angst und Zweifel explodierten in demselben Maße und entfachten in ihm ein so gewaltiges Chaos, dass er vor Verzweiflung am liebsten laut aufgeschrieen hätte. Es ging nicht. Er konnte einfach nicht. Eigentlich hatte er das schon den ganzen Tag gewusst, doch jetzt, wo nur noch knappe zwei Meter Luftlinie zwischen ihnen lagen, verpuffte das letzte Stück Illusion, mit dem er sich den noch immer umgeben hatte. Er konnte nicht gegen seine Gefühle ankämpfen. Jetzt nicht, und auch in Zukunft nicht. Ganz gleich, was für eine Gefahr das für sie bedeuten könnte. Und während die letzte Fassade des Widerstands, den er sich selbst geliefert hatte, bröckelte und zersprang, klammerte sich sein verängstigtes Ego an einen einzigen Gedanken, der ihm Halt gab: ‚Egal was kommt, du bist nicht allein!’ Und er hielt sich daran fest, während seine Beine sich wie von selbst in Bewegung setzten, seine Arme sich nach Yukis Gesicht reckten und seine Lippen sehnsüchtig die seines Freundes berührten. Er war nicht allein. Sie waren nicht allein. Selbst wenn die Welt unter ihnen zerbersten sollte, sie waren nicht allein. Sie hatten einen Menschen, der stets bei ihnen bleiben würde; komme, was wolle. Sie hatte es versprochen. Und sie würde es halten. Denn sie teilte ihr Geheimnis. In diesem Moment herrschten keine Zweifel mehr, keine negativen Gedanken. Nur endlose Glückseligkeit, als Yuki fast im selben Moment Akis Kuss erwiderte, er mit kräftigen, aber dennoch sanften Armen empfangen und stärker an diesen warmen, schmerzhaft vermissten Körper gezogen wurde, Herz an Herz. Ihr gemeinsames Schlagen überdeutlich spürbar. Zwei Seelen, vereint. Es war entschieden. Eine Tür war geöffnet worden, die andere blieb für immer verschlossen. Ein neuer Weg in die Zukunft begann, doch noch wusste niemand, wohin er führen würde. Aber in diesem Augenblick war es egal. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)